zeissikonveb.de
Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Das Primoplan
Ein Ernostar-Typ aus Görlitz
Die Zwischenkriegszeit war eine Ära der bahnbrechenden phototechnischen Fortschritte. Von der Plattenkamera, die die über Jahrzehnte hinweg das Standardgerät dargestellt hatte, wollte nun kaum jemand noch etwas wissen. Zwar hatten die Rollfilme schon vor dem Ersten Weltkrieg den Amateurzweig belebt, doch den größten Anstoß für die nun stattfindende Umwälzung hatte die Kinematographie mit sich gebracht. Die Kinokamera verlangte nicht nur nach besonders lichtstarken Objektiven, sie ließ auch erstmals deren allgemeine Anwendung zu, da die Brennweiten durch das kleine Aufnahmeformat sehr kurz waren und daher stets eine ausreichend große Schärfentiefe gewährleistet blieb. Diese Bewegung weitete sich nun auf die Stillbildphotographie aus. Nachdem viele Kamerahersteller zunächst auf den A8-Rollfilm gesetzt hatten, setzten sich im Laufe der 30er Jahre Kameras durch, die mit dem 35 mm breiten Filmmaterial des Kinos arbeiteten. Damit war das Zeitalter der Kleinbildphotographie angebrochen. Und so wie die Kamerahersteller mit neuen Geräten auf den Markt drängten, so zogen die Objektivbauanstalten mit viel Kreativität auf dem Feld kurzbrennweitiger lichtstarker Anastigmate nach, um konkurrenzfähig zu bleiben.
1. Der Ursprung des Primoplan-Aufbaus bei Goerz
Solche lichtstarken Objektive zu entwickeln, bei denen die freie Eintrittsöffnung mindestens halb so groß wie die Brennweite sein sollte, stellte die Konstrukteure vor neue Herausforderungen. So mußte beispielsweise Sorge dafür getragen werden, daß der Kugelgestaltsfehler über das gesamte sichtbare Spektrum hinweg im Rahmen blieb, um bei voller Öffnung zu scharfen und kontrastreichen Bildern zu gelangen. Da aber – im Gegensatz beispielsweise zu Mikroskop-Objektiven – gleichzeitig ein möglichst großer Bildwinkel verlangt wurde, kamen weitere Erschwernisse hinzu: So vor allem die "sphärische Aberration der schiefen Büschel", wenn also bei großer Öffnung das Licht seitlich von der Achse einfällt. Dies hinterläßt Zerstreuungsfiguren, die der Fachmann wegen ihres Aussehens als Koma bezeichnet, und die das Bild außerhalb der Bildmitte völlig verderben können. Bei moderat lichtstarken Objektiven war die Koma stets einigermaßen behoben, wenn die sphärische Aberration gut korrigiert und die Sinusbedingung erfüllt wurde (also die von den Linsenzonen erzeugten Bilder auch alle dieselbe Größe aufwiesen). Sie kann auch bei lichtstärkeren Objektiven fast zum Verschwinden gebracht werden, wenn das Objektiv symmetrisch zu einer Mittelblende aufgebaut ist. Vor diesem technischen Hintergrund, der hier nur angedeutet werden kann, ist die prinzipielle Richtungsfrage zu verstehen, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg für die Konstrukteure anstand: Sollte man für ein lichtstarkes Objektiv auf den vielversprechenden, symmetrisch aufgebauten, aber gleichsam sehr komplexen Doppelgauß-Typ zurückgreifen, oder aber das gut beherrschbare Triplet-Objektiv weiterentwickeln? Diese Frage hat den Photo-Optikern in den 20er Jahren immense Probleme bereitet. Vor diesem Hintergrund hatten die gewagten Objektivschöpfungen für großen Eindruck gesorgt, die von der Dresdner Firma Heinrich Ernemann Aktiengesellschaft als Ernostar auf den Markt gebracht wurden, und die der junge Ludwig Bertele aus dem Taylor'schen Triplet herausentwickelt hatte.
