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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Die KW-Zweifilm-Kamera
Nichts als Böhm’sche Dörfer?
Auf den vorhergehenden Seiten war von den Prestige-Projekten Pentosix und Pentax sowie Pentaplast des VEB Zeiss Ikon die Rede, die diesen Betrieb letztlich in den Untergang getrieben haben. Doch auch im VEB Kamera-Werke Niedersedlitz hatten die Entwickler "ein liebstes Spielzeug", das weit am Bedarf des Marktes vorbeizielte.
Aber um es auch gleich vorweg zu nehmen: Anders als die Ingenieure bei Zeiss Ikon, konnten sich Siegfried Böhm und seine Mitarbeiter dieses kleine Nebenprojekt durchaus leisten, denn sie hatten ihren Laden im Griff. Bereits zur Mitte der 50er Jahre waren von der Praktica mehr Geräte zur Auslieferung gelangt, als von der Spiegelcontax je gefertigt werden sollten. Das war angesichts des Ursprungs der Kamera-Werkstätten Niedersedlitz als kleine Manufaktur durchaus eine reife Leistung. Mit der Praktina FX hatte man ab 1953/54 zudem eine Systemkamera am Markt, die international noch ohne jegliche Konkurrenz dastand. Und eine später unter dem Namen Praktisix bekannt gewordene Mittelformat-Reflexkamera befand sich auch gerade in der Entwicklung. Natürlich war Böhm nicht alleiniger Urheber dieser Erfolge, aber viele für den Kamerabau insgesamt bedeutende Konstruktionsideen gingen damals von ihm aus. Darüber hinaus muß er seinerzeit auch als Betriebsleiter offensichtlich nicht ganz ungeschickt agiert haben. Dieser Mann aus dem erzgebirgischen Witzschdorf, der im nahegelegenen Zschopau zur Schule ging – einem Ort, der sehr früh industrialisiert worden ist und wo während der Kindheit Böhms der größte Motorradproduzent der Welt angesiedelt war – dieser junge Mann also leitete nun selbst einen weltweit anerkannten Betrieb, den er gerade mit viel Anstrengung vom Manufaktur- ins Industriezeitalter überführt hatte. Wer könnte es ihm also verübeln, damals an etwas Ambitioniertem gearbeitet zu haben, das sich später als Irrweg herausgestellt hat.
Antriebsmoment: Farbphotographie
Aber der Reihe nach. Wenn man einmal rekapituliert, was die Amateurphotographie am meisten vorangebracht hat, dann war das meiner Ansicht nach der Rollfilm vor dem Ersten Weltkrieg, der Kleinbildfilm in der Zwischenkriegszeit und der Farbumkehrfilm ab den 1950er Jahren. Zwar waren »Kodachrome« und »Agfacolor neu« noch Entwicklungen aus der Mitte der 30er Jahre, doch erst nach dem Kriege konnten sich diese mehrschichtigen Farbverfahren so richtig beim Amateur durchsetzen. Billig war das Ganze aber dennoch nicht. Und weil sich der ziemlich geringempfindliche und zudem steil graduierte Umkehrfilm mit seinem geringen Belichtungsspielraum längst nicht für jedes Motiv eignete, begannen viele Amateure, zweigleisig zu fahren: Die „wertvollen“ und möglichst bunten Motive auf Farbumkehrfilm (für Diapositive), der Rest – zumal wenn mehrere Abzüge gemacht werden sollten – auf Schwarzweiß-Negativfilm. Farbnegativfilm und farbige Papierbilder waren zu jener Zeit in Ost wie West noch weitgehend unüblich. Das ganze lief dann darauf hinaus, daß anspruchsvolle Amateure oftmals mit zwei oder mehr Kameras um den Hals loszogen. Siegfried Böhm dürfte also nicht der einzige gewesen sein, der dieses Problemfeld erkannt hatte und über Lösungsmöglichkeiten grübelte.
Den Ansatz, den die Konstrukteure bei Zeiss Ikon gewählt hatten, habe ich oben bereits erwähnt: Eine Kleinbildreflexkamera mit Wechselmagazinen. Doch diese ambitionierte Pentax wäre selbst für den anspruchsvollen Amateur, der ja prinzipiell bereit ist, etwas mehr Geld in sein Hobby auszugeben, weit vom Budget entfernt gewesen. Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass wir uns noch in den ziemlich ärmlichen frühen 50er Jahren befinden. Heute, 70 Jahre später, wissen wir: Ein solcher Ansatz – Kleinbildkamera mit Wechselmagazin – hat sich auch später nicht am Markt durchsetzen können, obwohl es von verschiedenen Seiten noch mehrmals Versuche in diese Richtung gegeben hat. Allein im Mittelformat wurde ein solch kostenintensiver Aufwand geduldet. Die Idee, einfach eine Kleinbildkamera mit zwei Filmen zu bauen, war da schon deutlich marktorientierter. Böhm war auch nicht der erste, der solch eine Idee hatte. Er hatte nur das Problem, nicht hinter den Anfang der 50er Jahre erreichten Stand der Technik zurückfallen zu wollen. SEINE Zweifilmkamera mußte eine Einäugige Reflexkamera mit geradsichtigem Sucherbild sein. Drunter ging es nicht.
