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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Die Werra
Walter Ulbrichts Volkskamera?
Diese Kamerareihe stach von Anfang an durch ihr eigenwilliges Äußeres aus der Masse ihrer Zeitgenossinnen heraus. Kaum bekannt war dagegen der politische Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte.
1. Der historische Hintergrund der Werra
Diese ostdeutsche Kamera gehört zweifellos zu denjenigen, die aufgrund ihres ziemlich einzigartigen Aussehens bis heute Begeisterung hervorruft – und zwar nicht nur Hierzulande, sondern auch in Übersee. Auch wenn damals die Meinungen über ihre nüchterne, glattflächige Gehäusegestaltung und der gewagten Farbgebung geteilt waren, so erkennt man mehr als sieben Jahrzehnte später, wie fortschrittlich diese Kleinbildkamera in vielerlei Hinsicht seinerzeit gewesen ist. Dabei ist nicht einmal mehr deutschen Werra-Freunden vollauf bewußt, vor welchem brisanten politischen Hintergrund diese Kamera damals entstanden ist. Die Werra ist nämlich mit Deutsch-Deutscher Geschichte verbandelt wie keine andere Kamerabaureihe.
Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 hatte die kleine DDR in Aufruhr versetzt. Und zwar nicht nur in der Berliner Stalinallee, und auch nicht allein in den großen Industriezentren im Raum Magdeburg, Halle, Leipzig, sondern weit bis in die Peripherie hinein. Auch in kleineren, abseits gelegenen Städten wie beispielsweise Görlitz, Plauen oder Eisenach gingen die Leute auf die Straße. Überall eskalierte nun eine Lage, die sich über längere Zeit sukzessive zuspitzt hatte. Die eigentlichen Ursachen für den 17. Juni liegen aber bereits Schlüsseljahr 1952: Im Mai 1952 hatten die Westalliierten das Besatzungsstatut beendet und damit den (West-) Deutschen in weiten Teilen ihre Souveränität zurückgegeben ("Deutschlandvertrag"). Das als vergiftet wahrgenommene Gegen-Angebot Stalins, ein quasi blockfreies Gesamtdeutschland einzurichten, wurde dagegen von Adenauer ignoriert. Als Reaktion darauf riegelte die Ulbricht-Regierung im gleichen Monat die innerdeutsche Grenze ab, sodaß die Verbindung der "Ostzone" zum übrigen Deutschland auch physisch gekappt war – lange schon vor einem 13. August 1961 (was heute weitgehend vergessen ist). Unmittelbar an dieser neuen innerdeutschen Grenze liegende Orte – wie beispielsweise das thüringische Eisfeld – gerieten in eine schwere Krise.
Unterdessen verschärfte sich der Ost-West-Konflikt. Stalin – seit seiner Fehleinschätzung in Bezug auf den deutschen Überfall im Jahre 1941 vom Mißtrauen zerfressen – setzte nun auf völlige Abgrenzung und verstärkte Aufrüstung. Auch der erste Stellvertreterkrieg im Ost-West-Konflikt in Korea spielte dabei eine treibende Rolle. Vor diesem Hintergrund sollte die kleine DDR zu einem großen Rüstungslieferanten für die Sowjetunion umgebaut und völlig in deren strategische Ziele integriert werden. Der eingesperrten Bevölkerung wurde diese Politik der Sowjetisierung der DDR auf der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 nun als "planmäßiger Aufbau des Sozialismus" unterbreitet. Und die mit dieser Politik verbundene forcierte Ausweitung der Schwerindustrie führte nach den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Kriege dazu, daß sich die Wohlstandsverhältnisse der DDR-Bevölkerung erstmals wieder verschlechterten.
Die Lebensmittelversorgung war ungenügend, weil die Gefängnisse voll mit Bauern waren, die sich gegen die ebenfalls seit dem Juli 1952 forcierte Zwangskollektivierung gestemmt hatten. Privatunternehmer wurden öffentlich wie Staatsfeinde behandelt und wanderten daher – wie auch die Bauern – massenweise in den Westen ab, was sich nicht nur negativ auf die Produktion hochwertiger Konsumgüter auswirkte, sondern auch die "vielen kleinen Dinge des täglichen Bedarfs" knapp werden ließ. Und da es wenig zu kaufen gab, war gleichsam zu viel Geld im Umlauf, das wiederum nicht ausgegeben werden konnte, weil sich ja die Geschäfte leerten. Auf der anderen Seite kostete die Rüstung immense Summen, die aufgetrieben werden mußten. Die zu diesem Zweck unter dem Mantel der Arbeitsnormerhöhung verdeckte Lohnkürzung vom Mai 1953 brachte nun das Faß zum überlaufen. Es gärte in der Bevölkerung.
Eine der heute noch bekannten Losungen aus den Tagen des 17. Juni 1953 lautete "Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille". Gemeint waren Walter Ulbricht (erste Reihe, zweiter von rechts), Wilhelm Pieck (zweiter von links) und Otto Grotewohl (Mitte) – hier zusammen aufgenommen auf der Maidemonstration 1946 in Berlin von Abraham Pisarek, Deutsche Fotothek, Datensatz 81073090.
Der Realität, daß über weite Kreise der Bevölkerung hinweg eine tiefe Abneigung gegenüber seiner Person vorherrschte, wurde ein inszenierter Personenkult um Walter Ulbricht entgegengestellt, der dem Vorbild Stalins in nichts hinterherstand und in Bezug auf seine Lächerlichkeit keine Grenzen kannte. So genügte ihm nicht, daß dasselbe mit seinem Konterfei geschah, sondern er ließ sich gar persönlich von jungen FDJlern durch die Gegend tragen. Oben im August 1951 [Abraham Pisarek, Deutsche Fotothek, Datensatz 88931423), unten im Oktober 1950 [Höhne/Pohl, Deutsche Fotothek, Datensatz 70604451].
Doch es war die von Seiten der neuen Sowjetführung Anfang Juni eilig angeordnete Richtungskorrektur um beinah 180 Grad, die nun die SED-Herrschaft ernstlich in Gefahr brachte. Stalin war unvermittelt gestorben und aus Moskau kamen umgehend neue Vorgaben, weil man dort die explosive Lage in dem kleinen "Frontstaat zum Westen" erkannt hatte. Ein "Neuer Kurs" wurde überstürzt verkündet. Die Partei, die bis dahin immer alles wußte und alles konnte und sowieso immer recht hatte, gestand auf einmal Fehler ein. Die bis dato eingeschüchterte Bevölkerung spürte daraufhin plötzlich Oberwasser und traute sich, auf die Straße zu gehen. Rasch wurden politische Forderungen gestellt bis hin zu freien Wahlen. Dieser "Spuk" ließ sich erst durch das gewaltsame Eingreifen der Besatzungsmacht beenden.
Paradoxerweise sollte nun aber gerade diese Eskalation des 17. Juni die wacklige Machtposition Walter Ulbrichts innerhalb seiner Partei festigen. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes und dem Ausschalten der innerparteilichen Gegner Ulbrichts wurde das System nun um so fester zementiert. Hatte der „Neue Kurs“ die Partei einige Wochen zuvor noch in helle Aufregung versetzt, so wurde er nun quasi dahingehend umgedeutet, daß auf der Basis von wirtschaftspolitischen Zugeständnissen die Lage beruhigt und Druck aus dem System genommen werden sollte. Unter anderem mit dem Mittel, den DDR-Bürgern etwas zum Kaufen in die Läden zu stellen, gelang es, politische Grundsatzfragen vom Tableau zu nehmen. Leicht gelockerte Zügel, ein Hauch von Wirtschaftswunder und die rigorose Verfolgung aller Abweichler und Andersdenkenden versetzten die SED in die Lage, ihre Machtposition zu konsolidieren und für die nächsten dreieinhalb Jahrzehnte zu konservieren, bis die damals unter den Teppich gekehrten Grundsatzfragen das Regime ab dem Spätsommer 1989 wieder erbarmungslos einholten.
Der 17. Juni hatte der SED einen großen Schrecken eingejagt. Doch das Regime festigte sich rasch und auch der Personenkult um Walter Ulbricht fand bald wieder seine ungezügelte Fortsetzung, wie diese Aufnahme vom 8. Juni 1954 belegt [Abraham Pisarek, Deutsche Fotothek, Datensatz 88931952]. Knapp zehn Jahre später, auf dem VI. Parteitag der SED, von dem im Abschnitt 7 noch die Rede sein wird, weil er gewissermaßen das Ende der Werra-Reihe einleitete, wird sich Walter Ulbricht im Beisein Nikita Chruschtschows gar als langjähriger Kämpfer gegen den Stalinismus inszenieren.
2. Die Werra als Beitrag des VEB Carl Zeiss Jena zum "Neuen Kurs" der SED
Es ist gar nicht meine Absicht, hier zu politisieren, aber unsere Werra ist nun einmal ein beredtes Zeugnis für diese wirtschaftspolitischen Weichenstellungen in der frühen DDR. Sie war ein direktes Ergebnis des besagten Neuen Kurses der Einheitspartei. Dabei verpflichtete sich der VEB Carl Zeiss JENA damals dazu, eine Kleinbildkamera für die breiten Massen zu konstruieren, die bei zweckmäßigem Aufbau und guter Leistung in möglichst großen Stückzahlen herstellbar sein sollte [Vgl. Miller, Rolf, Die Werra; in Fotografie 12/1957, S. 353ff.]. Immerhin 50.000 hochwertige Kameras wurden vom zuständigen Ministerium für Maschinenbau zunächst gefordert, was einen Eindruck über die immense Bedeutung dieses Konsumgüterproduktes Photoapparat in der damaligen Zeit vermittelt. Gleichzeitig lag eine wichtige Vorgabe darin, daß der Endverbraucherpreis der neuen Kamera in einem Bereich gehalten werden mußte, der für die avisierten breiten Bevölkerungskreise tatsächlich noch im Bereich des Erschwinglichen lag. Es mußte einfach unbedingt verhindert werden, daß sich bei einem groß als Volkskamera angekündigten Erzeugnis die Bürger am Ende doch nur wieder die Nasen an den Schaufensterscheiben plattdrückten, wie das bei den sehr begehrten Kleinbild-Spiegelreflexkameras aus Dresden der Fall war. Man muß sich heute darüber im Klaren sein, daß die Werra auch indirekt die Funktion hatte, das Begehren der DDR-Bevölkerung nach diesen exportträchtigen Spiegelreflexkameras abzumildern. Welche politische Brisanz diesem Thema damals zugemessen wurde, läßt sich heute noch daran ablesen, daß das Ministerium tatsächlich kurzzeitig mit dem Gedanken spielte, den VEB Zeiss Jena zu einer Lizenzproduktion der Niedersedlitzer Praktica zu verpflichten. Doch das konnte die Jenaer Betriebsleitung erfolgreich abwenden. Stattdessen begab man sich auf den Pfad einer völligen Neukonstruktion, was insbesondere im Hinblick auf die Vorgabe des amateurgerechten Preises der Kamera ein großes Wagnis darstellte.
Denn die Bildung der Endverbraucherpreise in der DDR war ein hochkomplexes Thema, was daran liegt, daß jene nicht auf Marktmechanismen beruhte, sondern auf der Marx'schen Mehrwerttheorie. In der Praxis lief das darauf hinaus, daß der Gewinnanteil des Herstellers, der Einnahmeanteil des Staatshaushaltes sowie die Handelsspanne der Verkaufsstellen im Vorhinein durch eine Behörde festgelegt wurde. Und offensichtlich mußte nun, wenn der Ladenpreis der Kamera unter der politisch gewollten Grenze von 200,- Mark gehalten werden sollte, ihr Werksabgabepreis (auch Industrieabgabepreis genannt) unter 100,- Mark gedrückt werden. Neben dem immensen Zeitdruck war diese Preisobergrenze einer der beiden Faktoren, der sich sehr erschwerend auf die Konstruktionsarbeiten an dieser Kamera ausgewirkt hat. Wie aus einer nachträglichen Berichterstattung der Eisfelder Betriebsleitung an das Ministerium für Maschinenbau zum Werdegang des Werra-Projektes vom 2. April 1955 hervorgeht, beinhaltete dieser Werksabgabepreis nämlich bereits ganze 40,- Mark für das Objektiv sowie 22,50 Mark für den Zentralverschluß, die beide aus Saalfeld bzw. Dresden zugeliefert werden mußten [Vgl. BACZ Nr. 14.846, zitiert in: Thiele, Werra Sammlerbuch, 2014, S. 8.]. Damit waren aber schon zwei Drittel des Endpreises durch diese beiden Zulieferteile ausgeschöpft. Um so geschickter mußte daher das Kameragehäuse selbst konstruiert werden, um im gesteckten Preisrahmen bleiben zu können.
Um die neue Kamera überhaupt in einem derart großen Maßstab produzieren zu können, sollte im südthüringischen Eisfeld, wo unweit der namensgebende Fluß "Werra" entspringt, die dafür benötigte Produktionsanlage aufgebaut werden. Hier waren von der ehemaligen Bruhn-Werke GmbH für Instrumententechnik entsprechende Räumlichkeiten mit einer Gesamtnutzungsfläche von über 5000 Quadratmetern vorhanden, die jedoch seit der weitgehenden Demontage des Rüstungsbetriebes im Frühjahr 1946 brach lagen, was für die im industriearmen Zonenrandgebiet liegende Stadt Eisfeld schwerwiegende Folgen hatte. Das Werk [Bild oben und unten: Betriebsarchiv Carl Zeiss Jena.] war zwar bereits 1951 dem VEB Zeiss Jena zugewiesen und im Jahr darauf mit einer Teilelieferung für Jena begonnen worden, doch das brachte nur minimale Auslastung. Erst mit dem Werra-Projekt wurden die Voraussetzungen geschaffen, daß hier wieder mehrere Hundert Eisfelder Beschäftigung finden konnten.
Den roten Stern über dem Werkseingang als Symbol der Planerfüllung möglichst rasch zum leuchten zu bringen – das war nun der Ansporn für die neuen Zeissianer in Eisfeld. Dabei spielt für die Entstehungsgeschichte der Werra eine große Rolle, daß der Beitrag des Jenaer Mutterbetriebes zum Neuen Kurs der SED gleichzeitig noch darin gelegen hat, im notleidenden Eisfeld die für die Massenfabrikation der neuen Volkskamera benötigte Produktionsstätte aufzubauen. Denn mit diesem zweiten Aspekt, der den Entstehungsprozeß der Werra zusätzlich immens verkomplizieren sollte, war kein geringerer als die Person des Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl verknüpft, der einen entsprechenden "Wählerauftrag für das Notstandsgebiet" übernommen hatte und daher bei den Bewohnern der Region im Wort stand.
Zwiespältig: Als alter Sozialdemokrat geriet Otto Grotewohl in der SBZ zum Steigbügelhalter für den Stalinismus. Unmittelbar nach Kriegsende hatte er zunächst darauf gedrängt, rasch die alte SPD wieder zu gründen, um gegenüber der aus Moskau zurückgekehrten KPD-Führung nicht ins Hintertreffen zu geraten. Nachdem aber Walter Ulbricht erkennen mußte, daß seine KPD weit abgeschlagen aus den Wahlen hervorging, strebte dieser die Zwangsvereinigung beider Arbeiterparteien an und Grotewohls Ost-SPD wurde mit ihrem Stimmenanteil zum "Blutspender" für die moskauhörige SED gemacht, wie es Kurt Schumacher später formulierte. [Bild: Bundesarchiv; ADN-Zentralbild Bild 183 - 19204 - 3150.]
3. Ein Entwurf in Rekordzeit
Damit war das gesamte Werra-Projekt für den VEB Zeiss Jena von vornherein mit einer doppelten Belastung verknüpft: Der von der Partei geforderten Einführung eines neuen Produktes und dem gleichzeitigen Aufbau eines kompletten neuen Werkes. Dabei war ersteres schon schwierig genug, denn die Zeissianer standen unter einem aus heutiger Sicht unvorstellbaren Erfolgsdruck. Schließlich wurde von ihnen nichts geringeres erwartet, als daß die zu Jahresanfang 1954 zu entwickelnde neue Kamera bereits zum Ende desselben Jahres in den Geschäften zu stehen hatte. Eine derartige Arbeitsgrundlage mußte zwangsläufig zum Chaos führen. Daß sich genau dieser Ablauf der Vorgänge heute noch sehr gut nachvollziehen läßt, liegt daran, daß die Eisfelder Betriebsleitung, um nach dem endgültigen Start der Serienproduktion der Werra nachträglich noch die Entwicklungskosten vergütet zu bekommen, Anfang April 1955 eine Art Abschlußbericht an das übergeordnete Ministerium abgefaßt hat, der für die damalige Zeit außergewöhnlich unverblümt ausfiel.
Alles beginnt damit, daß sich die Regierung der DDR angesichts der nach wie vor prekären Versorgungslage im Weihnachtsgeschäft 1953 gezwungen sah, die Maßnahmen zur Verwirklichung des Neuen Kurses drastisch zu verschärfen. Der DDR-Ministerrat verabschiedete dazu am 17. Dezember 1953 die "Verordnung über die Erhöhung und Verbesserung der Produktion von Verbrauchsgütern für die Bevölkerung", die bereits zum 1. Januar 1954 in Kraft trat und die Betriebe vor eine vollendete Gesetzeslage stellte. Diese Verordnung ist oben einmal im vollen Umfange wiedergegeben, damit sich jeder selbst ein Bild davon machen kann, mit welchen absurden Detailfragen sich die Regierung eines staatsdirigistischen Wirtschaftssystems beschäftigen mußte. Denn es ist nicht auszuschließen, daß das Ministerium für Lebensmittelindustrie mit dem Bereitstellen von Kümmelkäse letzten Endes ähnlich intensiv beschäftigt worden ist, wie das Ministerium für Maschinenbau mit der Werra. Konkret um Phototechnik geht es auf der letzten Seite im Unterpunkt 10.
Durch diese vollendete Gesetzeslage mußten die bereits seit Spätherbst 1953 [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss Jena 1945-1990, S. 167.] laufenden Verhandlungen zwischen dem Ministerium für Maschinenbau bzw. der untergeordnete Hauptverwaltung für Feinmechanik und Optik mit dem VEB Zeiss Jena nun umgehend konkret werden. Denn die für 1954 von Zeiss Jena geforderte umfassende "Steigerung der Massenbedarfsgüterproduktion" [aus: Zeiss Jena (Hrsg.): Über die Steigerung der Massenbedarfsgüterproduktion im VEB Carl Zeiss Jena, in: Neuerer berichten, Heft 6, 1954, S. 9.] konnte nicht einfach mit einer erhöhten Produktion von Photoobjektiven oder Leselupen erreicht werden, sondern nur mit gänzlich neuen Produkten. Neben einem Diaprojektor, einem Handbelichtungsmesser und einfachen Prismenfeldstechern lag das Hauptaugenmerk vor allem auf der neuen Kleinbildkamera.