Oben ist gewissermaßen die Grundbauform des Ernostar-Typs gezeigt, die Ludwig Bertele bereits im Oktober 1921 (!) entwickelt hatte (wobei das Patent in Deutschland nie erteilt wurde). Auf eine plankonvexe erste Sammellinse folgt eine meniskenhaft durchbogene zweite Sammellinse. Hinter der Blende steht eine bikonkave Zerstreuungslinse, der in einem großen Luftabstand eine bikonvexe Sammellinse folgt, die das System abschließt. Bertele hatte erkannt, daß der Strahlengang hinter der Zerstreuungslinse, der bisher stets divergent war, also auseinanderlief, konvergent gemacht werden müsse. Das war nur durch Anheben der Brechkraft des vorderen, sammelnd wirkenden Systemteiles möglich, was wiederum nur durch Aufspalten auf zwei sammelnde Einzellinsen möglich war. Der positive Nebeneffekt dieser Maßnahme lag darin, daß diese zweite Sammellinse Meniskenform annehmen konnte, was der Schlüssel zur guten sphärischen Korrektur dieses neuen Tripletabkömmlings war.
In seiner Grundbauform kann man das Ernostar also als ein Triplet ansehen, bei dem die vordere Sammellinse auf zwei positive Elemente aufgeteilt wurde, wobei die zweite der beiden Meniskenform bekam. Bertele hatte ein Ernostar 1:2,8 entwickelt, bei dem diese zweite sammelnde Komponente als ein Kittglied aus einer Sammel- und einer Zerstreuungslinse gebildet wurde, die miteinander verkittet waren. Im Deutschen Reich hatte dieses Ernostar 1:2,8 offenbar nie einen Patentschutz erteilt bekommen. Wir wissen nur noch durch eine erfolgreiche britische Patentschrift, daß die Anmeldung am 29. Juli 1924 erfolgt war.
Das Achsenschnittbild oben zeigt den Aufbau, der dem Ernostar 1:2,7 zugrunde lag. Diese Variante erreichte im Sommer 1924 eine ungewöhnlich gute Bildfehlerberichtigung. Es hatte sich gezeigt, daß die Ernostar-Grundform durch das Einfügen einer Kittfläche in der zweiten Sammellinse auf einen Bildwinkel über 50 Grad gebracht werden konnte, was erstmals alle Forderungen an ein Normalobjektiv erfüllte. Es sei erwähnt, daß ab Ende der 70er Jahre das Pentacon Prakticar 2,4/50 nach genau diesem Ansatz aufgebaut war - allerdings unter Einsatz hochbrechender Lanthankron-Gläser .
Es kann kaum ein Zweifel bestehen, daß sich das oben gezeigte Reichspatent Nr. 428.825 der Firma C. P. Goerz vom 13. Februar 1925 auf diesen Ernostar-Aufbau bezieht, ohne daß dies freilich explizit gesagt wird. Die Neuerung jedenfalls, die mit der obigen Erfindung begründet wurde, lag darin, daß ein Ausweg dafür gefunden werden sollte, daß bei für photographische Zwecke geforderten Bildwinkeln von etwa 40 Grad die Bildhelligkeit zum Rande sehr stark abnahm. Der Konstrukteur des obigen Objektivs hatte diesen Mangel dadurch behoben, daß er die zweite, sammelnde Komponente des objektseitigen Systemteiles wie bei beim Ernostar 1:2,7 aus zwei Linsen aufbaute, die im Unterschied zu Berteles Konstruktion jedoch eine Kittfläche bildeten, mit chromatisch überkorrigierend wirkte und die außerdem so durchbogen wurde, daß sie ihre hohle Seite der nachfolgenden bikonkaven Zerstreuungslinse zukehrte. Damit konnte Goerz erreichen, daß "konvergent auftreffende Strahlenbündel die Fläche mit kleinem Inzidenzwinkel passieren, und daß gleichzeitig dem dritten Systemteil in seinen Flächen so geringe Krümmungen gegeben werden, daß die Größe dieser Linse nicht beschränkt wird und ein größeres Bildfeld ausgeleuchtet werden kann." Es kam also darauf an, die Krümmungsradien dieser einzeln stehenden Zerstreuungslinse möglichst flach zu machen, um die hohe sphärische und sphärochromatische Korrektur des Ernostartyps aufrecht zu erhalten trotz Anhebung der Lichtstärke des Gesamtobjektivs und einer Vergrößerung dieser Zerstreuungslinse zum Zwecke einer besseren Randausleuchtung.