Grundbedingung: Reflexsucher
Zweifilm-Suchkameras sind schon in der Zwischenkriegszeit konstruiert worden. Wenig bekannt ist zum Beispiel, daß auch Karl Nüchterlein, der Konstrukteur der Exakta, ein Patent auf eine Zweifilmkamera hielt [DRP Nr. 707.146 vom 4. Juli 1939], die mit einer Spiegelumlenkung des Strahlengangs zwischen den beiden Filmen arbeitete. Auch von einem unabhängigen Chemnitzer Konstrukteur namens Curt Rauch gab es im Mai 1937 eine Patentanmeldung zu einer Vielzahl an Lösungsideen für eine solche Kamera, die aber alle nicht ausgereift waren. Der große Antrieb war damals das Aufkommen des Farbfilmes. Nach dem Kriege gab es in den USA ein Patent von Alex Pentland für eine kompakte Sucherkamera und von Fred Rundell für eine verkorkste Zweifilm-Meßsucherkamera mit Wechselobjektiven.
Siegfried Böhm und seine Konstrukteurskollegen hatten dagegen erkannt, daß man eine kompakte, vielseitig verwendbare und sehr präzise arbeitende Zweifilmkamera schaffen könne, wenn man das Grundprinzip der Praktica verwenden würde: Das heißt Reflexsucher und freizügig wechselbare Objektive vor einem Schlitzverschluß. Nicht von ungefähr wurde das gesamte Projekt intern als Zweifilm-Praktica bezeichnet. Die dafür gefundene Lösung wird sehr gut anhand der obigen Zeichnung aus dem DDR-Patent 15.827 vom 27. August 1953 deutlich. Herzstück ist ein zwischen den beiden Filmen untergebrachter Käfig, in dem der Reflexspiegel gelagert ist. Dieser Spiegel hat jedoch genau die umgekehrte Wirkung als es sonst bei Reflexkameras üblich ist. Denn für die Sucherbetrachtung klappt er aus dem Strahlengang, wodurch das vom Objektiv entworfene Bild auf die hinter dem Käfig liegende Bildfeldlinse fällt. Auf derselben optischen Achse liegt auch das Sucherokular, durch das die Mattscheibenabbildung vor der Aufnahme betrachtet und die Schärfe eingestellt werden kann. Damit das Bild aufrecht steht und seitenrichtig ist, bedurfte es einer speziellen Prismenbauform zwischen Bildfeldlinse und Okular.
Dieses Prisma hat dabei eine Form, wie sie in Feldstechern in Geradsichtbauweise verwendet werden. Es folgt dem Grundprinzip des Schmidt-Pechan-Prismas, das eine Parallelität zwischen Eintritt und Austritt des Lichtes ermöglicht. Charakteristisch ist der Luftspalt zwischen den beiden Glasteilen, der zunächst eine Totalreflexion des Lichtes im ersten Prisma bewirkt und erst nach weiterer zweimaliger Reflexion einen Durchgang des Lichtes an den zweiten Prismenteil ermöglicht, der seinerseits mit einer Bildumkehrenden Dachkante versehen ist. Daß diese komplexe Bauform gewählt wurde, geht lediglich aus dem Schweizerischen Patent Nr. 358.324 vom 7. Oktober 1957 hervor, wie sie bildlich dargestellt ist (s.o.).
Der Spiegel hat bei Böhms Zweifilmkamera die Aufgabe, das vom Objektiv kommende Bild nicht dem Sucher zuzuführen, sondern auf den jeweiligen Film zu lenken. Für die Aufnahme ist der Spiegel also heruntergeklappt. Je nachdem, wie der den Spiegel tragende Käfig gedreht ist, fällt dieses Bild dann entweder auf den Film oben oder unten. In dieser Konfiguration war die Zweifilmkamera noch mit zwei Schlitzverschlüssen vorgesehen, die jeweils vor den beiden Filmen liegen sollten und vom gleichen Zeitbildungswerk gesteuert werden sollten. Es lief aber jeweils nur der Verschluß ab, in dessen Richtung der Spiegelkäfig gedreht war. Letztere Funktion wurde allerdings erst mit dem Patent DD23.764 vom 30. August 1957 (Siegfried Böhm und Heinrich Skolaude, Abbildung oben) verwirklicht – also ziemlich genau vier Jahre später. Hier hat es also eine lange Entwicklungspause gegeben, die darauf schließen läßt, daß während der Konstruktion der Praktisix und der Praktina IIA die Arbeiten an der Zweifilmkamera zum erliegen gekommen waren. Vom zweiten Patent aus dem Jahre 1957 ist eine Zeichnung überliefert, die sehr eindrücklich den gedrängten Aufbau dieser Kamera mitsamt den zwei Schlitzverschlüssen zeigt. Hier war viel komplexe Mechanik auf engstem Raume vereinigt.