Eng mit der Entstehung der "Volkskamera Werra" verknüpft ist der seinerzeit im Ministerium für Maschinenbau der DDR als Leiter der Hauptverwaltung Feinmechanik und Optik eingesetzte Walter Kresse (1910 - 2001), der auch im Bezug auf Kameras wie die Rheinmetall Perfekta oder die Weltaflex eine gewisse Rolle gespielt hat. Daß seine Vorgaben damals ein großes Gewicht hatten und es taktisch vorteilhaft war, ihn "auf seiner Seite zu haben", lag darin begründet, daß dieser Mann als stellvertretender Minister hohe Entscheidungsbefugnisse innehatte. Bild: Bundesarchiv, Signatur: 45602, 1971.
Nachdem es offenbar Rudolf Müller als dem damaligem technischen Direktor bei Zeiss Jena gelungen war, den Leiter der für die Phototechnik zuständigen Hauptverwaltung im Maschinenbauministerium Walter Kresse davon zu überzeugen, eine eigene Neukonstruktion zu wagen, statt ein Erzeugnis einer Fremdfirma in Lizenz zu fertigen, wurde noch im Januar 1954 mit den Arbeiten begonnen und schon Ende des Monats lagen verschiedene Entwürfe vor, die jedoch teils wieder verworfen werden mußten. Zum 3. Februar 1954 herrschte dann aber Klarheit über die Gehäuseform und die Objektivausstattung und bereits am 8. Februar wurden die nötigen Zentralverschlüsse bei Zeiss Ikon in Auftrag gegeben. Am 11. Februar war ein Holzmodell fertiggestellt worden und am Tag darauf fand die entscheidende Konstruktionsbesprechung statt, bei der der Ringaufzug (s. Abschnitt 5.1) als endgültige Lösung anerkannt wurde [Vgl. BACZ Nr. 14.846, zitiert in: Thiele, Werra, 2014, S. 9.]. Am 26. Februar konnte diese für die Werra so charakteristische Verknüpfung von Filmtransport und Verschlußaufzug nach nur 21 Arbeitstagungen abgeschlossen werden. Schon am 3. März legte man die erste Musterkamera der Leitung der Berliner Hauptverwaltung vor; eine zweite folgte am 10. März, die anschließend auf der Ausstellung "Maschinenbauer im Neuen Kurs" anlässlich des IV. Parteitages der SED zum ersten Mal öffentlich präsentiert worden ist. Am Tag darauf, dem 27. März 1954, wurde sodann die dritte Musterkamera fertiggestellt.
Zwischen den ersten Entwürfen Ende Januar und der Fertigstellung der ersten Musterkameras waren also kaum zwei Monate vergangen. Angesichts dieses engen Zeitplans hatte man allerdings ein sehr wichtiges Augenmerk außer Acht gelassen, das der Werra beinah zum Verhängnis geworden wäre. Während schon die Erprobungsphase angelaufen war, wurde die Kamera nämlich am 12. April 1954 erstmals den Vertretern des Handels vorgestellt. Das war viel zu spät. Zum Entsetzen der Zeiss-Leute wurde auf dieser Sitzung das "Neue Gesicht" der Kamera abgelehnt und die Formgestaltung als "Preßkohle" verunglimpft; die Kamera sähe aus wie gewollt und nicht gekonnt. [Vgl. BACZ Nr. 14.846, zitiert in: Thiele, Werra, 2014, S. 10.]. Man solle sich lieber an der Linienführung von Zeiss Ikon (gemeint ist Stuttgart!) orientieren. Die zentrale Idee der Schutzkappe solle fallengelassen und dafür eine klassische Bereitschaftstasche zur Verfügung gestellt werden. Außerdem sei die Kamera zu teuer, der Herstellerabgabepreis mit Novonar dürfe 80,- Mark nicht überschreiten. Da auf gezielte Nachfrage der Sitzungsleitung, ob die Werra in dieser Form produziert werden solle, dies von den sehr konservativen und gleichzeitig aber auch sehr mächtigen Vertretern des DDR-Binnen- und Außenhandels einhellig verneint wurde, hätte die Entwicklung der Werra an dieser Stelle eigentlich umgehend eingestellt werden müssen.
Die Schutzkappe über dem Objektiv, die nach Abschrauben des vorderen Deckels im umgedrehten Zustand als Gegenlichtblende verwendet werden konnte, war von Anfang an eine zwiespältig diskutierte Eigenheit der Werra. Zu umständlich gestaltete sich ihre Handhabung für viele Amateure. Der Hersteller dieser Kamera erhoffte sich jedoch mit einer solchen Lösung, die für ihn außerordentlich lästige Zurverfügungstellung lederner Bereitschaftstasche umgehen zu können. Dieses Ansinnen scheiterte indes bereits nach kurzer Zeit. Über eine Zwischenlösung in Form eines Reißverschlußbeutels war er aufgrund des Drängens der Kundschaft und des Handels gezwungen, am Ende doch noch eine traditionelle Bereitschaftstasche anbieten zu müssen. Bei der Schutzkappe blieb es aber trotzdem!
4. Serienanlauf mit immensen Schwierigkeiten
Doch dem als energisch und – im Gegensatz zum Betriebsdirektor Hugo Schrade – entscheidungsfreudig beschriebenen Rudolf Müller [Vgl. Information Report CIA-RDP80-00810A0085002300, Dezember 1955] gelang es, das Werra-Projekt doch noch zu retten, indem er einfach die höheren Stellen gegeneinander ausspielte. Kurzerhand legte er eine Werra-Musterkamera dem Leiter des Instituts für industrielle Formgebung an der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar Horst Michel vor. Dieser hochgradig von der Neuen Sachlichkeit der Zwischenkriegszeit geprägte sowie der Tradition des Deutschen Werkbundes und des Bauhauses verpflichtete Industrieformgestalter lieferte den Zeissianern umgehend das nötige Gegenattest:
"Prof. Michels [sic!] und seine drei Mitarbeiter stellen übereinstimmend fest, daß die Kamera in ihrer Formgebung und schlichten Auffassung ihren Beifall findet. Prof. Michels beglückwünschte den Betrieb Zeiss zu dem Erfolg, der in so kurzer Zeit erzielt werden konnte. Er beanstandet einige Ausführungsmängel und hält es für notwendig, daß seine gegebenen Hinweise möglichst noch berücksichtigt werden. Entscheidend ist, daß er die Bedenken, die von Seiten des Handels geltend gemacht werden in Bezug auf 'Brikettform' und eigenwillige Anwendung der Bedienungselemente, zurückweist und den Betrieb ermutigt, die Kamera-Entwicklung in der begonnen Form weiter zu betreiben." [BACZ Nr. 14.846, zitiert nach: Thiele, Werra, 2014, S. 10.].
Eine dieser drei Werra-Musterkameras ist erhalten geblieben. Es könnte sich um die zweite vom 10. März 1954 handeln, was sich aber nur daraus ableiten läßt, daß es sich bei dem verbauten "Novitar 2,8/50 mm" um das zweite Exemplar eines dreilinsigen Versuchsobjektivs handelt, das anschließend nicht in die Serie übernommen wurde. Auch ist zu erkennen, daß die Prototypen noch einen Newton-Sucher besaßen. Bild: Hubertus Siegert.
Diese Begebenheit zeigt uns, daß die Werra sogar als ein Teil der Formalismus-Debatte in der frühen DDR verstanden werden kann. Dieser Ende der 40er Jahre von oben inszenierte Kulturstreit muß als Versuch gesehen werden, wie auf dem ersten Höhepunkt des Kalten Krieges die orthodoxen Stalinisten ihren Kampf gegen den gefürchteten Liberalismus und den gehaßten "Sozialdemokratismus" auf den Bereich der Kunst und Kultur ausdehnten, indem sie oft wahllos neue Entwicklungstendenzen als bürgerlich oder gar imperialistisch verunglimpften, nur um bloß keinerlei Formen von Opposition und Abweichlertum aufkommen zu lassen. Doch selbst die allmächtige SED konnte nicht verhindern, daß auch in der DDR Schwulst und Kitsch in der Folgezeit rasch hinweggespült wurden und beispielsweise im Bereich der Formgestaltung die Rückbesinnung auf die "Bauhaus-Tradition" bald wieder eine große Rolle spielte. Was das Industriedesign angeht, kann die Werra im Anbetracht der kommenden Entwicklungen durchaus als paradigmatisch angesehen werden. Und das ist wiederum vor dem Hintergrund bemerkenswert, daß die Entwicklergruppe – und hier insbesondere der in Bezug auf das Aussehen der Werra federführende Erich Friebe – keinerlei Ausbildung als Formgestalter vorzuweisen hatte.
Nicht ohne sichtliche Genugtuung über seinen errungenen Triumph hat Rudolf Müller im Jahrbuch 1958/59 des Instituts für angewandte Kunst namens Form + Zweck einen Aufsatz zur Werra als "Beispiel für gute Formgebung im Kamerabau" veröffentlicht, in dem die damals innerhalb weniger Wochen erarbeitete äußere Form der Werra rekapituliert wird. Der einleitende Satz läßt erkennen, daß der Text bereits im Jahre 1956 verfaßt wurde und die um zwei Jahre verzögerte Serienfertigung der Werra III und IV auch dessen Veröffentlichung um denselben Zeitraum hinausschob. Die wechselbaren Tessare, mit denen die Musterkameras der Werra III und IV ausgestattet sind, tragen die Nummern 4.764.458 und 4.764.459, was auf das Produktionsjahr 1955 oder 1956 hinweist.
Mit dem Einholen dieses Attestes aus Weimar gelang es der Werra-Entwicklergruppe, die Lage Ende April 1954 wieder komplett zu drehen. Dabei spielte der oben bereits angesprochene Walter Kresse eine zentrale Rolle, der offensichtlich diese kleine Kamera unbedingt in den Geschäften sehen wollte und dem die dazu nötige Strategie in den Sinn kam. Als Ansatzpunkt hatte er ausgemacht, daß der DDR-Handel damals in zwei konkurrierende Institutionen gespalten war. Als der für den Absatz verantwortliche Leiter des Ministeriums für Maschinenbau gelang es Kresse auf geschickte Weise, den DDR-Binnenhandel in Form der Deutschen Handelszentrale DHZ gegen die für den Deutsch-Deutschen Innen- sowie den DDR-Außenhandel zuständige DIA auszuspielen. Wenn die DHZ den Vertrieb nicht übernehme, dann solle die Werra eben über die damals neu errichteten Zeiss-Industrieläden auf direktem Wege an den DDR-Bürger gebracht werden. Außerdem drohte er der DHZ damit, daß der DDR-Außenhandel die Werra als Zeiss-Produkt in jeder verfügbaren Stückzahl übernehmen könne und ans Ausland veräußern werde [Vgl. BACZ Nr. 14.846, zitiert in: Thiele, Werra, 2014, S. 11.], was darauf hinausgelaufen wäre, daß die neue Volkskamera hauptsächlich in den Export gegangen wäre und die DHZ als Sündenbock für eine verfehlte Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit den benötigten Massenbedarfsgütern dagestanden hätte. Diese durch geschicktes Taktieren entstandene Lage, bei der leicht der Eindruck entstehen konnte, die Verantwortlichen in der DHZ würden sich der öffentlich proklamierten Linie der SED entgegenstellen, zeigte offenbar umgehend Wirkung.
Während also auf diesem Gebiet des Vertriebs der Kamera trotz anhaltender Ablehnung durch einzelne Verantwortliche eine gewisse Entspannung eintrat, und zumindest von dieser Seite die Weiterführung des Projektes nicht mehr gefährdet wurde, zeichnete sich jedoch von einer anderen Seite ein schwerwiegendes Problem ab, das einen der wichtigsten Gründe dafür bilden sollte, daß die Werra für den Hersteller letztlich ein derart großer ökonomischer Fehlschlag wurde. Bereits im April 1954, als gerade die Erprobung der Musterkameras lief, stellte man in Eisfeld fest, daß die für die Entwicklung nötigen Gelder vom Ministerium noch nicht zur Verfügung gestellt worden waren. Mit einem Schreiben vom 28. Juli teilte dann das Zentralamt für Forschung und Technik der Staatlichen Plankommission (ZFT) folgende Hiobsbotschaft mit:
"Kamera wurde ohne Genehmigung des ZFT entwickelt (Schwarzentwicklung). Da bereits abgeschlossen, können die Mittel nicht zurückerstattet werden." [BACZ Nr. 14.846, zitiert nach: Thiele, Werra, 2014, S. 11.]
Bei Zeiss meinte man, mit dem Einreichen des Entwicklungsauftrages am 25. Februar 1954 seiner Pflicht genüge getan zu haben. Doch zwischenzeitlich ging vom Zentralamt für Forschung und Technik bereits ein Schreiben mit der Aussage ein:
"Diese Kamera liegt nicht in der vom Arbeitskreis festgelegten Typenreihe, die Abstimmung mit dem Arbeitskreis fehlt, die im Arbeitskreis festgelegten Typen decken vollkommen den Bedarf der DDR." [Ebenda.]
Damit war man bei Zeiss offenbar ein Opfer seiner Eigenwilligkeit geworden, die obendrein vom zuständigen Ministerium fatalerweise gedeckt worden war. Denn eindeutig war im Gesetzblatt von "billige[n] Spiegelreflexkameras in Form der 'Exa' sowie Fotoapparate[n] mit eingebauten gekuppelten Entfernungsmessern" die Rede. Dies führte nun zu der absurden Situation, daß zum Zeitpunkt der beginnenden Serienfertigung der Werra im September 1954 weder die für die Konstruktion nötigen Geldmittel zur Verfügung gestellt noch die Investitionskredite für den Aufbau des Eisfelder Werkes bewilligt worden waren [Vgl. BACZ Nr. 14.846, zitiert in: Thiele, Werra, 2014, S. 12.]. Trotzdem sind im Juli 1954 die teuren Druckgußformen, die Stanz- und die Ziehwerkzeuge beschafft worden. Mitte August fertigte man eine Nullserie der Werra und gleich im Anschluß die ersten 500 Stück an Serienkameras, um sie auf der bevorstehenden Messe vorzeigen zu können. Doch dieser Produktionsanlauf fand nicht in Eisfeld statt, sondern in Jena! [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss Jena 1945-1990, S. 167.]
Diese Aufnahme des Photographen Wolfgang Schröter ermöglicht uns, einen einmaligen Blick in die im Spätsommer 1954 gerade anlaufende Montage der ersten 500 Stück der Werra zu werfen. So wie die übrigen Aufnahmen dieser Bilderserie ist sie mit großer Wahrscheinlichkeit im Stammwerk in Jena entstanden, was einen Beleg dafür bilden würde, daß das Werk Eisfeld damals noch gar nicht betriebsbereit gewesen ist. Die Agfacolor-Aufnahme vermittelt uns auch einen Eindruck davon, wie intensiv grün der Vulkanitbelag im Neuzustand gewesen ist [Deutsche Fotothek, Datensatz 71621305].
Dazu gesellte sich außerdem wachsender politischer Druck. Obwohl die Kamera bereits groß angekündigt worden war, konnten noch keine Ergebnisse vorgezeigt werden. So sah sich das Ministerium des Innern genötigt, den sichtlich stockenden Fortgang des Projektes näher zu untersuchen. Und als sich schließlich gar das Sekretariat des Ministerpräsidenten der DDR einschaltete, war der Werra-Vorgang in höchsten politischen Kreisen angekommen. Schließlich war es kein geringerer als Otto Grotewohl persönlich gewesen, der in dem Notstandsgebiet Eisfeld einen Wählerauftrag zur Verbesserung der Lage übernommen hatte und nun er sah wohl seine Glaubwürdigkeit infrage gestellt. Eine sehr prekäre Lage für alle Beteiligten, die schließlich ihr Gesicht zu verlieren drohten.
Der Anlauf der Fertigung in Jena statt in Eisfeld hatte, obwohl er eigentlich ein Eingeständnis des Versagens war, den Hintergrund, die bereits angekündigte Vorstellung der Werra auf der Leipziger Herbstmesse vom 5. bis 15. September 1954 sicherstellen zu können. Offensichtlich wurden hier Verkäufe für Nullserienkameras abgeschlossen, was später noch großen Ärger einbringen sollte. Bei dem Herrn in der Mitte könnte es sich übrigens um Rudolf Müller handeln, der damals als Technischer Direktor das Projekt Werra geleitet hat. Im Betrieb war er seinem Kürzel entsprechend auch einfach als "Rumü" bekannt. Konstrukteur der Kamera, wie es immer wieder zu lesen ist, war er aber nicht. Festgehalten von Roger Rössing [Deutsche Fotothek, Aufn.-Nr.: df_roe-neg_0006722_012].
Denn das Ergebnis war ernüchternd. Zwischen dem geplanten Fertigungsanlauf im September und dem Jahresende 1954 sollten als ursprüngliche Zielvorgabe nicht weniger 31.000 Kameras (!) hergestellt werden. Doch mit 3071 Stück wurde gerade mal ein Zehntel davon wirklich erreicht. Erst im Januar 1955 kam die Produktion in Eisfeld in Gang [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss Jena 1945-1990, S. 167.]. Bis zur Abfassung des oben mehrfach zitierten Abschlußberichtes der Eisfelder Werkleitung an das Ministerium für Maschinenbau vom April 1955 konnten in Eisfeld immerhin bereits 15.471 Stück ausgestoßen und insgesamt für 1955 eine Gesamtzahl von 53.000 erreicht werden [Vgl. Thiele, Werra, 2014, S. 83.], womit die Planvorgabe von 42.000 deutlich übertroffen wurde [Vgl. Ebd., S. 93.]. Das war auf den ersten Blick eine beachtliche Zahl und man könnte sie als ein Anzeichen dafür hernehmen, daß das Werk Eisfeld doch recht bald seine volle Leistungsfähigkeit erlangt hätte. Zusammen mit einem vom VEB Zeiss Ikon übernommen Schmalfilmprojektor "P8", der im Betriebsteil Weimar gefertigt wurde, konnte der VEB Carl Zeiss Jena nun durchaus seine Verpflichtungen im Bereich Photo-Konsumgüterproduktion für den Inlandsbedarf abdecken – wenn auch erst ein Jahr später als es groß angekündigt worden war [aus: Zeiss Jena (Hrsg.): Über die Steigerung der Massenbedarfsgüterproduktion im VEB Carl Zeiss Jena, in: Neuerer berichten, Heft 6, 1954.].