Diese Verortung des Primoplan-Aufbaus im Hause Goerz, die bislang völlig unbekannt war, stellt die Geschichte dieses Objektives noch einmal ein völlig anderes Licht. Sie wirft uns Photohistorikern nun vor allem deshalb tiefgreifende Fragen auf, weil unmittelbar nach Veröffentlichung des Patentes im Mai 1926 die finanziell schwer angeschlagene Goerz-AG zerschlagen und dem Zeiss-Ikon-Konglomerat einverleibt werden wird – also im Zeiss-Konzern aufgeht (oder vielmehr untergeht). Es stellen sich somit zwei wichtige Fragen: 1. Wer hat dieses Objektiv ursprünglich konstruiert. 2. Und wie landet es zehn Jahre später – als der Patentschutz also immer noch nicht abgelaufen war – ausgerechnet beim Zeiss-Konkurrenten Meyer in Görlitz?
Ein Teil der Antwort soll hier schon gegeben werden, noch bevor genauer auf das Meyer'sche Primoplan eingegangen wird. Paul Schäfter hat zwar das Primoplan für Meyer gerechnet, aber den Primoplan-Aufbau hat er nicht erfunden! Wie ein Vergleich mit dem ebenfalls in der Zeiss Objektivsammlung enthaltenen Datenblatt seiner Version zeigt, hat er es lediglich in der Lichtstärke angehoben und darauf ein Gebrauchsmuster zugesprochen bekommen. Deutlich ist erkennbar, wie die Glasabfolge Kron-Flint-Kron-Flint-Kron bei Goerz und bei Meyer dieselbe ist – die Verwandtschaft beider Objektive ist einfach nicht zu übersehen.
Vor diesem Hintergrund ist auch der oben im Datenblatt gegebene Verweis auf das französische Patent 803.679 vom 26. Juni 1935 interessant, in dem ein "Primoplan-Aufbau" beschrieben wird, bei dem die hintere Sammellinse ein Kittglied ist. Doch auch hier ist die Glasabfolge Kron-Flint-Kron-Flint-Kron und zusätzlich Flint. Dieses Objektiv ist also schon ein Jahr vor Schäfter zum Schutze angemeldet worden. Die Bezeichnung "Primoplan-Aufbau" ist daher nur im übertragenen Sinne anwendbar und gewissermaßen historisch falsch."Goerz-Aufbau" müßte es eigentlich heißen.
2. Vom Primolux zum Primoplan
Mittlerweile waren die 30er Jahre angebrochen. Die Kinofilmindustrie und der aufkommende Amateur-Schmalfilm hatten zwar im vorausgegangenen Jahrzehnt die Entwicklung von hochlichtstarken Objektiven initiiert, doch große Stückzahlen waren in diesem Sektor kaum erreichen. Dafür war das bewegte Bild stets zu sehr Nische. Diese Lage kippte aber vollständig, als ab etwa 1930 mit Leica & Co eine neue Art der Stillbildphotographie Einzug hielt. Während die Firma Leitz mit ihrem Hektor 1:1,9 [DRP 585.456 vom 7. Juni 1931] nur ein lichtstarkes Objekiv von auch für damalige Verhältnisse sehr bescheidener Bildleistung anzubieten hatte, setzten die Sonnare 1:2,0 und 1:1,5 neue Maßstäbe. Willy Merté reagierte mit dem Biotar 1:2,0, das einen für das Kleinbild nötigen Bildwinkel auszeichnete. Die heute fast vergessene Astro-Gesellschaft in Berlin versuchte mit dem Tachar und dem Tachon auf Zug aufzuspringen. Wirklich erfolgreich wurden jedoch nur die Firmen Rodenstock mit dem Heliogon und Schneider mit dem Xenon, da diese lichtstarken Normalobjektive von der Firma Kodak für die erfolgreiche Retina-Reihe eingesetzt wurden.
