Orestegor 4/300

Orestegor 4/300

In den 1960er Jahren verblüffte das Feinoptische Werk Görlitz geradezu, als es mit einem Reigen an Neuentwicklungen versuchte, eine internationale Spitzenstellung zu halten. Wer hätte gedacht, daß dieses kurz vor der Eingliederung in das Kombinat PENTACON erschienene 300er Orestegor bereits einen Schlußpunkt zu dieser Phase setzen würde.

Zur Herbstmesse 1967 waren zwei Herren von Görlitz nach Leipzig gekommen: Der Werbeleiter Herr Ewald und der Laborleiter Ing. Jochmann des Volkseigenen Betriebes Feinoptisches Werk. Sie stellen ihr neues Orestegor 4/300 mm Superteleobjektiv vor. Mit dieser Neukonstruktion sollte nach nur etwas mehr als 10 Jahren das eigentlich noch ziemlich "frische" Telemegor 4,5/300 bereits wieder abgelöst werden [Vgl. Fotografie 9/67].

Orestegor 4/300 mm

Das neue Orestegor 4/300 hatten zwar eine Fassung mit dem zeittypischen "Flachnutenrändel", dieses wurde aber in der Serienfertigung komplett schwarz lackiert, weshalb das Teleobjektiv nicht den üblichen "Zebra-Look" aufwies.

Ausschlaggebend für das Fallenlassen des bisherigen 300er Telemegors dürfte wohl das große Potential gewesen sein, das in Hubert Ulbrichs Entwicklungsarbeit zum Orestegor 4/200 steckte. Zum einen hatte es der Görlitzer Objektivkonstrukteur mit dem Aufspalten des vorderen, sammelnd wirkenden Systemteiles in zwei getrennte Elemente geschafft, die Bildfehlerberichtigung bei lichtstarken Teleobjektiven auf ein bislang nicht erreichtes Niveau anzuheben. Insbesondere die Farbquerabweichung, die schließlich proportional mit der Brennweite anwächst, und die demzufolge bei einem 300-mm-Objektiv gegenüber der Normaloptik in ihrem Ausmaß sechsfach erhöht wird, stellt ein großes Problem bei Fernobjektiven dar. Ungenügend auskorrigierte Exemplare zeigen dann die typischen regenbogenfarbigen Ränder vor allem an abrupten Übergängen zwischen hellen und dunklen Motivteilen. Ulbrich war es gelungen, mit seinem DDR-Patent Nr. 32.656 vom 2. Mai 1961 diese chromatische Vergrößerungsdifferenz auf unter ein Prozent der Objektivbrennweite zu drücken. Das war eine wichtige Voraussetzung, um auf Basis dieses 200-mm-Objektives eine Tele mit 300 mm Brennweite zu entwickeln.

Meyer Orestegor 4/300 scheme

Das Orestegor bzw. Pentacon 4/300 zeigt grundsätzlich denselben Aufbau wie das Orestegor 4/200, das vier Jahre zuvor herausgebracht und von Hubert Ulbrich unter der Nummer 32.656 am 2. Mai 1961 zum Patent angemeldet worden war.

Ulbrichs Orestegor-Patent brachte aber noch eine zweite wichtige Eigenschaft mit sich, die es gut für ein universelles Teleobjektiv geeignet machte: Die Schnittweite betrug lediglich 25 Prozent der Brennweite. Das bedeutet, beim Orestegor 4/300 lagen zwischen der hintersten Linse und der Bildebene nur etwa 75 mm Luftweg. Das war eine Grundvoraussetzung dafür, um ein solches in der Lichtstärke angehobenes Teleobjektiv überhaupt für die Verwendung an der Mittelformat-Spiegelreflexkamera Praktisix bzw. Pentacon Six gegeignet zu machen. Zwar hatten diese Kameras mit etwa 60 mm Durchmesser bereits einen sehr großen freien Durchlaß der Bajonettöffnung, aber das waren ja immer noch etwa 20 mm weniger als der Durchmesser des Bildkreises. Um das Bildformat möglichst gut bis in seine Ecken auszuleuchten, war es unabdinglich, die Rücklinse so nah wie möglich an die Bildebene heranzurücken und auf diese Weise die Vignettierung in den Griff zu bekommen. Da das Anlagemaß der Pentacon Six mit 74 mm fast exakt genau so groß wie die Schnittweite des Orestegors 4/300 war, schloß nun die hinterste Linse mit dem Adapter für die Pentacon Six beinah auf gleicher Höhe ab.

