Werra

Die Werra

Diese Kamerareihe stach von Anfang an durch ihr eigenwilliges Äußeres aus der Masse ihrer Zeitgenossinnen heraus. Kaum bekannt war dagegen der politische Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte.

Zeiss Werra Novonar

1. Die Vorgeschichte

Diese ostdeutsche Kamera gehört zweifellos zu denjenigen, die aufgrund ihres ziemlich einzigartigen Äußeren bis heute Begeisterung hervorruft – und zwar nicht nur Hierzulande, sondern auch in Übersee. Dabei ist nicht einmal mehr deutschen Werra-Freunden vollauf bewußt, vor welchem politischen Hintergrund diese Kamera damals entstanden ist. Die Werra ist nämlich mit Deutsch-Deutscher Geschichte verbandelt wie keine andere Kamerabaureihe.

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 hatte die kleine DDR in Aufruhr versetzt. Und zwar nicht nur in der Berliner Stalinallee, und auch nicht allein in den großen Industriezentren im Raum Magdeburg, Halle, Leipzig, sondern weit bis in die Peripherie hinein. Auch in kleineren Städten wie beispielsweise Plauen oder Eisenach gingen die Leute auf die Straße. Überall eskalierte nun eine Lage, die sich über längere Zeit zukzessive zuspitzt hatte. Die eigentlichen Ursachen für den 17. Juni liegen aber bereits Schlüsseljahr 1952: Im Mai 1952 hatten die Westalliierten das Besatzungsstatut beendet und damit den Deutschen in weiten Teilen ihre Souveränität zurückgegeben ("Deutschlandvertrag"). Das als vergiftet wahrgenommene Gegen-Angebot Stalins, ein quasi blockfreies Gesamtdeutschland einzurichten, wurde im Westen ignoriert. Als Reaktion darauf riegelte die Ulbricht Regierung im gleichen Monat die innerdeutsche Grenze ab, sodaß die Bewohner der "Ostzone" nun auf ihrem Territorium eingesperrt waren – lange schon vor einem 13. August 1961 (was heute weitgehend vergessen ist). Unmittelbar an dieser neuen innerdeutschen Grenze liegende Orte – wie beispielsweise das thüringische Eisfeld – gerieten in eine schwere Krise.

Unterdessen verschärfte sich der Ost-West-Konflikt. Stalin – seit seiner Fehleinschätzung in Bezug auf den deutschen Überfall im Jahre 1941 vom Mißtrauen zerfressen – setzte nun auf völlige Abgrenzung und verstärkte Aufrüstung. Auch der erste Stellvertreterkrieg im Ost-West-Konflikt in Korea spielte dabei eine treibende Rolle. Vor diesem Hintergrund sollte die kleine DDR seit dem Juli 1952 zu einem großen Rüstungslieferanten für die Sowjetunion umgebaut werden. Der eingesperrten Bevölkerung wurde diese Sowjetisierung der DDR als "planmäßiger Aufbau des Sozialismus" unterbreitet. Die damit einhergehende forcierte Ausweitung der Schwerindustrie führte nach den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Kriege dazu, daß sich die Wohlstandsverhältnisse der DDR-Bevölkerung nun wieder verschlechterten. Und das betraf längt nicht nur hochwertige Konsumgüter, sondern auch die "vielen kleinen Dinge des täglichen Bedarfs" wurden knapp. Und da es wenig zu kaufen gab, war gleichsam zu viel Geld im Umlauf, das wiederum nicht ausgegeben werden konnte, weil die Geschäfte leer waren. Auf der anderen Seite kostete die Rüstung immense Summen, die aufgetrieben werden mußten. Die zu diesem Zweck unter dem Mantel der Arbeitsnormerhöhung verdeckte Lohnkürzung vom Mai 1953 brachte nun das Faß zum überlaufen. Es gärte in der Bevölkerung.

Schwerindustrie DDR 1952

Es war die von Seiten der Sowjetunion Anfang Juni eilig angeordnete Richtungskorrektur um beinah 180 Grad, die die SED-Herrschaft nun ernstlich in Gefahr brachte. Stalin war unvermittelt gestorben und aus Moskau kamen nun neue Vorgaben. Ein "Neuer Kurs" wurde überstürzt verkündet. Die Partei, die bis dahin immer alles wußte und alles konnte und sowieso immer recht hatte, gestand auf einmal Fehler ein. Die bis dato eingeschüchterte Bevölkerung spürte daraufhin plötzlich Oberwasser und traute sich, auf die Straße zu gehen. Rasch wurden politische Forderungen gestellt bis hin zu freien Wahlen. Dieser "Spuk" ließ sich erst durch das gewaltsame Eingreifen der Besatzungsmacht beenden.

Neuer Kurs Handel DDR 1953/54

Paradoxerweise sollte nun aber gerade diese Eskalation des 17. Juni die wacklige Machtposition Walter Ulbrichts innerhalb seiner Partei festigen. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes und dem Ausschalten der innerparteilichen Gegner Ulbrichts wurde das System nun um so fester zementiert. Hatte der „Neue Kurs“ die Partei einige Wochen zuvor noch in helle Aufregung versetzt, so wurde er nun quasi dahingegend umgedeutet, daß auf der Basis von wirtschaftspolitischen Zugeständnissen Druck aus dem System genommen werden sollte. Unter anderem mit dem Mittel, den DDR-Bürgern etwas zum Kaufen in die Läden zu stellen, gelang es, politische Grundsatzfragen vom Tableau zu nehmen. Leicht gelockerte Zügel, ein Hauch von Wirtschaftswunder und die rigorose Verfolgung aller Abweichler und Andersdenkenden versetzten die SED in die Lage, ihre Machtposition zu konsolidieren und für die nächsten dreieinhalb Jahrzehnte zu konservieren, bis die damals unter den Teppich gekehrten Grundsatzfragen das Regime ab dem Spätsommer 1989 wieder erbarmungslos einholten.

Werra-Kamera 1954/55

2. Die Werra als Teil des Neuen Kurses der SED

Es ist gar nicht meine Absicht, hier zu politisieren, aber unsere Werra ist nun einmal ein beredtes Zeugnis dieser wirtschaftspolitischen Weichenstellungen in der frühen DDR. Sie war ein direktes Ergebnis des besagten Neuen Kurses. Der VEB Carl Zeiss JENA ist nämlich damals dazu verpflichtet worden, eine Kleinbildkamera für die breiten Massen zu konstruieren, die bei zweckmäßigem Aufbau und guter Leistung in möglichst großen Stückzahlen herstellbar sein sollte [Vgl. Miller, Rolf, Die Werra; in Fotografie 12/1957, S. 353ff.]. Dazu wurde im thüringischen Eisfeld, wo unweit der namensgebende Fluß entspringt, eine Produktionsanlage komplett neu aufgebaut – mit all den Schwierigkeiten, die sich bei so einem Vorhaben ergeben. Immerhin sollte man sich vor Augen führen, daß die seit über 100 Jahren bestehende und auf optisch-feinmechanischem Gebiet derart profilierte Werkstätte Carl Zeiss Jena keinerlei Erfahrungen im Kamerabau hatte. Rückblickend betrachtet sticht es geradezu ins Auge, daß die Werra von zwar erfahrenen, aber im Kamerabau bislang völlig unbeleckten Konstrukteuren konzipiert worden ist, die dementsprechend völlig unvoreingenommen an ihre Aufgabe herangehen konnten.

Wolfgang Schröter ermöglicht es uns, einen einmaligen Blick in die im Sommer 1954 gerade erst angelaufene Produktion der Werra zu werfen [Deutsche Fotothek, Datensatz 71621305].

Wenn also Konstrukteure freie Hand bekommen, eine Kamera von Grund auf neu zu entwerfen, dann sind erst einmal prinzipielle Fragen zu klären. Offensichtlich war die Werra von vornherein als eine Sucherkamera konzipiert worden, die bei grundsätzlich klar und einfach gehaltenem Aufbau ein großes Erweiterungspotential haben sollte. Damit das preiswerte, als Massenkamera geeignete Grundmodell so einfach wie möglich gehalten werden konnte, war ein großes Augenmerk auf die Problematik der Kopplung von Filmtransport und Verschlußaufzug zu legen. In diesem Bereich wurde bei der Werra eine Lösung gefunden, die völlig neu war.

Werner Broche und Kurt Wagner - Werra

Diese Aufnahme Wolfgang Schröters aus dem Jahre 1954 zeigt zwei vergessene Kamera-Konstrukteure: Werner Broche (links) und Kurt Wagner hatten nämlich die maßgebliche Konstruktionsverantwortung für die Kleinbildkamera "Werra". Man beachte den Prototypen, der vor ihnen liegt. [Deutsche Fotothek, Datensatz 71206836]

Es sollte aber nicht verschwiegen werden, welche enormen Startschwierigkeiten sich beim Serienanlauf der Werra einstellten. Die Konstruktion war noch nicht ausgereift und auch bei den Komponenten gab es noch Qualitätsmängel. An sich ist das ja eine absolut erwartbare Erscheinung, wenn eine komplette Neukonstruktion in Produktion geht. Der Hersteller begegnet diesem bekannten Problem, indem er schon in der Prototypphase Schwachpunkte zu erkennen versucht und anschließend mit einer Nullserie das zukünftige Produkt intensiv überprüft, bevor er die Serienfertigung anlaufen läßt. Das Problem lag aber darin, daß die Werra nicht einfach eine x-beliebige Neuerscheinung darstellte, sondern bereits von Anfang den Charakter eines Politikums verpaßt bekommen hatte. Die Werra war eben nicht nur eine Kamera des VEB Zeiss Jena, sondern auch eine Kamera der SED. Und entsprechend der oben geschilderten Vorgeschichte des 17. Juni und der ihr zugedachten Rolle als eine der zentralen Symbole des Neuen Kurses der Partei, war die Werra bereits im Voraus umfangreich propagandistisch "verwertet" worden. Groß war nun nicht nur der politische, sondern auch der zeitliche Druck, die Kamera rasch in großen Stückzahlen auszustoßen. So kam es, daß technisch mangelhafte Kameras in den Handel gerieten und sogar exportiert wurden. Zehntausend im Jahre 1955 in die Tschechoslowakei gelieferte Werras mußten zurückgenommen werden, was für den Hersteller einen großen Reputationsverlust mit sich brachte:


"Einen sehr schweren Verlust an Ansehen im Ausland haben wir uns durch die Freigabe der noch nicht exportreifen Werra zugezogen, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Die verfrühte Ankündigung dieser Kamera in der photographischen Fachpresse überall in der Welt und die durchgeführten Lieferungen haben eine katastrophale Wirkung gezeigt." [CZJ, Jahresbericht der Vertriebsdirektion 1955, Betriebsarchiv Nr. S48; zitiert nach Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss Jena 1945-1990, S. 167f.]

Zur "verfrühten Ankündigung" der Werra gegenüber dem internationalen Fachpublikum ist sicherlich auch ihre Vorstellung auf der Leipziger Herbstmesse vom 5. bis 15. September 1954 zu zählen. Offensichtlich wurden hier Verkäufe für Nullserienkameras abgeschlossen. Bei dem Herrn in der Mitte könnte es sich übrigens um Rudolf Müller handeln, der damals als Technischer Direktor das Projekt Werra geleitet hat. Im Betrieb war er seinem Kürzel entsprechend auch einfach als "Rumü" bekannt. Konstrukteur der Kamera, wie es immer wieder zu lesen ist, war er aber nicht. Festgehalten von Roger Rössing [Deutsche Fotothek, Aufn.-Nr.: df_roe-neg_0006722_012].