Aber nicht eng genug. Es existiert noch ein drittes Patent Nr. DD23.840 vom 21. Oktober 1957 zu diesem Thema, das Siegfried Böhm gemeinsam mit Rudolf Hainy erarbeitet hatte. Dieses Patent nennt gleich zwei große Schwächen der beiden obigen Lösungen: Erstens war die gesamte Anordnung zu kompliziert geworden und zweitens verschlang der drehbare Käfig als Halterung des Reflexspiegels zu viel Platz, weshalb die beiden Filme sehr weit auseinandergerückt werden mußten und der Lichtweg zwischen Objektiv und Filmebene zu lang wurde. Offenbar mußte dadurch die Schnittweite hinter dem Objektiv noch länger sein, als das ohnehin bei Einäugigen Reflexkameras vonnöten ist. Gelöst wurden diese Probleme mit zweierlei Maßnahmen. Erstens waren nun statt des drehbaren Käfigs ZWEI einzelne Spiegel vorhanden, die dem jeweiligen Filmfenster fest zugeordnet waren. Bei Sucherbildbetrachtung waren beide Spiegel aus dem Strahlengang geschwenkt. Für die Aufnahme wurde der jeweils benötigte Spiegel in die Reflexlage gebracht. Der andere deckte das nicht benutzte Bildfenster ab. Diese geschickte Idee ermöglichte die zweite Abänderung der Kamera, die den Mechanismus stark vereinfachte. Es war von nun an nur noch EIN EINZIGER Schlitzverschluß mit auf gemeinsamen Bändern angeordneten Vorhängen vorgesehen. Es bildeten sich daher immer ZWEI IDENTISCHE Belichtungsschlitze, von denen nur derjenige den zugehörigen Film belichtete, bei dem der Spiegel in die Reflexlage geklappt worden war. Die andere Belichtungsöffnung wurde durch den in der abdeckenden Lage verbliebenen Spiegel nicht wirksam. Da bei dieser Lösung mit zwei getrennten Spiegeln der voluminöse Käfig mit seinem großen Drehradius wegfiel, konnten die Filme und die Reflexspiegel näher an das Aufnahmeobjektiv heranrücken und damit das Anlagemaß wirksam auf normale Größenordnungen verkürzt werden.
Diese Kamera war damit weit durchkonstruiert. Die obige Patentzeichnung zeigt den gedrängten Aufbau mit den ineinander verschachtelten Filmpatronen und den auf einen einzigen Mechanismus beschränkten Schlitzverschluß. Das Bild von der Rückseite der "Zweifilm-Praktica" zeigt, daß dieser Mechanismus auch in einem zwar ungewöhnlich ausschauenden, aber durchaus nicht häßlichen Gehäuse unterzubringen gewesen ist. Zwei Transportknöpfe, zwei Rückspulknöpfe, zwei Bildzählwerke, zwei Auslöser aber nur ein Verschlußzeiten-Einstellknopf. Die Handhabung wäre aufgrund der ergonomischen Bauform durchaus nicht unbequem gewesen. In sofern sind die Ausführungen bei Jehmlich zu korrigieren, da er die bei ihm abgebildete Prototypkamera noch mit dem drehbaren Käfig in Verbindung bringt. Es existieren nach seinen Angaben auch Musterkameras mit Zentralverschluß. Außerdem gibt es noch zwei DDR-Patente mit den Nummern 21.522 und 21.588 vom Mai und Juni 1958, die Detaillösungen für einen Belichtungsmesser bzw. eine Belichtungsteuerung beinhalten, bei denen ja das Problem bestand, daß für beide Filme jeweils unterschiedliche Empfindlichkeitseinstellungen nötig gewesen wären. Dies sei hier aber nur erwähnt, weil sich das Projekt der Zweifilmkamera zu diesem Zeitpunkt offenbar schon nicht mehr im Stadium einer Produktentwicklung befand.