Doch diese Planübererfüllung um 11.000 Stück war nur ein Scheinerfolg. Denn schon nach kurzer Zeit sollte sich erweisen, daß hochwertige Konsumgüter nicht einfach nach planwirtschaftlicher Tonnenideologie ausgestoßen werden können; zumal wenn gleichzeitig ein neues Werk mit einer weitgehend unerfahrenen Belegschaft die Grundlage bildet. Außerdem rächte es sich nun, daß nach einer in Rekordzeit erfolgten völligen Neuentwicklung der Kamera nicht genügend Zeit für die umfassende Erprobung und Ertüchtigung einberaumt worden war. Die Folge waren große Schwierigkeiten beim Serienstart, bei dem sich mehrfach zentrale konstruktive Fehler herausstellten, die noch während der laufenden Fertigung durch Abänderungen behoben werden mußten. Doch eine dafür eigentlich nötige Unterbrechung der Produktion war offenbar unmöglich. Denn die Werra war nicht allein das Prestigeprojekt eines Vorzeigebetriebes, sondern sie hatte von Anfang an auch den Charakter eines Politikums. Sie war eben nicht nur eine Kamera des VEB Zeiss Jena, sondern gewissermaßen auch eine Kamera der SED und entsprechend groß waren der zeitliche und der politische Druck. Und so kam es, daß technisch mangelhafte Exemplare in den Handel gerieten und sogar ins Ausland exportiert wurden. Ganze 14.000 in der DDR verkaufte Kameras wurden im Rahmen einer Sonderaktion (heute würde man von einer Rückrufaktion sprechen) nachträglich kostenlos vom Hersteller überholt und auf die ertüchtigte Konstruktion umgestellt, was ein Grund dafür sein kann, daß heute nur noch wenige Kameras im frühen Originalzustand existieren. Ferner mußten 10.000 im Jahre 1955 in die Tschechoslowakei gelieferte Werras zurückgenommen werden, was für den Hersteller einen großen Reputationsverlust mit sich brachte:
"Einen sehr schweren Verlust an Ansehen im Ausland haben wir uns durch die Freigabe der noch nicht exportreifen Werra zugezogen, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Die verfrühte Ankündigung dieser Kamera in der photographischen Fachpresse überall in der Welt und die durchgeführten Lieferungen haben eine katastrophale Wirkung gezeigt." [CZJ, Jahresbericht der Vertriebsdirektion 1955, Betriebsarchiv Nr. S48; zitiert nach Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss Jena 1945-1990, S. 167f.]
Diese Nacharbeiten müssen den Hersteller in einer Weise belastet haben, daß im Jahre 1956 gar ein Rückgang auf 47.000 ausgelieferte Werras zu verzeichnen war. Und obwohl sich die Produktion in der Folgezeit stabilisieren konnte, blieben Qualitätsprobleme vor allem bei den komplexeren Modellen mit Belichtungsmessern bis zum Ende der Produktion eine chronische Erscheinung.
5. Die konstruktiven Merkmale der Werra
5.1 Filmtransport und Spannmechanismus
So groß auch die Risiken der völligen Neukonstruktion gewesen sind, so dürfen die oben geschilderten Probleme speziell in der Startphase der Werra nicht den Blick darauf verstellen, welche Chancen sich hinter dieser Entscheidung zugleich verbargen. Dabei ist zu bedenken, daß Carl Zeiss Jena zu Anfang der 1950er Jahre mit über 100 Jahren Fertigungstradition zwar eine der ältesten Werkstätten auf optisch-feinmechanischem Gebiet gewesen ist, doch im Bau von Photogeräten hatte man bislang keinerlei Erfahrungen – wenn man einmal von Paul Rudolphs Abenteuer mit den Palmos-Kameras zu Beginn des 20. Jahrhunderts absieht. Das hatte freilich nicht nur Nachteile. Rückblickend betrachtet sticht es geradezu ins Auge, daß die Werra von zwar erfahrenen, aber im Kamerabau bislang kaum bewanderten Konstrukteuren konzipiert worden ist, die dementsprechend völlig unvoreingenommen an ihre Aufgabe herangehen konnten. Und wenn diese Konstrukteure gleichzeitig freie Hand bekommen, eine Kamera von Grund auf neu zu entwerfen, dann finden sich manchmal Lösungen, die im Kamerabau erfahrene Konstrukteure so nicht erkannt bzw. nicht konsequent genug verfolgt hätten. Im Falle der Werra betrifft dies in erster Linie die neuartige Lösung der Kopplung von Filmtransport und Verschlußaufzug.
Diese Aufnahme Wolfgang Schröters aus dem Jahre 1954 zeigt zwei vergessene Kamera-Konstrukteure: Werner Broche (links) und Kurt Wagner hatten nämlich die maßgebliche Konstruktionsverantwortung für die Kleinbildkamera "Werra". Man beachte den Prototypen, der vor ihnen liegt. [Deutsche Fotothek, Datensatz 71206836]
Bislang bestand für die Konstrukteure immer das Problem, daß der Weitertransport des Filmbandes drehende Bewegungen verlangte, das Spannen des Zentralverschlusses aber das Schwenken des zum Verschluß gehörigen Spannhebels. Es mußte also bisher immer die Drehung des Transportgetriebes in irgendeiner (meist aufwendigen) Weise in eine hin- und hergehende der Spannmechanik umgewandelt werden. Bei der Werra ging man genau den umgekehrten Weg. Die für das Spannen des Verschlusses nötige Schwenkbewegung wurde dadurch sehr vereinfacht, indem rund um den Objektivkörper ein breiter Ring angeordnet wurde, in dessen Inneren dieser Spannvorgang gekapselt stattfand. Nach einem kurzen Dreh an diesem breiten Ring kehrte jener durch Federkraft wieder in seine Ausgangsposition zurück.
Die wichtigste Konstruktionsidee der Zeissianer lag nun darin, mit diesem Ring gleichzeitig eine Zahnstange mitzunehmen, die auf dem Hinweg die Zahntrommel des Filmtransportes in Drehung versetzte. Ein Freilauf sorgte dafür, daß auf dem Rückweg die Transportmechanik entkoppelt wurde. Mit dieser Umkehrung des bisher verwendeten Kopplungsprinzips war sichergestellt, daß der viel problematischere und kraftintensivere Spannvorgang nicht aus der Drehung des Filmtransportknopfes abgeleitet werden mußte, sondern umgekehrt. Ein ähnlicher Ansatz war zwar bereits in den 30er Jahren bei den Tenax-Kameras angewendet worden, doch mußte für den, das volle Kleinbildformat abdeckenden Filmtransport bei der Werra eine bessere Form der Kraftübertragung gefunden werden.
Diese Art des Filmtransportes und Verschlußaufzuges per "Objektivrändelring" muß als das zentrale Schutzrecht der Werra angesehen werden. Es war lange Zeit nicht auffindbar, weil in der Bundesrepublik nur ein Gebrauchsmusterschutz zuerkannt worden war. Es handelt sich um das DBGM Nr. 1.724.678 vom 28. August 1954 "Einrichtung für Kleinbildkameras mit Zentralverschluß zur Verschlußbetätigung und zum Filmtransport". Daraus wird auch ersichtlich, daß dieser Part der Kamera von Werner Broche konstruiert worden war. Mit ihm sind Hermann Friebe, Johannes Lössner und Helmut Scharffenberg als Erfinder benannt. Es sei der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, daß auch der VEB Zeiss Jena im Jahre 1958 seine in der Bundesrepublik angemeldeten Schutzrechte auf "unverfängliche Alibibetriebe" umschreiben ließ – in diesem Fall war das der VEB Freiberger Präzisionsmechanik.
Anhand dieser Bilder aus dem Betriebsarchiv des VEB Carl Zeiss Jena wird noch einmal deutlich, wie die Zahnstange der Werra ursprünglich ausgesehen hat. Man erkennt gut, daß die Einrichtung zur Verhinderung von Leerschaltungen ursprünglich anders gelöst war. Das heißt, es mußte ja verhindert werden, daß bei bereits transportiertem Film und gespanntem Verschluß der Spannring noch einmal betätigt werden kann. Die dafür nötige Freigabe der Zahnstange durfte aber nur dann erfolgen, wenn zuvor der Auslöser betätigt und ein Bild gemacht worden war. Der Auslöser durfte andererseits aber nur dann betätigbar sein, wenn sich die Zahnstange in ihrer Ausgangstellung befand. Dazu war das Blech der Zahnstange mit einer Nut und einer Bohrung versehen. Doch hier kam es immer wieder zu Hemmungen, sodaß es während des Serienanlaufs zu Nachbesserungen kam und 1955 die gesamte Leerschaltsperre umkonstruiert wurde.
In der Zeichnung oben ist die im Zuge der Einführung der Werra III abermals völlig neu konstruierte Leerschalt- und Rücklaufsperre mit einem Ratschenmechanismus unterhalb des Auslöseknopfes gut zu sehen.
In der Montageanweisung der Werra wird dieser neue Mechanismus als "Wendesperre" bezeichnet, der in das "Schwert" der "Zahnstange, geschweißt" eingreift. Er bewirkt erstens, daß der Spannring der Werra nur bei abgelaufenem Verschluß betätigt, daß er zweitens nicht bereits während des kritischen Spannvorganges vorzeitig zurückgeführt, daß drittens der Auslöser nicht vor Beendigung des Spannvorganges durchgedrückt und daß viertens nach beendetem Spannvorgang nicht ein zweites Mal gespannt werden kann (Doppelbelichtungssperre). Die aufwendige Neukonstruktion mit den dreieckigen Nasen hatte den Hintergrund, daß der Spannvorgang des Prestor mit seinem komplizierten Zusammenspiel zwischen Verschlußlamellen und Hilfsverschluß sehr anfällig gegen zwischenzeitige Umkehrung des Spannvorganges war. Es mußte unbedingt ein Lichteinfall zu dem Zeitpunkt verhindert werden, wo die durchschwingenden Lamellen kurzzeitig den Lichtpfad freigeben (siehe dazu Abschnitt 5.3). Der Einsatz des Prestors bei der Werra erzwang demnach eine umfangreiche Ertüchtigung der Kamera auf diesen Verschluß hin!
5.2 Grundaufbau und äußere Gestaltung
Bei der Werra fällt auf, daß sie von vornherein als eine Sucherkamera konzipiert worden ist, die bei grundsätzlich klar und einfach gehaltenem Aufbau ein großes Erweiterungspotential haben sollte. Während das Grundmodell ganz im Sinne einer preiswerten Massenkamera nur mit der einfachsten Ausstattung versehen werden konnte, war auf derselben Basis später sogar eine komplexe Meßsucherkamera realisierbar. Durch die im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Bauform des Spannmechanismus stand im oberen Teil der Kamera viel freier Raum zu Verfügung, der später mit immer komplexeren optischen und mechanischen Einrichtungen gefüllt werden konnte. Großer Wert wurde dabei von Beginn an zudem auf Robustheit der Konstruktion gelegt – irgendwelche Lösungen mit Springmechanik und Lederbalg zwischen Objektiv und Gehäuse kamen nicht infrage. Die Ausführung des Kamerakörpers und der Rückwand in Aluminium-Spritzguß war zwar seit den 30er Jahren keine völlige Neuheit mehr, bei Kameras dieser niedrigen Preislage dominierten aber in den 50er Jahren oft noch die Blechbauweise.
Auf diesen Bildern ist noch einmal der ziemlich filigrane und deshalb sehr leichte Kameragrundkörper zu sehen. Beim Blick von vorn sieht man die Objektivanlage, die Schlitzkupplung des Schaltringes mit der Zahnstange und unten links die Auslösestange. Ebenso erkennt man, daß oberhalb der Zahnstange sehr viel freier Raum zu Verfügung steht, der nur vom Auslöser unterbrochen wird, jedoch nicht von den Wellen des Spannhebels und der Rückspulkurbel wie bei den üblichen Kameras. Beim Blick von hinten ist noch einmal die anspruchsvolle Bildbühne zu sehen.
Besonderes Augenmerk galt auch der Bildbühne. Rolf Miller hat in seinem Aufsatz „Die Bildleistung der Werra“ [Fotografie, 4/1958, S. 122ff.] ausführlich beschrieben, welche umfangreichen Untersuchungen zur Filmplanlage angestellt wurden, bevor die Bildbühne letztlich Gestalt annahm. Hier haben es die von Zeiss delegierten Konstrukteure anfänglich ein wenig übertrieben. Die ersten Modelle der Werra konnten diese Präzision noch gar nicht ausnutzen.
Das ist eine Nahaufnahme der Filmspreizrippen der Werra. Wie die Bezeichnung andeutet, besteht ihre Aufgabe darin, den Film quer zur Transportrichtung auseinanderzuziehen, und dadurch die Durchwölbung des Schichträgers auf ein absolutes Kleinstmaß zu begrenzen. Um in den vollen Genuß dieses Effektes zu gelangen, war es allerdings empfehlenswert, den Filmtransport immer erst kurz vor der Aufnahme durchzuführen, da ansonsten durch das klimatisch bedingte Eigenleben des Materials die erreichte Planlage rasch wieder zunichte gemacht würde.
Diese konstruktiven Vorleistungen zahlten sich aber aus, als einige Jahre später die Werra mit Wechselobjektiven versehen und zur Meßsucherkamera ausgebaut werden sollte. Jetzt war Präzision gefragt! Die resultierende Bildqualität setzt sich nämlich stets aus der Summe aller Justierungsungenauigkeiten zusammen. Und diese Abweichungen kamen nun nicht nur von der Filmdurchbiegung, sondern auch vom Abgleich des Meßsuchers und von Toleranzen des Anlagemaßes verschiedener Wechselobjektive. Dieses Aufsummieren von Toleranzen kann ein großes Problem für den Kamerakonstrukteur werden, weil dies im schlimmsten Fall rasch darauf hinauslaufen kann, daß die ganze Kamera infragestellt wird. Bei der Werra war dieses Problem von Anfang an ausreichend beachtet worden. Das ist ein Hauptgrund dafür, weshalb diese ursprünglich so simple Werra am Ende zu einer solch einem hochpräzisen Systemkamer ausgebaut werden konnte. Das ist wahrlich als eine der größten Konstruktionsleistungen im deutschen Kamerabau anzusehen!
Oben sieht man eine Modellübersicht der Werra-Reihe. Die Werra V befand sich zum Zeitpunkt des Druckes (1958) noch in der Konzeption. Die fertige Kamera hatte dann eine gewölbte Deckkappe, die in der Folgezeit auch sukzessive bei den anderen Modellen übernommen wurde. Die Werra V wurde kurze Zeit später durch die leicht weiterentwickelte Werramatic abgelöst, deren äußeres Kennzeichen die weggefallene Schutzkappe vor dem Einbereichs-Belichtungsmesser war.
Unten dieses besagte Spitzenmodell der Reihe mit einer bequemen Belichtungshalbautomatik und dem speziellen Schnittbild-Entfernungsmesser im großen, hellen Meßsucher mit seinen filigranen Bildbegrenzungsrahmen. Sie stellte mithin den Höhepunkt des Sucherkamerabaus in der DDR dar.
Für den Kameragrundkörper, die Rückwand und die Halterung der optischen Komponenten des (Meß-) Suchers kam bei der Werra Aluminiumdruckguß zum Einsatz [Bild oben: Betriebsarchiv Zeiss]. Die Druckguß-Rohteile wurden vom Jenaer Stammwerk zugeliefert. Für die Zahnrolle des Filmtransports, die Objektivschutzkappe sowie für die Kapselung eines eventuell vorhandenen Belichtungsmeßwerks wurde später sogar bereits umfassend Kunststoff (vermutlich Polystyrol) eingesetzt. Das wohl auffälligste Charakteristikum der Werra ist natürlich ihr Kunststoffbelag auf denjenigen Flächen, die mit den Händen angefaßt werden. Hier kam Styrol-Butadien-Kautschuk (Buna) zum Einsatz, der in den 1920er Jahren vom IG-Farben Konzern entwickelt worden war und seit Ende der 30er Jahre in Schkopau im eigens errichteten Buna-Werk hergestellt wurde. Der Kunststoff wurde in einem Autoklaven auf das Gehäuse und die Rückwand aufvulkanisiert, wobei er aushärtete und dennoch eine gewisse Elastizität bewahrte. Daß die Werra mit diesem Kunststoff beschichtet wurde, ist der bislang einzig nachweisbare direkte Beitrag Rudolf Müllers zur Werra, der bereits ein Patent auf den Einsatz dieser Vulkanitbeläge bei Ferngläsern innehatte [Vgl. DD10.157 vom 25. Dezember 1952].
Die Werra wurde ursprünglich mit einem grünen Vulkanitbelag versehen. Diese Beschichtungs-Technologie wurde von den Zeissianern schon seit einiger Zeit im Fernglasbau angewandt und war daher genauestens bekannt. Und grün deshalb, weil die Werra als echte Thüringerin so grün sein sollte wie der Thüringer Wald. So wurde das damals jedenfalls nach außen hin begründet. Geschmackssache. Die hier angedeuteten Farbvarianten wurden leider nie gefertigt, obwohl sie sicherlich attraktiv gewesen wären. Stattdessen stellte man Ende der 50er Jahre die Vulkanisierung auf das zeitlose Schwarz um. Das hatte auch den Hintergrund, daß man schon damals erkannte, daß der grüne Hartgummi entweder schnell nachdunkelte und dabei einen eher schmutzigen Eindruck hinterließ oder aber in manchen Fällen auch ungleichmäßig ausbleichen konnte, was noch unansehnlicher war.
5.3 Die Zentralverschlüsse der Werra
Die Werra ist aufs Engste mit der Entwicklung einer eigenen Zentralverschluß-Technologie in der DDR verknüpft. Neben der Pentina ist sie die regelrechte "Indikatorkamera" für das Vorankommen der Industrie in diesem Bereich. Sehr ausführlich habe ich mich zu diesem Thema in einem gesonderten Aufsatz geäußert. Mir scheint es aber angebracht, hier einige der wichtigsten Thesen in geballter Form zusammenzufassen.
Zunächst muß man sich die schwierige Lage vor Augen führen, in der sich die Kameraindustrie im Mitteldeutschen Raum nach 1945 wiederfand. Als größter Hemmschuh für den Wiederanlauf der hiesigen Kamerafertigung erwies sich nämlich die Versorgung mit Zentralverschlüssen, weil die beiden großen Hersteller dieses Schlüsselproduktes nun in der amerikanischen bzw. französischen Besatzungszone lagen. Wurden die Verschlüsse der Friedrich Deckel AG in München und von Alfred Gauthier in Calmbach Berichten zufolge anfangs noch in Reisekoffern über die Sektorengrenze geschmuggelt, so fielen bald auch derartige Notlösungen weg – spätestens mit der Gründung der Bundesrepublik, de facto aber bereits mit der westlichen Währungsreform vom 20. Juni 1948. Die Kappung dieser Bezugsquellen für Zentralverschlüsse der Spitzenklasse hatte längerfristig eine strukturelle Umorientierung zur Folge, die letztlich über fast vier Jahrzehnte hinweg die Produktentwicklung in der DDR-Photoindustrie überprägte. Die Dominanz des Schlitzverschlusses bis hinein in den Großformatbereich und andererseits der Mangel im Sortiment an hochwertigen Sucherkameras mit Zentralverschluß zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des DDR-Kamerabaus. Um so bedeutender sind die wenigen Ausnahmen, mit denen man versuchte, diese strukturelle Krise zu durchbrechen. Und die Werra nimmt hierbei eben eine ganz zentrale Rolle ein.
Dieser einfache Spannverschluß vom Typ Cludor bzw. Vebur der Baugröße 00 bildete Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre die technische Grundlage dafür, daß der DDR-Kamerabau überhaupt eine eigenständige, von westdeutschen Zulieferungen freie Produktion von Sucherkameras aufnehmen konnte.