3. Filmtransport und Spannmechanismus

Zurück zu den bemerkenswert neuartigen konstruktiven Merkmalen der Werra. Bislang bestand für die Konstrukteure immer das Problem, daß der Weitertransport des Filmbandes drehende Bewegungen verlangte, das Spannen des Zentralverschlusses aber das Schwenken des zum Verschluß gehörigen Spannhebels. Es mußte also bisher immer die Drehung des Transportgetriebes in irgendeiner (meist aufwendigen) Weise in eine hin- und hergehende der Spannmechanik umgewandelt werden. Bei der Werra ging man genau den umgekehrten Weg. Die für das Spannen des Verschlusses nötige Schwenkbewegung wurde dadurch sehr vereinfacht, indem rund um den Objektivkörper ein breiter Ring angeordnet wurde, in dessen Inneren dieser Spannvorgang gekapselt stattfand. Nach einem kurzen Dreh an diesem breiten Ring kehrte jener durch Federkraft wieder in seine Ausgangsposition zurück.

Werra Filmtransport

Die wichtigste Konstruktionsidee der Zeissianer lag nun darin, mit diesem Ring gleichzeitig eine Zahnstange mitzunehmen, die auf dem Hinweg die Zahntrommel des Filmtransportes in Drehung versetzte. Ein Freilauf sorgte dafür, daß auf dem Rückweg die Transportmechanik entkoppelt wurde. Mit dieser Umkehrung des bisher verwendeten Kopplungsprinzips war sichergestellt, daß der viel problematischere und kraftintensivere Spannvorgang nicht aus der Drehung des Filmtransportknopfes abgeleitet werden mußte, sondern umgekehrt.

DE1724678U Filmtransport Werra

Diese Form des Filmtransportes und Verschlußaufzuges per "Objektivrändelring" muß als das zentrale Schutzrecht der Werra angesehen werden. Es war lange Zeit nicht auffindbar, weil in der Bundesrepublik nur ein Gebrauchsmusterschutz zuerkannt worden war. Es handelt sich um das DBGM Nr. 1.724.678 vom 28. August 1954 "Einrichtung für Kleinbildkameras mit Zentralverschluß zur Verschlußbetätigung und zum Filmtransport". Daraus wird auch ersichtlich, daß dieser Part der Kamera von Werner Broche konstruiert worden war. Mit ihm sind Hermann Friebe, Johannes Lössner und Helmut Scharffenberg als Erfinder benannt. Es sei der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, daß auch der VEB Zeiss Jena im Jahre 1958 seine in der Bundesrepublik angemeldeten Schutzrechte auf "unverfängliche Alibibetriebe" umschreiben ließ in diesem Fall war das der VEB Freiberger Präzisionsmechanik.

DE1724678U Filmtransport Werra Anschreiben

4. Grundaufbau und äußere Gestaltung

Großer Wert wurde von Beginn an auf robuste Konstruktion gelegt – irgendwelche Lösungen mit Springmechanik und Lederbalg zwischen Objektiv und Gehäuse kamen dabei nicht infrage. Besonderes Augenmerk galt auch der Bildbühne. Rolf Miller hat in seinem Aufsatz „Die Bildleistung der Werra“ [Fotografie, 4/1958, S. 122ff.] ausführlich beschrieben, welche umfangreichen Untersuchungen zur Filmplanlage angestellt wurden, bevor die Bildbühne letztlich Gestalt annahm. Hier haben es die von Zeiss delegierten Chefkonstrukteure Werner Broche und Kurt Wagner anfänglich ein wenig übertrieben. Die ersten Modelle der Werra konnten diese Präzision noch gar nicht ausnutzen.

Das ist eine Nahaufnahme der Filmspreizrippen der Werra. Wie die Bezeichnung andeutet, besteht ihre Aufgabe darin, den Film quer zur Transportrichtung auseinanderzuziehen, und dadurch die Durchwölbung des Schichträgers auf ein absolutes Kleinstmaß zu begrenzen. Um in den vollen Genuß dieses Effektes zu gelangen, war es allerdings empfehlenswert, den Filmtransport immer erst kurz vor der Aufnahme durchzuführen, da ansonsten durch das klimatisch bedingte Eigenleben des Materials die erreichte Planlage rasch wieder zunichte gemacht würde.

Diese konstruktiven Vorleistungen zahlten sich aber aus, als einige Jahre später die Werra mit Wechselobjektiven versehen und zur Meßsucherkammera ausgebaut werden sollte. Jetzt war Präzision gefragt! Die resultierende Bildqualität setzt sich nämlich stets aus der Summe aller Justierungsungenauigkeiten zusammen. Und diese Abweichungen kamen nun nicht nur von der Filmdurchbiegung, sondern auch vom Abgleich des Meßsuchers und von Toleranzen des Anlagemaßes verschiedener Wechselobjektive. Dieses Aufsummieren von Toleranzen ist übrigens ein großes Problem für den Kamerakonstrukteur, weil dies im schlimmsten Fall rasch darauf hinauslaufen kann, daß die ganze Kamera infragestellt wird. Ich kann mir vorstellen, daß schlecht beherrschbare Justagefehler auch die Umstellung der Altix auf Meßsucher vereitelt haben, denn was nützt ein präziser Meßsucher, wenn das Bild am Ende nicht scharf ist, weil die gesamte Abbildungskette nicht präzise genug toleriert ist. Bei der Werra war dieses Problem von Anfang an ausreichend beachtet worden. Das ist ein Hauptgrund dafür, weshalb diese ursprünglich so simple Werra am Ende zu solch einem hochpräzisen System mit Wechselobjektiven und gekuppeltem Entfernungsmesser ausgebaut werden konnte. Das ist wahrlich als eine der größten Konstruktionsleistungen im deutschen Kamerabau anzusehen.

Oben sieht man eine Modellübersicht der Werra-Reihe. Die Werra V befand sich zum Zeitpunkt des Druckes (1958) noch in der Konzeption. Die fertige Kamera hatte dann eine gewölbte Deckkappe, die in der Folgezeit auch sukzessive bei den anderen Modellen übernommen wurde. Die Werra V wurde kurze Zeit später durch die leicht weiterentwickelte Werramatic abgelöst, deren äußeres Kennzeichen die weggefallene Schutzkappe vor dem Einbereichs-Belichtungsmesser war.


Unten dieses besagte Spitzenmodell der Reihe mit einer bequemen Belichtungshalbautomatik und dem speziellen Schnittbild-Entfernungsmesser im großen, hellen Meßsucher mit seinen filigranen Bildbegrenzungsrahmen. Sie stellte mithin den Höhepunkt des Sucherkamerabaus in der DDR dar.

Werra Typmerkmale

Nach dem eingangs Gesagten ist es also nicht verkehrt, die Werra als eine von der Partei in Auftrag gegebene erste sozialistische Volkskamera zu begreifen. Und die Fortschrittlichkeit dieses Ansatzes sollte auch im äußerlichen Erscheinungsbild der neuen Kamera zum Ausdruck kommen. Zu diesem Thema hatte der Technische Direktor Rudolf Müller im Jahrbuch 1958/59 des Instituts für angewandte Kunst namens Form + Zweck einen Aufsatz zur Werra als "Beispiel für gute Formgebung im Kamerabau" veröffentlicht. Der einleitende Satz lässt jedoch erkennen, daß der Aufsatz bereits im Jahre 1956 verfaßt wurde und die um zwei Jahre verzögerte Serienfertigung der Werra III und IV auch dessen Veröffentlichung um denselben Zeitraum hinausschob. Die wechselbaren Tessare, mit denen die Musterkameras der Werra III und IV ausgestattet sind, tragen die Nummern 4.764.458 und 4.764.459, was auf das Produktionsjahr 1955 oder 1956 hinweist.

Werra

Die Schutzkappe über dem Objektiv, die nach Abschrauben des vorderen Deckels im umgedrehten Zustand als Gegenlichtblende verwendet werden konnte, war von Anfang an eine zwiespältig diskutierte Eigenheit der Werra. Zu umständlich gestaltete sich ihre Handhabung für viele Amateure. Der Hersteller dieser Kamera erhoffte sich jedoch mit einer solchen Lösung, die für ihn außerordentlich lästige Zurverfügungstellung lederner Bereitschaftstasche umgehen zu können. Dieses Ansinnen scheiterte indes bereits nach kurzer Zeit. Über den Umweg in Form eines Reißverschlußbeutels war er aufgrund des Drängens der Kundschaft gezwungen, am Ende doch noch eine traditionelle Bereitschaftstasche anbieten zu müssen. Bei der Schutzkappe blieb es aber trotzdem!

Die Werra wurde ursprünglich mit einem grünen Vulkanitbelag versehen. Diese Beschichtungs-Technologie wurde von den Zeissianern schon seit einiger Zeit im Fernglasbau angewandt und war daher genauestens bekannt. Und grün deshalb, weil die Werra als echte Thüringerin so grün sein sollte wie der Thüringer Wald. So wurde das damals begründet. Geschmackssache. Die hier angedeuteten Farbvarianten wurden leider nie gefertigt, obwohl sie sicherlich attraktiv gewesen wären. Stattdessen stellte man im Laufe der 50er Jahre die Vulkanisierung auf das zeitlose Schwarz um. Das hatte auch den Hintergrund, daß man schon damals erkannte, daß der grüne Hartgummi entweder schnell nachdunkelte und dabei einen eher schmutzigen Eindruck hinterließ oder aber in manchen Fällen auch ungleichmäßig ausbleichen konnte, was ebenso unansehnlich war. Daß die Werra mit Kunststoff beschichtet wurde, geht übrigens höchstwahrscheinlich auf Rudolf (genannt Rudi) Müller zurück, der als Technischer Direktor leitende Verantwortung für die Entstehung der Werra innehatte. Müller war gleichzeitig Fachmann für diese Vulkanitbeläge [Vgl. DDR Patent Nr. 10.157 vom 29. Juli 1955].

5. Zentralverschluß

Die Werra ist aufs Engste mit der Entwicklung einer eigenen Zentralverschluß-Technologie in der DDR verknüpft. Neben der Pentina ist sie die regelrechte "Indikatorkamera" für das Vorankommen der Industrie in diesem Bereich. Sehr ausführlich habe ich mich zu diesem Thema in einem gesonderten Aufsatz geäußert. Mir scheint es aber angebracht, hier einige der wichtigsten Thesen in geballter Form zusammenzufassen.


