Primarflex

Primarflex

Die Firma Curt Bentzin in Görlitz zählte bereits zu den drei bedeutendsten deutschen Herstellern von Spiegelreflexkameras, als sie Mitte der 1930er Jahre das Zeitalter der Photoplatte hinter sich ließ und eine hochmoderne Rollfilmkamera herausbrachte.

Primar-Reflex II

Zu den faszinierendsten Kameras der Mitteldeutschen Photoindustrie zählt sicherlich diese 6x6-Rollfilm-Spiegelreflex. Sie war, als sie Mitte der 30er Jahre herausgebracht wurde, derart ihrer Zeit voraus, daß sie es gar nicht so leicht hatte, am Markt zu bestehen. Immerhin müssen wir uns vor Augen führen, daß Rollfilme eigentlich damals das Material für einfache Amateurkameras war. Zwar hatte bereits die Rolleiflex diesen Filmtyp und das Aufnahmeformat 6x6 auf eine professionelle Ebene geholt – aber eine aufwendige Einäugige Reflexkamera mit Schlitzverschluß und Wechselobjektiven für dieses kleine Bildformat, das wurde doch in Fachkreisen mit Zweifel bedacht. Derartige Kameras arbeiteten damals typischerweise mit Platten der Größen 9x12; 10x15; oder gar 13x18 cm und die Firma Curt Bentzin in Görlitz war damals einer der profiliertesten Hersteller dieser Geräte neben Ernemann bzw. Ica und Mentor in Dresden.

1. Beginn als Kameratischler

Dabei war die Firma des Curt Bentzin (1862 - 1932) zunächst nur eine unter vielen Kamera-Tischlereien, als sie in den 1880er Jahren gegründet wurde und auch in Görlitz war sie dazumal nicht die einzige. Der Ursprung als Tischler wird auch durch das erste auffindbare Patent Curt Bentzins deutlich: "Verstellbarer Sessel für Photographen" lautete es und wurde zum 26. Oktober 1885 in der k.u.k.-Monarchie angemeldet [Vgl. Wiener Zeitung vom 10. Juli 1886]. Doch Schutzrechte waren damals eine teure Angelegenheit und so war dieses zum 12. Mai 1886 erteilte Privilegium 1887 bereits wieder erloschen und für Jedermann zur Anwendung freigegeben [Vgl. Phot. Korr. 1887, S. 519].

Curt Bentzin 1885

Aber dieser junge Curt Bentzin konnte sich rasch aus der Masse der Konkurrenten dadurch herausheben, indem er neben den üblichen hölzernen Reise- und Salonkameras auch Geräte in Holz-Metall-Gemischtbauweise im Angebot hatte. Offiziell hat Bentzin den Kamerabau im Jahre 1889 aufgenommen (weshalb die Nachfahren im Frühjahr 1939 das 50. Jubiläum begingen, vgl. Photographische Zeitung 2/1939, S. 27).  Zu diesen Kameras kamen bald innovative Lösungen wie die "Zwillings-Kassette mit Klappenverschluß" von 1895.

DRP 91.519 Curt Bentzin 1895
Curt Bentzin Reklame 1895

2. Spitzenhersteller für Schlitzverschlüsse

Diese Präzisionskameras stattete er zudem mit den damals gerade erst aufkommenden Rouleau-Schlitzverschlüssen aus, was kürzeste Verschlußzeiten insbesondere mit den neuen lichtstarken Anastigmaten erlaubte. Er lieferte damit zu den neuen Objektiven genau die passenden Kameras. Und auf dem Spezialgebiet der Schlitzverschlüsse entwickelte sich die Firma Bentzin in den folgenden zehn Jahren durch ständige Verbesserungen zu einem der führenden Hersteller des Weltmarktes – insbesondere im Hinblick auf den sogenannten gedeckten Aufzug.

GB190218715 Bentzin Schlitzverschluß
Bentzin Kamera 1909

Selbst Reisekameras wurden von Bentzin nun mit eigenen Schlitzverschlüssen ("Hartmann-Bentzin-Anhänge", DRGM 375.492) ausgestattet, was gegenüber Konkurrenzerzeugnissen, die allenfalls mit einfachen Grundner-Verschlüssen ausgestattet waren, einen großen Vorteil darstellte. Die Idee zu diesen anhängbaren Verschlüssen kam von Paul Hartmann in Oberwiesa bei Chemnitz, ausgeführt wurde sie von Curt Bentzin in Görlitz.

Darin mag der Grund gelegen haben, weshalb der Leiter der Abteilung Photo des Zeisswerks in Jena, Dr. Paul Rudolph, Anfang des Jahres 1900 mit einem Kooperationsangebot an Curt Bentzin herantrat. Rudolph hatte bei Zeiss im Vorjahr mit dem Unar 1:4,5 einen lichtstarken Anastigmaten geschaffen, bei dem das Problem bestand, daß er aufgrund der großen Linsendurchmesser nicht mehr in Zentralverschlüssen der damaligen Zeit unterzubringen war, die noch ausreichend kurze Verschlußzeiten zu bieten gehabt hätten. Mit diesem Objektiv sollte aber unter anderem eine hochwertige Rollfilmkamera ausgestattet werden, die unbedingt einen Verschluß mit gedecktem Aufzug benötigte. Also lag Rudolphs Idee darin, Bentzins Expertise im Bau von Schlitzverschlußkameras und seine Schutzrechte zu nutzen und auf eine in Jena zu gründende Palmos Camera AG zu übertragen. Dieses zunächst rein private Engagement Rudolphs mußte jedoch sehr bald aufgrund hoher Verluste nachträglich durch das Zeisswerk übernommen werden. Aber auch das konnte die kostspielige Liquidation der Kamerafabrik Palmos kurze Zeit später nicht mehr abwenden und die Kooperation mit Bentzin endete bereits im Jahre 1902 wieder. Im Anschluß beginnt Bentzin sich dem Typus der Spiegelreflexkamera zu widmen, die ab etwa 1905 in Form der Spiegel-Camera-Primar zum Begründer des Reflexkamera-Baus der Werkstatt werden sollte.