Anhand von Aktenüberlieferungen aus den Mimosa- und Balda-Werken in Dresden, die Hartmut Thiele in Form einer Quellensammlung herausgegeben hat [Thiele, Die Photoindustrie der SBZ und DDR von 1945 bis 1959, 2020], läßt sich nachvollziehen, wie man seinerzeit in Dresden versuchte, sich aus dieser schwierigen Lage zu befreien. Noch unter Max Baldeweg wurde im Balda-Werk daran gearbeitet, den Ring-Compur aus den 30er Jahren nachzubauen. Dieser zunächst "Ovus" genannte Verschluß erwies sich allerdings als derart unzuverlässig, daß er rasch durch einen in Details verbesserten Nachfolger namens "Cludor" ersetzt wurde. Es handelte sich um einen vergleichsweise einfach aufgebauten Spannverschluß der Baugröße 00 mit drei Sektoren und einer kürzesten Zeit von einer 1/200 Sekunde. Um die eklatanten Qualitätsprobleme zu überwinden, die sowohl das Mimosa-, als auch das Balda-Werk mit ihren Zentralverschlüssen hatten, wurde deren Fertigung und Entwicklung Anfang der 1950er Jahre dem VEB Zeiss Ikon überantwortet, der die Produktion des Cludors mit rudimentären Veränderungen als "VEBUR" fortführte. Es war dieser vom VEB Zeiss Ikon auf Massenfertigung getrimmte Vebur-Verschluß, der es 1954 überhaupt erst ermöglichte, eine derartige Volkskamera wie die Werra ins Auge zu fassen. Mit Importverschlüssen wäre ein solcher Ansatz schlichtweg nicht zu verwirklichen gewesen.
Im Gegensatz zur Mimosa war die Werra nun aber in einer Weise konzipiert, daß dieser Zentralverschluß nicht wie üblich ZWISCHEN der vorderen und der rückwärtigen Hälfte des Objektives saß, sondern das komplette Novonar bzw. Tessar in einer eigenen Fassung mit Schneckengang VOR den Zentralverschluß gesetzt wurde. Daher mußte das Objektiv auch mit einer eigenen Blende versehen werden. Denn die üblicherweise im Zentralverschluß in der Nähe der Öffnungssektoren sitzenden Blendenlamellen konnten bei dieser Bauweise nicht genutzt werden. Daher entfielen diese in jener für die Werra konzipierten Spezialversion des Vebur auch gänzlich. Auch das hintere Einschraubgewinde für den bildseitigen Objektivteil war aus diesem Grunde nicht vorhanden.
Ein Schnittmodell der Werra erlaubt einen Einblick in ihren Grundaufbau sowie einen Eindruck über die Raumausnutzung dieser Konstruktion mit der Abfolge Kameragehäuse, Zentralverschluß und Objektiv. Bild: Hubertus Siegert
In den 50er Jahren findet ein endgültiger Übergang von der Springkamera mit Balgen (z.B. Kodak Retina) hin zur sogenannten Tubuskamera (z.B Agfa Silette) statt, bei denen das Objektiv nun fest verbaut war. Nicht ausschließlich, aber auffallend oft, wurde nun das Objektiv VOR den Verschluß gesetzt.
Diese auf den ersten Blick unnötig umständlich anmutende Bauweise, das Objektiv VOR den Zentralverschluß zu setzen, war bereits in den 1930er Jahren aufgekommen. Franz Kochmann hatte es bei seiner Korelle K verwendet und Hubert Nerwin mit seiner Tenax bei der Zeiss Ikon AG eingeführt. Nach dem Kriege wurde dieses Prinzip des Hinterlinsen-Zentralverschlusses umfangreich von etlichen Firmen in der Bundesrepublik bei ihren mannigfaltigen Kleinbildkameras genutzt. Es ermöglichte, den Grundkörper der Kamera schlank und elegant zu halten. Hätte man das Objektiv IN den Zentralverschluß eingebaut, so wäre dieser aufgrund der Brennweite von 50 mm ziemlich weit nach vorne gerückt. Wie dick eine solche Kamera dann rasch wird, kann man oben gut im direkten Vergleich mit der Mimosa erkennen. Um die im Abschnitt 5.1 bereits erwähnte Koppelung von Filmtransport und Verschlußaufzug zu ermöglichen, war es zudem vorteilhaft, den Zentralverschluß so eng wie möglich an das Kameragehäuse "anzuschmiegen".
Zusammen mit dem kompakten Vebur-Verschluß bildete das Novonar bzw. Tessar eine feste Einheit, die bereits im Werk Saalfeld zusammengeführt und im vorjustierten Zustand an Eisfeld geliefert wurden. Der Schneckengang des Objektivs hatte jedoch keine Geradführung, weshalb sich die Blendenskala beim Scharfstellen wegdrehte.
Der einfache Vebur mit seiner kürzesten Nominalverschlußzeit von einer 1/250 Sekunde war in dieser Hinsicht für das Werra-Grundmodell völlig ausreichend. Allerdings mußte auf einen Selbstauslöser und die damals sehr wichtige Vollsynchronisation für Blitzlampen (SVS-Verschlüsse) verzichtet werden. Der Vebur hatte aber auch noch ganz andere Schwächen, die erst dann so recht zutage traten, als die Werra hin zu einer komfortableren Bedienung erweitert werden sollte. Dazu muß man bedenken, daß die Kleinbildphotographie in den 50er Jahren vor allem deshalb einen so großen Aufschwung genoß, weil erstmals die Farbphotographie für die breiten Massen in den Bereich des Möglichen rückte. Und "bunt" bedeutete damals fast ausschließlich Dias und Projektion. Da die zugehörigen Umkehrflme sehr genau belichtet werden mußten, wünschte sich so mancher Photoamateur einen Belichtungsmesser zu seiner Kamera. Dabei waren in der Bundesrepublik im gehobenen Marktsegment bereits Kameras üblich geworden, bei denen der Belichtungsmesser nicht einfach nur elegant in die Kamera eingebaut, sondern seine Abgleichnadel mit der Einstellung von Zeit und Blende gekuppelt worden war. Schaut man sich hingegen einen Vebur-Verschluß genau an, fallen einem zwei Dinge auf: Erstens die alte Zeitskala mit 1/5; 1/10; 1/25; 1/50 Sekunde usw., wo quasi die Werte 1/8 und 1/15 fehlen bzw. zusammengelegt sind und daher keine sog. Lichtwertkupplung möglich ist. Dazu gesellte sich auch noch ein mechanisches Problem, denn die Abstände zwischen diesen Zeitwerten auf dem Einstellring sind insbesondere zwischen der 1/10 und der 1/25 sowie der 1/100 und der 1/250 Sekunde ungleich lang. Bei einer Lichtwertkupplung ist es aber ausschlaggebend, daß von Zeitwert zu Zeitwert und von Blendenzahl zu Blendenzahl gleiche mechanische Abstände vorhanden sind, um beide bei gleichbleibender Belichtung beliebig gegeneinander verschieben zu können. Daraus folgt: der Vebur war veraltet und bot einer Weiterentwicklung der Werra keine ausreichende Basis. Da diese Weiterentwicklung aber sowohl in Hinblick auf einen gekuppelten Entfernungsmesser, einen Selbstauslöser, eine Vollsynchronisation und vor allem auch einen gekuppelten Belichtungsmesser gefordert wurde, ergab sich das schwierige Problem, daß die Volkseigene Industrie keinen dafür geeigneten Zentralverschluß bereitstellen konnte.
Das heißt aber nicht, daß nicht bereits frühzeitig an solch einem konkurrenzfähigen Zentralverschluß gearbeitet worden wäre. Wie ich durch intensive Beschäftigung mit der Patentüberlieferung des VEB Zeiss Ikon Dresden nachweisen konnte, lief in diesem Betrieb in der zweiten Jahreshälfte 1954 eine umfassende Entwicklungstätigkeit für einen Verschlußtyp an, mit dem man sich offenbar erhoffte, den Münchner Konkurrenten zu überholen, ohne ihn einholen zu müssen. Dazu griff man ein Funktionsprinzip wieder auf, das der deutschstämmige Gustav Dietz schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA entwickelt hatte: Führen die Sektoren eines herkömmlichen Zentralverschlusses eine hin- und hergehende Bewegung aus, wobei bei der vollen Öffnung des Verschlusses eine Richtungsumkehr stattfindet, so rotierten die Sektoren bei Dietz' Multispeed Shutter nach der vollen Öffnung in der gleichen Richtung weiter, um die Objektivöffnung wieder zu verschließen. Auf diesem Funktionsprinzip des Durchschwingverschlusses basierten auch die Entwicklungsarbeiten bei Zeiss Ikon, die Jahre später zum Prestor führten und auf die den zeitgenössischen Dokumenten nach zu urteilen sehr viel Kraft verwendet wurde. Um die Unterschiede zu den bisherigen Verschlüssen zu verdeutlichen, ist unten ein einzelner Sektor eines Compurs dem eines Prestor-Durchschwingverschlusses gegenübergestellt.
Meiner Einschätzung nach war es nun aber die strategische Zweigleisigkeit, die der VEB Zeiss Ikon seinerzeit einschlug, die dieses ganze Projekt letztlich zum Desaster werden ließ. Der Prestor-Durchwingverschluß wurde nämlich beileibe nicht dazu entwickelt, damit Zeiss Jena seine Werra aufwerten konnte. Das wurde allenfalls als angenehmer Nebeneffekt einalkuliert: den Prestor auch an andere Firmen zu verkaufen. Wie sich anhand der Patentüberlieferung sehr eindeutig nachweisen läßt, hatte der VEB Zeiss Ikon vielmehr im Sinn, eine Zentralverschluß-Spiegelreflexkamera nach dem Vorbild der westdeutschen Contaflex auf Basis dieses neuen Verschlusses herauszubringen. Dieses Projekt geriet jedoch zu einer regelrechten Katastrophe und dürfte zumindest einer der Gründe dafür gewesen sein, weshalb vom VEB Zeiss Ikon bald nichts mehr übrig blieb. Das Fatale daran: So groß die technischen Schwierigkeiten bei der Entwicklung des Prestor auch gewesen waren, so konnten diese dennoch im Laufe des Jahres 1955 der Patentliteratur zufolge weitgehend überwunden werden. Im Prinzip lag der neuartige Verschluß zu diesem Zeitpunkt also bereits produktionsreif vor.
Anhand dieser Reklame für den bundesdeutschen Markt vom Januar 1959 wird deutlich, daß die Werra mit dem Synchro-Compur versehen werden mußte, um exportfähig zu sein. Interessant auch zu lesen, wie wortreich man mit der Tradition Carl Zeiss Jenas im optischen Metier zu werben versuchte, ohne den Namen der Weltfirma dabei auch nur ein einziges Mal nennen zu dürfen. Wir müssen uns heute diese Zeit als eine einer regelrechten deutsch-deutschen Schizophrenie vorstellen. Während die DDR-Führung und der SED-Parteiapparat die Bundesrepublik täglich massiv ideologisch angriff (oftmals auch deutlich unter der Gürtellinie), versuchten die Wirtschaftsleute irgendwie den innerdeutschen Handel aufrechtzuerhalten – ohne den die DDR schlichtweg nicht überleben konnte. Die Unterschrift "1857" auf dem Bild unter dem Mikroskop läßt vermuten, daß diese Annonce schon für das Jahr 1957 vorgesehen war, die verzögerte Auslieferung der Werras III und IV dies aber vereitelte. Scan: Martin Grahl.
Nach meinen Schlußfolgerungen sind nun aber zwei Gründe dafür ausschlaggebend gewesen, weshalb das Prestor-Prokekt anschließend über Jahre hinweg auf Eis gelegt werden mußte. Für einen der beiden ist der VEB Zeiss Ikon selbst verantwortlich zu machen; namentlich der Chefkonstrukteur Walter Hennig. Durch die ganzen Verzögerungen hatte es sich nebenbei herauskristallisiert, daß eine Zentralverschlußspiegelreflex mit fest eingebautem Objektiv eine technische Sackgasse darstellte. Zeiss Ikon in Stuttgart mußte sich nämlich mittlerweile mit völlig unvernünftigen Satzobjektiven behelfen, um ihre Contaflex nachträglich für unterschiedliche Brennweiten zu ertüchtigen. So etwas Umständliches kam jedoch für die DDR nicht infrage. Die Entscheidung, die spätere Pentina mit vollständig wechselbaren Objektiven nach dem Bessamatic-Prinzip zu versehen, sorgte dafür, daß der VEB Zeiss Ikon lange schon nicht mehr exsitierte, als diese komplett umkonzeptionierte Pentina endlich fertig wurde. Daß dieser Betrieb zweitens gar nicht mehr existierte – ja regelrecht aus der Öffentlichkeit getilgt werden mußte – führe ich anhand der Interpretation des Verfahrensverlaufs der damaligen Patentanmeldungen des VEB Zeiss Ikon in der Bundesrepublik darauf zurück, daß die DDR-Photoindustrie durch Markenrechtsstreitigkeiten mit der Zeiss Ikon AG in Stuttgart davon bedroht war, ihre wertvollen Schutzrechte an diese Firma zu verlieren. Darunter eben auch alle bisherigen zum Prestor-Projekt.
Also kurz und schlecht: Für unsere Werra bedeuteten diese beiden "Baustellen" bei Zeiss Ikon einen jahrelangen Stillstand in der Weiterentwicklung der Eisfelder Sucherkamera. Erst nachdem zum 1. Januar 1959 der VEB Kamera- und Kinowerke Dresden gegründet worden war und damit die mindestens seit dem Frühjahr 1957 währende "Schwebephase" des Dresdner Kamerabaus überwunden werden konnte, ging der Prestor Durchschwingverschluß 1958 in Serienproduktion. In größeren Stückzahlen wird er wohl allerdings erst ab 1959/60 zur Verfügung gestanden haben, denn es fällt auf, daß höherwertig ausgestattete Exemplare der Werra I und II sowie viele Exemplare der Werra III und IV noch längere Zeit mit dem Münchener Synchro-Compur versehen wurden, weil der Prestor ganz offensichtlich nicht in ausreichenden Stückzahlen geliefert werden konnte. Dieser Import war nicht nur teuer, sondern verlangte obendrein auch noch Deviseneinsatz. Außerdem stellte sich heraus, daß der Bezug dieser Zentralverschlüsse aus der Bundesrepublik die Werra-Produktion von der politischen Großwetterlage abhängig machte. So konnte im Jahre 1957 die Werra III nicht sofort in Produktion gehen, da die Lieferung der Compur-Verschlüsse nicht erfolgt war. Erst der Prestor stabilisierte die Produktion der höherwertigen Werra-Modelle und ermöglichte letztlich, mit der Werra V noch einmal einen ganzen Schritt weiter zu gehen.
Zwei vergleichsweise kurz hintereinander hergestellte Exemplare der Werra III. Die obere ist mit dem neuen Prestor ausgestattet und mit der Seriennummer 281.153 sogar die ältere der beiden. Sie stammt aus einem Fertigungsauftrag vom April 1958. Die Kamera unten ist dagegen mit einem Synchro-Compur versehen und mit ihrer Seriennummer 269.600 entstammt sie einem Fertigungslos vom Oktober 1958. Wichtig an dieser Stelle: Die kürzeste Verschlußzeit wurde beim Prestor zunächst ebenfalls mit 1/500 Sekunde graviert, um das Prinzip der Lichtwertkupplung nicht zu stören. Später hat man sich entschlossen, den realistischen Wert 1/750 Sekunde anzugeben. Ansonsten sind der Prestor 500 und der Prestor 750 mechanisch identisch. Die mancherorts zu lesende Angabe, der Prestor 750 habe stärkere Federn ist reine Phantasie der Autoren und findet sich in keiner Originalquelle des Herstellers. Die Montageanweisung des VEB Kamera- und Kinowerke läßt für den Prestor 871.50/51 mit 1/500 s und 871.52/53 mit 1/750 s absolut identische Bauteile im Hemmwerk erkennen und auch die Zeitentabelle macht zwischen beiden Verschlüssen keinerlei Unterschiede.
Das Exemplar mit dem Synchro-Compur hat nachweislich Frau Hella Hartmann am 4. August 1959 in Karl-Marx-Stadt gekauft. Für eine 24-jährige Frau könnten damals 412,- Mark mehr als ein ganzer Monatslohn gewesen sein. Dementsprechend wurde die Kamera stets pfleglich behandelt und ist in einem tadellosen Zustand.
Die Beurteilung des Prestor fällt im Übrigen Zwiespältig aus. Einerseits muß man anerkennen, daß der Dresdner Kamerabau diesen Zentralverschluß mit seinem so andersartigen Funktionsprinzip erfolgreich zuendeentwickelt und auch in die Massenfertigung überführt hat. Ich fürchte allerdings, daß dies nur mit einem über alle Maßen ausufernden Aufwand möglich gewesen ist, der am Ende nur schwerlich zu rechtfertigen gewesen sein mochte. Der Prestor war schlichtweg NOCH komplexer geraten als herkömmliche Spannverschlüsse der Spitzenklasse. Die Japanische Photoindustrie zeigte zu ebenjener Zeit übrigens deutlich weniger Skrupel im Kopieren von fremden Errungenschaften und war anschließend sehr erfolgreich damit. Oder anders ausgedrückt: Solcherlei Deutsch-Deutsche Zwistigkeiten haben letztlich beiden Seiten geschadet und der Konkurrenz aus Japan obendrein auch noch in die Hände gespielt.
Es darf aber auch nicht verschwiegen werden, daß das eigentliche Ansinnen, das hinter dem ganzen Aufwand mit dem Durchschwingverschluß steckte, nämlich erstmals die 1/1000 Sekunde als kürzeste Verschlußzeit für Zentralverschlüsse einzuführen, als gescheitert zu betrachten ist. Zwar erreichte der Prestor durch die fehlende Richtungsumkehr der Sektoren tatsächlich günstigere Werte als der Compur, aber die sogenannte Hauptzeit T2, in der der Verschluß kurzzeitig die volle Öffnung erreicht, war eben doch nicht kurz genug, um die kürzeste Verschlußzeit mit einer 1/1000 Sekunde angeben zu können. In diesem Punkt waren die Kamera- und Kinowerke ehrliche Makler. Aufgrund der wirklich besseren Werte als beim Compur ließ man sich es nicht nehmen, später wenigstens 1/750 statt 1/500 Sekunde auf den Einstellring zu gravieren. Der Verschluß selbst blieb freilich unverändert. Nur der sogenannte Hilfsverschluß, der beim Durchschwingprinzip unbedingt nötig ist, auf den ich hier aber nicht weiter eingegangen bin, wurde später "entfeinert". Das lag schlichtweg daran, daß die Werra schon bald als der einzige praktische Anwendungsfall des Prestor übriggeblieben war (und diese Kamera die mögliche Doppelfunktion des Hilfsverschlusses als Springblende nie nutzte). Daß Pentacon diesen aufwendigen Prestor nach dem raschen Auslaufen der Prakti und der Pentina quasi nur noch für Zeiss Jena fertigte, läßt schon erahnen, weshalb auch das Ende der Werra bald besiegelt wurde.
