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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Die Cardinare
Mit dem zeitweiligen Ausflug in das Gebiet der Wechselobjektive für Zentralverschluß-Kameras mußte bei Zeiss Jena um 1960 ein neuer Typ entwickelt werden.
Cardinar 2,8/85 mm
So sehr man auch über die vielen Zeiss-Neuerscheinungen ins Schwärmen geraten kann, die auf der Frühjahrsmesse 1960 präsentiert wurden, so wenig sollte man unter den Tisch fallen lassen, daß auch einiges an Entwicklungskapazität damals für Kameras aufgewendet wurde, die sich schon kurze Zeit später als totale Flops herausstellen sollten. Jenes Schicksal betrifft auch dieses wunderbare Zeissobjektiv. Es wurde für die Pentina geschaffen – eine Kleinbildspiegelreflexkamera mit Zentralverschluß. Diese Kamera ging noch auf ein Projekt der alten Zeiss Ikon zurück und hing nach der Zusammenlegung der Entwicklungsabteilungen wie ein Klotz am Bein der Kamerawerke Niedersedlitz bzw. der 1959 neu formierten Kamera- und Kinowerke Dresden. Mit viel Aufwand hatte man dort diese Kamera zuendeentwickelt und mit ebenso viel Aufwand hatten Meyer-Optik und Zeiss drei Wechselobjektive geschaffen. Diese mußten aufgrund des engen Durchlasses des Zentralverschlusses ganz spezielle Vorgaben erfüllen. Das Cardinar 2,8/85 mm mit Rechnungsabschlußdatum 20. August 1959 ist angesichts der zu überwindenden optischen Klippen ein wirklich hochwertiges Portraitobjektiv. Doch nur 3000 Stück ließen sich in fünf Jahren Bauzeit absetzen.
Ob sich damit überhaupt die Entwicklungskosten wieder einspielen ließen, möchte ich mal dahingestellt lassen. Geld verdient hat man damit jedenfalls nicht, und Devisen schon gar nicht. Mit den Objektiven für die Schmalfilmspiegelreflexkamera Pentaflex 8 lassen sich noch weitere Beispiele für solche Flops finden. Sie waren mit speziellen Anpassungen für einen speziellen Kameratyp geschaffen worden. Damit schied eine „Umnutzung“ an einem anderen System aus. Ich kann nur Vermuten, daß die Abteilung Photo des Zeisswerks in den 60er Jahren auf einigen Entwicklungskosten sitzengeblieben ist. Anhand der nachfolgenden Entscheidungen kann man zum Schluß kommen, daß von nun an mit spitzerem Bleistift gerechnet worden ist. Zum Beispiel wurde 1965 zwar das 135er Sonnar in der Lichtstärke auf 1:3,5 gesteigert, für das offenbar bereits im Niedergang befindliche Exaktabajonett blieb es aber bei der alten Lichtstärke von 1:4,0. Auch die Zahl der echten Neuentwicklungen ging nun in den 70er Jahren deutlich zurück.
Wie die Schnittzeichnung erkennen läßt, handelt es sich beim Cardinar 2,8/85 eigentlich um ein klassisches Sonnar. Dieser Typus wies gleich zwei Eigenschaften auf, die ihn für die Anwendung als längerbrennweitiges Zusatzobjektiv für eine Zentralverschluß-Spiegelreflexkamera besonders geeignet machte: Einmal weil sich aufgrund der inneren Brechkraftverteilung eine vergleichsweise kurze Schnittweite ergab, die es erlaubte, das gesamte optische System recht kurz zu bauen und die hinterste Linse so nah wie möglich an die Lamellen des Zentralverschlusses anzunähern, um Vignettierungen an diesem engen Durchlaß zu vermeiden. Zweitens sorgte das mittlere Glied des Sonnartypus mit seiner charakteristischen Formgebung für eine starke Einschnürung des Strahlenganges, die ebenfalls hilfreich dabei war, die Durchmesser der rückwärtigen Linsen klein zu halten und damit die Eignung für Zentralverschlüsse und Springblende überhaupt erst zu ermöglichen.