Curt Bentzin 1896
Curt Bentzin Auflösung 1900
Curt Bentzin Wiederherstellung 1902

Oben ist die Abfolge der Änderungen der Rechtsverhältnisse der Firma Curt Bentzins wiedergegeben, wie sie jeweils in der Berliner Börsenzeitung veröffentlicht wurden: 1896 ist neben Curt Bentzin auch Hugo Oskar Bräutigam Inhaber der Werkstätte. Zum 10. Dezember 1900 wird die Firma Curt Bentzin dann aus dem Register gelöscht, da sie zur Zweigniederlassung der Aktiengesellschaft Camerawerk Palmos in Jena gewandelt wurde. Am 23. Juni 1902 wird die Firma Curt Benzin in Görlitz nach Auflösung der Palmos Camera AG aber wiederhergestellt.

Curt Bentzin Reklame 1911

Der Erste Weltkrieg bildete für die deutsche Kameraindustrie eine tiefgreifende Zäsur. Erst stockte die technische Weiterentwicklung durch die Rüstungskonzentration und anschließend sorgten schwere wirtschaftliche Verwerfungen als Folge des mit Schulden finanzierten Krieges in der ersten Hälfte der 20er Jahre dafür, daß die Nachfrage nach Kameras zunächst stagnierte. Das änderte sich schlagartig mit Überwindung der Inflation, die Leute hatten Geld mit realer Kaufkraft in der Tasche und konnten sich nach zehn Jahren Verzicht wieder etwas leisten. Plötzlich war jedoch Innovation gefragt. Was die Leute nicht wollten, waren Holzkameras, die auf dem Stand von vor dem Kriege stehen geblieben waren.

3. Aufbruch in ein neues Zeitalter

Im deutschen Raum hatte sich noch auffallend lang die Plattenkamera gehalten. Doch nach dem Ersten Weltkrieg gewann der "schnelle" Rollfilm, der es gestattete, mehrere Aufnahmen hintereinander in rascher Folge anzufertigen, einen großen Zuwachs an Anhängerschaft, nachdem man sich mit der Arbeitsweise angefreundet hatte, die kleinen Negative nicht mehr im Kontakt zu kopieren, sondern sie zu vergrößern. Den großen Durchbruch des später als Mittelformat bezeichneten Rollfilmbildes brachte dann das Erscheinen der Rolleiflex im Jahre 1928. Die Schnelligkeit und hohe Bildqualität dieser Kamera überzeugte nicht nur den Amateur, sondern zunehmend auch die Berufsphotographen.

Rollfilmkameras hatte die Firma Bentzin bereits zuvor im Angebot gehabt. Hervorzuheben ist die Primarette, die für den Rollfilm A8 im Format 4,5x6 cm ausgelegt war und dabei auch eine Mattscheibeneinstellung der Schärfe bot. Doch erstens war eine derartige Kamera mit den getrennten Sucher- und Aufnahme-Objektiven ziemlich untypisch für den Görlitzer Hersteller und zweitens erwies sich die seltsame Bauart mit den beiden quasi übereinander gesetzten Kameragehäusen als wenig zeitgemäß. Diese umständliche Bauweise war jedoch nötig, weil ein Reflexsucher nur schwer mit dem rechteckigen Bildformat, das sie verwendete, harmoniert hätte. Bei Hochkant-Aufnahmen wäre die Mattscheibe unbenutzbar geworden. Eine wirklich sinnvolle Reflexkamera mußte daher mit einem quadratischen Bildformat arbeiten.

Primarflex Reklame 1936

Es hätte wenig Sinn gehabt für die Firma Bentzin, noch eine weitere Rolleiflex-Kopie auf den Markt zu werfen. Deren 6x6-Format hatte sich zwar rasch etabliert, weil eine derartige Reflexkamera immer gleich in den Händen gehalten werden kann und nicht gedreht werden muß. Aber die Anhänger dieses neuen Formates vermissten die Möglichkeit ihrer alten Reflexkameras aus der Plattenzeit, das Objektiv gegen längere Brennweiten auszuwechseln, um beispielsweise Sportszenen oder Portraits anzufertigen. Genau diese Marktlücke hatte die Firma Bentzin Mitte der 30er Jahre erkannt. Diese Kamera wurde daher mit Begeisterung aufgenommen, als sie auf der Leipziger Frühjahrsmesse im März 1936 erstmals vorgestellt wurde [Vgl. Sächsiche Volkszeitung vom 12. Juni 1936, S. 8.]. 1936 dürfte auch das Jahr sein, in dem diese Kamera wirklich in den Handel gelangt ist. Die an verschiedenen Stellen behaupteten Angaben 1935 oder gar 1934 lassen sich weder durch Quellen noch durch die zeitgenössische Literatur nachweisen.

Primarflex 1936

Eine Einäugige Reflexkamera 6x6 mit Schlitzverschluß und Wechselobjektiven, bei der im Gegensatz zur Rolleiflex Sucherbild und Aufnahme stets exakt übereinstimmen, barg wirklich ein großes Marktpotential. Deshalb war die Primarflex damals auch nicht die einzige Kamera in diesem Sektor, die neu herausgebracht wurde. Neben der im Jahr zuvor erschienenen Reflex-Korelle kamen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mindestens noch die Beier-Flex und die Exakta 6x6 hinzu. Zum Teil wurden für diese Kameras dieselben Objektive verwendet, wie diese Aufstellung von Walter Kross aus dem Jahre 1939 zeigt [Spiegelreflex 6x6, 2. Auflage, 1941, S. 55].