Zunächst muß man sich die schwierige Lage vor Augen führen, in der sich die Kameraindustrie im Mitteldeutschen Raum nach 1945 wiederfand. Als größter Hemmschuh für den Wiederanlauf der hiesigen Kamerafertigung erwies sich nämlich die Versorgung mit Zentralverschlüssen, weil die beiden großen Hersteller dieses Schlüsselproduktes nun in der amerikanischen bzw. französischen Besatzungszone lagen. Wurden die Verschlüsse der Friedrich Deckel AG in München und von Alfred Gauthier in Calmbach Berichten zufolge anfangs noch in Reisekoffern über die Sektorengrenze geschmuggelt, so fielen bald auch derartige Notlösungen weg spätestens mit der Gründung der Bundesrepublik, de facto aber bereits mit der westlichen Währungsreform vom 20. Juni 1948. Die Kappung dieser Bezugsquellen für Zentralverschlüsse der Spitzenklasse hatte längerfristig eine strukturelle Umorientierung zur Folge, die letztlich über fast  vier Jahrzehnte hinweg Produktentwicklung in der DDR-Photoindustrie überprägte. Die Dominanz des Schlitzverschlusses bis hinein in den Großformatbereich und andererseits der Mangel im Sortiment an hochwertigen Sucherkameras mit Zentralverschluß zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des DDR-Kamerabaus. Um so bedeutender sind die wenigen Ausnahmen, mit denen man versuchte, diese strukturelle Krise zu durchbrechen. Und die Werra nimmt hierbei eben eine ganz zentrale Rolle ein.

Cludor

Dieser einfache Spannverschluß vom Typ Cludor bzw. Vebur der Baugröße 00 bildete Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre die technische Grundlage dafür, daß der DDR-Kamerabau überhaupt eine eigenständige, von westdeutschen Zulieferungen freie Produktion von Sucherkameras aufnehmen konnte.

Vebur

Anhand von Aktenüberlieferungen aus den Mimosa- und Balda-Werken in Dresden, die Hartmut Thiele in Form einer Quellensammlung herausgegeben hat [Thiele, Die Photoindustrie der SBZ und DDR von 1945 bis 1959, 2020], läßt sich nachvollziehen, wie man seinerzeit in Dresden versuchte, sich aus dieser schwierigen Lage zu befreien. Noch unter Max Baldeweg wurde im Balda-Werk daran gearbeitet, den Ring-Compur aus den 30er Jahren nachzubauen. Dieser zunächst "Ovus" genannte Verschluß erwies sich allerdings als derart unzuverlässig, daß er rasch durch einen in Details verbesserten Nachfolger namens "Cludor" ersetzt wurde. Es handelte sich um einen vergleichsweise einfach aufgebauten Spannverschluß der Baugröße 00 mit drei Sektoren und einer kürzesten Zeit von einer 1/200 Sekunde. Um die eklatanten Qualitätsprobleme zu überwinden, die sowohl das Mimosa-, als auch das Balda-Werk mit ihren Zentralverschlüssen hatten, wurde deren Fertigung und Entwicklung Anfang der 1950er Jahre dem VEB Zeiss Ikon überantwortet, der die Produktion des Cludors mit rudimentären Veränderungen als "VEBUR" fortführte. Es war dieser vom VEB Zeiss Ikon auf Massenfertigung getrimmte Vebur-Verschluß, der es 1954 überhaupt erst ermöglichte, eine derartige Volkskamera wie die Werra ins Auge zu fassen. Mit Importverschlüssen wäre ein solcher Ansatz  schlichtweg nicht zu verwirklichen gewesen.

Vergleich Werra - Mimosa

Im Gegensatz zur Mimosa war die Werra nun aber in einer Weise konzipiert, daß dieser Zentralverschluß nicht wie üblich ZWISCHEN der vorderen und der rückwärtigen Hälfte des Objektives saß, sondern das komplette Novonar bzw. Tessar in einer eigenen Fassung mit Schneckengang VOR den Zentralverschluß gesetzt wurde. Daher mußte das Objektiv auch mit einer eigenen Blende versehen werden. Denn die üblicherweise im Zentralverschluß in der Nähe der Öffnungssektoren sitzenden Blendenlamellen konnten bei dieser Bauweise nicht genutzt werden. Daher entfielen diese in jener für die Werra konzipierten Spezialversion des Vebur auch gänzlich. Auch das hintere Einschraubgewinde war aus diesem Grunde nicht vorhanden. Diese auf den ersten Blick unnötig umständlich anmutende Bauweise, das Objektiv VOR den Zentralverschluß zu setzen, war bereits in den 1930er Jahren aufgekommen. Franz Kochmann hatte es bei seiner Korelle K verwendet und Hubert Nerwin mit seiner Tenax bei der Zeiss Ikon AG eingeführt. Nach dem Kriege wurde dieses Prinzip des Hinterlinsen-Zentralverschlusses umfangreich von etlichen Firmen in der Bundesrepublik bei ihren mannigfaltigen Kleinbildkameras genutzt. Es ermöglichte, den Grundkörper der Kamera schlank und elegant zu halten. Hätte man das Objektiv IN den Zentralverschluß eingebaut, so wäre dieser aufgrund der Brennweite von 50 mm ziemlich weit nach vorne gerückt. Wie dick eine solche Kamera dann rasch wird, kann man oben gut im direkten Vergleich mit der Mimosa erkennen. Um die im Abschnitt 2 bereits erwähnte Koppelung von Filmtransport und Verschlußaufzug zu ermöglichen, war es zudem vorteilhaft, den Zentralverschluß eng wie möglich an das Kameragehäuse "anzuschmiegen".

In den 50er Jahren findet ein endgültiger Übergang von der Springkamera mit Balgen (z.B. Kodak Retina) hin zur sogenannten Tubuskamera (z.B Agfa Silette) statt, bei denen das Objektiv nun fest verbaut war. Nicht ausschließlich, aber auffallend oft, wurde nun das Objektiv VOR den Verschluß gesetzt.

Der einfache Vebur mit seiner kürzesten Nominalverschlußzeit von einer 1/250 Sekunde war in dieser Hinsicht für das Werra-Grundmodell völlig ausreichend. Allerdings mußte auf einen Selbstauslöser und die damals sehr wichtige Vollsynchronisation für Blitzlampen (SVS-Verschlüsse) verzichtet werden. Der Vebur hatte aber auch noch ganz andere Schwächen, die erst dann so recht zutage traten, als die Werra hin zu einer komfortableren Bedienung erweitert werden sollte. Dazu muß man bedenken, daß die Kleinbildphotographie in den 50er Jahren vor allem deshalb einen so großen Aufschwung genoß, weil erstmals die Farbphotographie für die breiten Massen in den Bereich des Möglichen rückte. Und "bunt" bedeutete damals fast ausschließlich Dias und Projektion. Da die zugehörigen Umkehrflme sehr genau belichtet werden mußten, wünschte sich so mancher Photoamateur einen Belichtungsmesser zu seiner Kamera. Dabei waren in der Bundesrepublik im gehobenen Marktsegment bereits Kameras üblich geworden, bei denen der Belichtungsmesser nicht einfach nur elegant in die Kamera eingebaut, sondern seine Abgleichnadel mit der Einstellung von Zeit und Blende gekuppelt worden war. Schaut man sich hingegen einen Vebur-Verschluß genau an, fallen einem zwei Dinge auf: Erstens die alte Zeitskala mit 1/5; 1/10; 1/25; 1/50 Sekunde usw., wo quasi die Werte 1/8 und 1/15 fehlen bzw. zusammengelegt sind und daher keine sog. Lichtwertkupplung möglich ist. Dazu gesellte sich auch noch ein mechanisches Problem, denn die Abstände zwischen diesen Zeitwerten auf dem Einstellring sind stellenweise ungleich lang. Daraus folgt: der Vebur war veraltet und bot einer Weiterentwicklung der Werra keine ausreichende Basis. Da diese Weiterentwicklung aber sowohl in Hinblick auf einen gekuppelten Entfernungsmesser, einen Selbstauslöser, eine Vollsynchronisation und vor allem auch einen gekuppelten Belichtungsmesser gefordert wurde, ergab sich das schwierige Problem, daß die Volkseigene Industrie keinen dafür geeigneten Zentralverschluß bereitstellen konnte.


Das heißt aber nicht, daß nicht bereits frühzeitig an solch einem konkurrenzfähigen Zentralverschluß gearbeitet worden wäre. Wie ich durch intensive Beschäftigung mit der Patentüberlieferung des VEB Zeiss Ikon Dresden nachweisen konnte, lief in diesem Betrieb in der zweiten Jahreshälfte 1954 eine umfassende Entwicklungstätigkeit für einen Verschlußtyp an, mit dem man sich offenbar erhoffte, den Münchner Konkurrenten zu überholen, ohne ihn einholen zu müssen. Dazu griff man ein Funktionsprinzip wieder auf, das der deutschstämmige Gustav Dietz schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA entwickelt hatte: Führen die Sektoren eines herkömmlichen Zentralverschlusses eine hin- und hergehende Bewegung aus, wobei bei der vollen Öffnung des Verschlusses eine Richtungsumkehr stattfindet, so rotierten die Sektoren bei Dietz' Multispeed Shutter nach der vollen Öffnung in der gleichen Richtung weiter, um die Objektivöffnung wieder zu verschließen. Auf diesem Funktionsprinzip des Durchschwingverschlusses basierten auch die Entwicklungsarbeiten bei Zeiss Ikon, die Jahre später zum Prestor führten und auf die den zeitgenössischen Dokumenten nach zu urteilen sehr viel Kraft verwendet wurde. Um die Unterschiede zu den bisherigen Verschlüssen zu verdeutlichen, ist unten ein einzelner Sektor eines Compurs einem des Prestor-Durchschwingverschlusses gegenübergestellt.

Sektoren Compur/Prestor

Meiner Einschätzung nach war es nun aber die strategische Zweigleisigkeit, die der VEB Zeiss Ikon seinerzeit einschlug, die dieses ganze Projekt letztlich zum Desaster werden ließ. Der Prestor-Durchwingverschluß wurde nämlich beileibe nicht dazu entwickelt, damit Zeiss Jena seine Werra aufwerten konnte. Das wurde allenfalls als angenehmer Nebeneffekt einalkuliert: den Prestor auch an andere Firmen zu verkaufen. Wie sich anhand der Patentüberlieferung sehr eindeutig nachweisen läßt, hatte der VEB Zeiss Ikon vielmehr im Sinn, eine Zentralverschluß-Spiegelreflexkamera nach dem Vorbild der westdeutschen Contaflex auf Basis dieses neuen Verschlusses herauszubringen. Dieses Projekt geriet jedoch zu einer regelrechten Katastrophe und dürfte zumindest einer der Gründe dafür gewesen sein, weshalb vom VEB Zeiss Ikon bald nichts mehr übrig blieb. Das Fatale daran: So groß die technischen Schwierigkeiten bei der Entwicklung des Prestor auch gewesen waren, so konnten diese dennoch im Laufe des Jahres 1955 der Patentliteratur zufolge weitgehend überwunden werden. Im Prinzip lag der neuartige Verschluß zu diesem Zeitpunkt also bereits produktionsreif vor.

Werra Reklame Photo-Magazin 1959

Anhand dieser Reklame für den bundesdeutschen Markt vom Januar 1959 wird deutlich, daß die Werra mit dem Synchro-Compur versehen werden mußte, um exportfähig zu sein. Interessant auch zu lesen, wie wortreich man mit der Tradition Carl Zeiss Jenas im optischen Metier zu werben versuchte, ohne den Namen der Weltfirma dabei auch nur ein einziges Mal nennen zu dürfen. Wir müssen uns heute diese Zeit als eine einer regelrechten deutsch-deutschen Schizophrenie vorstellen. Während die DDR-Führung und der SED-Parteiapparat die Bundesrepublik täglich massiv ideologisch angriff (oftmals auch deutlich unter der Gürtellinie), versuchten die Wirtschaftsleute irgendwie den innerdeutschen Handel aufrechtzuerhalten – ohne den die DDR schlichtweg nicht überleben konnte. Die Unterschrift "1857" auf dem Bild unter dem Mikroskop läßt vermuten, daß diese Annonce schon für das Jahr 1957 vorgesehen war, die verzögerte Auslieferung der Werras III und IV dies aber vereitelte. Scan: Martin Grahl.