Und auf diesen Markt der lichtstarken Normalobjektive für Kleinbildkameras drängte nun auch die Optische Anstalt Hugo Meyer aus dem schlesischen Görlitz. Hier war nach zehn Jahren die Ära Paul Rudolphs zuende gegangen, der nun im hohen Alter mit der Plasmat-GmbH Berlin noch einmal eine Selbständigkeit im Kamerabau wagte. Da Paul Rudolph aus seinen Fehlern bei Zeiss gelernt hatte und die Plasmate offenbar nur per Lizenz von Meyer ausführen ließ, sah man sich in Görlitz nun gezwungen, Ersatz zu suchen. Diesen fand man in dem Diplom-Optiker Paul Schäfter, dessen Aufgabe darin lag, für Meyer qualitativ hochwertige, aber auch preislich konkurrenzfähige Objektive zu schaffen. Wie der obige Ausschnitt aus einem Bericht zur Frühjahrsmesse 1934 zeigt [aus: Leipziger Messe im Zeichen des wirtschaftlichen Aufstiegs; in: Das Atelier des Photographen, 1934, S. 80ff.], lag ein erster dahingehender Schritt in einem Primolux 1:1,9, von dessen genauen Aufbau leider nichts Näheres bekanntgegeben wurde.
Möglicherweise war dieses Primolux bereits identisch mit dem Primoplan, das seinerseits dann offiziell zur nächsten Frühjahrsmesse des Jahres 1935 herausgebracht wurde [Vgl. Was wir in Leipzig auf der Photomesse gesehen haben; in: Das Atelier des Photographen, 1935, S. 60f.]. Auch hierbei handelte es sich, wie die obige Meldung mitteilt, um ein Primoplan mit 5 cm Brennweite, das zunächst für die Leica und die Contax Sucherkamera vorgesehen war [aus: Photographische Rundschau, 1935, S. 55.]. Auch ein Einbau in einen Zentralverschluß war offenbar möglich. Die Lichtstärke lag wie beim Goerz-Patent bei 1:1,9.
Es wird wohl auch dieses Objektiv gewesen sein, das für die Kiné Exakta zur Verfügung gestellt wurde, unmittelbar nachdem diese auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1936 vorgestellt worden war. Die Dresdner Firma Ihagee Kamerawerk Steenbergen hatte schon seit vielen Jahren eine sehr enge Zusammenarbeit mit der Görlitzer Objektivbauanstalt gepflegt und zum Teil Meyer-Objektive unter eigenem Namen herausgebracht. Das Primoplan 1,9/5 cm war bereits auf ersten Prospekten als hochlichtstarkes Normalobjektiv für diese neuartige Einäugige Kleinbild-Spiegelreflexkamera zu sehen. Doch diese kurze Brennweite erwies sich für eine Reflexkamera als nicht gut geeignet. Die Rücklinse dieses für Sucherkameras konzipierten Objektives ragte ungünstig weit aus der hinteren Fassung heraus. Das Primoplan konnte in dieser Form nicht für die Exakta in Serie gehen.
Prototyp eines Primoplan 1,9/5 cm aus dem Jahre 1936. Da tatsächlich die hintere Fläche der letzten Linse den mechanischen Abschluß des Objektives bildete, konnte bereits ein einmaliges unachtsames Abstellen zu einer irreversiblen Beschädigung führen. Bilder: Garry Cullen.
3. Schäfters Primoplan 1:1,5
Unterdessen geschah das, was bislang zur Auffassung geführt hatte, daß Paul Schäfter der tatsächliche Schöpfer des Primoplan-Aufbaus gewesen ist. Unter der Nummer D.R.G.M. Nr. 1.387.593 wurde im Juni 1936 eine Anmeldung auf ein Gebrauchsmuster vorgenommen. Erst mit dem Wissen um das elf Jahre zuvor angemeldete Goerz-Patent ergibt sich jetzt eine Erklärung dafür, weshalb von vornherein nur ein Gebrauchsmuster angestrebt wurde statt eines Patentes. Schäfter war es gelungen, mit dem Einsatz deutlich höher brechender Gläser eine Anhebung der Lichtstärke des bewährten Aufbaues auf 1:1,5 zu erzielen.