Hier sieht man den sogenannten Hilfsverschluß des Prestors, dessen Entwicklungsgeschichte ein wichtiger Schlüssel dafür ist, um nachträglich herauszuinterpretieren, was der VEB Zeiss Ikon Mitte der 1950er Jahre eigentlich so richtig im Sinn gehabt hat. Ein Hilfsverschluß ist beim Durchschwingprinzip prinzipiell deshalb unentbehrlich, weil die rotierenden Sektoren beim Spannen des Verschlusses den Lichtpfad freigeben. Ohne ihn würde daher Licht auf den Film fallen, was durch den während des Spannvorgangs geschlossenen Hilfsverschluß wirksam verhindert werden muß. Interessant wird das Ganze dadurch, daß der ursprüngliche, im linken Bild gezeigte, Hilfsverschluß auf eine Doppelfunktion hin ausgelegt gewesen ist: Er hätte nach dem Auslösen der Kamera eine zweite Rolle als automatische Springblende übernommen, wie sie beispielsweise in Einäugigen Spiegelreflexkameras mit fest eingebautem Objektiv benötigt wird. Darin ist eines der Indizien zu sehen, daß man bei Zeiss Ikon eine DDR-Contaflex im Sinne hatte. Aber dazu kam es wie gesagt nicht, die spätere Pentina hatte ihre Springblende in den Wechselobjektiven und als Zwischenlinsenverschluß ist der Prestor in der DDR weder bei der Werra noch bei der Prakti angewandt worden. Weil dadurch die Zusatzfunktion des Hilfsverschlusses als Springblende obsolet war, konnte er später auf zwei einzelne Lamellen reduziert werden, was einerseits den Material- und Fertigungsaufwand verringerte und andererseits den Hilfsverschluß etwas zuverlässiger werden lassen sollte. Die nur durch geringe Federkraft angetriebenen Lamellen verkleben nämlich gerne miteinander und verursachen Funktionsstörungen, die die Kamera völlig unbrauchbar werden lassen. Falls Ihre Werra also mit Prestor ausgestattet ist, so kontrollieren Sie am besten vor jedem Filmeinlegen, ob beim Spannen des Verschlusses der Hilfsverschluß geschlossen ist und am Ende des Spannvorgangs aufspringt. Ist eines von beidem nicht der Fall, werden Sie keine Aufnahmen erzielen können!
5.4 Die Sucher der Werra
Ein besonderes Charakteristikum der Werra ist wie bereits angedeutet ihre Janusköpfigkeit zwischen möglichst rationell zu fertigender Massenkamera und ihrem Potential zu einem immer höheren Niveau in Sachen Präzision und Ausstattung. Das kann man besonders gut an der Evolution ihrer Suchereinrichtungen ablesen. Zuerst war in der Deckkappe der Werra lediglich ein großer Glasquader eingebaut, der im Grunde genommen wie ein einfacher Rahmensucher funktionierte. Zeiss selbst nannte diese Konstruktion "Planglassucher". Durch das höhere Brechungsvermögen des Glases wirkten allerdings hinterer Einblick und vordere Umrandung näher beieinander und der "Ausguck" schärfer abgegrenzt, als wenn sich zwischen ihnen nur Luft befände, wie das beim üblichen Rahmensucher der Fall ist. Man erhoffte sich dadurch, ohne lichtbrechende Linsen ausommen zu können. Immerhin waren die ersten 140.000 Werras mit diesem "Einfachsucher" ausgestattet worden [Vgl. Miller, Rolf, Die Werra; in Fotografie 12/1957, S. 354.]. Doch diese Bauweise eines Suchers erfüllte nur die nötigsten Ansprüche an eine exakte Bildgestaltung.
Zwei Jahre nach dem Produktionsstart der Werra wurden daher umfangreiche Arbeiten an einem verbesserten Suchersystem aufgenommen, die in den Patenten DD16.802 und DE1.081.301 zum Ausdruck kommen, die zwar beide am 12. Juli 1956 in Ostberlin und München angemeldet wurden, sich allerdings inhaltlich geringfügig unterscheiden. Beide beschreiben verschiedene Ausführungsformen eines Suchers, der mithilfe einer Verspiegelung zweier einander zugekehrter Hohlflächen einen hell aufleuchtenden Rahmen in das Auge des Betrachters entwirft. Mit diesem neuen Spiegelrahmensucher konnte nicht nur endlich der exakte Bildausschnitt scharf abgegrenzt werden, sondern es wurde auch möglich, deutlich sichtbare Parallaxenmarken für Aufnahmen im Nahbereich anzuzeigen.
Der Grundgedanke dieses Spiegelsuchers hätte sogar einen Ausbau bis hin zum Meßsucher mit eingespiegeltem Mischbild ermöglicht, wie weitere Ausführungsformen des Patentes nahelegen. Neben Kurt Wagner und Hugo Eisenhut war immerhin der damalige Chefkonstrukteur der Abteilung Photo des Zeisswerks, der Vater der Flektogone und Spiegellinsenobjektive, Wolf Dannberg, an der Konstruktion dieser Suchersysteme beteiligt. Doch letztlich wurde dieser Ansatz für die kommende Entfernungsmesser-Werra dennoch fallengelassen und auf einen ungleich aufwendigeren Prismen-Fernrohrsucher zurückgegriffen, den ich im folgenden Abschnitt im Zusammenhang mit dem Entfernungsmesser beschreibe. Das Interessante dabei: Nachdem der oben beschriebene Spiegel-Rahmensucher einige Zeit in die Werra I und II erfolgreich eingebaut worden war, wurden auch diese Kameras am Ende doch noch auf eine vereinfachte Variante dieses besagten Prismensuchers umgestellt, der aufgrund seines Arbeitsprinzips in Form einer reelen Zwischenabbildung einen Sucherrahmen ermöglichte, der wie im Sucherbild zu schweben schien und das Aufnahmefeld dadurch noch deutlicher und präziser abgrenzte. Das war möglich, indem in der Ebene dieser reellen Zwischenabbildung die sehr feinen Linien dieses Sucherrahmens in den Spiegelbelag einer Feldlinse eingeätzt wurden. Selbst die einfache Werra I erreichte mit diesem Sucher nunmehr ein kaum zu übertreffendes Niveau innerhalb ihrer Klasse.
5.5 Der Entfernungsmesser
Geschützt wurde der aufwendige Meßsucher der Werra mit dem DDR-Patent Nr. 17.655 vom 10. Juli 1956. Hermann Friebe war der Urheber. Als Grundlage nutzte er das Prinzip des Schnittbildentfernungsmessers, das von anderen Herstellern nur selten in Meßsuchern eingesetzt wurde. Meßsucher bedeutet ja ein optischer Verbund, bei dem Sucher und Entfernungsmesser einblicksgleich zusammengelegt sind. Von wenigen Ausnahmen abgesehen dominierte in diesem Bereich der Mischbildentfernungsmesser, der nach dem Überlagerungsprinzip arbeitet. Der Schnittbildentfernungsmesser braucht dagegen zwar immer eine Kante oder ein anderes markantes Objekt, das eben zerschnitten wirkt, wenn nicht scharfgestellt ist. Dafür beeindruckt er mit seinem hellen, klaren Meßfleck, der auch bei wenig Licht und kontrastarmen Objekten ein gutes Scharfstellen ermöglicht. Das Mischbild ist in solchen Fällen meist rasch am Ende.
Oben ist einmal das Funktionsprinzip des Mischbildentfernungsmessers, wie er beispielsweise in der Leica M3 verwendet wurde, dem des Schnittbildentfernungsmessers der Werra III gegenübergestellt. Beide Bilder zeigen jeweils den defokussierten Zustand.
Wie im Abschnitt 5.4 bereits angesprochen, arbeitet der Prismenfernrohrsucher der Werra mit einer reellen Zwischenabbildung. Während der sonst übliche Newtonsucher nur ein virtuelles Bild des Motivs liefert, das mit einem Okular vergrößert betrachtet wird, blickt man bei der Werra mit dem Okular (5) auf eine reelle Zwischenabbildung, die von einem Sucherobjektiv (1) projiziert wird. Das hat den Vorteil, daß in der Ebene der reellen Abbildung (8) angebrachte Markierungen wie Sucherrahmen oder Einspiegelungen von Meßwerkzeigern genau so scharf und deutlich abgegrenzt gesehen werden, wie das Motiv selbst. Um den Meßsucher der Werra III bis V mit diesem Prinzip der reellen Zwischenabbildung in Einklang zu bringen, mußte ein zweites Objektiv vorgesehen werden, das allein dafür zuständig war, ein reelles Bild im zentralen Meßfleck des Suchers zu erzeugen. Dieses Meßobjektiv (7) war zu diesem Zweck derart mit dem Schneckengang des Kameraobjektivs gekuppelt worden, daß es sich bei Naheinstellung in Pfeilrichtung (A) bewegte.
Dem Vorteil eines sehr hochwertigen Sucherbildes mit einer klaren seitlichen Abgrenzung und eines hellen Entfernungsmessers stand freilich der große optische Aufwand dieses Bauprinzips gegenüber. Um den Sucher insgesamt geradsichtig und die reellen Abbildungen der beiden Sucherobjektive aufrechtstehend zu machen, waren mehrere Spiegelungen in Prismenkörpern nötig, die dazu entsprechende Dachkanten aufweisen mußten. Im Patent DD17.655 wurde zwar eine Anwendung von Kunststoffpreßlingen vorgeschlagen, in der Praxis ist der Meßsucher der Werra jedoch ganz und gar aus Glas gefertigt worden. Die Herstellung der Komponenten dieses Meßsuchersystems erfolgte in Dresden Reick, dem ehemaligen Stammhaus der Emil Wünsche AG an der Mügelner Straße 40. Der Optik-Flügel dieses Werkes war zum 1. Januar 1952 vom VEB Zeiss Ikon an den VEB Zeiss Jena überstellt worden [Vgl. CIA-RDP82-00457R012100140008-8 vom 23. Mai 1952.].
Erwähnenswert ist noch, daß dieses Prinzip des Schnittbildentfernungsmessers eine Möglichkeit geboten hätte, nicht nur die Scharfstellung anhand des Suchers vorzunehmen, sondern auch die zur Verfügung stehende Schärfentiefe im Sucher direkt ablesen zu können. Hermann Friebe und Paul Klupsch hatten dazu ein Patent angemeldet, das aber in der Praxis nicht verwirklicht wurde [DD27.363 vom 1. Juli 1957].
Wieso nicht jede x-beliebige Firma solch aufwendige Meßsucher anbieten konnte, erkennt man, wenn man sich einmal die Kombination aus Dachkantprisma mit aufgekittetem Ablenkungsprisma anschaut, die in der Werra III...V verbaut wurde. Das war schon höchste optisch-feinmechanische Präzision. Heute werden solche Prismensysteme aus transparenten Kunststoffen gespritzt, aber bei der Werra ist alles aus geschliffenem, poliertem Glase. Bei der Werra V bzw. der Werramatic kam dann noch die Anzeige des Nachführzeigers am unteren Bildrand sowie die Einspiegelung von Zeit- und Blendenskala hinzu. Das war eine große Leistung!
Als die Werra III entwickelt wurde, sollte diese nicht nur einen mit der Scharfstellung gekuppelten Entfernungsmesser aufweisen, sondern als Erschwernis auch noch Wechselobjektive. Ein sogenannter Basisentfernungsmesser, bei dem Spiegel, Prismen oder Linsen um ganz geringe Winkelbeträge verschwenkt werden, stellt an sich schon eine große mechanische Herausforderung dar. Wenn der Entfernungsmesser überhaupt die notwendige Präzision des Kleinbildes erfüllen und eine gewisse Langzeitstabilität gesichert bleiben soll, dann verlangt eine Entfernungsmesserkupplung bei Wechselobjektivsystemen eine sehr sorgfältige Konstruktionstätigkeit. Nicht umsonst haben die Firmen Leitz und Zeiss Ikon Anfang der 1930er Jahre sehr lange an dieser Problemstellung gearbeitet und sind auch zu sehr unterschiedlichen konstruktiven Lösungen gekommen.
Die Entfernungsmesserkupplung der Werra folgt nun in gewisser Weise dem Grundprinzip der Leica. Allerdings wird der Schwenkwinkel nicht wie bei der Leica direkt durch ein Gleiten an der Verstellkurve des Objektivs angetrieben, sondern über zwei Stifte, von denen der eine einen Bestandteil der Kamera darstellt und der andere spielfrei im Objektiv gelagert ist. Das garantiert höchste Langzeitstabilität und Verschleißfreiheit. Diese Anordnung war übrigens auch deshalb machbar, weil die Werra mit dem in der DDR weit verbreiteten Schraubbajonett-Prinzip arbeitet, bei dem das Objektiv nicht in die Kamera eingedreht, sondern von vorn aufgesteckt und durch Verdrehen eines Ringes gesichert wird. Entwickelt wurde diese Entfernungsmesserkupplung vom Zeiss-Konstrukteur Paul Klupsch, der sich seine Idee im DDR Patent Nr. 16.873 vom 23. Oktober 1956 schützen lassen hat.
Diese Werra III wurde zwar auf der Herbstmesse 1957 gezeigt, aber das nur mit dem für DDR-Verhältnisse recht ungewöhnlichen Hinweis, daß die just fertig konstruierte Kamera erst in der zweiten Jahreshälfte 1958 in Produktion gehen werde. [Vgl. Bild & Ton, Heft 10/1957, S. 270.]. Dasselbe galt übrigens auch für die Werra IV, die als eine Synthese der Modelle II und III angekündigt wurde. Der Grund dürfte in den anhaltenden Schwierigkeiten der Volkseigenen Zulieferindustrie gelegen haben, den neuen Spitzenverschluß bereitzustellen. Gleichzeitig stockte die Lieferung der Deckel-Verschlüsse aus München. Bedingt durch den gewählten Aufbau der Wechselobjektive, bei dem die Blendenverstellung Teil der Kamera und nicht des Objektives war, konnte selbst die Werra III, obwohl sie gar nicht über einen eingebauten Belichtungsmesser verfügte, nur mit einem Zentralverschluß versehen werden, der eine Lichtwertkupplung aufwies. Selbst ersatzweise konnte der Vebur also keinen Einsatz finden. Die Musterkameras für die zukünftige Werra III und IV waren jedenfalls bereits im Laufe des Jahres 1956 fertiggestellt worden, was man anhand der Seriennummern ihrer Objektive ableiten kann. Darin lag der Grund für die verspätete Einführung ab Juli bzw. November 1958 also definitiv nicht.
Mit diesem interessanten Aufbau wurde bei der Werra III ff der Entfernungsmesser einjustiert bzw. bei der Endkontrolle überprüft [Bild: Werksarchiv Carl Zeiss Jena].
Um die Vorteile des gekuppelten Entfernungsmessers auch im Nahbereich nutzen zu können, wurden Werra-Naheinstellgeräte geschaffen, die neben einer Nahlinse für das Tessar noch entsprechende Lupen für den Sucher- und den Entfernungsmesser-Ausblick in sich vereinten. Durch die leicht keilförmige Ausgestaltung der letzteren war gewährleistet, daß einerseits der Sucher auch in der Nähe den richtigen Bildausschnitt zeigte und auf der anderen Seite das Schnittbild des Entfernungsmessers auf Nähe korrigiert wurde. Es gab das Naheinstellgerät 1 mit 690 mm Brennweite für den Entfernungsbereich 0,8 ... 0,4 Meter und das Naheinstellgerät 2 mit 340 mm Brennweite für den Entfernungsbereich 0,4 ... 0,3 Meter. Wurden beide Geräte übereinander gesetzt, dann konnte sogar bis 25 cm an das Motiv herangegangen werden.
Eine WERRAmatic mit angesetztem Naheinstellgerät 2. Bedingt durch das einfache Prinzip der Vorsatzlinse wurde empfohlen, das Objektiv mindestens auf 1:5,6 abzublenden, was freilich schon aus Gründen der Schärfentiefe angebracht war. [Bild: László Horváth].
5.6 Die Werra-Wechselobjektive
Eng mit der Werra III und ihrem Entfernungsmesser sind auch die beiden Wechselobjektive verbunden, die speziell für diese Kamera geschaffen wurden. Daß diese Wechselobjektive besonders zugeschnitten sein mußten, liegt wiederum daran, daß die Werra eine Kamera mit hinter dem Objektiv liegenden Zentralverschluß war. Das Wechselobjektiv wurde also in seiner Gesamtheit VOR den Zentralverschluß gesetzt, der seinerseits fester Bestandteil der Kamera blieb. Diese spezielle Bauweise der Kamera hatte zweierlei Auswirkungen auf die Konstruktion der Wechselobjektive, die für das Weitwinkel und das Tele gesondert zu betrachten sind:
5.6.1 Das Werra-Flektogon 2,8/35 mm
Um den Weitwinkelbereich abzudecken, gab es für die Werra III (und die entsprechenden Schwestermodelle) eine Version des Retrofokus-Pioniers Flektogon 2,8/35mm. Dieses Objektiv war im Sommer 1949 speziell für die zukunftsträchtigen Kleinbild-Spiegelreflexkameras des Dresdner Kamerabaus geschaffen worden. Während die aufwändige Bauart bei der Spiegelreflexkamera deshalb nötig war, damit der Spiegel genügend Bewegungsspielraum hat, sorgte bei der Werra der zwischen Kameragehäuse und Objektiv sitzende Zentralverschuß für ein ähnlich gelagertes "Platzproblem". Rudolph Solisch kam daher bei Zeiss die Aufgabe zu, ein Objektiv mit einem großen Bildwinkel zu schaffen, bei dem der Luftzwischenraum zwischen der hintersten Linse und der Bildebene länger sein mußte als die Brennweite. Nach einem etwa zu selben Zeit in Frankreich entwickelten Pendant wurde diese Objektivbauart in der Folgezeit allgemein Retrofokus-Weitwinkel genannt.
Interessant ist nun, daß für die Werra zum 12. März 1956 eine gesondert gerechnete Variante dieses Flektogons geschaffen wurde, die sich zwar im Grundaufbau nicht von dem Typus für die Reflexkamera unterschied, aber durch leichte Verringerungen der hinteren Linsendurchmesser so für die Werra zugeschnitten werden mußte, daß das Objektiv in den engen Zentralverschluß eintauchen konnte. Diese Werra-Version des Flektogons lief unter dem Versuch V214. Wie die unten wiedergegebene Mitteilung vom Mai 1957 wissen läßt, war trotz Abänderung der hinteren Linsendurchmesser kein Verlust an Bildleistung feststellbar. Etwa 11.000 Stück wurden ab Sommer 1958 offenbar innerhalb eines einzigen Jahres produziert.
Doch diese Doppelproduktion eines ansonsten identischen Objektives war sehr unwirtschaftlich. Man erachtete es wohl als günstiger, bei Bedarf die Linsensätze für das Werra-Flektogon einfach in den nötigen Mengen aus der laufenden Fertigung des für die Spiegelreflexkameras hergestellten Flektogons "entnehmen" zu können. Mit dem Rechnungsdatum vom 23. September 1960 wurde daher eine Neurechnung V269A für das Flektogon 2,8/35 geschaffen, die nun gleichermaßen für die Spiegelreflexkamera wie für die Werra geeignet war. Auf Basis dieser Rechnung wurden zwischen Jahresanfang 1964 und Jahresende 1968 noch einmal etwa 3350 Stück fabriziert.