Nach meinen Schlußfolgerungen sind nun aber zwei Gründe dafür ausschlaggebend gewesen, weshalb das Prestor-Prokekt anschließend über Jahre hinweg auf Eis gelegt werden mußte. Für einen der beiden ist der VEB Zeiss Ikon selbst verantwortlich zu machen; namentlich der Chefkonstrukteur Walter Hennig. Durch die ganzen Verzögerungen hatte es sich nebenbei herauskristallisiert, daß eine Zentralverschlußspiegelreflex mit fest eingebautem Objektiv eine technische Sackgasse darstellte. Zeiss Ikon in Stuttgart mußte sich nämlich mittlerweile mit völlig unvernünftigen Satzobjektiven behelfen, um ihre Contaflex nachträglich für unterschiedliche Brennweiten zu ertüchtigen. So etwas Umständliches kam jedoch für die DDR nicht infrage. Die Entscheidung, die spätere Pentina mit vollständig wechselbaren Objektiven nach dem Bessamatic-Prinzip zu versehen, sorgte dafür, daß der VEB Zeiss Ikon lange schon nicht mehr exsitierte, als diese komplett umkonzeptionierte Pentina endlich fertig wurde. Daß dieser Betrieb zweitens gar nicht mehr existierte ja regelrecht aus der Öffentlichkeit getilgt werden mußte führe ich anhand der Interpretation des Verfahrensverlaufs der damaligen Patentanmeldungen des VEB Zeiss Ikon in der Bundesrepublik darauf zurück, daß die DDR-Photoindustrie durch Markenrechtsstreitigkeiten mit der Zeiss Ikon AG in Stuttgart davon bedroht war, ihre wertvollen Schutzrechte an diese Firma zu verlieren. Darunter eben auch alle bisherigen zum Prestor-Projekt.

Also kurz und schlecht: Für unsere Werra bedeuteten diese beiden "Baustellen" bei Zeiss Ikon einen jahrelangen Stillstand in der Weiterentwicklung der Eisfelder Sucherkamera. Erst nachdem zum 1. Januar 1959 der VEB Kamera- und Kinowerke Dresden gegründet worden war und damit die mindestens seit dem Frühjahr 1957 währende "Schwebephase" des Dresdner Kamerabaus überwunden werden konnte, ging der Prestor Durchschwingverschluß in Produktion. In größeren Stückzahlen wird er wohl allerdings erst nach 1960 zur Verfügung gestanden haben. Bis dahin mußten höherwertig ausgestattete Exemplare der Werra I und II und generell die Werra III und IV mit dem Münchener Synchro-Compur versehen werden, der nicht nur teuer war, sondern obendrein auch noch mit Devisen bezahlt werden mußte. Erst der Prestor stabilisierte die Produktion der höherwertigen Werra-Modelle und ermöglichte letztlich, mit der Werra V noch einmal einen ganzen Schritt weiter zu gehen.

Werra III Compur

Zwei vergleichsweise kurz hinteinander hergestellte Exemplare der Werra III. Die obere ist mit einem Synchro-Compur versehen und wurde nachweislich im August 1958 verkauft. Die untere ist mit dem neuen Prestor ausgestattet. Sie könnte 1959 gefertigt worden sein. Die kürzeste Verschlußzeit wurde zunächst ebenfalls mit einer 1/500 Sekunde graviert.

Werra III Prestor

Die Beurteilung des Prestor fällt im Übrigen Zwiespältig aus. Einerseits muß man anerkennen, daß der Dresdner Kamerabau diesen Zentralverschluß mit seinem so andersartigen Funktionsprinzip erfolgreich zuendeentwickelt und auch in die Massenfertigung überführt hat. Ich fürchte allerdings, daß dies nur mit einem über alle Maßen ausufernden Aufwand möglich gewesen ist, der am Ende nur schwerlich zu rechtfertigen gewesen sein mochte. Der Prestor war schlichtweg NOCH komplexer geraten als herkömmliche Spannverschlüsse der Spitzenklasse. Die Japanische Photoindustrie zeigte zu ebenjener Zeit übrigens deutlich weniger Skrupel im Kopieren von fremden Errungenschaften und war anschließend sehr erfolgreich damit. Oder anders ausgedrückt: Solcherlei Deutsch-Deutsche Zwistigkeiten haben letztlich beiden Seiten geschadet und der Konkurrenz aus Japan obendrein auch noch in die Hände gespielt.


Es darf aber auch nicht verschwiegen werden, daß das eigentliche Ansinnen, das hinter dem ganzen Aufwand mit dem Durchschwingverschluß steckte, nämlich erstmals die 1/1000 Sekunde als kürzeste Verschlußzeit für den Zentralverschluß einzuführen, als gescheitert zu betrachten ist. Zwar erreichte der Prestor durch die fehlende Richtungsumkehr der Sektoren tatsächlich günstigere Werte als der Compur, aber die sogenannte Hauptzeit T2, in der der Verschluß kurzzeitig die volle Öffnung erreicht, war eben doch nicht kurz genug, um die kürzeste Verschlußzeit mit einer 1/1000 Sekunde angeben zu können. In diesem Punkt waren die Kamera- und Kinowerke ehrliche Makler. Aufgrund der wirklich besseren Werte als beim Compur ließ man sich es nicht nehmen, später wenigstens 1/750 statt 1/500 Sekunde auf den Einstellring zu gravieren. Der Verschluß selbst blieb freilich unverändert. Nur der sogenannte Hilfsverschluß, der beim Durchschwingprinzip unbedingt nötig ist, auf den ich hier aber nicht weiter eingegangen bin, wurde später "entfeinert". Das lag schlichtweg daran, daß die Werra schon bald als der einzige praktische Anwendungsfall des Prestor übriggeblieben war (und diese Kamera die mögliche Doppelfunktion des Hilfsverschlusses als Springblende nie nutzte). Daß Pentacon diesen aufwendigen Prestor nach dem raschen Auslaufen der Prakti und der Pentina quasi nur noch für Zeiss Jena fertigte, läßt schon erahnen, weshalb auch das Ende der Werra bald besiegelt wurde.

Prestor Hilfsverschluß

Hier sieht man den sogenannten Hilfsverschluß des Prestors, dessen Entwicklungsgeschichte ein wichtiger Schlüssel dafür ist, um nachträglich herauszuinterpretieren, was der VEB Zeiss Ikon Mitte der 1950er Jahre eigentlich so richtig im Sinn gehabt hat. Ein Hilfsverschluß ist beim Durchschwingprinzip prinzipiell deshalb unentbehrlich, weil die rotierenden Sektoren beim Spannen des Verschlusses ansonsten den Lichtpfad freigeben würden. Damit würde Licht auf den Film fallen, was durch den während des Spannvorgangs geschlossenen Hilfsverschluß wirksam verhindert wird. Interessant wird das Ganze dadurch, daß der ursprüngliche, im linken Bild gezeigte, Hilfsverschluß auf eine Doppelfunktion hin ausgelegt gewesen ist: Er hätte nach dem Auslösen der Kamera eine zweite Rolle als automatische Springblende übernommen, wie sie beispielsweise in Einäugigen Spiegelreflexkameras mit fest eingebautem Objektiv benötigt wird. Darin ist eines der Indizien zu sehen, daß man bei Zeiss Ikon eine DDR-Contaflex im Sinne hatte. Aber dazu kam es wie gesagt nicht, die spätere Pentina hatte ihre Springblende in den Wechselobjektiven und als Zwischenlinsenverschluß ist der Prestor in der DDR weder bei der Werra noch bei der Prakti angewandt worden. Weil dadurch die Zusatzfunktion des Hilfsverschlusses als Springblende obsolet war, konnte er später auf zwei einzelne Lamellen reduziert werden, was einerseits den Material- und Fertigungsaufwand verringerte und andererseits den Hilfsverschluß etwas zuverlässiger werden lassen sollte. Die nur durch geringe Federkraft angetriebenen Lamellen verkleben nämlich gerne miteinander und verursachen Funktionsstörungen, die die Kamera völlig unbrauchbar werden lassen. Falls Ihre Werra also mit Prestor ausgestattet ist, so kontrollieren Sie am besten vor jedem Filmeinlegen, ob beim Spannen des Verschlusses der Hilfsverschluß geschlossen ist und am Ende des Spannvorgangs aufspringt. Ist eines von beidem nicht der Fall, werden Sie keine Aufnahmen erzielen können!

6. Sucher

Ein besonderes Charakteristikum der Werra ist wie bereits angedeutet ihre Janusköpfigkeit zwischen möglichst rationell zu fertigender Massenkamera und ihrem Potential zu einem immer höheren Niveau in Sachen Präzision und Ausstattung. Das kann man besonders gut an der Evolution ihrer Suchereinrichtungen ablesen. Zuerst war in der Deckkappe der Werra lediglich ein großer Glasquader eingebaut, der im Grunde genommen wie ein einfacher Rahmensucher funktionierte. Zeiss selbst nannte diese Konstruktion "Planglassucher". Durch das höhere Brechungsvermögen des Glases wirkten allerdings hinterer Einblick und vordere Umrandung näher beieinander und der "Ausguck" schärfer abgegrenzt, als wenn sich zwischen ihnen nur Luft befände, wie das beim üblichen Rahmensucher der Fall ist. Man erhoffte sich dadurch, ohne lichtbrechende Linsen ausommen zu können. Immerhin waren die ersten 140.000 Werras mit diesem "Einfachsucher" ausgestattet worden [Vgl. Miller, Rolf, Die Werra; in Fotografie 12/1957, S. 354.]. Doch diese Bauweise eines Suchers erfüllte nur die nötigsten Ansprüche an eine exakte Bildgestaltung.

DE1081301 Werra Sucher

Zwei Jahre nach dem Produktionsstart der Werra wurden daher umfangreiche Arbeiten an einem verbesserten Suchersystem aufgenommen, die in den Patenten DD16.802 und DE1.081.301 zum Ausdruck kommen, die zwar beide am 12. Juli 1956 in Ostberlin und München angemeldet wurden, sich allerdings inhaltlich geringfügig unterscheiden. Beide beschreiben verschiedene Ausführungsformen eines Suchers, der mithilfe einer Verspiegelung zweier einander zugekehrter Hohlflächen einen hell aufleuchtenden Rahmen in das Auge des Betrachters entwirft. Mit diesem neuen Spiegelrahmensucher konnte nicht nur endlich der exakte Bildausschnitt scharf abgegrenzt werden, sondern es wurde auch möglich, deutlich sichtbare Parallaxenmarken für Aufnahmen im Nahbereich anzuzeigen.