Primarflex-Objektive

Die Sonderstellung der Primarflex lag dabei darin, daß sie den würfelförmigen Aufbau der Platten-Spiegelreflexkameras übernahm und ins Rollfilm-Zeitalter überführte. Diese Bauweise hat zunächst etwas verlockendes an sich. Sie ermöglichte ein beeindruckend kompaktes, gut in der Hand liegendes Kameragehäuse; das allerdings nur zu dem Preis, daß sowohl der Film als auch der Ablauf der Verschlußtücher abgeknickt werden mußten, um in dem kompakten Gehäuse Platz zu finden. Bei der Primarflex sind die Rollos des Verschlusses unten um 90 Grad umgelenkt. Trotzdem blieben nur geringe Bewegungsräume der Tücher zu Beginn und zum Ende des Verschlußzyklus übrig, was große Schwierigkeiten bei der Schlitzbildung und beim Abbremsen der Tücher mit sich brachte. Darin ist die Ursache zu sehen, weshalb es später gar nicht so viele Nachahmer des Primarflex-Aufbaues gegeben hat.

Eine derartige würfelförmige 6x6-Spiegelreflexkamera bereitete immer große Probleme bei der Konstruktion des Schlitzverschlusses, der schließlich auf engstem Raum untergebracht werden muß. Es ist schon bemerkenswert, daß die Hersteller von Kameras dieses Typs (Hasselblad 1600 F, Bronica de Luxe und ihre jeweilgen Nachfolger, Rolleiflex SL66) irgendwann den Schlitzverschluß aufgegeben und ihn allesamt durch einen in den Wechselobjektiven eingebauten Zentralverschluß ersetzt haben. Schlitzverschlußkamers nach der sogenannten T-Form, bei denen sowohl Film, als auch Verschlußtücher gestreckt ablaufen konnten, haben aufgrund des einfacheren Aufbaus dagegen eine weite Verbreitung gefunden.

Primarflex Curt Bentzin

Man kann der Primarflex dabei bescheinigen, für die 30er Jahre eine ungemein moderne Konstruktion gewesen zu sein. Sie bot beispielsweise einen mit dem Filmtransport gekuppelten Verschlußaufzug (das hatte damals noch nicht einmal die Rolleiflex). Auch scheint von Anfang an eine automatische Filmschrittsteuerung vorhanden gewesen zu sein. Noch an der Primarflex II aus den 50er Jahren erkennt man aber, welche Pionierstellung diese Kamera dabei innehatte: Das Filmeinlegen mutet aus heutiger Sicht kurios an. Der eingelegte Film muß nämlich bei offener Rückwand so lange weitergedreht werden, bis gerade der Klebestreifen sichtbar wird, mit dem der Film am Schutzpapier befestigt ist. Der Grund ist ganz einfach: als die Primarflex erschien, gab es noch keinen Startpfeil auf dem Schutzpapier. Rollfilmkameras arbeiteten damals ausschließlich mit einem Nummernfenster. Für einen automatischen Filmtransport gab es daher nur die Klebestelle als eindeutiges Startzeichen. Aus ebenjenem Grunde arbeitete auch der revolutionäre Rolleiflex Automat von 1937 mit einer mechanisch sehr aufwendigen Abtastung des Klebestreifens, die das Filmeinlegen bei dieser Kamera so kinderleicht machte.

Primarflex

Wie das Bild oben zeigt, war die Primarflex für ihre Zeit außergewöhnlich komplex aufgebaut. Die Verschlußsteuerung mit einem einzigen Zeiteinstellknopf und ohne umlaufende Teile war geradezu revolutionär. Man kann nur bewundernd feststellen, daß im Hause Bentzin offenbar Jahrzehnte an Erfahrungen im Bau von Schlitzverschlüssen in dieser Kamera zusammengeführt worden. Leider ist zu den Interna der Görlitzer Firma nur wenig überliefert. Gerne würde ich den eigentlichen Konstrukteur benennen, aber trotz intensiver Recherchen ist nichts Aussagekräftiges zu finden. Der Firmeninhaber Curt Bentzin selbst  kann es nicht gewesen sein, denn der war bereits im Jahre 1932 im 70. Lebensjahr verstorben. Einzig ein Gebrauchsmuster Nr. 1.512.498 vom 27. November 1941 zu einem verbesserten Bajonettanschluß habe ich ausfindig machen können. Aber auch hier ist nur die Firma Curt Bentzin, Rauschwalder Straße 28 in Görlitz benannt, jedoch kein Erfinder. Details zum Hintergrund dieser Kameras bleiben daher leider im Dunkeln, weil sich keine Primärquellen finden lassen.

DE1512498 Bentzin Primarflex
Primarflex 1940

Das bekannte Schnellwechselbajonett mit dem durchbrochenen Gewinde war anhand obiger Meldung bereits zur Frühjahrsmesse 1940 eingeführt worden. Die verbesserte Kamera wurde nun Modell II genannt. Sie sollte nicht mit der Primarflex II verwechselt werden, auf die gleich näher eingegangen wird.

Primarflex Druckgußgehäuse

Oben das stabile (und daher nicht gerade leichtgewichtige) Aluminium-Druckguß-Gehäuse der Primarflex (hier eine Nachkriegsausführung).

Bentzin Primarflex

Zur Besonderheit der Primarflex zählt, daß sich die Bildbühne ("Filmgleitrahmen") herausnehmen läßt, um an ihrer Stelle mit Platten oder Planfilm bestückte Kassetten ("Neusilberkassette") einsetzten zu können. Das gibt ein Bild davon, was für eine Umstellung es damals für die Photographen bedeutete, von Einzelaufnahmen mit individueller Belichtung auf ein Filmband mit 12 Bildern umzusteigen, die alle gemeinsam entwickelt werden mußten. Ob von dieser Möglichkeit der Benutzung von Photoplatten dann wirklich nennenswert Gebrauch gemacht wurde, das ist allerdings sehr fraglich.