Im Verbund mit diesem Retrofokus-Flektogon war die Werra schon ziemlich groß und schwer geworden. Dabei bevorzugten viele Amateure gerade diese etwas kürzere Brennweite, damit sie immer "alles drauf bekamen", wenn sie unterwegs waren und sie ließen daher das Flektogon fast standardmäßig angesetzt. Aus heutiger Sicht wäre es vielleicht besser gewesen, die Werra fest mit einem Objektiv von 35...40 mm Brennweite zu versehen, statt das recht langbrennweitige Tessar zu verwenden. Doch das hatte man damals in der Industrie noch nicht erkannt. In den 70er bis 90er Jahren waren Kameras mit Objektiven um die 40 mm dann sehr beliebt.
5.6.2 Das Cardinar 4/100
Obwohl die Werra ja eine Sucherkamera ist, war also bei ihr diese spezielle Bauform des Retrofokusobjektivs mit verlängerter Schnittweite nötig, um die Forderung nach einem Weitwinkel für diese Kamera mit ihrem Konzept des Hinterlinsenverschlusses in Einklang bringen zu können. Wie man sich leicht denken kann, wurde die Konstruktion eines langbrennweitigen Zusatzobjektives für die Werra ebenfalls von diesen Bedingungen geprägt. Allerdings waren hier die Schwierigkeiten ein wenig anders gelagert. Nicht ein zu kurzer Abstand der hintersten Linse von der Bildebene war hier das Problem, sondern daß dieses rückwärtige Element durch den engen Durchlaß des Prestor 00 stark im Durchmesser eingeschränkt sein mußte.
Erste Arbeiten an einem Teleobjektiv speziell für die Werra lassen sich wiederum auf das Frühjahr 1956 zurückverfolgen, als zum 31. Mai die Rechnung für ein vierlinsiges Sonnar 4/90 mm fertiggestellt worden war. Doch hier war die Strahleneinschnürung noch nicht ausreichend und die Rücklinse mit 20 mm viel zu groß im Durchmesser. Im März des Folgejahres hatte der junge Eberhard Dietzsch mit dem Versuch V246 ein deutlich aufwendigeres Objektiv 2,8/80 mm geschaffen, das ebenfalls eine Sonnarkonstruktion darstellte und dessen rückwärtige Durchmesser nun klein genug gehalten waren. Doch 80 mm Brennweite wurden wohl als zu kurz für ein Teleobjektiv erachtet. Diese Konstruktion wurde daher für die Werra verworfen und später als Cardinar 2,8/85 mm für die Pentina wiederverwendet.
Schon zuvor war im November 1956 mit dem Versuch V237 ein Teleobjektiv 3,5/100 gerechnet worden, das mit seiner gegenüber dem Normalobjektiv doppelt so langen Brennweite besser für ein Werra-Tele geeignet erschien. Um diese lange Brennweite jedoch mit den schwerwiegenden Beschränkungen des Zentralverschlusses in Einklang zu bringen, mußten Erich Fincke zusammen mit Harry Zöllner [DDR Patent Nr. 23.651 vom 17. November 1958] es so auslegen, daß
1. der Strahlengang weit genug eingeschnürt wurde, um die eintretende Lichtmenge durch den engen 00-Verschluß zu bekommen.
2. die hinterste Linse kurz vor den Verschlußsektoren zu liegen kam, um den Wirkungsgrad des Verschlusses nicht zu mildern.
3. die Blende des Objektivs nah an diese hinterste Linse gebracht wurde, um Vignettierungen zu vermeiden.
Von diesem hochwertigen Cardinar 4/100 mm wurden zwischen 1959 und 1969 (!) knapp 23.000 Stück hergestellt. Zur Entwicklungsgeschichte dieses Teleobjektives gehört, daß die geometrische Lichtstärke eigentlich bei 1:3,5 liegt, auf der Fassung aber 1:4,0 graviert ist und größtenteils auch durch eine Manipulation des Blendenmechanismus mechanisch auf auf diesen Wert begrenzt wurde. Es ist den Konstrukteuren wohl erst im Nachhinein klar geworden, daß bei den Wechselobjektiven der Werra der Blendenring nicht Teil des Objektives, sondern der Kamera sein wird. Das war notwendig, weil perspektivisch Werramodelle mit gekuppelten Belichtungsmessern geschaffen werden sollten. Dafür war ein Wert der Lichtstärke von 1:3,5 sehr ungünstig, weil dieser nicht in die internationale Blendenreihe paßte und daher einfach nicht mit dem Prinzip der Lichtwertkupplung in Einklang zu bringen war. Der Wert 1:3,5 ist eben etwa eine drittel Blendenstufe von 1:4,0 entfernt oder aber zu zwei Dritteln von 1:2,8 – und eine der beiden Abweichungen würde stets in jeder Belichtung wirksam werden, wenn man die "krummen" 1:3,5 als Anfangslichtstärke zugrundegelegt hätte.
Auf dem Bild oben ist gezeigt, was passiert, wenn ein nicht auf die Öffnung 1:4,0 begrenztes Cardinar an die Kamera gesetzt und die volle Lichtstärke 1:3,5 eingestellt wird. Dazu muß man bedenken, daß die ursprünglichen Modelle Werra III; IV und V eine Lichtwertkupplung im strengen Wortsinne hatte. Das heißt Verschlußzeit- und Blendenring waren in halben und ganzen Werten miteinander durch Rastung gekuppelt. Diese Rastung konnte zum Einstellen des Belichtungswertes zeitweilig durch Druck auf die rechts von den Blendenzahlen sichtbare Taste aufgehoben werden. Nach Loslassen dieser Taste rastete die Kupplung beim Verstellen einer der beiden Ringe wieder ein und Zeit-und Blendenwerte konnten verschoben werden, ohne daß sich die Belichtung änderte. Wohlgemerkt fand dieses Einrasten nur auf vollen oder halben Blendenwerten statt. Bei einem nicht begrenzten Cardinar ließ sich zwar der Blendenring etwa eine Drittelstufe über den Blendenwert 4 hinausdrehen, beim Einstellen der Zeit-Blenden-Kombination rastete die Kupplung aber zwangsweise bei Blende 4 ein, weshalb die Maximalöffnung 1:3,5 aus diesen mechanischen Gründen nicht genutzt werden konnte.
Wie oben zu sehen ist, kann der Blendenring bei einem mechanisch unbegrenzten Cardinar aufgrund der unvermeidlichen mechanischen Toleranzen ("Spiel") fälschlicherweise bei dem halben Wert zwischen 4 und 2,8 einrasten, was bedeutet hätte, daß nunmehr für alle Zeit-Blenden-Kombinationen der Belichtungswert um eine halbe Stufe verfälscht wäre. Bei manchen Kameras sind die Toleranzen derart groß, daß im ungünstigsten Fall die Lichtwertkupplung sogar beim Blendenwert 1:2,8 einrastet, was die Unterbelichtung des Filmes auf die unzulässige Größenordnung von zwei Dritteln eines Blendenwertes anwachsen läßt.
Während die 1959 bis 1961 gebaute Werra V aus völlig unverständlichen Gründen ebenfalls noch diese einrastende Lichtwertkupplung der Werra III und IV besaß, wurde bei der WERRAmatic darauf verzichtet und der Blendenring konnte nun völlig unabhängig vom Zeitenring verstellt werden, was eine sehr praktisch zu bedienende Nachführmessung erlaubte. Jetzt konnte der Blendenring stufenlos immer genau so weit gedreht werden, wie es die Lichtstärke des Objektives eben erlaubte.
Links das Tessar als Normalobjektiv, in der Mitte das Flektogon und rechts das Cardinar [nach: Müller, Rudolf: Das WERRA-System, Bild & Ton, 5/1958, S. 140 ff.] Die Schnittbilder zeigen auch noch einmal deutlich, wie stark der Hersteller sein Augenmerk darauf richten mußte, die hintersten Linsenfassungen im Durchmesser klein genug zu halten, damit sie in den freien Durchlaß des Zentralverschlusses eintauchen konnten.
5.7 Die Belichtungsmesser
Man erkennt also schon an solchen Problemen mit der Lichtstärke der Objektive, wie kompliziert sich die Konstruktion eines einfach zu bedienenden Belichtungsmessers gestaltete. Im Abschnitt 6 wurde bereits gesagt, daß auf der Leipziger Herbstmesse 1957 die neuen Typen Werra II, III und IV vorgestellt wurden, aber nur die Werra II ging anschließend sogleich in Produktion. Das lag sicherlich daran, daß diese Werra II zwar mit einem eingebauten Belichtungsmesser versehen wurde, sich aber ansonsten nicht von ihrer Schwesterkamera Werra I unterschied. Insbesondere bedeutete dies, daß sie mit dem bisherigen Vebur auskam. Weil dieser Zentralverschluß, wie in Abschnitt 5.3 bereits beschrieben, keine Lichtwertkopplung zuließ, konnte daher auch zunächst nur eine Lösung mit einem völlig ungekuppelten Belichtungsmesser verwirklicht werden. Das war freilich in etwa dasselbe, wie ein in die Kamera fest eingebauter Handbelichtungsmesser. Aus diesem Grunde trug die Werra II auch die für solche Geräte charakteristische Rechenscheibe auf ihrer Rückwand.
Das Meßwerk des Belichtungsmessers zeigte oben auf der Deckkappe der Kamera Leitwerte an, die abgelesen und anschließend auf die rückwärtige Rechenscheibe übertragen werden mußten. Erst danach konnte schließlich die passende Zeit-Blenden-Kombination ausgewählt werden, die zu guter letzt auch noch auf den Verschluß und den Blendenring übertragen werden mußte. Neben diesen mehrfachen Ablese- und Einstellvorgängen gestaltete sich das Belichtungsmessen mit der Werra II auch deshalb recht unbequem, weil die Kamera dafür ständig in grotesker Weise hin- und hergedreht werden mußte. Mit einer solchen regelrechten Notlösung konnte sich bei Zeiss Jena also niemand wirklich zufriedengeben.
Um von der umständlichen Bedienung des Belichtungsmessers bei der Werra II abzukommen, sollte für eine Werra IV dieses Verfahren deutlich vereinfacht werden. Um das zu erreichen, hatten sich Helmut Scharffenberg und Johann Koch ein System ausgedacht, das ohne zusätzliche Skalen und Rechenhilfen auskam [DDR-Patent Nr. 20.019 vom 1. September 1957]. Dazu war ein Indexring vorgesehen, der bei Einstellung der Filmempfindlichkeit in eine bestimmte Relation zum gekoppelten Zeit- und Blendeneinstellring gebracht wurde. Der Belichtungsmesser zeigte nun statt der Leitwerte der Werra II direkt einen Blendenwert an, der einmalig bei entkoppeltem Zeit-Blendenring dem Index gegenübergestellt werden mußte. Anschließend konnten nun beliebige Zeit-Blenden-Paarungen gewählt werden, ohne daß sich die Belichtung änderte. Da der Belichtungsmesser der Werra IV noch ein Zweibereichs-Belichtungsmesser war, mußten zwei farbige Indizes auf dem Indexring aufgebracht werden.
Wie oben bereits beschrieben, war für solch einen gekuppelten Belichtungsmesser unbedingt ein Lichtwert-fähiger Verschluß vonnöten. Nicht nur mußte er die neue, lückenlose geometrische Zeitenreihe zu bieten haben, sondern die Abstände zwischen den Rastungen mußten gleich groß sein. Das verlangte nach einer ausgeklügelten Steuermechanik im Verschluß und nach einem perfektionierten Hemmwerk. Aber damit nicht genug: Auch die Abstände zwischen den einzelnen Blendenwerten des Objektivs mußten konstant sein und zudem dieselbe Größe aufweisen, wie beim Zeiteinstellring. Die Wechselobjektive der Werra benötigten daher eine speziell angepaßte Form der Blendenlamellen, um all diese Forderungen miteinander in Einklang bringen zu können.
Trotz allem Aufwand war diese Vereinfachung aber noch nicht einfach genug. Immer noch mußten Zahlen von einer Skala abgelesen und am Index eingestellt werden und war es zu hell oder zu dunkel, dann mußte mit der Klappe vor der Selenzelle der Bereich gewechselt werden. Für eine weiterentwickelte Werra-Generation sollte der Abgleich der Belichtung gänzlich ohne Ablesung von Zahlenwerten möglich sein. Dazu wurde der Zeiger des Belichtungsmessers bei der Werra V (bzw. der späteren Werramatic und der einfacheren Werramat) in das Sucherbild eingespiegelt. Ohne die Kamera vom Auge absetzen zu müssen, war es dadurch möglich, den Zeiger des Belichtungsmessers auf eine Festmarke einzuspielen (Nachführprinzip). Das ergab eine Form der Automatisierung und Vereinfachung der Belichtungsmessung, die keinerlei Abstriche an die Kontrolle über die individuelle Kombination von Zeit- und Blendenwerten erforderte.
Verkompliziert wurde dieses Ansinnen jedoch durch mehrere erschwerende Forderungen. Dazu gehörte, daß der Belichtungsmesser wie gesagt nur noch einen Meßbereich haben sollte. Und weil der Meßabgleich im Sucher sichtbar sein sollte, damit man die Kamera dafür nicht vom Auge nehmen mußte, hatte ihn Johann Koch so ausgelegt, daß er optomechanisch arbeitete [DDR-Patent Nr. 29.472 vom 5. Oktober 1959]. Dazu wurden Zeit, Blende und Filmempfindlichkeit in eine Stößelbewegung überführt, die eine Verdrehung eines Spiegels bewirkte, der seinerseits den Zeiger im Sucher abbildete. Mit dieser Einrichtung mußte der Zeiger auf den Ausschnitt am unteren Sucherrand eingespielt werden, wie dies weiter oben in der Darstellung des Werramatic-Sucherbildes bereits gezeigt wurde. Der dazu nötige Mechanismus geriet letztlich beinah ebenso aufwendig wie der Entfernungsmesser der Werra-Kameras und verlangte nach einem ähnlich sorgfältigen Abgleich.
Weil nun auch der Meßwerkzeiger in der reellen Zwischenbildebene des Suchers (9) abgebildet werden mußte, war bei der Werramatic ein drittes Sucherobjektiv (8) und ein zugehöriges Prisma (8a) nötig. Dieses auf dem Hebel (6) sitzende Objektiv wurde nun so lange verschoben, bis der Zeiger des Meßwerks (1) in der besagten Aussparung des Meßfeldes im Sucher zu liegen kam. Man sieht, daß die tatsächlich in der Werra umgesetzte Verstellung der Belichtungssteuerung weit aufwendiger geriet, als im Patent angedeutet. Die über den Stößel (3) vermittelte Zeit-Blenden-Kombination mußte über ein Schneckengetriebe (4) in eine Verdrehung der Kurve (5) umgesetzt werden. Die Formgebung dieser Kurve war übrigens individuell an die Charakteristik des Selen-Elements angepaßt [Vgl. Krohs: Belichtungsmesser; in: Handbuch der Phototechnik, 2. Aufl. 1962, S. 298]. Am Einsteller 10 wurde zuvor die Filmempfindlichkeit ins Meßsystem eingegeben. Mit der Taste (2) mußten zum Zweck des Belichtungsabgleichs Zeit- und Blendenring entkuppelt werden. Wurde diese Taste anschließend losgelassen, so konnten nun Zeit und Blende gemeinsam verstellt werden. Das bedeutet Zeit- und Blendenkombinationen konnten gegeneinander verschoben werden, ohne daß sich die Stärke der Belichtung veränderte. Später wurde diese mechanische Verkupplung der beiden Einstellringe jedoch fortgelassen.
Zur weiteren Steigerung des Bedienungskomforts wurden mit den Spiegeln (11 a und b) zudem die Werte der Blende und Verschlußzeit in das Sucherobjektiv (12) eingespiegelt und erschienen dadurch ebenfalls in der reellen Zwischenbildebene des Suchers. Diese verblüffend einfache, von Hermann Friebe erarbeitete Lösung zur Anzeige der Belichtungsdaten im Sucher wurde am 19. Dezember 1957 in der Bundesrepublik und am 31. Juli 1958 in der Schweiz zum Patent angemeldet, doch nur in der Schweiz wurde ein Patent erteilt [CH361.976].
Dieses Detail der Einspiegelung der Zeit-Blenden-Werte ins Sucherbild war eine große Leistung der Zeissianer. Sie machte eine derartige Belichtungsautomatik mit Sucherabgleich erst richtig sinnvoll. Ich habe zwar nachweisen können, daß zur selben Zeit im VEB Kamera- und Kinowerke in Dresden für die Pentina auch an einer Einspiegelung des Meßwerkzeigers in deren Reflexsucher gearbeitet wurde. Diese Arbeiten wurden aber nicht in der fertigen Kamera umgesetzt. Das mag daran gelegen haben, weil es anders als bei der Werra nicht gelungen war, auch die gewählte Zeit-Blenden-Kombination im Sucher sichtbar zu machen. Im Vergleich zur Werra mat und Werra matic war der praktische Wert der Belichtungshalbautomatik bei der Pentina daher stark herabgesetzt.
Es sollte an dieser Stelle jedoch nicht verschwiegen werden, daß man in Eisfeld mit den Belichtungsmessern über Jahre hinweg massivste Schwierigkeiten gehabt hat. Obgleich bei Zeiss Jena eigene Selen-Sperrschichtzellen entwickelt worden waren und im Werk Weimar auch eigene Belichtungsmesser fabriziert wurden, mußte der Einbau-Belichtungsmesser der Werra II vom VEB Elektro-Apparatewerk Treptow (EAW) bezogen werden. Dieser Hersteller konnte jedoch weder eine ausreichende Qualität gewährleisten, noch die nötigen Stückzahlen liefern. Der Werra II wurde daraufhin ihr Gütezeichen aberkannt und die Photohändler gingen dazu über, ihren Kunden von einem fest eingebauten Belichtungsmesser gänzlich abzuraten.
Stattdessen wurde empfohlen, die Werra Modelle I oder III zu erwerben und lieber mit den zur Leipziger Frühjahrsmesse 1956 [Vgl. Bild & Ton, 4/1956, S. 97] herausgebrachten Handbelichtungsmesser Werralux zu komplettieren, dessen Hersteller VEB Feingerätewerk Weimar ursprünglich ein Teilbetrieb des VEB Zeiss Jena gewesen war. Wie sein Vorgänger, der nur kurze Zeit gefertigte Belichtungsmesser "Zeiss", arbeitete der Werralux nach dem Prinzip des Nachführzeigers, der durch Drehen der Rechenscheibe mit der Nadel des Meßwerks zur Deckung gebracht werden mußte. Die dazu nötige Kurvensteuerung im Inneren der Rechenscheibe machte es dabei möglich, dieselbe sehr exakt auf die photoelektrische Kennlinie der Selen-Sperrschichtzelle anzupassen, wodurch sogar eine linearisierte Blenden- und Belichtungszeitenreihe erzielt werden konnte. Selbst das Umstellen auf die neue geometrische Zeitenreihe, wie unten beim späteren Modell des Werralux sichtbar, war dadurch problemlos möglich.