DE1081301 Werra Sucher

Der Grundgedanke dieses Spiegelsuchers hätte sogar einen Ausbau bis hin zum Meßsucher mit eingespiegeltem Mischbild ermöglicht, wie weitere Ausführungsformen des Patentes nahelegen. Neben Kurt Wagner und Hugo Eisenhut war immerhin der damalige Chefkonstrukteur der Abteilung Photo des Zeisswerks, der Vater der Flektogone und Spiegellinsenobjektive, Wolf Dannberg, an der Konstruktion dieser Suchersysteme beteiligt. Doch letztlich wurde dieser Ansatz für die kommende Entfernungsmesser-Werra dennoch fallengelassen und auf einen ungleich aufwendigeren Prismen-Fernrohrsucher zurückgegriffen, den ich im folgenden Abschnitt im Zusammenhang mit dem Entfernungsmesser beschreibe. Das Interessante dabei: Nachdem der oben beschriebene Spiegel-Rahmensucher einige Zeit in die Werra I und II erfolgreich eingebaut worden war, wurden auch diese Kameras am Ende doch noch auf eine vereinfachte Variante dieses besagten Prismensuchers umgestellt, der aufgrund seines Arbeitsprinzips in Form einer reelen Zwischenabbildung einen Sucherrahmen ermöglichte, der wie im Sucherbild zu schweben schien und das Aufnahmefeld dadurch noch deutlicher und präziser abgrenzte. Das war möglich, indem in der Ebene dieser reellen Zwischenabbildung die sehr feinen Linien dieses Sucherrahmens in den Spiegelbelag einer Feldlinse eingeäzt wurden. Selbst die einfache Werra I erreichte mit diesem Sucher nunmehr ein kaum zu übertreffendes Niveau innerhalb ihrer Klasse.

Werra Messsucher

7. Entfernungsmesser

Geschützt wurde der aufwendige Meßsucher der Werra mit dem DDR-Patent Nr. 17.655 vom 10. Juli 1956. Hermann Friebe war der Urheber. Als Grundlage nutzte er das Prinzip des Schnittbildentfernungsmessers, das von anderen Herstellern nur selten in Meßsuchern eingesetzt wurde. Meßsucher bedeutet ja ein optischer Verbund, bei dem Sucher und Entfernungsmesser einblicksgleich zusammengelegt sind. Von wenigen Ausnahmen abgesehen dominierte in diesem Bereich der Mischbildentfernungsmesser, der nach dem Überlagerungsprinzip arbeitet. Der Schnittbildentferungsmesser braucht dagegen zwar immer eine Kante oder ein anderes markantes Objekt, das eben zerschnitten wirkt, wenn nicht scharfgestellt ist. Dafür beeindruckt er mit seinem hellen, klaren Meßfleck, der auch bei wenig Licht und kontrastarmen Objekten ein gutes Scharfstellen ermöglicht. Das Mischbild ist in solchen Fällen meist rasch am Ende.

Mischbildentfernungsmesser
Schnittbildentfernungsmesser

Oben ist einmal das Funktionsprinzip des Mischbildentfernungsmessers, wie er beispielsweise in der Leica M3 verwendet wurde, dem des Schnittbildentfernungsmessers der Werra III gegenübergestellt. Beide Bilder zeigen jeweils den defokussierten Zustand.

Wie im Abschnitt 5 bereits angesprochen, arbeitet der Prismenfernrohrsucher der Werra mit einer reellen Zwischenabbildung. Während der sonst übliche Newtonsucher nur ein virtuelles Bild des Motivs liefert, das mit einem Okular vergrößert betrachtet wird, blickt man bei der Werra mit dem Okular (5) auf eine reelle Zwischenabbildung, die von einem Sucherobjektiv (1) projiziert wird. Das hat den Vorteil, daß in der Ebene der reellen Abbildung (8) angebrachte Markierungen wie Sucherrahmen oder Einspiegelungen wie Meßwerkzeiger genau so scharf und deutlich abgegrenzt gesehen werden, wie das Motiv selbst. Um den Meßsucher der Werra III bis V mit diesem Prinzip der reellen Zwischenabbildung in Einklang zu bringen, mußte ein zweites Objektiv vorgesehen werden, das allein dafür zuständig war, ein reelles Bild im zentralen Meßfleck des Suchers zu erzeugen. Dieses Meßobjektiv (7) war zu diesem Zweck derart mit dem Schneckengang des Kameraobjektivs gekuppelt worden, daß es sich bei Naheinstellung in Pfeilrichtung (A) bewegte.

DD17.655

Dem Vorteil eines sehr hochwertigen Sucherbildes mit einer klaren seitlichen Abgrenzung und eines hellen Entfernungsmessers stand freilich der große optische Aufwand dieses Bauprinzips gegenüber. Um den Sucher insgesamt geradsichtig und die rellen Abbildungen der beiden Sucherobjektive aufrechtstehend zu machen, waren mehrere Spiegelungen in Prismenkörpern nötig, die dazu entsprechende Dachkanten aufweisen mußten. Im Patent DD17.655 wurde zwar eine Anwendung von Kunststoffpreßlingen vorgeschlagen, in der Praxis ist der Meßsucher der Werra jedoch ganz und gar aus Glas gefertigt worden.

DD17.655

Erwähnenswert ist noch, daß dieses Prinzip des Schnittbildentfernungsmessers eine Möglichkeit geboten hätte, nicht nur die Scharfstellung anhand des Suchers vorzunehmen, sondern auch die zur Verfügung stehende Schärfentiefe im Sucher direkt ablesen zu können. Hermann Friebe und Paul Klupsch hatten dazu ein Patent angemeldet, das aber in der Praxis nicht verwirklicht wurde [DD27.363 vom 1. Juli 1957].

Wieso nicht jede x-beliebige Firma solch aufwendige Meßsucher anbieten konnte, erkennt man, wenn man sich einmal die Kombination aus Dackantprisma mit aufgekittetem Ablenkungsprisma anschaut, die in der Werra III...V verbaut wurde. Das war schon höchste optisch-feinmechanische Präzision. Heute werden solche Prismensysteme aus transparenten Kunststoffen gespritzt, aber bei der Werra ist alles aus geschliffenem, poliertem Glase. Bei der Werra V bzw. der Werramatic kam dann noch die Anzeige des Nachführzeigers am unteren Bildrand sowie die Einspiegelung von Zeit- und Blendenskala hinzu. Das war eine große Leistung!

Als die Werra III entwickelt wurde, sollte diese nicht nur einen mit der Scharfstellung gekuppelten Entfernungsmesser aufweisen, sondern als Erschwernis auch noch Wechselobjektive. Ein sogenannter Basisentfernungsmesser, bei dem Spiegel, Prismen oder Linsen um ganz geringe Winkelbeträge verschwenkt werden, stellt an sich schon eine große mechanische Herausforderung dar. Wenn der Entfernungsmesser überhaupt die notwenidige Präzision des Kleinbildes erfüllen und eine gewisse Langzeitstabilität gesichert bleiben soll, dann verlangt eine Entfernungsmesserkupplung bei Wechselobjektivsystemen eine sehr sorgfältige Konstruktionstätigkeit. Nicht umsonst haben die Firmen Leitz und Zeiss Ikon Anfang der 1930er Jahre sehr lange an dieser Problemstellung gearbeitet und sind auch zu sehr unterschiedlichen konstruktiven Lösungen gekommen.

Werra III 1959

Die Entfernungsmesserkupplung der Werra folgt nun in gewisser Weise dem Grundprinzip der Leica. Allerdings wird der Schwenkwinkel nicht wie bei der Leica direkt durch ein Gleiten an der Verstellkurve des Objektivs angetrieben, sondern über zwei Stifte, von denen der eine einen Bestandteil der Kamera darstellt und der andere spielfrei im Objektiv gelagert ist. Das garantiert höchste Langzeitstabilität und Verschleißfreiheit. Diese Anordnung war übrigens auch deshalb machbar, weil die Werra mit dem in der DDR weit verbreiteten Schraubbajonett-Prinzip arbeitet, bei dem das Objektiv nicht in die Kamera eingedreht, sondern von vorn aufgesteckt und durch Verdrehen eines Ringes gesichert wird. Entwickelt wurde diese Entfernungsmesserkupplung vom Zeiss-Konstrukteur Paul Klupsch, der sich seine Idee im DDR Patent Nr. 16.873 vom 23. Oktober 1956 schützen lassen hat.

DD16.873

Diese Werra III wurde zwar auf der Herbstmesse 1957 gezeigt, aber das nur mit dem für DDR-Verhältnisse recht ungewöhnlichen Hinweis, daß die just fertig konstruierte Kamera erst in der zweiten Jahreshälfte 1958 in Produktion gehen werde. [Vgl. Bild & Ton, Heft 10/1957, S. 270.]. Dasselbe galt übrigens auch für die Werra IV, die als eine Synthese der Modelle II und III angekündigt wurde. Der Grund dürfte in den anhaltenden Schwierigkeiten der Volkseigenen Zulieferindustrie gelegen haben, den neuen Spitzenverschluß bereitzustellen. Die Musterkameras für diezukünftige Werra III und IV waren jedenfalls bereits im Laufe des Jahres 1956 fertiggestellt worden, was man anhand der Seriennummern ihrer Objektive ableiten kann (siehe auch Artikel von Rudolf Müller am Ende der Seite).

Werra III Flektogon

Um die Vorteile des gekuppelten Entfernungsmessers auch im Nahbereich nutzen zu können, wurden Werra-Naheinstellgeräte geschaffen, die neben einer Nahlinse für das Tessar noch entsprechende Lupen für den Sucher- und den Entfernungsmesser-Ausblick in sich vereinten. Durch die leicht keilförmige Ausgestaltung der letzteren war gewährleistet, daß einerseits der Sucher auch in der Nähe den richtigen Bildausschnitt zeigte und auf der anderen Seite das Schnittbild des Entfernungsmessers auf Nähe korrigiert wurde. Es gab das Naheinstellgerät 1 mit 690 mm Brennweite für den Entfernungsbereich 0,8 ... 0,4 Meter und das Naheinstellgerät 2 mit 340 mm Brennweite für den Entfernungsbereich 0,4 ... 0,3 Meter. [Bild: László Horváth]

Werra Naheinstellgerät

8. Die Werra-Wechselobjektive

Eng mit der Werra III und ihrem Entfernungsmesser sind auch die beiden Wechselobjektive verbunden, die speziell für diese Kamera geschaffen wurden. Daß diese Wechselobjektive besonders zugeschnitten sein mußten, liegt wiederum daran, daß die Werra eine Kamera mit hinter dem Objektiv liegenden Zentralverschluß war. Das Wechselobjektiv wurde also VOR den Zentralverschluß gesetzt, der seinerseits fester Bestandteil der Kamera blieb. Diese spezielle Bauweise der Kamera hatte zweierlei Auswirkungen auf die Konstrukton der Wechselobjektive, die für das Weitwinkel und das Tele gesondert zu betrachten sind:


Um den Weitwinkelbereich abzudecken, gab es für die Werra III (und die entsprechenden Schwestermodelle) eine Version des Retrofokus-Pioniers Flektogon 2,8/35mm. Dieses Objektiv war im Sommer 1949 speziell für die zukunftsträchtigen Kleinbild-Spiegelreflexkameras des Dresdner Kamerabaus geschaffen worden. Während die aufwändige Bauart bei der Spiegelreflexkamera deshalb nötig war, damit der Spiegel genügend Bewegungsspielraum hat, sorgte bei der Werra der zwischen Kameragehäuse und Objektiv sitzende Zentralverschuß für ein ähnlich gelagertes "Platzproblem". Rudolph Solisch kam daher bei Zeiss die Aufgabe zu, ein Objektiv mit einem großen Bildwinkel zu schaffen, bei dem der Luftzwischenraum zwischen der hintersten Linse und der Bildebene länger sein mußte als die Brennweite. Nach einem etwa zu selben Zeit in Frankreich entwickelten Pendant wurde diese Objektivbauart in der Folgezeit allgemein Retrofokus-Weitwinkel genannt.