Unten: Die Besprechung der neuen Primarflex in der Wiener Allgemeinen photographischen Zeitung Nummer 1/1937 ist zugleich eine Bedienungsanleitung. Die einleitenden Sätze weisen noch einmal darauf hin, daß die Primarflex auch für den professionellen Anwender interessant war.

Besprechung Primarflex 1937
Primarflex Werbung 1939
Primarflex 1937
Primarflex 1938
Primarflex 1939

Auf der Weltausstellung in Paris des Jahres 1937 hatte die Primarflex eine Goldmedaille verliehen bekommen. Damit hatte die Firma Bentzin nach eigener Einschätzung "Weltgeltung" erlangt. Zumindest befand man sich auf dem Höhepunkt der Unternehmenshistorie.


Unten eine ausgefallene Reklameanzeige mit dem Komponisten Franz Lehar vom August 1940 aus der Ostmark, wie das heim ins Reich geholte Österreich damals genannt wurde.

Primarflex Reklame Österreich 1940
Primarflex 1938
Primarflex 1938
Primarflex advertisment 1936

Da die Firma Curt Bentzin bereits lange vor dem Erscheinen der Primarflex gezielt Exportmärkte im europäischen Ausland und sogar in Übersee aufgebaut hatte, konnte auch die "Kamera für den Kenner" in den 30er Jahren sofort nach ihren Erscheinen erfolgreich exportiert werden. Das galt auch für das überarbeitete Modell kurz nach dem Kriege

Primarflex Werbung Großbritannien 1937

Eine Sache noch: Als die Kamera 1936 auf den Markt kam, wurde offenbar mit der Seriennummer um 24.550 begonnen. Das jedenfalls ist die Ziffernfolge, die auf der sehr führen Kamera steht, deren Abbildung oben in all diesen in- und ausländischen Annoncen immer wieder auftaucht. Das gibt einen gewissen Anhaltspunkt dafür, wie viele dieser Geräte überhaupt fabriziert worden sind. Bis zur völligen Umstellung auf Kriegswirtschaft werden es nur wenige tausend Stück gewesen sein.

4. Neuanfang: Die Primarflex II

Der Zweite Weltkrieg hatte neben unvorstellbarem menschlichem Leid auch verheerende Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft mit sich gebracht. In in Mittel- und Westeuropa, der Sowjetunion, in Japan und den USA war über Jahre hinweg die zivile Konsumgüter- zugunsten der Rüstungsproduktion stark zurückgefahren worden oder gar völlig zum erliegen gekommen. Reine Luxusgüter wie Photoapparate waren über viele Jahre quasi überhaupt nicht mehr produziert worden. Entsprechend hoch war die Nachfrage insbesondere nach qualitativ hochwertigen Kameras, doch im vom Krieg stark mitgenommenen Europa konnten sie sich nur die Wenigsten leisten. In den Vereinigten Staaten, wo man einerseits nicht von den Zerstörungen des Krieges betroffen gewesen war und andererseits die Rüstung zu einer hohen Konjunktur geführt hatte, war genügend Kaufkraft vorhanden. Nach etlichen Jahren des Verzichts, wo sich aufgrund des fehlenden Angebots die Geschäfte geleert hatten, war jetzt die Zeit des Nachholens angebrochen und eine hochwertige Kamera hatte damals einen Stellenwert für die individuelle Lebensausstattung wie heute vielleicht ein Smartphone.

Primarflex

Seit Ende der 1930er Jahre war die Firma durch Curt Bentzins Sohn Ludwig sowie seine Schwester Helene geführt worden. Offenbar fingen sie unmittelbar nach dem Kriegsende wieder an, Kameras aus noch vorhanden Teilen zu montieren. Es fällt eine große Vielfalt an unterschiedlichen Details auf, die darauf schließen läßt, daß zunehmend auch neu angefertigte Teile verbaut wurden. Nachdem was bisher bekannt ist, wurde die Familie Bentzin jedoch im Zuge des Volksentscheides vom Frühjahr 1946 enteignet und die Firma in den VEB Görlitzer Kamerawerke bzw. VEB Primar-Kamerawerk umgewandelt.

Primarflex 1948/49

Sehr seltene Reklame aus der Zeit 1948/49, nachdem die Familie Bentzin enteignet und ihre Firma als "Kamera-Werke Görlitz" unter Verwaltung des Landes Sachsen gestellt war.

Primarflex

Wer vielleicht noch von seinen Großeltern Berichte darüber kennt, wie entbehrungsreich diese unmittelbare Nachkriegszeit gewesen ist, der wird sich unweigerlich fragen, weshalb man nun ausgerechnet so etwas überflüssig erscheinendes wie Kameras hergestellt hat. Das lag daran, daß in Deutschland bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die leistungsfähigsten Hersteller für Photogeräte angesiedelt waren, die internationale Bekanntheit genossen. Und angesichts des oben bereits beschriebenen Nachfragestaus auf insbesondere dem US-Markt, war der Anreiz entsprechend groß, diese Photogeräteproduktion so schnell wie möglich wieder anlaufen zu lassen und damit harte Währung einzunehmen. Das war wichtig angesichts einer de facto fast wertlosen Reichsmark. Darin liegt der Grund, weshalb in Wetzlar (Leitz), Braunschweig (Franke & Heidecke, Voigtländer), im Dresdner Raum genau so wie in Görlitz nun an einer raschen Wiederherstellung dieses Industriezweiges gearbeitet wurde. Dabei wurde ein großer Anteil der in der Sowjetischen Besatzungszone hergestellten Kameras durch die Sowjetunion als Reparationsleistung requiriert – aber natürlich nicht, um den sowjetischen Inlandsbedarf zu befriedigen, sondern um die Kameras an westliche Länder zu verkaufen und damit harte Dollar einzunehmen.