Vergleich Telemegor-Orestegor 300 mm

Der direkte Vergleich der Rückansicht des Telemegors 4,5/300 (links) mit dem Orestegor 4/300 (rechts) zeigt eindrucksvoll, wie sich die stark verkürzte Schnittweite bei der neuen Tele-Konstruktion in der Praxis auswirkte. Während die Rücklinse beim Telemegor tief in der Fassung liegt, schließt sie beim Orestegor beinah auf gleicher Höhe mit dem Praktisix-Bajonett ab. Damit war die Fassungsvignettierung erfolgreich gegen Null gedrückt worden eine Grundvoraussetzung, um die Lichtstärke auf 1:4,0 anheben zu können.

Orestegor 4/300 Adapter

Die wechselbaren Kameraanpassungen für Pentacon Six, Praktica M42, Exakta Außenbajonett und Praktina.

Daraus ergab sich der große Vorteil, daß das Orestegor 4/300 mm in dasselbe Wechseladaptersystem aufgenommen werden konnte, welches bereits zweieinhalb Jahre zuvor mit dem Orestegor 5,6/500 mm in den Markt eingeführt worden war. Das heißt, man hatte nun die Möglichkeit, bei Bedarf nicht nur zwischen verschiedenen Modellen an Kleinbild-Spiegelreflexkameras hin- und herwechseln, sondern dasselbe Objektiv auch wahlweise an einer Praktisix bzw. an der neuen Pentacon Six verwenden. Beim alten Telemegor 4,5/300 hätte man das Objektiv dazu jedes Mal neu kaufen müssen.

Pentacon 4/300 mm

Ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurde zwar auch beim Pentacon 4/300 das Kreuzrändel eingeführt, eine gleichzeitige Umstellung auf Mehrschichtvergütung fand aber nicht statt.

Orestegor 300 Praktina

Selbst für die Praktina-Kleinbildreflex wurde noch einige Zeit lang ein Wechseladapter geliefert, obwohl diese Kamera ja schon seit Frühjahr 1960 nicht mehr hergestellt wurde.

Orestegor 300 mm Preis

Mit Beginn der Auslieferung dieses neuen Orestegors 4/300 ab Ende des ersten Quartals 1968 war die Erneuerung der gesamten Teleobjektiv-Palette dieses Herstellers abgeschlossen worden. Man hatte ein modernes Teleobjektiv in einer robusten Metallfassung geschaffen, das nun nicht aufgrund dessen, daß es für das Mittelformat ausgelegt war, nenneswerte Schwächen bei der Nutzung an einer Kleinbildkamera zeigte. Freilich war es mit 516 Mark und 50 Pfennigen inklusive Anschluß für Pentacon Six oder Praktica nicht gerade billig für die damalige Zeit. Das konkurrierende Sonnar 4/300 von Zeiss Jena hatte zwar eine automatische Blende zu bieten, war aber je nach Anschluß über 300,- bzw. mit Praktica-Adapter gar über 400,- Mark teurer. Zwar konnte das Orestegor mit dem "Zebra-Sonnar" optisch nicht ganz mithalten, es war aber dennoch ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem alten Telemegor 4,5/300 mm.

Pentacon 4/300

Die zwei hier gezeigten Exemplare des Pentacon 4/300 wurden beide in den späten 80er Jahren gefertigt es trennten sie vielleicht nur wenige Monate voneinander. Doch noch kurz vor der Wende wurde bei diesem Objektiv die Fassung ein wenig modernisiert. Eine Mehrschichtvergütung gab es dennoch bis zum Schluß nicht. Interessant ist auch hier die späte Einführung eines neuen Nummernsystems, bei dem nun offenbar jeder Objektivtyp einzeln gezählt wurde, statt alle miteinander. [Bild unten: Paul Slabbers]

Pentacon 4/300 mm

Im Jahre 1976 arbeitete Roswitha Kaiser daran, Ulbrichs Orestegor-Konstruktion nachträglich für eine automatisch schließende Blende tauglich zu machen. Dazu mußte die gesamte Blendeneinheit deutlich weiter Richtung Bildebene verschoben werden, was große Schwierigkeiten in Bezug auf das Auskorrigieren der Bildfehler mit sich brachte. Diese sogar patentierte [DD126.323 vom 7. Juli 1976] Weiterentwicklung wurde 1979 aber nur an einem Pentacon auto 4/200 verwirklicht, nicht aber beim 300er Tele, obgleich im Patent ausdrücklich von einer Brennweite die Rede ist, deren Wert mindestens das Sechsfache der Formatdiagonale beträgt. So aber blieb es bei der mittlerweile nicht mehr zeitgemäßen Vorwahlblende. Der Grund dürfte auch darin gelegen haben, daß von Zeiss gerade ein neues MC-Sonnar 4/300 mm mit automatischer Springblende ausgeliefert wurde, das, anders als seine Bezeichnung suggeriert, kein Sonnar mehr war, sondern nun ebenfalls ein echter Teletyp.