Interessant ist nun, daß für die Werra zum 12. März 1956 eine gesondert gerechnete Variante dieses Flektogons geschaffen wurde, die sich zwar im Grundaufbau nicht von dem Typus für die Reflexkamera unterschied, aber offenbar so für die Werra zugeschnitten werden mußte, daß die besagte Rechnung auch nur für diese Kamera verwendet wurde. Etwa 11.000 Stück wurden ab Sommer 1958 offenbar innerhalb eines einzigen Jahres produziert. Mit dem Rechnungsdatum vom 23. September 1960 folgte dann ein letztmalig optimiertes Flektogon 2,8/35, das nun gleichermaßen für die Spiegelreflexkamera wie für die Werra geeignet war. Auf Basis dieser Rechnung wurden zwischen Jahresanfang 1964 und Jahresende 1968 noch einmal etwa 3350 Stück fabriziert.

Obwohl die Werra ja eine Sucherkamera ist, war also bei ihr diese spezielle Bauform des Retrofokusobjektivs mit verlängerter Schnittweite nötig, um die Forderung nach einem Weitwinkel für diese Kamera mit ihrem Konzept des Hinterlinsenverschlusses in Einklang bringen zu können. Wie man sich leicht denken kann, wurde die Konstruktion eines langbrennweitigen Zusatzobjektives für die Werra ebenfalls von diesen Bedingungen geprägt. Allerdings waren hier die Schwierigkeiten ein wenig anders gelagert. Nicht ein zu kurzer Abstand der hintersten Linse von der Bildebene war hier das Problem, sondern daß dieses rückwärtige Element durch den engen Durchlaß des Prestor 00 stark im Durchmesser eingeschränkt sein mußte. Um die sich aus diesen Vorgaben ergebenden Anforderungen an ein Teleobjektiv zu erfüllen, hatte Erich Fincke zusammen mit Harry Zöllner [DDR Patent Nr. 23.651 vom 17. November 1958] auf eine Sonnarkonstruktion zurückgegriffen, die so ausgelegt wurde, daß


1. der Strahlengang weit genug eingeschnürt wurde, um die eintretende Lichtmenge durch den engen 00-Verschluß zu bekommen.

2. die hinterste Linse kurz vor den Verschlußsektoren zu liegen kam, um den Wirkungsgrad des Verschlusses nicht zu mildern.

3. die Blende des Objektivs nah an diese hinterste Linse gebracht wurde, um Vigettierungen zu vermeiden.


Von diesem hochwerigen Cardinar 4/100 mm wurden zwischen 1959 und 1969 (!) knapp 18.000 Stück hergestellt. Auf das Mysterium, daß die geometrische Lichtstärke dieses Objektivs eigentlich bei 1:3,5 liegt, auf der Fassung aber 1:4,0 graviert ist und größtenteils auch durch eine Manipulation des Blendenmechanismus mechanisch auf auf diesen Wert begrenzt wurde, gehe ich hier ausführlicher ein. Es ist den Konstrukteuren wohl erst im Nachhinein klar geworden, daß in Hinblick auf die später noch folgenden Werramodelle mit gekuppelten Belichtungsmessern ein Wert der Lichtstärke von 1:3,5 als sehr ungünstig angesehen werden mußte, weil dieser nicht in die internationale Blendenreihe paßte und daher einfach nicht mit dem Prinzip der Lichtwertkupplung in Einklang zu bringen war. Der Wert 1:3,5 ist eben etwa eine drittel Blendenstufe von 1:4,0 entfernt oder aber zu zwei Dritteln von 1:2,8 und eine der beiden Abweichungen würde stets in jeder Belichtung wirksam werden, wenn man die "krummen" 1:3,5 als Anfangslichtstärke zugrundegelegt hätte.

Werra Wechselobjektive

Links das Tessar als Normalobjektiv, in der Mitte das Flektogon und rechts das Cardinar [nach: Müller, Rudolf: Das WERRA-System, Bild & Ton, 5/1958, S. 140 ff.] Die Schnittbilder zeigen auch deutlich, wie stark der Hersteller sein Augenmerk darauf richten mußte, die hintersten Linsenfassungen im Durchmesser klein genug zu halten, damit sie in den freien Durchlaß des Prestor-Verschlusses eintauchen konnten.

Werra Cardinar 100 mm

9. Belichtungsmesser

Man erkennt also schon an solchen Problemen mit der Lichtstärke der Objektive, wie kompliziert sich die Konstruktion eines einfach zu bedienenden Belichtungsmessers gestaltete. Im Abschnitt 6 wurde bereits gesagt, daß auf der Leipziger Herbstmesse 1957 die neuen Typen Werra II, III und IV vorgestellt wurden, aber nur die Werra II ging anschließend sogleich in Prodution. Das lag sicherlich daran, daß diese Werra II zwar mit einem eingebauten Belichtungsmesser versehen wurde, sich aber ansonsten nicht von ihrer Schwesterkamera Werra I unterschied. Insbesondere bedeutete dies, daß sie mit dem bisherigen Vebur auskam. Weil dieser Zentralverschluß, wie in Abschnitt 4 bereits beschrieben, keine Lichtwertkopplung zuließ, konnte daher auch zunächst nur eine Lösung mit einem völlig ungekuppelten Belichtungsmesser verwirklicht werden. Das war in etwa dasselbe, wie ein in die Kamera fest eingebauter Handbelichtungsmesser. Aus diesem Grunde trug die Werra II auch die für solche Geräte charakteristische Rechenscheibe auf ihrer Rückwand. Das Meßwerk des Belichtungsmessers zeigte oben auf der Deckkappe der Kamera Leitwerte an, die abgelesen und anschließend auf die rückwärtige Rechenscheibe übertragen werden mußten. Erst danach konnte schließlich die passende Zeit-Blenden-Kombination ausgewählt werden, die zu guter letzt auch noch auf den Verschluß und den Blendenring übertragen werden mußte. Neben diesen mehrfachen Ablese- und Einstellvorgängen gestaltete sich das Belichtungsmessen mit der Werra II auch deshalb recht unbequem, weil die Kamera dafür ständig in grotesker Weise hin- und hergedreht werden mußte. Mit einer solchen regelrechten Notlösung konnte sich bei Zeiss Jena also niemand wirklich zufriedengeben.

Werra II

Um von der umständlichen Bedienung des Belichtungsmessers bei der Werra II abzukommen, sollte für eine Werra IV dieses Verfahren deutlich vereinfacht werden. Um das zu erreichen, hatten sich Helmut Scharffenberg und Johann Koch ein System ausgedacht, das ohne zusätzliche Skalen und Rechenhilfen auskam [DDR-Patent Nr. 20.019 vom 1. September 1957]. Dazu war ein Indexring vorgesehen, der bei Einstellung der Filmempfindlichkeit in eine bestimmte Relation zum gekoppelten Zeit- und Blendeneinstellring gebracht wurde. Der Belichtungsmesser zeigte nun direkt einen Blendenwert an, der einmalig bei entkoppeltem Zeit-Blendenring dem Index gegenübergestellt werden mußte. Anschließend konnten nun beliebige Zeit-Blenden-Paarungen gewählt werden, ohne daß sich die Belichtung änderte. Da der Belichtungsmesser der Werra IV noch ein Zweibereichs-Belichtungsmesser war, mußten zwei farbige Indizes auf dem Indexring aufgebracht werden.


Wie oben bereits beschrieben, war für solch einen gekuppelten Belichtungsmesser unbedingt ein Lichtwert-fähiger Verschluß vonnöten. Nicht nur mußte er die neue, lückenlose geometrische Zeitenreihe zu bieten haben, sondern die Abstände zwischen den Rastungen mußten gleich sein. Das verlangte nach einer ausgeklügelten Steuermechanik im Verschluß und nach einem perfektionierten Hemmwerk. Aber damit nicht genug: Auch die Abstände zwischen den einzelnen Blendenwerten des Objektivs mußten konstant sein und zudem dieselbe Größe aufweisen, wie beim Zeiteinstellring. Die Wechselobjektive der Werra benötigten daher eine speziell angepaßte Form der Blendenlamellen, um all diese Forderungen miteinander in Einklang bringen zu können.

DD20.019 Werra IV

Trotz allem Aufwand war diese Vereinfachung aber noch nicht einfach genug. Immernoch mußten Zahlen von einer Skala abgelesen und am Index eingestellt werden und war es zu hell oder zu dunkel, dann mußte mit der Klappe vor der Selenzelle der Bereich gewechselt werden. Für eine weiterentwickelte Werra-Generation sollte der Abgleich der Belichtung gänzlich ohne Ablesung von Zahlenwerten möglich sein. Dazu wurde der Zeiger des Belichtungsmessers bei der Werra V (bzw. der späteren Werramatic und der einfacheren Werramat) in das Sucherbild eingespiegelt. Ohne die Kamera vom Auge absetzen zu müssen, war es dadurch möglich, den Zeiger des Belichtungsmessers auf eine Festmarke einzuspielen (Nachführprinzip). Das ergab eine Form der Automatisierung und Vereinfachung der Belichtungsmessung, die keinerlei Abstriche an die Kontrolle über die indviduelle Kombination von Zeit- und Blendenwerten erforderte.

DD29.472 Werra V

Verkompliziert wurde dieses Ansinnen jedoch durch mehrere erschwerende Forderungen. Dazu gehörte, daß der Belichtungsmesser nur noch einen Meßbereich haben sollte. Auch mußte eine Kupplung mit Wechselobjektiven möglich sein. Weil das Meßsystem, wie erwähnt, ohnehin in den Sucher eingespiegelt werden mußte, hatte Johann Koch den Meßabgleich so ausgelegt, daß er entsprechend optomechanisch arbeitete [DDR-Patent Nr. 29.472 vom 5. Oktober 1959]. Dazu wurden Zeit, Blende und Filmempfindlichkeit in eine Stößelbewegung überführt, die eine Verdrehung eines Spiegels bewirkte, der seinerseits den Zeiger im Sucher abbildete. Mit dieser Einrichtung mußte der Zeiger auf den Ausschnitt am unteren Sucherrand eingespielt werden, wie dies oben in der Darstellung des Werramatic-Sucherbildes gezeigt ist. Der dazu nötige Mechanismus geriet letztlich beinah ebenso aufwendig, wie der Entfernungsmesser der Werramatic.