Primar Reflex II advertisment 1951

Vor diesem Hintergrund muß die Wiederaufnahme der Primarflex-Produktion nach dem Zweiten Weltkrieg und die Überarbeitung der Kamera zum Modell Primarflex II gesehen werden. Auch nach den Währungsreformen von 1948 blieb das so. Der US-Exportmarkt, wohin diese Kameras zu großen Teilen geliefert wurden, war unwahrscheinlich lukrativ. Dazu muß man wissen, daß die damals 295,- Dollar, die Anfang der 50er Jahre für eine "Primar-Reflex II" mit Tessar 3,5/105 verlangt wurden, so viel wert waren, wie etwa 3500 Dollar inflationsbereinigt heute! Dieser Dollar hatte wiederum ein reelles Kaufkraftpotential vom drei- bis vierfachen der frühen westdeutschen D-Mark. An diesen Zahlenspielen kann man vielleicht ermessen, wie wertvoll jede einzelne damals in die USA exportierte Kamera gewesen ist. Deshalb hatten nicht nur der Hersteller der Kamera sondern auch die (Besatzungs-)Behörden ein enormes Interesse daran, daß die Produktion dieser Spitzen-Erzeugnisse so rasch wie möglich wiederaufgenommen wurde – ungeachtet dessen, daß eigentlich ein riesiger Mangel an den einfachsten Alltagsdingen herrschte, die während des Bombenkrieges Opfer der Flammen geworden waren. Andererseits wurde es aber auch als großer Hoffnungsschimmer empfunden, wenn endlich wieder eine zivile Fertigung in Gang kam, mit der man den Wohlstand und die Weltgeltung aus der Zeit vor dem Kriegsausbruch verband.

Primarflex II Tessar 3,5/16,5 cm

Dementsprechend müssen sowohl die Primarflex II, als auch die neu konzipierte Meister-Korelle für die besagte Zuversicht und Hoffnung gesorgt haben, als sie als modernisierte Abkömmlinge "altbewährter Typen" auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1950 erstmals der Öffentlichkeit gezeigt wurden [Vgl. Fotografie 4/1950, S. 92/93.]. Doch wieso wurden dann beide Spitzen-Kameras nach weniger als drei Jahren bereits wieder aus der Produktion genommen? Viel deutet darauf hin, daß es in beiden Fällen bereits nach kurzer Zeit massive Probleme in Bezug auf die Funktionstüchtigkeit und Zuverlässigkeit gab. Die neuen Farbmaterialien sowie die dünnschichtigen Schwarzweiß-Emulsionen, die Anfang der 50er Jahre aufkamen und die beide nur einen sehr geringen Belichtungsspielraum aufwiesen, zeigten nun gnadenlos auf, wenn Schlitzverschlüsse einerseits die angegebenen Belichtungszeiten nicht einhielten und schlimmer noch, wenn der Belichtungsschlitz nicht mit der nötigen Gleichmäßigkeit über das Bildfenster lief. Bei den alten doppelschichtigen Schwarzweiß-Emulsionen, die eine große Spanne an Über- und Unterbelichtungen abfederten, waren diese Schwächen schlichtweg niemandem aufgefallen. Doch diese waren prinzipieller Natur und konnten auch nicht einfach dadurch kaschiert werden, indem bei späten Exemplaren der Primarflex einfach die besonders kritische 1/1000 Sekunde fortgelassen wurde. Die leichte Modernisierung der Primarflex Ende der 40er Jahre war eben auf einer mittlerweile hoffnungslos veralteten Grundlage geschehen. Man hätte die Kamera im Prinzip komplett neu konstruieren müssen – und zwar in etwa so, wie die Praktisix als eine von Grund auf neuentwickelte Fortführung des Bauprinzips der Reflex-Korelle bzw. Meister-Korelle angesehen werden kann.

Doch dies konnte und wollte offenbar niemand im VEB Feinoptisches Werk Görlitz in Angriff nehmen. Dieser Objektivbauanstalt ("Meyer-Optik") war nämlich die Produktionsverantwortung der Primarflex II überantwortet worden – wiederum vergleichbar mit der Meister-Korelle, die nach Auflösung des WEFO-Werkes im VEB Kamera-Werke Niedersedlitz weitergebaut werden sollte. Angesichts der unzureichenden Zuverlässigkeit der Kamera und ihrer handwerklichen Produktionsweise wurde das freilich durch die Niedersedlitzer Betriebsleitung abgelehnt. Ähnlich wie die Reflex-Korelle war auch die Primarflex nicht mehr weiterentwicklungsfähig. Damit war das Aus für diese wegweisenden Kameras nach nur kurzer Fertigungszeit besiegelt. Während jedoch die Meister-Korelle erfolgreich durch die 1956 erschienene Praktisix ersetzt werden konnte, glückte dies für die würfelförmig gebaute 6x6-kamera nicht. Zwar wurde viel Hoffnung auf auf die neue Exakta 6x6 gesetzt, die ab 1953/54 nahtlos die Primarflex hätte ersetzen können. Doch diese Kamera und ihr Konstrukteur scheiterten and dieser hochgesteckten Aufgabe und der Hersteller Ihagee geriet in eine tiefe Krise, von der er sich praktisch nie wieder ganz erholen sollte.

Primar-Reflex II

Oben eine späte "Primar-Reflex II", die mit einem Tessar ausgestattet gewesen ist, das bereits mit einer Vorwahlblende versehen worden war, was das Arbeiten mit dem Typ der Einäugigen Reflex wenigstens ein bißchen erleichterte. Man beachte diese Namensänderung für Exportmodelle noch kurz vor Einstellung der Produktion. Bei dieser Kamera ist auch die 1/1000 Sekunde fortgelassen worden (sie ist ohnehin nie erreicht worden). Unten die Bedienungsanleitung zu dieser Kamera.