Es handelte sich um für damalige Verhältnisse ausnehmend hochbrechende ("schwere") Glasarten. Die Brechzahlen liegen allesamt deutlich über 1,6. Für die Frontlinse kam das neue, sehr hochbrechende Schwerstkron SSK5 zum Einsatz. Auch das Schwerflint SF 12 in der Linse Nummer 2 war erst vor kurzem neu geschaffen und in den Glaskatalog aufgenommen worden. Auch die Linsen drei bis fünf bestanden mit dem Schwerkron SK 10, Schwerflint SF 8 und Schwerstkron SSK 2 aus sehr hochbrechenden Gläsern. Dieses Primoplan 1:1,5 war damit in Bezug auf den Materialeinsatz auf dem damals aktuellsten Stand.
Für dieses lichtstärkere Primoplan 1:1,5 sind oben einmal die Kurven der sphärischen Längsabweichung und der Abweichung von der Sinusbedingung (a), die der sagittalen und tangentialen Bildfeldkrümmung (b) sowie die der Verzeichnung (c) angegeben [Nach: Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 52.]. Da der Maßstab der Koordinatensysteme (bis auf die die Verzeichnung) derselbe ist, wie beim Biotar 1:1,4, kann man ohne weiteres einen Vergleich zwischen beiden Objektiven ziehen. Man wird unumwunden zugeben müssen, daß beim Biotar die Kurve für Kugelgestaltsfehler deutlich schlanker gemacht werden konnte als bei Schäfters Primoplan. Mertés Biotare lagen damals zweifellos fern ab jeglicher Konkurrenz.
Dieses Potential des Primoplans mit der vollen Lichtstärke bis 1:1,5 wurde allerdings in der Serienfertigung nur im Schmalfilmbereich vollkommen ausgenutzt, wo beispielsweise beim 16-mm-Film die Normalbrennweite von 25 mm etwa doppelt so lang ist wie die Bilddiagonale. Dadurch beträgt die Bildwinkelausnutzung also nur etwa 28 Grad. Da die Schwierigkeiten bei sehr lichtstarken Systemen stark anwachsen, die Korrektur des Astigmatismus und der Koma für weite Bildwinkel durchzuführen, war diese Beschränkung beim Schmalfilmobjektiv sehr förderlich.
Doch wie das unten gezeigte Exemplar belegt, wurde auch für die Anwendung an Kleinbild-Spiegelreflexkameras ein Primoplan mit der vollen Lichtstärke von 1:1,5 geschaffen. Dieses Objektiv, von dem sich freilich keine größere Serienfertigung nachweisen läßt, besaß die längere Brennweite von 58 mm, die auch das bekannte, in großen Stückzahlen gefertigte Primoplan 1,9/58 mm hatte. Nur mit dieser Maßnahme waren mit den damaligen Mitteln die mechanischen Anforderungen der Spiegelreflexkamera erfüllbar. Und da diese verlängerte Brennweite im Gegenzug einen verringerten Bildwinkel von etwa 40 bedeutete, kam dies gleichsam der Bildqualität zu Gute.
Bei diesem Primoplan 1,5/58 mm, das entweder ein Prototyp ist, oder aber aus einer Kleinserie stammt, wurde das im Gebrauchsmuster geschützte volle Lichtstärke-Potential des Primoplans ausgenutzt. Unbekannt ist, aus welcher Zeit das Objektiv stammt. Die Angabe der Brennweite in Millimeter wäre für die 30er Jahre untypisch, aber nicht völlig ausgeschlossen. Bilder: Garry Cullen
4. Das Primoplan 1,9/5,8 cm
Eine Brennweite von den üblichen 50 mm auch für die Spiegelreflexkamera zu gewährleisten, hätte verlangt, die Schnittweite des Primoplans anzuheben, was mit diesem Aufbau jedoch nicht möglich war. Vor demselben Problem stand schließlich auch das Rechenbüro Willy Mertés in Jena, das sich genötigt sah, die Brennweite seines im Oktober 1936 für die neue Kiné-Exakta geschaffenen Biotars auf diese ziemlich langen 5,8 cm festzusetzen. Diesen Schritt ging man zur selben Zeit auch in Görlitz. Das heute bekannte Primoplan 1,9/5,8 wurde auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1937 zusammen mit einer Reihe weiterer Meyer'scher Normal- und Wechselobjektive für die Exakta herausgebracht [Vgl. Photographische Industrie, 3/1937, S. 357.]. Mit diesem lichtstarken Primoplan und dem hauseigenen Tessartyp "Primotar 3,5/5,4 cm" war die Firma Hugo Meyer in Görlitz nun endgültig zu einem ernsthaften Konkurrenten für Zeiss Jena emporgestiegen.