Endergebnis: Schublade
Die große Frage ist daher, weshalb dieses Produkt letztlich doch nicht herausgebracht wurde. Hätte sich eine derartige Zweifilmkamera wirklich gut verkaufen lassen? Wäre der Vorteil, vor jeder Aufnahme zwischen zwei Filmen wählen zu können, wirklich so ausschlaggebend gewesen, daß sich mehrere zehntausend Photoamateure tatsächlich solch eine Kamera zugelegt hätten? Wollten wirklich so viele Leute abwechselnd farbig und schwarzweiß oder mit zwei verschieden empfindlichen Emulsionen photographieren? Schon aus betriebswirtschaftlicher Sicht gibt es hier also ein großes Fragezeichen.
Gerhard Jehmlich liefert aber noch einen anderen wichtigen Hinweis, wieso diese Kamera nicht serienmäßig fabriziert worden ist – auch wenn ich der Auffassung bin, daß seine Begründung technisch falsch ist. Jehmlich meint, das Problem habe darin gelegen, daß, bedingt durch die Belichtung über Spiegel, EINES der beiden Bilder um 180° „verschieden“ gewesen sei und daher beim vergrößern hätte gedreht werden müssen [Jehmlich, Pentacon, 2009, S. 77f]. Wenn ich ihn recht verstehe, so meint er, einer der beiden Filmstreifen hätte kopfstehende Bilder aufzuweisen. Das stimmt zwar, ist aber völlig unerheblich. Filmstreifen aus einer Exakta Varex, bei der der Film ja von rechts nach links läuft, haben eine Bildlage, die genau andersherum ist, als die Filmstreifen aus den meisten anderen Kameras, wo der Film von links nach rechts transportiert wird. Solche „kopfstehenden“ Negative ergeben Abzüge, die einfach nur um 180° gedreht werden müssen. Das war also nicht das Problem dieser Zweifilmkamera. Aber dieses grundlegende Problem existierte, und es war auch ganz ähnlich gelagert. Dadurch, daß beide Filmstreifen über den Umweg eines Spiegels belichtet werden, sind nämlich alle Negative spiegelverkehrt im Vergleich zu üblichen Negativen. Das würde verlangen, den Negativstreifen im Labor nicht wie üblich mit der Schichtseite Richtung Vergrößerungsobjektiv einzulegen, sondern genau andersherum. Das hätte dazu geführt, daß eine Verarbeitung der mit dieser Kamera gewonnen Negative im Großlabor stets eine Sonderbehandlung erfordert hätte. Eine individuelle Kennzeichnung wäre unumgänglich gewesen. Aufwand und Fehlerquote wären dadurch beträchtlich angestiegen. Aber diese Kamera war ja nicht nur für den Inlandsmarkt gedacht gewesen. Es begab sich nämlich zu ebenjener Zeit, daß in westlichen Ländern gerade erste Laborautomaten aufkamen, bei denen alle Negative zu einem langen Band zusammengeklebt wurden, um dann hintereinander weg durch den „Printer“ zu laufen. Damit war die Idee zu einer solchen Zweifilmkamera gestorben, noch ehe aus den Prototypen ein fertiges Produkt hätte werden können.
Aber die Zeit der großen Experimente war nun ohnehin vorbei. Die DDR-Photoindustrie geriet in den späten 1950er Jahren in eine langwierige und aufreibende Phase der Konzentration und des Umbaus, die mit großen Rückschlägen überprägt war. Ab Frühjahr 1957 wurde dem VEB Kamera-Werke die Produktion der veralteten Spiegel-Contax aufgebürdet, die man nur notdürftig modernisieren konnte. Im Jahr darauf nahm man das von der Zeiss-Ikon-Entwicklungsabteilung zurückgelassene Projekt einer DDR-Contaflex wieder auf und paßte es an aktuelle Erfordernisse an, was in einem unheimlichen Aufwand ausartete. Auch eine Spiegelreflex-Schmalfilmkamera verschlang viel Entwicklungsaufwand und floppte anschließend. Bald schon waren nur noch die gut etablierten „Butter- und Brotkameras“ der Typen Praktica und Praktisix die einzigen hochwertigen Produkte, die der vereinigte Dresdner Kamerabau noch in verlässlichen Stückzahlen auf den internationalen Märkten absetzen konnte. Um hier weiterhin am Ball zu bleiben, konnte man es sich nicht leisten, die Zeit mit irgendwelchen Experimenten und individuellen Prestigeprojekten zu vertrödeln. Es mußten zeitgemäße Spiegelreflexkameras mit neuen Komfortmerkmalen geschaffen werden, und diese Kameras mußten zudem rationell in großen Stückzahlen zu fertigen sein. Und was letzteren Punkt betraf, tat sich sofort ein neues Betätigungsfeld für Siegfried Böhm auf. Die praktische Verwirklichung dieser rationellen Großserienfertigung am Fließband sollte zu seiner zweiten großen Lebensleistung werden.
Marco Kröger
letzte Änderung: 29. August 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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