Primarflex with prism finder

Nachdem die Primar Reflex II im Vorjahr intensiv in der US-Fachpresse als Neuerscheinung besprochen worden war, wurde in der "Popular Photography" vom März 1951 ein Prismensucher für diese Kamera angekündigt. Dahinter kann man eigentlich nur eine Offensive der US-Vertriebsgesellschaft für DDR-Photogeräte namens "Ercona Camera Corporation" sehen, den schleppenden Verkauf der Primarflex anzukurbeln, denn diesen Prismensucher hat es nie gegeben und die obige Abbildung ist eine reine Photomontage.

Die Handelspolitik, die neue Primarflex II nach ihrem Erscheinen sogleich in großen Stückzahlen in die USA zu exportieren, da man sich erträumte, sie damit auf schnellstem Wege regelrecht in harte Dollar ummünzen zu können, zeigte offenbar bereits nach kurzer Zeit fatale Folgen. Weiter oben wurde schon einmal vorgerechnet, daß die damals veranschlagten Verkaufspreise von 275,- bzw. 295,- Dollar etwa mit dem Faktor 12,5 (Stand 2023) multipliziert werden müssen, um die Kaufkraft dieses Geldbetrages im Jahre 1950 mit unseren heutigen Maßstäben in Relation zu setzen. Das war einfach unvorstellbar viel Geld und überstieg dasjenige, was sich auch in den USA ein Normalbürger leisten konnte, um ein Mehrfaches. Demzufolge kam es so, wie es immer kommt, wenn zwar das Angebot in der Hoffnung eines lukrativen Geschäfts auf hohem Niveau gehalten wird, die Nachfrage jedoch stagniert: Erst füllte der stete Nachschub an Kameras die Lagerbestände auf und anschließend brach deren Preis ein, weil sie zu dem veranschlagten Betrag schlichtweg nicht absetzbar waren.

Astraflex Primarflex

Während damals in der jungen DDR Preise und Mengen einfach staatlich festlegt wurden (und hochwertige Konsumgüter wie die Primarflex II dadurch zur kaum erhältlichen Mangelware gerieten), begannen dagegen in den marktwirtschaftlich strukturierten USA nun elementarste ökonomische Prinzipien zu wirken. Das kann man darin ablesen, daß hier noch im Jahre 1956 also drei Jahre nach Einstellung ihrer Produktion die zur Astraflex II umgelabelte Primarflex als "brand new" zu stark verbilligten Preisen offeriert wurde. Dasselbe in noch viel drastischerem Umfange geschah zur gleichen Zeit übrigens auch mit der Contax S, von der sich ebenfalls große Überbestände angehäuft haben mußten, die nun offenbar von Handelshäusern billig aufgekauft und anschließend unter eigenem Namen in Massen auf den Markt geworfen wurden. Der Unterschied bei der Spiegelcontax lag aber darin, daß diese Kamera ja noch in Produktion war und daher aus Dresden gelieferte Neuware schlichtweg unverkäuflich wurde. Die Primarflex, Reflex-Primar oder Astraflex II hingegen verschwanden unmittelbar nach dieser Abverkaufsaktion endgültig vom Markt, da das angestrebte Ziel erreicht war, sich der aufgehäuften Lagerbestände zu entledigen.

Astraflex II advertisment 1956

Oben: Sehr intensive Werbung für die Astraflex II über das ganze Jahr 1956 hinweg verteilt in der US-Fachzeitschrift "Popular Photography".

Und obwohl von der Primarflex II wohl die größten Stückzahlen aller Primarflex-Modelle gebaut wurden, waren diese Kameras in den Fachgeschäften des Herstellerlandes faktisch überhaupt nicht zu haben. Entsprechend selten ist die Kamera in Ostdeutschland gewesen. Nur Berufsphotographen und Bildberichterstatter konnten sie auf Zuteilung erwerben. Auffällig ist jedoch, daß viele späte Exemplare offenbar in West-Berlin in den Handel gekommen sind.

Auf der "Landesspartakiade" läßt ein Bildberichterstatter einen kleinen Jungen in den Lichtschacht seiner Primarflex schauen. [Bild: Abraham Pisarek, Deutsche Fotothek, Datensatz Nr. 88931820, undatiert - vor 1956]

5. Über den angeblichen Zusammenhang zwischen Primarflex und Hasselblad

Ursprünglich habe ich es bewußt vermieden, in diesem Artikel in irgend einer Weise an der Legende mitzustricken, Victor Hasselblad habe die Primarflex kopiert. Ich wollte einfach diesen Unsinn nicht noch unnötig weiter protegieren. Da aber vor nicht allzu langer Zeit ein Buch über die Görlitzer Photoindustrie erschienen ist, wo wieder einmal genau diese Parallelen gezogen werden, fühle ich mich genötigt, hier einmal energisch Widerspruch einzulegen. Der Autor, der über die Primarflex auch nichts Konkretes zu sagen weiß (außer daß er einen Konstrukteur namens Helwig benennt, ohne jedoch Belege zu liefern), bringt es doch tatsächlich fertig, unter dem Stichwort Primarflex letztlich nur über die Hasselblad und die Mondkameras zu schwärmen. Die alte Leier also.

Primarflex-Hasselblad

Um es hier ein für alle Mal klarzustellen: Primarflex und Hasselblad haben in etwa so viel gemeinsam, wie ein VW Käfer und ein Trabant. Für meine Oma gibt es da kaum einen Unterschied; es sind beides zwei knuffige Autos mit jeweils vier Rädern dran. Der Autokenner hingegen weiß, daß es sich um zwei grundverschiedene Automobilkonstruktionen handelt. Der Käfer mit seiner auf den Rahmen aufgesetzten Karosserie, der Trabant selbsttragend, der Käfer mit Heckmotor und Heckantrieb, der Trabant mit Frontmotor und Frontantrieb, der Trabant ein Zweitakter, der Käfer ein Viertakter, et cetera. Und genau so grundverschieden ist die Konstruktion von Primarflex und Hasselblad. Wer sich von den rein äußerlichen Ähnlichkeiten beider Würfelkameras täuschen läßt, ist meiner Ansicht nach genau so ein Kameraexperte, wie meine Oma ein Autoexperte ist.