Werramatic Belichtungsmesser

Weil nun auch der Meßwerkzeiger in der reellen Zwischenbildebene des Suchers (9) abgebildet werden mußte, war bei der Werramatic ein drittes Sucherobjektiv (8) und ein zugehöriges Prisma (8a) nötig. Dieses auf dem Hebel (6) sitzende Objektiv wurde nun so lange verschoben, bis der Zeiger des Meßwerks (1) in der besagten Aussparung des Meßfeldes im Sucher zu liegen kam. Man sieht, daß die tatsächlich in der Werra umgesetzte Verstellung der Belichtungssteuerung weit aufwendiger geriet, als im Patent angedeutet. Die über den Stößel (3) vermittelte Zeit-Blenden-Kombination mußte über ein Schneckengetriebe (4) in eine Verdrehung der Kurve (5) umgesetzt werden. Die Formgebung dieser Kurve war übrigens individuell an die Charakteristik des Belichtungsmessers angepaßt [Vgl. Krohs: Belichtungsmesser; in: Handbuch der Phototechnik, 2. Aufl. 1962, S. 298]. Am Einsteller 10 wurde zuvor die Filmempfindlichkeit ins Meßsystem eingegeben. Mit der Taste (2) mußten zum Zweck des Belichtungsabgleichs Zeit- und Blendenring  entkuppelt werden. Wurde diese Taste anschließend losgelassen, so konnten nun Zeit und Blende gemeinsam verstellt werden. Das bedeutet Zeit- und Blendenkombinationen konnten gegeneinander verschoben werden, ohne daß sich die Stärke der Belichtung veränderte.

CH361976 Werra Sucheranzeige Belichtung

Mit den Spiegeln (11 a und b) wurden zudem die Werte der Blende und Verschlußzeit in das Sucherobjektiv (12) eingespiegelt und erschienen dadurch ebenfalls in der reellen Zwischenbildebene des Suchers. Diese verblüffend einfache, von Hermann Friebe erarbeitete Lösung wurde am 19. Dezember 1957 in der Bundesrepublik und am 31. Juli 1958 in der Schweiz zum Patent angemeldet, doch nur in der Schweiz wurde ein Patent erteilt [CH361.976].

WERRA matic

Dieses Detail der Einspiegelung der Zeit-Blenden-Werte ins Sucherbild war eine große Leistung der Zeissianer. Sie machte eine derartige Belichtungsautomatik mit Sucherabgleich erst richtig sinnvoll. Ich habe zwar nachweisen können, daß zur selben Zeit im VEB Kamera- und Kinowerke in Dresden für die Pentina auch an einer Einspiegelung des Meßwerkzeigers in deren Reflexsucher gearbeitet wurde. Diese Arbeiten wurden aber nicht in der fertigen Kamera umgesetzt. Das mag daran gelegen haben, weil es anders als bei der Werra nicht gelungen war, auch die gewählte Zeit-Blenden-Kombination im Sucher sichtbar zu machen. Im Vergleich zur Werra mat und Werra matic war der praktische Wert der Belichtungshalbautomatik bei der Pentina daher stark herabgesetzt.

10. Blendenautomatik

Auch wenn oben in Bezug auf die Nachführmessung der Werramatic bereits von einer Belichtungsautomatik gesprochen wurde, so war diese natürlich noch keine automatische Steuerung im engeren Sinne, denn Blende oder Verschlußzeit mußten noch manuell dem Ausschlag des Meßwerkzeigers nachgeführt werden. Um in dieser Hinsicht den internationalen Trends zu folgen, wurde unter Federführung der Konstrukteure Hermann Friebe und Helmut Scharffenberg die Werra zu einer Kamera mit Blendenautomatik weiterentwickelt. Diese echte Belichtungsvollautomatik zeinchet sich dadurch aus, daß zu einer manuell vorgewählten Verschlußzeit selbsttätig die richtige Öffnung der Objektivblende gebildet wird. Eine erste Musterkamera unter der Bezeichnung WERRAsupermatic konnte bereits 1961 fertiggestellt werden [Vgl. Zeissarchiv, Bestand BIV 61/50 und 61/51].

Werra Supermatic

Diese Kamera, die mit ihrem Entfernungsmesser und den Wechselobjektiven vom Spitzenmodell WERRAmatic abgeleitet war, ging jedoch nie in Serie [Abb. der Prototypkamera oben nach Arnz, Joachim: The Werra: Some interesting rarities; in: Zeiss Historica, 2/2012, S. 8ff.]. Der Grund dafür lag höchstwahrscheinlich darin, daß die Kupplung der Blendensteuerung mit den Wechselobjektiven Probleme bereitete. Jetzt rächte sich, daß das Cardinar eine andere Lichtstärke hatte als das Tessar und das Flektogon. Da die Kamera bei einer Blendenautomatik unbedingt die Anfangslichtstärke des Objektives kennen muß, hätten die Cardinare mit einer besonderen Übertragung versehen werden müssen (deshalb ist das obige Cardinar an der Supermatic wohl auch als Musterobjektiv ausgewiesen). Von diesem Aufwand wurde letztlich Abstand genommen.


Erst etwa fünf Jahre später wurde das Prinzip der Belichtungsautomatik wieder aufgegriffen und als "WERRA supermat" noch groß in der Fachzeitschrift "Fotografie" angekündgt und umfangreich technisch beschrieben (s.u.). Aber auch diese Kamera, die von der einfacheren WERRAmat ohne Wechselobjektive abgeleitet war, kam letztlich nicht über eine Kleinserie hinaus und gelangte wohl auch nie offiziell in die Geschäfte.

Aufnahmen der Supermat: Peter Drijver, Den Haag.

Die gesamte Belichtungsautomatik dieser Kamera fußte nun darauf, daß eine aufwendige Mechanik die Stellung des Meßwerkzeigers abtastete, um damit die Blendenöffnung festzulegen, bevor der Verschluß schließlich ausgelöst wurde. Das war eine international übliche Ausführungsform der Belichtungsvollautomatik, die sogar schon in der DDR zuvor zur Anwendung gekommen war (Certi, Prakti). Der Hintergrund dieser Bauweise liegt darin, daß ein Selenelement nur wenige Hundert Mikrowatt Leistung abgeben und damit keine direkten Steuerungsfunktionen übernehmen kann. Also muß der indirekte Weg beschritten und der Ausschlag des Meßwerkzeigers mechanisch abgetastet werden, um daraus dann das Maß der Blendenöffnung abzuleiten. Die große Schwierigkeit bei der Realisierung einer solchen Belichtungsautomatik lag nun darin, daß die Einstellung der Blendenöffnung zwischen den Blendenzahlen 2,8 und 22 bei allen Belichtungszeiten zwischen 1 und 1/750 Sekunde und allen Filmempfindlichkeiten zwischen 9 und 27 DIN möglich sein sollte. Dies mit rein mechanischen Getrieben zu erreichen (statt wie später nur durch eine Verarbeitung von bloßen Spannungswerten in einer elektronischen Schaltung) war ein sehr schwieriges Unterfangen.

Ich dachte bislang immer, der durch diesen Aufbau stark verlängerte Auslöseweg sei der Anlaß gewesen, von der bisherigen Form des Gehäuseauslösers abzugehen und an der Rückseite eine Art Auslöseschieber anzuordnen. Jetzt habe ich allerdings ein Patent gefunden, das Hermann Friebe und Werner Broche am 2. März 1963 angemeldet hatten [Nr. DD43.115] und das den wahren Hintergrund für die Umgestaltung der Auslösebetätigung offenbart. Die bisherigen Werramodelle hatten wie gesagt einen Auslöser gehabt, dessen Betätigungsknopf auf der Deckkappe der Kamera untergebracht war. Das konnte zur Folge haben, daß versehentlich ein Finger die Öffnung des Photoelementes abdeckte. Bislang war das verschmerzlich, da durch die BelichtungsHALBautomatik zwischen Belichtungsmessung und Aufnahme genügend Zeit blieb, den Fehler zu entdecken und abzuwenden. Bei einer Werra mit BelichtungsVOLLautomatik bestimmte das Meßergebnis aber nun direkt und und ohne zeitlichen Verzug die beim Auslösen gebildete Blendenöffnung und eine auch noch so flüchtige Verfälschung der Messung mußte daher unter allen Umständen verhindert werden. Die Erfinder meinten, dieses Ziel durch die Verlegung des Auslösers an die Rückseite der Kamera und die Betätigung mit dem Daumen statt mit dem Zeigefinger sicher erreichen zu können.

DD43.115
DD43.115

Die Tatsache freilich, daß man sich mit Problemen wie dem versehentlichen Verdecken des Belichtungsmessers beschäftigen mußte, zeigt bereits, wie weit hinterher diese Technologie mit Selenzelle und dem mechanisch abgetasteten Meßinstrument Mitte der 1960er Jahre bereits gewesen ist. Aus Japan wurden mittlerweile vollautomatisch belichtende Sucherkameras geliefert, die mit kleinflächigen Photowiderständen arbeiteten. Diese Photowiderstände waren sogar klein genug, daß man sie innerhalb des Objektivtubus placieren konnte, wo sie nicht versehentlich abgedeckt werden konnten und sogar den Belichtungsfaktor eines vorgesetzten Filters mit registrierten. Überdies zeichnete sich als neuer Trend bereits ab, daß bei diesen vollautomatisch belichtenden Sucherkameras der durch den Photowiderstand fließende Strom nicht mehr mechanisch, sondern vollelektronisch durch eine Transistorschaltung ausgewertet werden würde (z.B. Yashica electro 35, 1966). Im Angesicht dieses durch die japanische Photoindustrie vorgegebenen technischen Standes war die WERRA supermat bereitnichts als "kalter Kaffee" und die Exportchancen hätten mit großer Sicherheit gegen Null tendiert.


Ich vermute aber, daß es nicht allein die technische Rückständigkeit dieser WERRA supermat gewesen ist, die ihre Serienfertigung verhindert hat, sondern eher die Tatsache, daß der neue Kamerakonzern PENTACON endlich von der Last befreit werden wollte, weiterhin den komplizierten und in der Herstellung problematischen Prestor Zentralverschluß für Zeiss Jena bereitstellen zu müssen. Und ohne Zentralverschluß eben keine Werra mehr.

Bezeichnend ist dieser Prospekt, der aus der zweiten Hälfte der 1960er Jahre stammen dürfte. Streng genommen scheint es sich nur um eine Art Druckfahne zu handeln, denn es ist kaum zu übersehen, daß hier ein Korrektor an allen Stellen den ursprünglichen Namen "WERRA supermat" in "WERRA mat-super" geändert hat. Das erfolgte offenbar nach einem Namenrechtseinspruch von Seiten Kodaks. Aber auch das war letztlich gleichgültig: weder Kamera noch Prospekt gingen anschließend in die Serienfertigung.



Unten der Artikel von Scharffenberg und Friebe, mit dem die WERRA Supermat 1968 (1966?) in der Fotografie vorgestellt wurde

Die letzte Weiterentwicklung der Werra, die wirklich noch praktisch umgesetzt wurde, betraf übrigens den Rückspulauslöser dieser Kamera. Bislang mußte während der gesamten Zeit, in der man den Film in die Patrone zurückwickelte, der Rückspulknopf gedrückt werden. Mit der DDR-Patentschrift Nr. 43.116 vom 2. März 1963 hatte sich Werner Broche eine Entkuppelungseinrichtung für die Zahntrommel schützen lassen, die ein dauerhaftes Drücken eines Knopfes unnötig machte. Stattdessen wurde der Bodenverriegelung der Werra eine Schaltposition für Rückwicklung hinzugefügt. Eine Hebelkonstruktion im Inneren der Kamera betätigte nun den Rückspulknopf so lange, bis die Rückwand geöffnet wurde. Als angenehmer Nebeneffekt ergab sich, daß die bislang problematische Abdichtung der Rückspulknopfes gegenüber Lichteinfall, für die bislang eine Filzdichtung vorgesehen werden mußte, wegfiel und daher auch keine Störungen mehr verursachen konnte.

