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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Primagon 4,5/35
Bei Meyer-Optik in Görlitz stand man in den 1950er Jahren vor der Aufgabe, ein Weitwinkelobjektiv für die Spiegelreflexkamera zu schaffen.
Denn die Spiegelreflexkamera und damit auch die für sie vorgesehenen Wechselobjektive erlebten nach dem Kriege eine immer größere Nachfrage, weil dieser Kameratyp vermehrt von anspruchsvollen Amateuren gekauft wurde. Aus einer kleinen Nische für Spezialisten entwickelte sich die Spiegelreflex-Photographie auf diese Weise nach und nach zu einem Massenmarkt. Und Meyer-Optik Görlitz war mit lichtstarken Normalobjektiven wie dem Primoplan oder den langbrennweitigen Telemegoren durchaus prominent in diesem Markt vertreten. Ein großes Problem tat sich aber auf, als der Spiegelreflex-Anwender alsbald nach einem Weitwinkelobjektiv für seine Kamera verlangte.
Wie Zeiss Jena mit dem Tessar 4,5/40 mm so hatte Meyer-Optik seit den späten 30er Jahren ein Helioplan 4,5/40 mm im Angebot. Das war die kürzeste Brennweite, die man sich erlauben konnte, um dem Klappspiegel der Reflexkamera noch ausreichend Bewegungsspielraum zu belassen. Tiefer durfte ein Objektiv einfach nicht in den Spiegelkasten hineinreichen. Sollte der Bildwinkel vergrößert und damit gleichsam die Brennweite verkürzt werden, dann kam man mit der bisherigen Bauweise für Objektive einfach nicht weiter.
Bei Zeiss Jena hatte man daher in den Jahren 1948/49 eine spezielle Bauform des Weitwinkelobjektivs erarbeitet, die nach einem französischen Konkurrenzprodukt später allgemein als Retrofokusobjektiv bezeichnet wurde. Schon seit den 30er Jahren waren für farbige Kinoaufnahmen nach dem Technicolorverfahren spezielle Objektive in Gebrauch, bei denen der Luftraum hinter dem Objektiv künstlich verlängert worden war [Mellor; US1.910.492; 1931]. Jetzt kam aber als Erschwernis hinzu, daß gleichzeitig der Bildwinkel auf über 60 Grad aufgeweitet werden sollte. Das Zeiss Jena Flektogon 2,8/35 mm und das Angénieux Retrofocus R1 2,5/35 mm lösten nicht nur dieses technische Problem, sondern wiesen überdies noch ambitionierte Lichtstärken auf. Sie wurden beide im Jahre 1950 erstmals gezeigt, erlangten wohl aber erst nach 1953 echte kommerzielle Bedeutung. Von jetzt ab war es an der Zeit, daß kleinere Objektivbauanstalten mit etwas Vergleichbarem nachzogen, wenn sie nicht an Konkurrenzfähigkeit einbüßen wollten.
In der obigen Abbildung habe ich einmal versucht, darzustellen, wie ein solches für die Spiegelreflexkamera geeignetes Objektiv aufgebaut sein kann. Ziel ist es, den Luftraum zwischen der hintersten Linse und der Filmebene, den der Fachmann als bildseitige Schnittweite s' bezeichnet, deutlich zu verlängern. Bei einem normalen Triplet befindet sich der bildseitige Hauptpunkt H', von dem ab die Brennweite gemessen wird, innerhalb des optischen Systems, sodaß die Schnittweite noch kleiner ausfällt, als die ohnehin schon kurze Brennweite von 35 mm. Der Klappspiegel braucht aber je nach Kameratyp wenigstens 37 oder 38 mm freien Luftabstand. Indem diesem Triplet etwa im Bereich der dingseitigen Brennebene eine Zerstreuungslinse vorgesetzt wird, verschiebt sich der bildseitige Hauptpunkt H' deutlich entlang der optischen Achse Richtung Bildebene. Er liegt jetzt gar außerhalb des optischen Systems. Genau um diesen Betrag Δs', um den der bildseitige Hauptpunkt Richtung Bildebene verschoben wurde, wächst die Schnittweite an, das heißt um genau diese Strecke kann das Gesamtobjektiv von der Bildebene weggerückt werden. Dies schafft dem Spiegel die nötige Bewegungsfreiheit.
Und das Primagon zeigt nun tatsächlich jenen elementaren Aufbau, wie er oben zur bloßen Skizzierung verwendet wurde. Anders als beim Zeiss Flektogon besteht das Grundobjektiv also nur aus einem einfachen Triplet, dem in einem gehörigen Abstand – der Raum zwischen erster und zweiter Linse beträgt immerhin 72 % der Brennweite des Gesamtobjektivs – ein zerstreuend wirkender Meniskus mit ziemlich großem Durchmesser vorgesetzt ist. Das Primagon war damit einfach von vornherein eine ganze Preisklasse niedriger angesetzt und die Lichtstärke sollte auf dem Niveau des bisherigen Helioplan bleiben. Durch diese Beschränkung in der Lichtstärke auf 1:4,5 geriet das Primagon nicht nur deshalb preisgünstiger herstellbar, weil für das Grundobjektiv nur noch drei Linsen nötig waren, sondern weil diese drei Linsen zudem noch deutlich einfacher geformt sein konnten als beim aufwendigen Flektogon. Diesen vergleichsweise simplen Aufbau merkt man dem Primagon allerdings nicht an. Es handelt sich auch nach heutigen Maßstäben um ein erstaunlich leistungsfähiges gemäßigtes Weitwinkelobjektiv, das sein Gütezeichen Q damals nicht unverdient erhalten hat.