Hervorzuheben war zudem die vergleichsweise hohe Anfangsempfindlichkeit des Werralux von gerade einmal 1,5 Lux. Das ermöglichte die im VEB Carl Zeiss JENA entwickelte Selenzelle vom Typ SeA, die in diesen Geräten zum Einsatz kam [Vgl. Krohs, Alfred: Belichtungsmesser und Belichtungsmessung; in: Teicher, Handbuch Fototechnik, 1962, S. 292.]. So war auch in dessen Nachfolger "Weimarlux", der neben einigen technischen Verbesserungen (Lichtwähler mit Wabenlinsen, Null-justierbares Meßwerk) auch die nominelle Bindung zur Werra ablegte. Diese Belichtungsmesser wurden nämlich längst nicht mehr nur als Ergänzung für die Werra gekauft.
Es ist heute nicht mehr nachvollziehbar, weshalb die Selenelemente für die Werra-Einbaubelichtungsmesser ab 1960 dann von Elektrocell in Westberlin importiert wurden, anstatt daß sie der VEB Zeiss Jena selbst produzierte. Man versuchte bei Zeiss später auch, mit der hinter diesem Hersteller stehenden Firma von Erwin Falkenthal und Heinz Presser, die etliche Patente auf dem Sektor der Sperrschicht-Elemente innehatten, wissenschaftlich zu kooperieren, um die DDR-Selenzellen zu verbessern. Zumindest die Meßwerke kamen nun jedoch vom Feingerätewerk Weimar. Doch erst kurz vor dem Auslaufen der Werra-Reihe stellte Zeiss selbst Selenelemente zur Verfügung. Die Probleme mit Qualität und Zuverlässigkeit konnten dennoch nie vollständig behoben werden. Auf die katastrophal hohen Reklamationsraten von DDR Kameras mit eingebauten Belichtungsmessern beim Export wurde Anfang der 60er Jahre sogar das MfS aufmerksam. Entsprechende Kameras wie die Penti, Certi, Prakti und Beiermatic verloren durch Rückstufung auf die Güteklasse 2 ihre Exportzulassung, was Einnahmeausfälle im zweistelligen Millionenbereich nach sich zog.
Situation auf der Leipziger Herbstmesse 1963
„Erhebliche Schwierigkeiten gibt es beim Export von Kameras in das kapitalistische Ausland, da sich der Abstand zur Weltspitze ständig vergrößert. Das hat einen rapiden Preisverfall für Erzeugnisse aus der DDR zur Folge. (Der Preis der Exakta-Varex, der 1957 noch bei 100 bis 150 Dollar lag, beträgt jetzt nur noch 60 bis 65 Dollar.) Die Funktionssicherheit der Geräte ist unbefriedigend. In einer Reihe von Ländern treten zum Beispiel bei sämtlichen gelieferten Kameras mit eingebautem Belichtungsmesser Reklamationen auf.“
Quelle: 3. Bericht, Info Nr.523/63, BStU, MfS, HVA 200, Bl.182–187 (2. Expl.).
5.8 Die Blendenautomatik
Doch selbst für den Inlandsmarkt waren Kameras mit Belichtungsmesser mittlerweile nicht mehr verzichtbar. Auch wenn oben in Bezug auf die Nachführmessung der Werramatic bereits von einer Belichtungsautomatik gesprochen wurde, so war diese natürlich noch keine automatische Steuerung im engeren Sinne, denn Blende oder Verschlußzeit mußten noch manuell dem Ausschlag des Meßwerkzeigers nachgeführt werden. Um in dieser Hinsicht den internationalen Trends zu folgen, wurde unter Federführung der Konstrukteure Hermann Friebe und Helmut Scharffenberg die Werra zu einer Kamera mit Blendenautomatik weiterentwickelt. Diese echte Belichtungsvollautomatik zeichnet sich dadurch aus, daß zu einer manuell vorgewählten Verschlußzeit selbsttätig die richtige Öffnung der Objektivblende gebildet wird. Die theoretischen Voruntersuchungen zur Machbarkeit einer solchen Vollautomatik waren bereits in den Jahren 1959/60 angestrengt worden. Das Projekt wurde 1961 in Angriff genommen und noch im selben Jahr eine erste Musterkamera unter der Bezeichnung WERRAsupermatic fertiggestellt [Vgl. BACZ, Bestand BIV 61/50 und 61/51].
Dieser Prototyp [Abb. oben nach Arnz, Joachim: The Werra: Some interesting rarities; in: Zeiss Historica, 2/2012, S. 8ff.] war mit seinem Entfernungsmesser und den Wechselobjektiven vom Spitzenmodell WERRAmatic abgeleitet. Gleichzeitig wurde eine WERRAsupermat mit Blendenautomatik entwickelt, die mit dem fest eingebauten Tessar dem Konzept der WERRAmat entsprach. Diese Namen mußten aufgrund eines Einspruchs durch die Firma Kodak nachträglich in WERRAmatic super und WERRAmat super umgeändert werden [Vgl. Ausführlicher Abschlußbericht vom 11. November 1966]. Wenn ein mitllerer Entfernungsbereich und eine zur Filmempfindlichkeit passende Verschlußzeit vorgewählt wurde, dann konnte erstmals die Schutzkappe wirklich dauerhaft über dem Objektiv verbleiben, denn die eigentliche Belichtung stellte sich nun selbsttätig ein.
Voraussetzung dafür war jedoch, daß der von der Automatik eingestellte Blendenwert vor der Aufnahme im Sucher ablesbar war, denn es mußte schließlich sichergestellt werden, daß er im zur Verfügung stehenden Blendenbereich zwischen 2,8 und 22 lag. Dazu wurde der Zeiger des Belichtungsmessers im Sucher mithilfe einer verstellbaren Linse abgebildet, deren Stellung wiederum von der Filmempfindlichkeit und der gewählten Verschlußzeit abhängig war. Der Ausschlag des Drehspulmeßwerks entsprach der zu erwartenden Blendenzahl. Um diese auf diese auf die Irisblende des Objektivs zu übertragen, wurde die Zeigerstellung kurz vor der Aufnahme mit einer Kurve abgetastet und über ein Rechengetriebe mit einer Schnecke übertragen. Diese Kurve konnte individuell an die Charakteristik des Selen-Photoelementes angepaßt werden. Zu der ohnehin schon hohen Komplexität dieses Mechanismus' kam noch dazu, daß bei der WERRAsupermatic darüber hinaus eine Übertragung an die Wechselobjektive notwendig war, wozu diese weitgehend umkonstruiert werden mußten. Das war der Grund, weshalb die erst im Januar 1962 begonnenen Arbeiten an der einfacheren Supermat vorgezogen und hier zuerst die Serienertüchtigung in Angriff genommen wurden.
Aufnahmen der Supermat: Peter Drijver, Den Haag.
Dem bereits erwähnten Abschlußbericht von 1966 zufolge wurde diese Form der Belichtungsvollautomatik anhand einer verkleinerten Nullserie der WERRAmat super erfolgreich erprobt und die Kameras unterschiedlichen Temperaturen sowie Schlag-und Rüttelbelastungen ausgesetzt. Auch mit dem einzigen Funktionsmuster der WERRAmatic super mit Wechselobjektiven wurden Tests durchgeführt, ohne daß hier eine Kleinserie gefertigt worden war. Bei Abschluß der Musterprüfungen zu Jahresanfang 1965 stand jedoch bereits fest, daß die gesamte Werra-Reihe eingestellt werden würde (siehe Abschnitt 7).
Die bei diesen Super-Werras gewählte Form Belichtungsautomatik, dei der die Stellung des Meßwerkzeigers abgetastet wurde, um damit die Blendenöffnung festzulegen, bevor der Verschluß schließlich ausgelöst wurde, war schon seit vielen Jahren bekannt und in der Zeit um 1960 auch von anderen Herstellern umgesetzt worden – sogar bereits durch andere Kamerahersteller in der DDR (Certi, Prakti). Der Hintergrund dieser Bauweise liegt darin, daß ein Selenelement nur wenige Hundert Mikrowatt Leistung abgeben und damit keine direkten Steuerungsfunktionen übernehmen kann. Also muß der indirekte Weg beschritten und der Ausschlag des Meßwerkzeigers mechanisch abgetastet werden, um daraus dann das Maß der Blendenöffnung abzuleiten. Die große Schwierigkeit bei der Realisierung einer solchen Belichtungsautomatik lag stets darin, daß die Einstellung der Blendenöffnung zwischen den Blendenzahlen 2,8 und 22 bei allen Belichtungszeiten zwischen 1 und 1/750 Sekunde und allen Filmempfindlichkeiten zwischen 9 und 27 DIN möglich sein sollte. Dies mit rein mechanischen Getrieben zu erreichen (statt wie später nur durch eine Verarbeitung von bloßen Spannungswerten in einer elektronischen Schaltung) war ein sehr schwieriges Unterfangen. Deshalb arbeiteten viele dieser Kameras beispielsweise mit eingeschränkten Verschlußzeitenbereichen.
Ein auffälliges Merkmal der Super-Werra-Modelle ist der an die Rückseite verlegte Auslöser. Ein Patent, das Hermann Friebe und Werner Broche am 2. März 1963 angemeldet hatten [Nr. DD43.115], offenbart den Hintergrund für die Umgestaltung der Auslösebetätigung. Die bisherigen Werra-Modelle hatten einen Auslöser gehabt, dessen Betätigungsknopf auf der Deckkappe der Kamera untergebracht war. Das konnte zur Folge haben, daß versehentlich ein Finger die Öffnung des Photoelementes abdeckte. Bislang war das verschmerzlich, da durch die BelichtungsHALBautomatik zwischen Belichtungsmessung und Aufnahme genügend Zeit blieb, den Fehler zu entdecken und abzuwenden. Bei einer Werra mit BelichtungsVOLLautomatik bestimmte das Meßergebnis aber nun direkt und und ohne zeitlichen Verzug die beim Auslösen gebildete Blendenöffnung und eine auch noch so flüchtige Verfälschung der Messung mußte daher unter allen Umständen verhindert werden. Die Erfinder meinten, dieses Ziel durch die Verlegung des Auslösers an die Rückseite der Kamera und die Betätigung mit dem Daumen statt mit dem Zeigefinger sicher erreichen zu können.
Die Tatsache freilich, daß man sich mit Problemen wie dem versehentlichen Verdecken des Belichtungsmessers beschäftigen mußte, zeigt bereits, wie weit hinterher diese Technologie mit Selenzelle und dem mechanisch abgetasteten Meßinstrument bei Fertigstellung der Arbeiten Mitte der 1960er Jahre bereits gewesen ist. Aus Japan wurden mittlerweile vollautomatisch belichtende Sucherkameras geliefert, die mit kleinflächigen Photowiderständen arbeiteten. Diese Photowiderstände waren sogar klein genug, daß man sie innerhalb des Objektivtubus placieren konnte, wo sie nicht versehentlich abgedeckt werden konnten und sogar den Belichtungsfaktor eines vorgesetzten Filters mit registrierten. Überdies zeichnete sich als neuer Trend bereits ab, daß bei diesen vollautomatisch belichtenden Sucherkameras der durch den Photowiderstand fließende Strom nicht mehr mechanisch, sondern vollelektronisch durch eine Transistorschaltung ausgewertet werden würde (z.B. Yashica electro 35, 1966). Im Angesicht dieses durch die japanische Photoindustrie vorgegebenen technischen Standes wäre die WERRA supermat bei ihrem Erscheinen in den Geschäften bereits völlig aus der Zeit gefallen und die Exportchancen hätten mit großer Sicherheit gegen Null tendiert.
So sah die Realität des Jahres 1966 aus: Die elektronische Steuerung für die Zeitautomatik der Yashica electro 35. Vier Transistoren, ein paar Kondenstoren und Widerstände sowie ein Heißleiter zur Temperaturkompensation. Auch wenn das heute haarsträubend rudimentär anmutet - so wurden einige Jahre später fast alle Kamera gesteuert.
Rekonstruktion eines Prospektes zur WERRA supermat, das wohl für die Messevorstellung geduckt worden war, das aber wie die Kamera anschließend nicht in die "Serienfertigung" ging. Im erhalten gebliebene Original sind alle Angaben "supermat" durchgestrichen und handschriftlich durch "mat super" ersetzt worden.
Unten ein Artikel von Scharffenberg und Friebe über die WERRA Supermat, der 1963 an verschiedene Fachzeitschriften geschickt worden war. Völlig kurios ist, daß die Zeiss-Werbeabteilung diesen Artikel freigab, obgleich das Werk gar nicht bereit zur Produktionsaufnahme war.
Die letzte Weiterentwicklung der Werra, die damals wirklich noch praktisch umgesetzt wurde, betraf übrigens den Rückspulauslöser dieser Kamera. Bislang mußte während der gesamten Zeit, in der man den Film in die Patrone zurückwickelte, der Rückspulknopf gedrückt werden. Mit der DDR-Patentschrift Nr. 43.116 vom 2. März 1963 hatte sich Werner Broche eine Entkuppelungseinrichtung für die Zahntrommel schützen lassen, die ein dauerhaftes Drücken eines Knopfes unnötig machte. Stattdessen wurde der Bodenverriegelung der Werra eine Schaltposition für Rückwicklung hinzugefügt. Eine Hebelkonstruktion im Inneren der Kamera betätigte nun den Rückspulknopf so lange, bis die Rückwand geöffnet wurde. Als angenehmer Nebeneffekt ergab sich, daß die bislang problematische Abdichtung der Rückspulknopfes gegenüber Lichteinfall, für die bislang eine Filzdichtung vorgesehen werden mußte, wegfiel und daher auch keine Störungen mehr verursachen konnte.
An diesem späten Exemplar der Werra zeigt sich ein weiteres Problem, mit dem der Hersteller zu kämpfen hatte. Weil auf dem DDR-Inlandsmarkt die Preise für Konsumgüter in der DDR nicht nur staatlich festgelegt, sondern regelrecht zementiert waren, konnten Preiserhöhungen herstellerseits nur dann durchgesetzt werden, wenn er eine deutliche Gebrauchswerterhöhung nachweisen konnte. Aus diesem Grunde versuchten die Betriebe, durch Materialeinsparungen die Kosten zu senken. Ein Zeichen ist der sogenannte Schaltgriff 56 10 50 - 26 für die Umschaltung von X- auf M-Synchronisation und für den Selbstauslöser. Dieser wurde bei der Werra-E von bisher verchromtem Messing auf Plastik umgestellt. Weil man mit diesem Schaltgriff am Kameraboden gerne hängen blieb, brach er rasch ab. Das sorgte allerdings für aufwendige Reparaturen, weil zum Austausch dieses kleinen Teils der ganze Verschluß abgebaut werden mußte.
Auch als sprichwörtlicher "Schuß in den Ofen" hat sich nachträglich eine weitere Kosteneinsparung herausgestellt. Irgendwann im Laufe der Werra C-Reihe hatte man die Gravuren der Blenden- und DIN-Werte auf den Einstellringen durch ein Druckverfahren ersetzt. Diese aufgedruckten Zahlen waren aber auf dem verchromten Messing nicht dauerhaft und nutzten sich nach kurzer Zeit ab. Wie die oben im Auszug gezeigte "Information über Reparaturpreise" des Produktionsbetriebs Eisfeld vom Januar 1968 beweist, hatte der Hersteller offenbar viel damit zu tun, diesen Fehler nachzubesern. Die wenigen Worte in Punkt 3 lassen erkennen, daß man doch tatsächlich die abgenutzen Zahlenaufdrucke nachträglich gravierte. Ob sich der damit verbundene Demontage- und Montageaufwand mit bloßen 6 Mark 65 abdecken ließ, scheint mehr als fraglich. Aber auch Reparaturpreise waren in der DDR staatlich gedeckelt...
Diese letzten Detailverbesserungen sollten aber bereits den Niedergang der Werra-Reihe einläuten. Es folgte noch eine größere gestalterische Umarbeitung mit einer über die gesamte Frontseite der Deckkappe verlaufenden Scheibe, hinter der der Sucher- und Belichtungsmesserausguck sowie die Modellbezeichnung untergebracht waren. Zudem wurde der Vulkanitbelag statt mit der bisherigen, lederartigen Narbung nun mit modisch aktuellem Muster ausgeführt. Diese "geriefte" Oberflächenstruktur war das äußere Kennzeichen der Werra E-Serie. Mit ihrer Einführung im Frühjahr 1965 wurde übrigens auch das bisher rigoros eingehaltene Konzept des völlig glattflächigen Gehäuses durchbrochen, indem die Werra nun erstmals einen fest eingebauten Blitzschuh verpaßt bekam [Vgl. FOTOKINO magazin Nr. 7/1965, S. 195.].
Aus dem obigen Schriftstück, das den Reparaturanleitungen beigefügt worden ist, läßt sich herauslesen, daß die Modelle der wenig bekannten Werra D zur gleichen Zeit wie die der Werra E gefertigt wurden und daß die Werra D technisch identisch mit den Modellen der E-Serie ist. Die Unterschiede liegen darin, daß die Werra D noch die Kamerakörper mit der genarbten Vulkanisierung sowie die alten Deckkappen der C-Serie verwendet hat..
6. Die Werra als ökonomischer Fehlschlag für Zeiss
Bereits im Abschnitt 4 wurde angedeutet, wie sehr das Werra-Projekt bereits in der Anfangsphase zu einer hohen finanziellen Belastung für den Herstellerbetrieb geriet. Das lag daran, daß aufgrund der Einstufung der Werra als Schwarzentwicklung durch eine Unterbehörde der Staatlichen Plankommission die einkalkulierten Geldmittel für die Begleichung der Entwicklungskosten vom Ministerium für Maschinenbau nicht zur Verfügung gestellt wurden. In einem Anhang zum oben mehrfach zitierten Bericht vom 2. April 1955 werden aus der Entwicklungsphase der Werra folgende Zahlen genannt:
"Der Aufwand für die Entwicklung betrug:
für die Entwicklung 144.000 DM
für den Musterbau 66.000 DM
für technologische Versuche 35.000 DM
Summe 244.000 DM [sic!]" [BACZ Nr. 14.846, zitiert nach: Thiele, Werra, 2014, S. 90.]
Dazu kamen die Kosten für die gesamten Fertigungsmittel, die für den völligen Neubau einer Kamera bereitgestellt werden mußten, darunter die Formen für den Spritzguß des Grundkörpers und der Rückwand, die Ziehwerkzeuge zur Fertigung der Deck- und Bodenkappe, usw. Hier ergaben sich folgende Kosten:
"für die Entwicklung der Fertigungsmittel 182.000 DM
für die Entwicklung der Prüfmittel 5.000 DM
für den Bau der Vorrichtungen 507.000 DM
Summe 694.000 DM
Weil für Forschung und Entwicklung vom Ministerium keine Mittel bereitgestellt werden konnten, gingen die gesamten Aufwendungen als Vorleistungen in die Produktion ein, sodaß sich ein Gesamtaufwand von etwa 950.000 DM ergab" [Ebenda.].