Als Ernostar-Typ konnte das Primoplan trotz des vergleichsweise einfachen Aufbaus aus lediglich fünf Linsen eine bemerkenswerte Abbildungsqualität erzielen. Erst in den späten 1950er Jahren konnte dies mit den neu geschaffenen Lanthan-Krongläsern überboten werden, wobei man auch im Görlitz zum sechslinsigen Doppel-Gauß hinüber wechselte und die Triplet-Konstruktion damit ad Acta legte.
Doch zunächst war dieses Primoplan ein großer Forstschritt für Meyer-Optik, weil es die Görlitzer Firma wieder in die erste Riege der Objektivbauer gebracht hatte. Insbesondere beim mächtigen Zeiss-Konzern muß dies mit großer Aufmerksamkeit beobachtet worden sein. Immerhin hatte Zeiss noch zehn Jahre zuvor nicht nur die Firma Goerz, sondern auch den damals als sehr ernsthaft angesehenen Konkurrenten Ernemann ausgeschaltet hatte, indem man sich über die Deutschen Bank Insiderinformationen über dessen prekäre Finanzlage hatte zuspielen lassen. Hinter dem Rücken der Firmeninhaber hatte Jena Ernemann quasi bereits eingekauft, als man vordergründig noch so tat, als verhandele man auf Augenhöhe. Mit der Integration der Ernemannwerke in die neue Zeiss Ikon AG – und damit in den Zeiss-Konzern – hatte Jena einen großen Teil des deutschen Objektivbaus monopolisiert. Mit Meyer-Optik wuchs nun binnen kurzer Zeit wieder ein Konkurrent heran, der hohe Qualität zu günstigeren Preisen lieferte. Und mit dem Erscheinen der Kleinbildkameras taten sich nun im Wettbewerb neue Marktlücken auf, die Meyer-Optik binnen kürzester Frist auszufüllen wußte. Diesem Primoplan 1,9/5,8 cm liegt also eine historische Brisanz inne, die man ihm auf den ersten Blick gar nicht zutrauen würde.
Eine wirkliche Marktbedeutung erlangte dieses Primoplan allerdings erst nach 1945. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem allmählichen Wiederaufbau der Photoindustrie begann im vormaligen Mitteldeutschland der Siegeszug der Einäugigen Kleinbildspiegelreflexkamera. Forciert durch die Sowjetische Besatzungsmacht wurden Vorkriegsmodelle wie die Exakta und die Praktiflex weitergebaut, oder Neukonstruktionen wie die Spiegelcontax herausgebracht. Für diese hochwertigen, sehr exportträchtigen Kameras wurden sogleich auch wieder leistungsstarke Objektivausstattungen benötigt. So wurde auch das Primoplan Schäfters frühzeitig wieder fabriziert, da sich mit lichtstarken Objektiven auch die Exportchancen verbesserten. Insbesondere in den USA, wo sich während des Krieges ein großer Nachfragestau aufgehäuft hatte, der jetzt abgebaut werden wollte, waren die Absatzmöglichkeiten hochwertiger Photogeräte anfänglich besonders groß.