Auch wenn es sich eindeutig um einen Sonnartyp handelt, wurde der Begriff "SONNAR" jedoch ganz gezielt nicht verwendet, um den damals erbittert geführten Markenrechtsstreitigkeiten mit Zeiss Oberkochen aus dem Wege zu gehen. Daß mit "CARDINAR" exklusiv ein neuer Gattungsname kreiert worden war, deutet eigentlich darauf hin, daß Zeiss Jena mit diesen Neuentwicklungen dezidiert auf westliche Exportmärkte abzielte. Zumindest was dieses 85er Cardinar betrifft, wurden lukrative Export-Blütenträume aber bereits nach kurzer Zeit durch eine tiefe Ernüchterung eingeholt.
Cardinar 4/100 mm
Auf derselben Frühjahrsmesse 1960 wurde neben dem Cardinar 2,8/85 mm für die Pentina auch ein Cardinar 4/100 mm für die Werra vorgestellt. Dieses "Erscheinungsdatum" ist aber insofern ein wenig irreführend, da Egon Brauer bereits zur Herbstmesse 1957 zusammen mit der neuen Werra III von einem "neu errechnete[n] Typ 1:3,5, f = 100mm" berichtete [Vgl. Bild & Ton 10/57, S. 270]. Hierbei muß es sich aber um einen Prototypen gehandelt haben, denn das letztlich produzierte Cardinar hat als Abschlußdatum der Konstruktion den 14. Juni 1958. Im Messebericht der "Bild & Ton" vom März 1960 (also VOR der Messe) war noch von einem namenlosen Teleobjektiv die Rede. Offenbar zögerte man, die beiden neuen Teleobjektive 2,8/85 und 4/100 unter dem Markennamen "Sonnar" auf den Markt zu bringen, obwohl es sich durchaus um echte Sonnartypen handelte. Zeiss Jena war im damaligen Rechtsstreit mit Zeiss Oberkochen offenbar derart verunsichert, daß man begann, neue Objektivnamen zu kreieren.
Ein Cardinar 4/100 mm aus dem Jahre 1961 gegenüber einem Exemplar von 1968.
Interessant daran: Innherhalb dieses Zeitraumes hat es das Gütezeichen Q verloren. Das Gütezeichen 1 auf einem Jenaer Objektiv ist wiederum etwas Außergewöhnliches. Ein Jahr später wurde die Produktion eingestellt.
Besser informiert über die letztliche Namensgebung war aber der Schöpfer dieses Objektivs Erich Fincke, der zusammen mit seinem Kollegen Wolf Dannberg pünktlich zur Messe einen längeren Aufsatz zu "Neuen Zeiss-Foto-Objektiven aus Jena" in der "Fotografie" veröffentlichte [Heft 3/1960, S. 83f]. Dannberg stellte sein neues Flektogon 4/25 vor, Fincke seine Cardinare. Hier beschrieb Fincke die hauptsächlichen Konstruktionsprobleme, die bei diesen beiden Objektiven gelöst werden mußten, um sie dezidiert für den Einsatz an Zentralverschlußkameras einsatzfähig zu machen. Da sie ja nicht eingebaut, sondern als Wechselobjektive VOR den Verschluß gesetzt werden sollten, drehte sich die hauptsächliche Schwierigkeit um die Festlegung des sogenannten Blendenorts. Diese in diesem Zusammenhang stehenden Konstruktionsschwierigkeiten hat Fincke zusammen mit Prof. Zöllner in einer Patentschrift zum Cardinar 4/100 näher ausgeführt, die ich erst kürzlich aufgetan habe [DDR Nr. 23.651 vom 17. November 1958].
Um Vignettierungen zu vermeiden, mußte die Blende des langbrennweitigen Wechselobjektivs so nah wie möglich an die Verschlußlamellen herangeführt werden, genau so, wie man das vom fest in den Zentralverschluß eingebauten Objektiv kennt. Sonst würde schlicht keine gleichmäßige und gleichzeitige Belichtung des gesamten Bildfeldes erfolgen während der Zeit, in der sich die Lamellen des Verschlusses öffnen und wieder schließen. Dieses Verlegen der Blende weit nach hinten bei gleichzeitiger Verkürzung der Schnittweite, damit die Hinterlinse so nah wie möglich an den Verschluß rückt, waren die hauptsächlichen Konstruktionsprobleme, die Zöllner und Fincke zu lösen hatten. Erfüllt wurden diese Forderungen erfindungsgemäß dadurch, daß die Hinterlinse als dünnes, sammelnd wirkendes Element ausgeführt wurde, das so nah an den vorderen Objektivteil herangerückt wurde, daß der Luftraum zwischen den beiden Teilen nur 17% der Gesamtbrennweite des System betrug und zudem die gesamte Baulänge des Objektivs vom vorderen Linsenscheitel der Frontlinse bis zum hintersten der Hinterlinse kleiner ist als 57% der Gesamtbrennweite von 100 mm blieb. Dabei läßt das Patent für die besagte Hinterlinse ein Glas mit der für damalige Verhältnisse bemerkenswerten Brechzahl von n = 1,807 erkennen. Möglicherweise handelt es sich um das Schwerflint SF 6 des VEB Jenaer Glaswerk mit einer reziproken relativen Farbzerstreuung von 25,5.