Meyer-Optik 4/300

Obwohl in Dresden am 27. November 1990 die letzte Praktica-Kamera montiert worden war [Vgl. Jehmlich, Pentacon, 2009, S. 215.], versuchte man in Görlitz die Objektivfertigung zunächst noch weiter aufrechtzuerhalten. Aus dieser Phase stammen offenbar die wieder als "Meyer-Optik" gelabelten Pentacon-Objektive. Seltsam muten die mit 1.200.XXX aus der Luft gegriffen erscheinenden Seriennummern dieser Objektive an. Neu ist zudem das Anschlußstück für T2-Gewinde (unten links). [Beide Aufnahmen: Michael Dümmel]

4/300 T2-Adapter

Wie das Pentacon 2,8/29 und das Pentacon 2,8/135 so war übrigens auch das Pentacon 4/300 nach der Wende noch längere Zeit lieferbar, weil offenbar nach wie vor Neuware auf Lager lag. Es ist daher zusammen mit den anderen obengenannten originalen FOG-Konstruktionen im Juliheft des Jahres 1992 vom Fotomagazin getestet worden und erreichte mit einer Bildgütezahl von -2,1 bei offener Blende, -1,6 bei Blende 8 und einem Durchschnittswert von -1,85 ganz respektable Werte. Schließlich war die Konstruktion ja schon damals fast drei Jahrzehnte alt.

Test Pentacon 4/300 Fotomagazin 1992

Seine Stärken kann das Orestegor/Pentacon 4/300mm meines Erachtens erst so richtig im Mittelformat 6x6cm ausspielen. Teilt man dessen Bildkreis von netto 79,2mm durch denjenigen des Kleinbildes von 43,3mm, dann ergibt sich ein Formatfaktor von 1,83. Daraus folgt, daß das 300er an der Pentacon Six eine Bildwirkung hat, wie ein Kleinbildobjektiv von etwa 165mm Brennweite. Das ergibt eine Tiefenstaffelung des Raumes, die durchaus noch nicht unnatürlich wirkt, wie das obige Frauenbildnis von Žiga Četrtič, Ljubljana, unter Beweis stellt. Auch wenn es vom Bildaufbau vielleicht nicht völlig befriedigt – die abgeschnittenen Füße stören den Gesamteindruck – so scheint mir das Bild trotzdem einen sehr instruktiven Charakter zu haben. Wir haben es  zwar wie gesagt mit einer Tiefenwirkung einer 165mm Kleinbildbrennweite zu tun, aber natürlich bleiben 300mm Brennweite 300mm Brennweite – mitsamt den zugehörigen Schärfentiefenverhältnissen. Diese sorgen für eine hohe Freistellungswirkung, die dem Bild diese ungewöhnliche Plastizität verleiht.


Es kommt also nicht von ungefähr, wenn erfahrene Lichtbildner gerne lange Brennweiten einsetzen. Diese haben aber nur dann ihre Sinnhaftigkeit, wenn auch das Aufnahmeformat dementsprechend groß ist. Wird nämlich eine lange Brennweite an einem kleinen Format verwendet, dann kommt es aufgrund der unvermeidlichen Nachvergrößerung des Positivs – schließlich schaut man ja keine Abzüge an, die so groß wie eine Briefmarke sind – zu einer unerträglichen Verflachung der Perspektive, die Vorder-, Mittel- und Hintergrund regelrecht zusammenklatscht. Die alte Weisheit „lange Brennweite – großes Format – beste Bildplastik“ mag ein Grund dafür sein, weshalb das dahingehend als guter Kompromiß anzusehende Mittelformat trotz des haarsträubend veralteten Rollfilmes nie ganz ausgestorben ist und in letzter Zeit wieder eine regelrechte Renaissance zu erleben scheint. Und weil man in diesem Format mit der gebührenden Geduld und mit Bedacht photographiert, stört auch die behäbige Vorwahlblende  des Orestegors nur noch unwesentlich...

 Mit etwas Geschick (und etwas Glück) läßt sich das Pentacon 4/300 auch ohne Springblende und Autofokus in Motivgebieten einsetzen, wo es schnell gehen muß. Bild Nenad Dodić

Marco Kröger


letzte Änderung: 6. August 2023