Zwei Exemplare des Primoplan 1,9/58 aus der Nachkriegszeit, als aufgrund der großen Nachfrage nach Spiegelreflexkameras aus Dresden die produzierten Mengen dieses Objektives auf einmal stark erhöht werden mußten. Oben sieht man die Fassung mit der sogenannten Normalblende, unten mit der Einrichtung für Blendenvorwahl, die ein bequemeres Arbeiten ermöglichen sollte
Im Laufe der 50er Jahre war das Primoplan 1,9/58 mm dann immer öfter im Inlandshandel der DDR anzutreffen. Es war ehrlich gesagt nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Anders als sein Zeitgenosse, das Biotar 2/58, wurde das Primoplan nicht mit einer Springblende ausgerüstet. Grund dafür könnte ein merklicher Hang zur sogenannten Blendendifferenz gewesen sein. Restbeträge von sphärischer Aberration sorgen dafür, daß die "Stelle der kleinsten Einschnürung" entlang eines charakteristischen Lichtschlauches ("Kaustik") wandert, wenn man abblendet und damit das Ausmaß dieses Kugelgestaltsfehlers verringert. Das führt schlichtweg dazu, daß die Punkte der größten Schärfe bei offener Blende und abgeblendet jeweils nicht an derselben Stelle liegen, was bei Objektiven mit Blendenautomatik besonders ungünstig ist.
Das Primoplan 1,9/58 mm dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit im Jahre 1956 ausgelaufen sein. Zur Frühjahrsmesse 1956 war die Praktica FX2 erschienen, die in der Serienfertigung mit einem Mechanismus für die Druck- bzw. Springblendenautomatik ausgestattet wurde. Zur Herbstmesse 1956 erhielt auch die Contax F einen dazu kompatiblen Auslöser im Inneren des Spiegelkastens. Das führte dazu, daß Restexemplare des Vorgängermodells Praktica FX nunmehr mit Restexemplaren des Primoplans zu sehr günstigen Preisen abverkauft wurden. Kostete die Praktica FX mit Primoplan 1955 noch 558,19 Mark, so waren es im Sommer 1956 nur noch 329,- Mark.
Es dauerte nun ein Weilchen, bis der Görlitzer Objektivhersteller auf diesen Technologiesprung adäquat reagieren konnte. Zunächst mußten eigene Lösungen für eine Blendenautomatik erarbeitet werden. In dieser Hinsicht ist das Feinoptische Werk Görlitz meiner Einschätzung nach überrumpelt worden. Die halbautomatische Springblende war offenbar von Zeiss Ikon in verdeckter Kooperation mit Zeiss Jena initiiert worden [DDR-Patent Nr. 10752 vom 3. Mai 1952]. Eine Umsetzung war aber angesichts der unübersehbaren Lähmung des VEB Zeiss Ikon Mitte der 50er Jahre zunächst unterblieben. Dieser Knoten wurde nun aber rasch durchschlagen, als im Laufe des Jahres 1956 der VEB Kamerawerke Niedersedlitz das Ruder übernahm. Die Niedersedlitzer bauten die Halbautomatische Springblende mit Innenauslösung nämlich bereits seit 1954 in ihre Praktina FX ein. Die Lösung, die nun für den M42-Anschluß gefunden wurde, war der Springblende der Praktina sehr ähnlich, und wurde offenbar wiederum eng mit Jena zusammen erarbeitet [DDR-Patent Nr. 18.920 vom 30. März 1956].
Durch diesen umfassenden Patentschutz war man in Görlitz gezwungen, sich eine eigene Lösung auszudenken, die aber mit dem kameraeigenen Mechanismus kompatibel sein mußte. Ergebnis war der bekannte Druckblendenmechanismus, der kein vorheriges Spannen der Springblende wie bei den Zeissobjektiven erforderte. Schon im August 1956 gab es dahingehende Schutzrechtsanmeldungen, die ihren erstmaligen Einsatz im Primotar E fanden, das auf der Frühjahrsmesse 1957 vorgestelt wurde. Mit einer Lichtstärke von 1:3,5 fand dieser Tessartyp trotz seiner hervorragenden Bildqualität jedoch leider nicht besonders großen Anklang. Es bedurfte also auch im optischen Bereich großer Anstrengungen, um wieder zu einem lichtstarken Spitzenobjektiv zu gelangen. Zwar wurde bereits im November 1958 ein Objektiv zum Schutze angemeldet, aus dem dann später das kurzlebige Domiron 2/50mm werden sollte, aber die angegebenen Konstruktionsdaten zeigen, daß für dieses Domiron neuentwickelte Schwerkrone nötig waren, die Jena offenbar nur sehr widerwillig bereitstellte. Es dauerte dadurch schließlich noch bis in das Jahr 1965, bis Görlitz mit dem neuen Oreston 1,8/50 endlich wieder ein lichtstarkes Normalobjektiv herstellte, das an die Tradition des Primoplan aus dem Jahre 1936 anknüpfen konnte.