Der Fassungsaufbau des Cardinar 4/100 für die Werra. Gut zu sehen, wie die Rücklinse regelrecht hinten aus der Objektivfassung herausschaut, damit sie tief in den Zentralverschluß eintauchen kann und nahe an den Öffnungssektoren zu liegen kommt.
Interessant ist, daß auch das Berechnungsbeispiel in der Patentschrift mit einem Öffnungsverhältnis von 1:3,5 angegeben ist. Das ist insofern von Bedeutung, als daß mir aufgefallen ist, daß sich bei fast allen Cardinaren für die Werra die Blende nicht vollständig öffnen läßt. Ich interpretiere das dahingehend, daß das maximale Öffnungsverhältnis mechanisch auf 1:4,0 begrenzt wurde, damit dieses Objektiv mit vollen Blendenstufen besser zur Belichtungsautomatik der Werra kompatibel war. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, daß ich ein einzelnes Exemplar dieses Cardinars besitze, bei dem sich die Blende tatsächlich vollständig öffnen läßt und auf diese Weise offenbar die volle Lichtstärke von 1:3,5 wirksam wird. Auch einer der Konstruktionsverantwortlichen für die Werra, Rolf Miller, schreibt in seinem Aufsatz "Die Bildleistung der Werra" [Fotografie Heft 4/1958, S.122ff] von einem Teleobjektiv 3,5/100mm.
Ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, daß das Cardinar eigentlich auf diese etwas höhere, aber "krumme" Lichtstärke 1:3,5 berechnet worden ist. Da die zwischenzeitlich herausgekommene Werra IV und später auch die Werra V aber mit einem Lichtwertverschluß arbeiteten, der nur volle oder halbe Stufen einzustellen erlaubte, waren Blendenwerte außerhalb dieser Normreihe nun recht problematisch geworden. Der auch heute noch oft anzutreffende maximale Öffnungswert 1:3,5 entstammt einer Blendenreihe, die längst nicht mehr gebräuchlich ist. Der rechnerisch exakte Blendenwert 3,564 ist dabei genau um ⅓ Belichtungsstufe lichtstärker als das Öffnungsverhältnis 1:4,0. Für die Werra III spielte diese Abweichung eine untergeordnete Rolle, aber sie stand im Widerspruch mit den gekuppelten Belichtungsmessern der anderen Modelle.
Links das übliche Öffnungsbild der Blende bei Einstellung auf 1:4, rechts das abweichende Bild bei einem nicht mechanisch begrenzten Einzelexemplar.
Von diesem gut auskorrigierten Fünflinser wurden zwischen 1959 und 1969 etwa 18.000 Stück hergestellt. Es kostete glatt 200,- Mark und war damit mehr als doppelt so teuer, wie das vergleichbare Telefogar 3,5/90 mm für die Altix.
Nachtrag vom 22. 12. 2018: Yves hat mittlerweile einen "Photo-Kino-Katalog", in dem alle möglichen Artikel aus diesem Industriezweig vom "Taschenstativ Ines" bis zum Kamerakran mit drei Tonnen Tragfähigkeit aufgelistet sind. Interessant ist nun ein Änderungsblatt zu diesem Katalog vom September 1959, mit dem eigentlich Irrtümer und Druckfehler berichtigt werden sollten. Hier wird nun schwarz auf weiß die Umbenennung des Objektivs 3,5/100 mm in das Cardinar 4/100 mm bestätigt mitsamt der Änderung seiner Lichtstärke.
Marco Kröger
Letzte Änderung: 30. Juli 2022
Yves Strobelt, Zwickau
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