Primarflex Verschluß

Schließlich folgt doch die Primarflex einem altbewährten Aufbau, der schon seit dem späten 19. Jahrhundert bei einäugigen Großformat-Reflexkameras verbreitet war. Hierbei läuft der Schlitzverschluß in senkrechter Richtung (also in diesem Falle von oben nach unten) ab, wobei hinter dem Spiegel zwei der vier Vorhangwalzen untergebracht wurden. Für Victor Hasselblad oder genauer gesagt für seinen Konstrukteur Algot Percy Svensson kam dieser Aufbau jedoch nicht infrage, weil die Hasselblad von vornherein in Hinblick auf Wechselmagazine ausgelegt werden sollte. Das führte quasi zu einem doppelwandigen Gehäuse, wodurch die Filmebene so weit zurückverlagert war, daß bei Verwendung der herkömmlichen Anordnung von Spiegel und Verschluß keine normalbrennweitigen Objektiv hätten verwendet werden können. Svensson mußte deshalb eine besonders platzsparende Lösung finden, mit der die Objektivanlage wieder so weit wie möglich der Filmebene und der Reflexspiegel so weit wie möglich der Mattscheibenebene angenähert werden konnten. Er fand bei der Hasselblad 1600F eine völlig neue Lösung für den Schlitzverschluß, indem er dessen vier Vorhangwalzen links und rechts vom Spiegelkasten anordnete und die Vorhänge demzufolge in horizontaler Richtung ablaufen ließ [DBP Nr. 886.247 vom 29. Oktober 1949].

Primarflex Bauform

Das wird noch einmal deutlich, wenn man das Verschlußbauprinzip der Primarflex (oben, Seitenansicht) und dasjenige der Hasselblad (unten, Draufsicht) miteinander vergleicht. Während bei der Primarflex bauartbedingt der Spiegel weit vom Verschluß und der Mattscheibe entfernt gelagert ist, was den Lichtweg derart verlängerte, daß diese Bauart niemals genügend Raum für ein Wechselmagazin geboten hätte, konnte bei der Hasselblad die Schwenkachse des Spiegels problemlos direkt über den Ablaufwegen der Verschlußtücher untergebracht werden. Um genau diesen Betrag konnte nun das Objektiv wieder der durch das Magazin weit nach hinten verlagerten Filmebene angenähert werden, ohne von der für das 6x6-Fromat üblichen Normalbrennweite von etwa 80 mm abgehen zu müssen.

DE886247 Hasselblad Schlitzverschluß

Ich kann zwar nicht ausschließen, daß Victor Hasselblad die Primarflex gekannt hat und von ihrer prinzipiellen Formgebung inspiriert wurde, aber das ist aus technischer Sicht in etwa so ausschlaggebend, wie die Tatsache, daß die Konstrukteure des Trabant sicherlich den Käfer gekannt haben.

Primarflex Hasselblad

Für die Primarflex wurde im Grunde genommen derselbe Grundaufbau übernommen, wie er sich in den kastenförmigen Platten-Spiegelreflexkameras sehr bewährt hatte, die von der Firma Curt Bentzin bereits den 1890er Jahren gefertigt wurden. Völlig neu war hingegen die Herausforderung, den Spannvorgang des Schlitzverschlusses mit dem bildstandsgerechten Filmtransport für den Rollfilm zu verkuppeln. Während die zur gleichen Zeit mit exakt demselben Problem befaßten Firmen Leitz Wetzlar und Ihagee Dresden diesbezüglich umfangreich Schutzschriften anmeldeten, fehlen diese leider vonseiten der Firma Bentzin, in der es offensichtlich keine entsprechend emsige Patentabteilung gab.

Primarflex mechanism

Die Mechanik dieser Kamera ist fast vollständig aus Messingteilen aufgebaut. Selbst die Schrauben sind aus Messing. Vor allem die Getriebeteile hätten zu Beginn der 50er Jahre auf Stahl umgestellt werden müssen, um die Kamera standfester zu machen.

Primarflex
Curt Bentzin advertisment 1913

Oben: Die Firma Bentzin gehörte neben der Ica, Ernemann und Mentor zu den vier bedeutendsten Herstellern von Einäugigen Reflexkameras. Ein besonderes Marktsegment stellten dabei zusammenlegbare Spiegelreflexkameras dar, die für den mobilen Einsatz bevorzugt wurden. Annonce in der Wochenschrift "Fliegende Blätter" vom Juni 1913.



Unten: Starre, kastenförmige Spiegelreflexkameras vertrieb die Firma Bentzin unter dem Markennamen "Primar" für verschiedene Plattenformate. [Zusammenstellung nach Pritschow, Karl: Die photographische Kamera und ihr Zubehör; in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band II, Wien, 1931, S. 164.]

Pritschow: Bentzin Reflex Primar

Die nach dem Tode des Firmengründers Curt Bentzin (1862 - 1932) herausgebrachte Primarflex muß als Reaktion seiner Nachfahren gesehen werden, angesichts des zunehmenden Bedeutungsverlustes von Photoplatten und Planfilmen zugunsten von Roll- und Kinéfilmen im sich rasch wandelnden Kameramarkt konkurrenzfähig zu bleiben. Nachdem Plattenkameras in den 1930er Jahren fast in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht waren, ergab sich nach dem Zweiten Weltkrieg nun aber ein neuer Bedarf an derartigen Geräten. Der Grund dafür lag in der starken Verbreitung der Farbphotographie, die dazu führte, daß in der Werbung und im Photojournalismus auf einmal farbige Abbildungen verlangt wurden. Das Problem lag aber darin, daß sich vom Kleinbild-Negativ nur unter sehr großen Kompromissen Klischees für den Farbdruck anfertigen ließen. Für gute Werbebilder wurde dagegen ein Farbnegativ oder -diapositiv im Format 9x12 cm bevorzugt. Jetzt konnte sich dasjenige Photoatelier glücklich schätzen, das aus den 20er Jahren noch eine Präzisions-Plattenkamera in Besitz hatte. Es ergab sich daher eine neue Nachfrage nach derartigen Kameras. Insbesondere für Personenaufnahmen und bewegte Motive wurde eine Spiegelreflex benötigt.