5. Das Primoplan 1,9/75 mm
Bei Zeiss hatte man sich im Jahre 1938 daran gewagt, das volle Potential des Merté'schen Biotars auszunutzen und die Lichtstärke auf 1: 1,5 anzuheben. Durch die noch kürzere Schnittweite dieser Variante mußte aber die Brennweite auf 75 mm angehoben werden, was gleichzeitig der Bildleistung in den Randbereichen des Bildes zugute kam, weil der Bildwinkel weniger stark beansprucht werden mußte. Dieses Biotar 1,5/7,5 cm ging an die Grenzen des damals Machbaren; geriet dadurch allerdings auch zu den teuersten Objektiven seiner Zeit. Sehr geschätzt wurde aber die Bildwirkung der leicht angehobenen Brennweite, die beispielsweise bei Portraitarbeiten perspektivisch bedingte Verzerrungen des Motivs vermied.
Um auch ein solches Portraitobjektiv im Angebot zu haben, errechnete Schäfter für Meyer-Optik ein Primoplan, dessen Brennweite er auf 75 mm verlängerte, ohne jedoch wie beim Biotar die Lichtstärke anzuheben. Das ergab ein deutlich kompakteres und im direkten Vergleich auch preiswerteres Portrait-Objektiv. Eine Preisliste mit Stand vom 4. Juni 1956 belegt, daß das 75er Primoplan auch längere Zeit nach dem Kriege noch lieferbar war, und zwar zu einem Preise von 224,- Mark. Damit kostete es weniger als die Hälfte des exklusiven 75er Biotars. Es wurde aber offensichtlich gar nicht mehr so lange gefertigt. Schon im Katalog von 1954 ist es nicht mehr enthalten und befand sich daher 1956 sicherlich bereits im Abverkauf.
Hier sieht man die ausgezeichnete Freistellungswirkung des Primoplan 1,9/75mm bei offener Blende und bei Abblendung auf einen Wert zwischen 5,6 und 8. Aufgenommen mit der unten gezeigten Kombination aus den frühen 1950er Jahren.
Oben: Das Meyer Primoplan 1,5/2,5 cm bei voller Öffnung der Blende. Bild: Toby Marshall
Das Meyer Primoplan 1,9/58 mm bei offener Blende und abgeblendet auf 1:4. Praktica LTL2, Fuji Pro 400 H. Oben als Animation zum direkten vergleich, unten noch einmal in größerer Auflösung.
Oben sieht man einen echten Härtetest für das Primoplan. Mit einer umgebauten digitalen Kompaktkamera, wie sie unten gezeigt ist, wurde nur ein winziger Teil des Bildfeldes des Primoplans aufgenommen. Dieser ist nämlich nur etwa 4,6 x 6,2 mm groß, was einem Dreißigstel der Bildfläche des normalen Kleinbildes entspricht. Diese kleine Fläche wird aber mit 14 Megapixeln aufgelöst. Diese Apparatur ermöglicht also eine sehr tiefgreifende Analyse der Abbildungsleistung eines Objektives in der Bildmitte. Ich habe schon etliche Objektive auf diese Weise geprüft und bin erstaunt, wie gut dieses historische Objektiv hierbei abschneidet. Freilich ist das Bild bei offener Blende verwaschen, aber gerade solch auffällige Bildfehler wie die Farbquerabweichung sind kaum auszumachen. Auch die oben angesprochene Blendendifferenz dürfte in der Praxis wohl kaum eine Rolle gespielt haben. Bei Blende 5,6 wird eine sehr gute Leistung erzielt. Mehr zu diesem Testverfahren findet sich hier.
Marco Kröger
letzte Änderung: 22. September 2024
Yves Strobelt, Zwickau
zeissikonveb@web.de
Wir bitten, von Reparaturanfragen abzusehen!