Eine der typischsten Kombinationen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre: Das Meyer'sche Primagon an einer Exa. Beides amateurgerecht preiswert und trotzdem qualitativ sehr gut.
Unten: Aber auch mit Steckbajonett für die damals sehr teure Spitzenkamera Praktina war das Primagon 4,5/35 mm erhältlich - insgesamt natürlich in deutlich geringerem Umfange als für die Altix oder die Exa.
Wieso dieses ziemlich einfach aufgebaute Weitwinkelobjektiv in der Praxis so gute Bildleistung zeigt, das geht auch aus Daten hervor, die durch zwei Gebrauchsmuster überliefert sind, die am 26. März 1957 in der Bundesrepublik [DBGM. Nr. 1.749.770] und erst am 29. Januar 1958 in der DDR [DDR-GM Nr. 5107] angemeldet wurden. Nur aus letzterem, dessen Text ansonsten identisch ist, erfährt man aber, daß Hubert Ulbrich aus Görlitz-Weinhübel der Konstrukteur des Primagons gewesen ist.
Aus diesen Schutzschriften zum Primagon kann man als besonderen Konstruktionskniff herauslesen, daß die Frontlinse aus einem Glase (nämlich dem Fluor-Kron FK5) mit der Abbeschen Zahl v [sprich: ny] von mehr als 70 besteht, also ausgesprochen niedrig dispergierend ist, während die darauffolgende Sammellinse aus dem Schwerstkron SSK5 einen um die Differenz 19 kleineren v-Wert hat. Und weil zudem die Summe der ny-Zahlen aller Linsen den hohen Wert 215 überschreitet, konnte das Primagon trotz seines einfachen Aufbaus zwischen 434 nm und 656 nm Wellenlänge achromatisiert werden, das heißt zwischen tiefem Blau und mittlerem Rot ist das Objektiv frei von chromatischer Aberration. Mit diesen Eigenschaften würden Werbestrategen einem solchen Objektiv heute das Attribut "Apo" anhängen.
Das Primagon wurde "offiziell" zur Frühjahresmesse 1956 herausgebracht, weil es von da ab lieferbar war. Interessant ist aber, daß es bereits im Jahr zuvor auf der Frühjahrsmesse gezeigt wurde [Brauer, Egon: Rückblick auf die Frühjahrsmesse 1955 in Leipzig; in: Bild & Ton Heft 4/1955, S. 99 sowie Fotografie, 4/1955, S. 103]. Auch im Meyer'schen Katalog von 1955 ist es bereits enthalten. Solche Abweichungen sind aber nichts Ungewöhnliches. Von manchen Zeissobjektiven weiß man, daß sie bereits ein halbes Jahr vor der Messe in die Endmontage gegangen sind und deshalb zum Messetermin schon im Handel sein konnten. Andere hingegen kamen erst nach Monaten oder gar Jahren in die Serienfertigung.
Bei Erscheinen kostete das Primagon ursprünglich 165,- Mark. Nach der großen Preissenkung vom Frühjahr 1960 wurde es noch einige Zeit für 130,- Mark angeboten, bevor es vom Lydith 3,5/30 mm abgelöst wurde, das ab Herbst 1963 (unter Verzicht auf die Springblende der Pentina) nun auch mit M42- und Exakta-Anschluß und in geringen Mengen auch für Altix-Bajonett erhältlich war.
Altix ist übrigens ein wichtiges Stichwort. Oben wurde davon gesprochen, das Primagon sei für die Einäugigen Reflexkameras geschaffen worden. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Unverkennbar westdeutschen Vorbildern folgend, wurden die Amateur-Sucherkameras der Aktix-Reihe ab Mitte der 50er Jahre mit Wechselobjektiven ausgestattet. Man entschied sich für den ökonomisch sinnvollsten Weg, einen in Massen hergestellten Zentralverschluß FEST IN die Kamera einzubauen und IM GANZEN wechselbare Objektive VOR den Verschluß zu placieren. Bei dieser Lösung müssen Wechselobjektive allerdings ähnliche Erfordernisse an die Schnittweite erfüllen, wie bei Spiegelreflexkameras, weil der Zentralverschluß weit genug weggerückt werden muß vom Bildfenster, damit er nicht vignettiert. Eine Sucherkamera von solcher Bauart verlangte daher ebenso wie eine Reflexkamera Weitwinkelobjektive der Retrofokusbauart. Das vergleichsweise einfach aufgebaute und daher preiswerte Primagon war hervorragend für diesen Zweck geeignet. Und angesichts des fehlenden Entfernungsmessers bei der Altix störte auch die nur mäßige Lichtstärke des Primagons nicht, sondern verwandelte diese Kombination sogar regelrecht in eine Schnappschußkamera. Die Bildqualität ist selbst bei offener Blende völlig untadelig (s.u.).
Marco Kröger
Letzte Änderung: 23. April 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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