Bentzin Reflex-Primar

Darin liegt der Grund, weshalb nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal ein stark modernisiertes Modell der Reflex-Primar für das Format 9x12 herausgebracht wurde. Die Kamera zeichnete sich durch eine moderne Verschlußsteuerung mit Belichtungszeiten zwischen 1/300 und 1 Sekunde aus, die an einem einzigen Einstellknopf gewählt werden konnten. Neu war auch ein Synchronanschluß für Blitzgeräte, der das Arbeiten im Farbatelier sehr erleichterte, weil das neuartige Elektronenblitzlicht eine konstante und verlässliche Farbwiedergabe ermöglichte. Die Fertigungszahlen dieser Reflex-Primar dürften allerdings gering gewesen sein und mit dem generellen Ende des Görlitzer Kamerabaus im Jahre 1953 lief auch dieses Modell mit aus. Allein die Dresdner Firma Mentor hatte vergleichbare Atelierreflexkameras noch ein paar Jahre länger im Programm. [Bild: Heiko Pilz]

6. Die Primarflex heute

Trotz der oben bereits angesprochenen Probleme mit der Dauerhaftigkeit und Zuverlässigkeit war die Primarflex zu ihrer Zeit eine ernstzunehmende Kamera, die im Osten bis zum Erscheinen der Praktisix vor allem bei Berufsphotographen sehr gefragt war. Man kann mit ihr auch heute noch gut arbeiten, wenn erstens die Kamera prinzipiell in Ordnung ist und man sich zweitens ausreichend Zeit nimmt. Insbesondere die fehlende Springblende verlangsamt den Ablauf doch erheblich, weil man vor dem Auslösen stets noch die Blende zudrehen muß. An diesem Punkt wird einem klar, weshalb Siegfried Böhm unbedingt eine komplett neue Kamera entwickeln wollte, die gezielt auf die vollautomatische Springblende hin ausgelegt sein sollte. Bei den langen Brennweiten des Mittelformates, die unbedingt bei voller Blendenöffnung bis unmittelbar vor dem Auslösen fokussiert werden müssen, ist eine solche Einrichtung unheimlich hilfreich.

Primarflex, Tessar 3,5/165 mm

Photographiert man hingegen statische Motive, dann erzielt man auch mit der Primarflex beachtliche Resultate, deren Bildwirkung nicht zuletzt durch die begehrenswerten Primotare, Trioplane und Tessare erzielt werden, die zeitgenössisch zu dieser Kamera geliefert wurden. Aufnahmen mit diesen historischen Objektiven zeichnen sich nicht durch extreme Schärfeleistung, sondern vornehmlich durch eine bemerkenswerte Plastizität aus, die sich mit Worten kaum beschrieben läßt.

Leider gab es für die Primarflex kein Weitwinkelobjektiv. Eine Adaptionen des später für die Praktisix gelieferten Flektogons 4/50 verlangt nach einem Umbau der Kamera, da ansonsten der Spiegel anstößt. Die Primarflex benötigt eben eine besonders große Schnittweite Ich habe eine Lösung gefunden, die vielleicht nicht ganz stilecht ist, aber bei der die Kamera unangetastet bleiben kann. Und die Bildleistung ist entsprechend dem optischen Aufwand tadellos.

Primar - Reflex Sekor
Primarflex mit 50 mm

Ein zu Wohnzwecken umgebauter Wasserturm in Angermünde, oben mit dem auf Primarflex umgebauten Weitwinkel 4/50 mm, unten mit dem Zeiss Tessar 3,5/105 mm.

Primarflex Tessar 3,5/105 mm

Die Primarflex hat übrigens eine interessante Funktion zu bieten: Mit einem Knopf läßt sich nach dem Auslösen der Spiegel in die Betrachtungslage zurückführen, ohne daß der Verschluß gespannt werden muß. Daher muß auch der Film erst einmal nicht transportiert werden. Es ist beim Rollfilm immer günstig, aufgrund der schlechten Filmplanlage den Transport immer erst kurz vor der Aufnahme durchzuführen, damit das Material so straff wie möglich im Bildfenster liegt. Leider wird dieser Vorteil wieder durch ein anderes Problem infrage gestellt, das nahezu alle würfelförmigen Rollfilmkameras aufweisen: Durch die Umlenkrolle prägt sich nach längerer Zeit ein Knick in den Film ein, der beim nächsten Transport meist genau mitten in der Bildfläche zu liegen kommt. Über die daraus resultierenden partiellen Unschärfen ärgerten sich auch Hasselblad-Photographen jahrzentelang...

Olympiasonnar 2,8/180mm an der Primarflex II

Obwohl das Tessar 3,5/16,5 cm mit dem Konstruktionsdatum 4. September 1926 nicht gerade zu den frischesten Konstruktionen zählte, ist die Bildleistung an der Primarflex trotzdem erstaunlich gut, da nur der zentrale Teil des ausgezeichneten Bildkreises verwendet wird, der schließlich problemlos das 10x15-Format abdecken würde. Oben wurde bei Blende 4 mit 1/200 Sekunde photographiert, unten reichte das spärliche Licht eines trüben Dezembertages nur noch für die 1/100 Sekunde und die Blende war ganz geöffnet.

Primarflex Tessar 165 mm

Beide Aufnahmen mit dem Tessar 3,5/105mm; unten weit geöffnet

Marco Kröger


letzte Änderung: 13. Dezember 2024