Bevor also überhaupt eine erste Kamera in den Läden stand, hatte Zeiss Jena schon beinah eine Million aus eigener Tasche in das Werra-Projekt stecken müssen. Die im oben genannten Bericht angedeutete Kalkulation, daß diese Kosten anteilig in den Preis jeder später zu produzierenden Kamera eingehen sollten, also auf diese umgesetzt würden, war in der Realität weitgehend illusorisch, da die Verkaufspreise von Anfang an politisch gedeckelt waren.
Dazu kamen erhebliche Belastungen für die Einrichtungen des Eisfelder Werkes. Weil geschulte Fachkräfte nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung standen, mußte das Werk umfangreiche Umschulungen durchführen. Die Notwendigkeit zur raschen Aufstockung des Personalbestandes erforderte, daß sich zeitweise bis zu 100 Arbeitskräfte im Stadium der Umschulung befanden. Auch diese Belastungen gingen in die Fertigungskosten für die Werra ein, "weil ein besonderes Anlaufkonto dafür nicht eingerichtet war." [Ebenda, S. 91.].
Zu diesen "Vorkosten" gesellten sich bald erhebliche Verluste dadurch, daß lange Zeit keine kontinuierliche Fertigung in Gang gebracht werden konnte. Als Ursachen wurden genannt, daß die Zulieferungen aus dem Jenaer Stammwerk (Druckgußteile) und aus anderen Betrieben (Objektive samt Verschluß aus Saalfeld, Sucherbauteile aus Dresden Reick) nicht zuverlässig erfolgte. Nur etwa ein Drittel der im Ursprungsmodell der Werra verwendeten Teile wurden direkt in Eisfeld hergestellt. Auch die Oberflächenbehandlung (gemeint ist vermutlich die Verchromung) mußte zunächst noch in Jena erfolgen, was große Transportbelastungen nach sich zog. Zweitens konnte auch deshalb keine kontinuierliche Fertigung erreicht werden, weil die Kamera bei Anlauf der Produktion noch starke Konstruktionsmängel aufwies, die durch Abänderungen erst beseitigt werden mußten. Ferner verursachte die mangelhafte Qualität des Vebur-Verschlusses von Zeiss Ikon große Schwierigkeiten. Die Ausfallrate habe zeitweise bei bis zu 60 Prozent gelegen. Allein im ersten Quartal 1955 sei auf diese Weise bei einem Produktionswert von einer Million Mark ein Verlust von 500.000 Mark aufgelaufen [Vgl. ebenda].
Aus einem Bericht der Eisfelder Betriebsleitung vom 8. Februar 1964 wird ersichtlich, daß diese in hohem Maße verlustbringende Fertigung bis in das Jahr 1958 vorhielt und erst ab 1959 – fünf Jahre nach Beginn der Produktion – erstmals Gewinne erzielt werden konnten:
1954: - 1.168.000 DM
1955: - 2.148.000 DM
1956: - 1.297.000 DM
1957: - 940.000 DM
1958: - 27.000 DM
1959: + 425.000 DM
1960: + 884.000 DM
1961: + 1.313.000 DM
1962: + 856.000 DM
1963: + 1.853.000 DM
Auf den ersten Blick würde sich für diesen Zeitraum in der Bilanz eigentlich ein positiver Saldo von knapp 700.000 Mark ergeben. Bezieht man jedoch die Kosten für Garantieleistungen, Vertragsstrafen usw. ein, dann hat die Werra dem Hersteller in den zehn Fertigungsjahren zwischen 1954 und 1963 in Wahrheit einen Gesamtverlust von 2,6 Millionen Mark eingebracht [Vgl. Bericht der EBL Nr. 2046 8. 2 64; zitiert in Thiele, Werra, 2014, S. 93.].
7. Das Ende der Werra-Reihe
Das war selbst nach planwirtschaftlichen Maßstäben in höchstem Grade unwirtschaftlich. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Werra für den VEB Zeiss Jena von Anfang an ein großer ökonomischer Fehlschlag gewesen ist und daß sich daran auch in späterer Zeit kaum noch etwas gebessert hat. Denn das Jahr 1963 scheint mit seinen 1,85 Millionen Mark Gewinn nur auf den ersten Blick das erfolgreichste der Werra gewesen zu sein. Aus einem Besprechungsprotokoll mit der Jenaer Werkleitung vom 20. Januar 1964 geht nämlich hervor, daß sich zu diesem Zeitpunkt in Eisfeld die unvorstellbare Zahl von 22.570 Kameras als Lagerbestand angehäuft hatte [Vgl. Thiele, Werra, 2014, S. 89.]. Das dürfte fast die Hälfte der Jahresproduktion gewesen sein. Auf der anderen Seite lagen zum selben Stichtag aber auch Reklamationen von über 1000 Kameras der Typen Werra II, Werra IV, Werramat und Werramatic aus Großbritannien, den Niederlanden und Singapur vor. Dieser Umstand zeigt, daß der Hersteller nach wie vor große Probleme mit den Einbau-Belichtungsmessern hatte, was den Export dieser Gerätschaften für den DDR-Außenhandel zum Vabanquespiel geraten ließ und hinter den Kulissen für großen Ärger gesorgt haben muß.
Auch den Briten, die es bekanntermaßen durchaus etwas "different" mögen, wurde die Werra offeriert, wie dieses Angebot der Handelsfirma Cine - Equipment aus dem Jahre 1962 belegt. Derartige Devisenerlöse aus dem Export in NSW-Länder wurden mittlerweile auch von der Werra erwartet. Die Zeit als DDR-Volkskamera, um die Bevölkerung mit der Regierung zu versöhnen, war lange schon vorüber.
Um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und die beiden Probleme mit dem wegbrechenden Devisenerlös einerseits und den aufgehäuften Lagerbeständen auf der anderen Seite mit einem Schlage loszuwerden, hatte sich der VEB Zeiss Jena Anfang der 60er Jahre dazu durchgerungen, eine Kooperation mit dem bundesdeutschen Versandhaus Quelle einzugehen. Das war nicht weniger als ein Pakt mit dem Teufel. Denn einerseits war Quelle außerordentlich erfolgreich darin, alle möglichen Konsumartikel in großen Stückzahlen erfolgreich an den Mann zu bringen. Insbesondere die Landbevölkerung, die auch in der alten Bundesrepublik lange Zeit nicht so mobil war und wenig Zugang zu Fachgeschäften hatte, kaufte gerne bei Quelle ein. Man schätzte das vielfältige Angebot zu sehr günstigen Preisen. Bis in die Wendezeit hinein wurden daher Produkte, die in der DDR zum Teil nur unter dem berühmten Ladentisch zu bekommen waren, im Westen in großen Mengen regelrecht verramscht. Bett- und Tischwäsche, Geschirr, Kleidung, Raumschmuck und Möbel bis hin zur Nähmaschine kamen aus der DDR.
Der Gegenpreis dafür, daß das Versandhaus Quelle ein derart verläßlicher Großabnehmer ganzer Waggonladungen an Konsumgütern war, und daher die DDR-Betriebe den Zustrom an Westmark Jahr für Jahr fest einkalkulieren konnten, lag jedoch darin, daß Quelle gegen Vertragspartner, die mit ihren Lieferungen in Verzug gerieten, mit massiven Vertragsstrafen vorging. Von daher war es ein zweischneidiges Schwert, daß Foto-Quelle zu Jahresbeginn 1964 bereits 3100 der auf Lager liegenden Werras mit Belichtungsmesser geordert hatte [Vgl. ebenda.]. Lieferschwierigkeiten und Qualitätsprobleme konnte man sich daher kaum noch erlauben. Die oben gezeigten Werra E-Modelle im bundesdeutschen Quelle-Katalog von 1966 waren aber im Prinzip schon ein Ausverkauf.
Denn die Werkleitung des VEB Carl Zeiss JENA hatte bereits am 23. Februar 1965 beschlossen, die Werra-Produktion bis 1968 einzustellen [Vgl. Ausführlicher Abschlußbericht WERRAsupermatic, 1966, Sammlung Günther Benedix]. Interessant ist, daß als offizieller Grund nicht die großen Verluste angegeben wurden, die die Herstellung dieser Kamera seit mehr als einem Jahrzehnt eingefahren hatten, sondern "ungünstiger werdender Devisenerlös der gesamten Werra-Reihe". Daraus erkennt man, daß die Werra, nachdem ihre Rolle als DDR-Volkskamera in den Hintergrund getreten war, als eine der vielen Devisenbringer im Westexport diente. Möglicherweise ist dies der Grund, wieso diese so stark defizitäre Kamera überhaupt noch produziert wurde. In der DDR wurden Erzeugnisse vom Staat subventioniert, nur um die als sicher einkalkulierten Einnahmen an frei konvertierbarer Währung nicht einzubüßen, so wie beispielsweise jahrzehntelang Motorräder aus Zschopau ("MZ") zu Dumpingpreisen auf den westeuropäischen Markt geworfen wurden. Aus Punkt 3 wird deutlich, daß die WERRAsupermat die Produktion dieser Kameras nun noch defizitärer gemacht hätte. Aus dem Schlußsatz kann man zudem herauslesen, daß die Fabrikation der Werra generell hoffnungslos unproduktiv war. Ich erinnere nur daran, daß bei WERRAmat und WERRAmatic jede Steuerkurve des Belichtungsmessers so lange von Hand befeilt werden mußte, bis sie zur individuellen Charakteristik des Selenelements paßte.
Doch es gab noch einen weiteren Grund, weshalb das Ende der Werra besiegelt war. Er verbirgt sich im Punkt 2 des oben gezeigten Auschnitts aus dem Abschlußbericht. Das Aufgeben der Werra-Fertigung war in einem gewissen Sinne eine direkte Folge davon, daß auf dem VI. Parteitag der SED in den bitterkalten Januartagen des Jahres 1963 völlig neue Prämissen in der DDR-Wirtschaftspolitik gesetzt wurden. Eine durchgreifende Wirtschaftsreform sollte eine Art "sozialistischer Konzerne" schaffen, deren Betriebsleitungen mehr Verantwortung ermöglichen und ihnen zugleich größere Spielräume verschaffen. Den Vorstellungen der damals recht jungen Wirtschaftsfunktionäre Erich Apel und Günter Mittag zufolge, sollte die DDR zum Hochtechnologieland werden, wozu weite Teile der Wirtschaftsstruktur umgebaut werden mußten. Bei diesen "wirtschaftlichen Experimenten" [Carola Stern] wurde dem VEB Zeiss Jena eine führende Rolle im Bereich des wissenschaftlichen Gerätebaus zugewiesen [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss Jena 1945-1990, S. 185f.].
Im Abschlußbericht zur Werra Supermatic wird dies als "Produktionsprofilbereinigung innerhalb des Betriebes" bezeichnet. Dahinter verbarg sich, daß im Jenaer Stammwerk unbedingt Kapazitäten geschaffen werden mußten, um beispielsweise Komponenten für Großrechner oder Industrielaser herstellen zu können. Um dies zu erreichen, war wiederum entschieden worden, die Zeiss-Fernglasproduktion vollständig von Jena nach Eisfeld zu verlagern. Spätestens im Jahresverlauf 1966 wurde deshalb die Produktion der Werra sukzessive heruntergefahren und die Belegschaft auf den Fernglasbau umgeschult. Daraufhin begann ab 1967/68 eine unvorstellbare Großserienproduktion dieser Gerätschaften, sodaß schon 1970 mit etwa 71.000 Stück die jemals in Jena erreichte Jahresproduktion überflügelt werden konnte. Wie das obige Dokument belegt [nach: Benedix, G.: WERRA - War mit der Einstellung der Kameraproduktion auch der Name Geschichte?; in: Photographica Cabinett 4/2021.], wurden aus Kamerakonstrukteuren nun Fernglas-Experten. Den Markennamen "Werra" auch für die Ferngläser weiterzuverwenden, das wurde jedoch im letzten Moment noch verhindert. Mit dem Ende der Teilefertigung und der Montage der letzten Kameras in geringen Stückzahlen lief die Fertigung im Jahr 1968 nach knapp 14 Jahren endgültig aus. Der letzte Fertigungsauftrag über 1000 Werra-Kameras stammte vom September 1967.
Um abschließend die katastrophale wirtschaftliche Bilanz, die das Werra-Projekt für Zeiss Jena insgesamt bedeutete, noch einmal zu verdeutlichen: Zur ohnehin schon unrentablen Fertigung der Werra war in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre noch eine starke Verteuerung der Fertigung durch die vom "Neuen Ökonomischen System" mit verursachte Industriepreisreform getreten. Da in der DDR die Verkaufspreise jedoch aus ideologischen Gründen nicht ohne weiteres angehoben werden durften, mußten die nun immer öfter auftretenden Differenzen zwischen Betriebs- und Industrieabgabepreis durch staatliche Subventionen ausgeglichen werden. Im Hinblick auf unsere Werra hatte dies zur Folge, daß die knapp zweitausend Kameras, die im Jahre 1967 überhaupt noch gefertigt wurden, mit sage und schreibe 367.000 Mark vom Staatshaushalt gestützt werden mußten [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss Jena 1945-1990, S. 188.].
Nach all dem oben Gesagten fällt die Gesamtbeurteilung der Werra naturgemäß ziemlich zwiespältig aus. Aus rein ökonomischer Sicht kommt man nicht umhin, sie als eine von Anfang an völlig unvertretbare Belastung für den Hersteller zu charakterisieren, die ein nach marktwirtschaftlichen Kriterien arbeitendes Unternehmen sicherlich so nie in die Entwicklung gebracht, zumindest aber nach kurzer Zeit wieder aus dem Programm genommen hätte. Aus technikgeschichtlicher Sicht steht dem entgegen, mit welch einem respekterregenden Kraftakt die Werra binnen weniger Wochen in ihren Grundzügen entwickelt wurde, wobei es dem Konstrukteurskollektiv dabei nicht nur gelang, eine ganze Reihe von Defiziten anderer Kamerakonstruktionen zu umgehen, sondern gleichzeitig noch ein großes Gespür für ästhetische Gesichtspunkte unter Beweis zu stellen. In der Folgezeit ist zudem die Leistung hervorzuheben, daß aufbauend auf der einfachen Grundkonstruktion der Werra mit großem Aufwand an mechanischen Triebmitteln und optischen Spezialbauteilen gekuppelte Entfernungs- und Belichtungsmesser, Wechselobjektive und sogar eine Belichtungsvollautomatik verwirklicht werden konnten. In dieser Hinsicht war es gelungen, die Werra deutlich über die ihr ursprünglich zugedachte Rolle als einfache Volkskamera hinauszuheben.
Nach den großen anfänglichen Startschwierigkeiten, die sich schließlich fast automatisch ergeben, wenn ein Betrieb nicht nur eine Neukonstruktion wagt, sondern gleich noch ein komplett neues Geschäftsfeld betritt, entwickelte sich die Werra im Laufe der Zeit doch noch zum sprichwörtlichen "Erfolgsmodell". Wie die obige Annonce in der Bundesdeutschen Fachzeitschrift Photo-Magazin vom September 1959 wissen läßt, waren nach etwa fünfjähriger Fertigung bereits 150.000 Werras entstanden. Doch die Produktion muß rasch gesteigert worden sein, denn bereits Mitte Juni 1961 hatte die Werra die Herstellungsziffer von 250.000 Stück überschritten und sie wurde in 30 Länder exportiert [Vgl. Fotofalter, 11/1961, S. 324.]. Das war dann also nach sieben Jahren Produktionszeit, und wie wir heute wissen, war damals bereits die "Halbzeit" überschritten. Das würde aber bedeuten, daß in der Folgezeit die Produktion dann überproportional gesteigert worden sein muß, denn Thiele gibt für 1962 eine "kulmulierte" Stückzahl von 360.000 an [Vgl. Thiele, Werra, 2014, S. 93.], ohne jedoch zu belegen, wo er diese Zahl her hat. Aber gesetzt den Fall, daß dies stimmt, so müßten in anderthalb Jahren 110.000 Werras produziert worden sein, was eine beachtliche Ausweitung bedeuten würde.
Dem Grundkörper einer Werra Ia wird Ende 1956 die Seriennummer 187.471 eingraviert. Die Kamera war eine aus einem Produktionslos von 10.000 Stück. Bild: Sammlung Benedix.
Verwirrung in diesem Thema hatte Joachim Arnz geschaffen, der in seinem oben schon zitierten Aufsatz von 2012 angab, bis 1964 seien 800.000 Werras hergestellt worden, ohne irgend einen Nachweis zu zu liefern [Vgl. Arnz, Joachim: The Werra: Some interesting rarities; in: Zeiss Historica, 2/2012, S. 8ff.]. Hartmut Thiele gab in älteren Auflagen seines Werra-Buches an, 567.509 Tessare seien für diese Kamera hergestellt worden. Ich habe hingegen insgesamt ca. 573.500 Tessare 2,8/50 für die Werra gezählt. Dazu kommen noch 42.500 Novonare aus der Anfangszeit. Macht zusammen also etwa 616.000 Werras. In neueren Auflagen geht Thiele von 618.000 Stück aus. Die höchste Seriennummer hat laut Herstellungsunterlagen bei 685.000 gelegen, doch zwischen den einzelnen Planzahlen gab es immer wieder erhebliche Lücken sowie Serien, die gar nicht in Fertigung gingen.
Diese hohen Stückzahlen belegen, wie sich trotz aller Probleme die Zeiss Werra in ihrer vierzehnjährigen Produktionszeit zu einer außerordentlich beliebten und vielseitigen Kamerabaureihe entwickelt hatte, die auch auf Auslandsmärkten erfolgreich war. Ihre kompakte Bauweise sorgte außerdem dafür, daß diese Sucherkamera auch wirklich mitgenommen wurde und deshalb immer dabei war, wenn sich etwas erinnerungswürdiges ereignete. Vielleicht sind ja auch die Bilder in Ihrem Familienalbum mit einer solchen Werra angefertigt worden.
Die Position der Seriennummer war genau festgelegt, als Schriftart war die Linear-Grotesk nach DIN1451 festgelegt, die Mitte der 20er Jahre von Ludwig Goller entwickelt worden war. Die Gravur wurde sogar mit weißer Farbe ausgelegt.
Oben: Die ersten 45 Seiten des Buches "WERRA ABC" von Paul Kroll aus dem Jahre 1960, wo die einzelnen Modelle der Werra noch einmal ausführlich vorgestellt und beschrieben werden. Ein wirklich gutes Kamerabuch übrigens.
Die ziemlich unvoreingenommene Konstruktionsfreudigkeit der Werra-Schöpfer ist bis in das Zubehör hinein erkennbar, wie bei diesem Zwischenstück, mit dem die Kupplung zweier Kameragehäuse möglich gemacht werden sollte. Allerdings wollten in der Praxis nur wenige Photofreunde gleichzeitig Farb- und Schwarzweißaufnahmen anfertigen, weshalb dieses Zubehörteil in den Geschäften liegen blieb.
Ich danke Peter Drijver, Hubertus Siegert und Günther Benedix, die mit dem Zurverfügungstellen von Material die umfangreiche Erweiterung dieses Artikels im Frühjahr 2024 möglich gemacht haben sowie einigen Lesern für ihre sehr aufmunternden Zuschriften.
Marco Kröger
letzte Änderung: 10. November 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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