DD43116 Werra Rückspulauslöser
Werra Broche

11. Das Ende der Werra-Reihe

Diese letzten Detailverbesserungen sollten aber bereits den Niedergang der Werra-Reihe einläuten. Es folgte noch eine größere gestalterische Umarbeitung mit einer über die gesamte Frontseite der Deckkappe verlaufenden Scheibe, hinter der der Sucher- und Belichtungsmesserausguck sowie die Modellbezeichnung untergebracht waren. Zudem wurde der Vulkanitbelag gegen eine Belederung mit modisch aktuellem Muster aufgegeben. Das war das äußere Kennzeichen der Werra E-Serie. Mit ihrer Einführung im Frühjahr 1965 wurde übrigens auch das bisher rigoros eingehaltene Konzept des völlig glattflächigen Gehäuses durchbrochen, indem die Werra nun erstmals einen fest eingebauten Blitzschuh verpaßt bekam [Vgl. FOTOKINO magazin Nr. 7/1965, S. 195.].

late Werra-mat

Doch die Werkleitung des VEB Carl Zeiss JENA hatte bereits am 23. Februar 1965 beschlossen, die Werra-Produktion ab 1968 einzustellen [Vgl. Ausführlicher Abschlußbericht WERRAsupermatic, 1966, S. 2]. Als Gründe wurden einerseits "ungünstiger werdender Devisenerlös der gesamten Werra-Reihe" angegeben. Damit ist das gemeint, was ich oben schon angedeutet habe: Auf den entscheidenden Westmärkten wollte die überalterte Werra keiner mehr haben. Und nur für den DDR-Bedarf war diese Kamera viel zu aufwendig. Das deckt sich mit der zweiten Begründung einer "Produktionsprofilbereinigung innerhalb des Betriebes". Die Fertigungskapazitäten, die die Werra bei Zeiss band, sollten einträglicheren Produkten freigemacht werden. Nach den Angaben von Joachim Arnz im o.g. Artikel und in Übereinstimmung mit den Daten, die durch "den Thiele" bezüglich der Werra-Objektve überliefert sind, wurde die Produktion der Werra offenbar schon im Jahresverlauf 1966 sukzessive heruntergefahren. Denn bereits im Jahr darauf ist die Zeiss-Fernglasproduktion nach Eisfeld verlagert und anschließend eine bis dahin unvorstellbare Großserienproduktion dieser Gerätschaften aufgebaut worden. Mit dem Ablauf des Jahres 1967 scheint dann diese Übergangsphase endgültig abgeschlossen gewesen zu sein und die Werra-Fertigung wurde vollends eingestellt.

Werra Reklame 1959

Nach den großen anfänglichen Startschwierigkeiten, die sich schließlich fast automatisch ergeben, wenn ein Betrieb nicht nur eine Neukonstruktion wagt, sondern gleich noch ein komplett neues Geschäftsfeld betritt, entwickelte sich die Werra im Laufe der Zeit doch noch zum sprichwörtlichen "Erfolgsmodell". Wie die obige Annonce in der Bundesdeutschen Fachzeitschrift Photo-Magazin vom September 1959 wissen läßt, waren nach etwa fünfjähriger Fertigung bereits 150.000 Werras entstanden. Doch die Produktion muß rasch gesteigert worden sein, denn bereits Mitte Juni 1961 hatte die Werra die Herstellungsziffer von 250.000 Stück überschritten und sie wurde in 30 Länder exportiert [Vgl. Fotofalter, 11/1961, S. 324.]. Das war dann also nach sieben Jahren Produktionszeit, und wie wir heute wissen, war damals bereits die "Halbzeit" überschritten. In den folgenden Jahren muß die Produktion dann abermals überproportional gesteigert worden sein, denn Arnz gibt im oben schon zitierten Aufsatz von 2012 an, bis 1964 seien 800.000 Werras hergestellt worden. Diese Zahl wird aber nicht belegt. Ich habe hingegen "im Thiele" insgesamt ca. 573.500 Tessare 2,8/50 für die Werra gezählt. Dazu kommen noch 42.500 Novonare aus der Anfangszeit. Macht zusammen also etwa 616.000 Werras. Mag sein, daß nicht alle Objektive zur Werra in den Zeiss'schen Karteikarten überliefert sind bzw. nicht immer der "Verwendungszweck" vermerkt wurde. Aber scheinen mir dies momentan die einzig wirklich nachprüfbaren Zahlen zu sein. Wie dem auch sei; ob nun 600.000 oder 800.000 oder gar über eine Million: Die Zeiss Werra hat sich in ihrer zwölfjährigen Produktionszeit zu einer außerordentlich erfolgreichen, vielseitigen und beliebten Kamerabaureihe entwickelt, die auch auf Auslandsmärkten erfolgreich war. Besonders faszinierend dabei ist wie gesagt die immer weiter getriebene Steigerung der Komplexität der Kamera, ohne daß dazu jemals die Grundkonstruktion verlassen werden mußte. Für ein Produkt, mit dem eine Firma von Null aus gänzlich Neuland betreten hatte, ist das ein beachtenswerter Erfolg!

Auch die Briten, die es bekanntermaßen durchaus etwas "different" mögen, scheinen Gefallen an der Werra gefunden zu haben, wie dieses Angebot der Handelsfirma Cine - Equipment aus dem Jahre 1962 belegt. Eine Besprechung der Werra in der US-Zeitschrift Popular Photography legt hingegen nahe, daß es keinen offiziellen Export dieser Kamera in die USA gegeben hat.


Daß dieser Export in westliche Länder mehr und mehr wegbrach, weil die Werra schlichtweg nicht mehr zeitgemäß war, muß wohl als hauptverantwortlich für ihr Ende angesehen werden. Aber auch die material- und personalaufwendige Produktion hat sicherlich ein Gutteil dazu beigetragen. Bedenken Sie, daß die Preise für Konsumgüter in der DDR nicht nur staatlich festgelegt, sondern regelrecht zementiert waren. Preiserhöhungen konnten herstellerseits nur dann durchgesetzt werden, wenn er eine deutliche Gebrauchswerterhöhung nachweisen konnte. Deshalb versuchten die Betriebe, durch Materialeinsparungen die Kosten zu senken. Der Ersatz der aufwendigen Vulkanisierung durch eine einfache Belederung ist dafür ein Zeichen. Oder der sogenannte Schaltgriff 56 10 50 - 26 (für die Umschaltung von X- auf M-Synchronisation und für den Selbstauslöser) wurde bei der Werra-E statt aus verchromten Messing aus Plastik hergestellt. Weil man mit diesem Schaltgriff am Kameraboden gerne hängen blieb, brach er rasch ab. Das sorgte für aufwendige Reparaturen, weil zum Austausch dieses kleinen Teils der ganze Verschluß abgebaut werden mußte.


Auch als sprichwörtlicher "Schuß in den Ofen" hat sich nachträglich eine weitere Kosteneinsparung herausgestellt. Irgendwann im Laufe der Werra C-Reihe hatte man die Gravuren der Blenden- und DIN-Werte auf den Einstellringen durch ein Druckverfahren ersetzt. Diese aufgedruckten Zahlen waren aber auf dem verchromten Messing nicht dauerhaft und nutzten sich nach kurzer Zeit ab. Wie die unten im Auszug gezeigte "Information über Reparaturpreise" des Produktionsbetriebs Eisfeld vom Januar 1968 beweist, hatte der Hersteller offenbar viel damit zu tun, diesen Fehler nachzubesern. Die wenigen Worte in Punkt 3  lassen erkennen, daß man doch tatsächlich die abgenutzen Zahlenaufdrucke nachträglich gravierte. Ob sich der damit verbunde Demontage- und Montageaufwand mit bloßen 6 Mark 65 abdecken ließ, scheint mehr als fraglich. Aber auch Reparaturpreise waren in der DDR staatlich gedeckelt...

Unten die ersten 45 Seiten des Buches "WERRA ABC" von Paul Kroll aus dem Jahre 1960, wo die einzelnen Modelle der Werra noch einmal ausführlich vorgestellt und beschrieben werden. Ein wirklich gutes Kamerabuch übrigens.

Werralux

Eng verknüpft mit der Geschichte der Werra ist übrigens auch der Handbelichtungsmesser "Werralux" des VEB Feingerätewerk Weimar. Dieses im Jahre 1950 gegründete Werk wurde um 1953 Teilbetrieb des VEB Carl Zeiss Jena. Hier wurde unter anderem der in Dresden bei Zeiss Ikon entwickelte Schmalfilmprojektor P8 in Serie gefertigt. Zur Leipziger Frühjahrsmesse 1956 wurde dann dieser Belichtungsmesser als Ergänzung zu den Werra Modellen I und II herausgebracht [Vgl. Bild & Ton, 4/1956, S. 97]. Wie sein Vorgänger, der nur kurze Zeit gefertigte Belichtungsmesser "Zeiss", arbeitete der Werralux nach dem Prinzip des Nachführzeigers, der durch Drehen der Rechenscheibe mit der Nadel des Meßwerks zur Deckung gebracht werden mußte. Die dazu nötige Kurvensteuerung im Inneren der Rechenscheibe machte es dabei möglich, dieselbe sehr exakt auf die photoelektrische Kennlinie der Selen-Sperrschichtzelle anzupassen, wodurch eine linearisierte Blenden- und Belichtungszeitenreihe erzielt werden konnte. Selbst das Umstellen auf die neue geometrische Zeitenreihe, wie beim oben abgebildeten späteren Modell des Werralux, war dadurch problemlos möglich.

Hervorzuheben ist zudem die vergleichsweise hohe Anfangsempfindlichkeit des Werralux von gerade einmal 1,5 Lux. Das war unter anderem auch durch die im VEB Carl Zeiss JENA entwickelte Selenzelle vom Typ SeA möglich, die in diesen Geräten zum Einsatz kam [Vgl. Krohs, Alfred: Belichtungsmesser und Belichtungsmessung; in: Teicher, Handbuch Fototechnik, 1962, S. 292.]. So auch in dessen Nachfolger "Weimarlux", der neben einigen technischen Verbesserungen (Lichtwähler mit Wabenlinsen, Null-justierbares Meßwerk) auch die nominelle Bindung zur Werra ablegte. Diese Belichtungsmesser wurden nämlich längst nicht nur als Ergänzung für die Werra gekauft.

Doppelwerra

Die ziemlich unvoreingenommene Konstruktionsfreudigkeit der Werra-Schöpfer ist bis in das Zubehör hinein erkennbar, wie bei diesem Zwischenstück, mit dem die Kupplung zweier Kameragehäuse möglich gemacht werden sollte. Allerdings wollten in der Praxis nur wenige Photofreunde gleichzeitig Farb- und Schwarzweißaufnahmen anfertigen, weshalb dieses Zubehörteil in den Geschäften liegen blieb.

Werra Quellekatalog 1966

Oben: Die Werra E-Modelle im bundesdeutschen Quelle-Katalog von 1966. Im Prinzip schon ein Ausverkauf.

Marco Kröger


letzte Änderung: 3. März 2024