Primoplan

Das Primoplan

Meyer-Optik Görlitz

Meyer Primoplan 58 mm f/1.9

Die Zwischenkriegszeit war eine Ära der bahnbrechenden phototechnischen Fortschritte. Von der Plattenkamera, die die über Jahrzehnte hinweg das Standardgerät dargestellt hatte, wollte nun kaum jemand noch etwas wissen. Zwar hatten die Rollfilme schon vor dem Ersten Weltkrieg den Amateurzweig belebt, doch den größten Anstoß für die nun stattfindende Umwälzung hatte die Kinematographie mit sich gebracht. Die Kinokamera verlangte nicht nur nach besonders lichtstarken Objektiven, sie ließ auch erstmals deren allgemeine Anwendung zu, da die Brennweiten durch das kleine Aufnahmeformat sehr kurz waren und daher stets eine ausreichend große Schärfentiefe gewährleistet blieb. Diese Bewegung weitete sich nun auf die Stillbildphotographie aus. Hatte man zu Beginn der 20er Jahre meist noch auf Kameras mit kleineren Plattenformaten gesetzt, weil die Planlage der Rollfilme als zu unzuverlässig eingeschätzt wurde, so hatte man sich in der zweiten Hälfte der 20er Jahre dazu durchgerungen, Kameras zu entwickeln, die gleich mit dem 35 mm breiten Filmmaterial des Kinos arbeiteten. Damit war das Zeitalter der Kleinbildphotographie angebrochen. Und so wie die Kamerahersteller nun mit neuen Gerätekonstruktionen zu experimentieren begannen, so sehr zeigten auch die Objektivbauanstalten viel Kreativität auf dem Feld kurzbrennweitiger lichtstarker Anastigmate.

Vom Primolux zum Primoplan

Primolux 1:1,9 1934

Im Zeiss-Konzern beispielsweise konkurrierte das Rechenbüro Willy Mertés in Jena mit demjenigen Ludwig Berteles in Dresden. Gleichzeitig wetteiferte Tronnier bei Schneider gegen Merté um den lichtstarken Doppelgauß. Heute fast vergessene Firmen wie Rietzschel mit ihrem Prolinear und die Astro-Gesellschaft mit dem Tachar setzten Maßstäbe. Und zu diesen Pionieren unter den hochlichtstarken Objektiven ist eben auch die Optische Anstalt Hugo Meyer aus dem schlesischen Görlitz zu zählen. Hier war offenbar nach zehn Jahren die Ära Paul Rudolphs zuendegegangen, der nun im hohen Alter mit der Plasmat-GmbH Berlin noch einmal eine Selbständigkeit im Kamerabau wagte. Da Paul Rudolph aus seinen Fehlern bei Zeiss gelernt hatte und die Plasmate nur per Lizenz von Meyer ausführen ließ, sah man sich in Görlitz nun gezwungen, Ersatz zu suchen. Diesen fand man mit Paul Schäfter, dessen Aufgabe darin lag, für die zwar fortschrittlichen, aber für ihre Zeit viel zu aufwendigen Plasmate Rudolphs lizenzfreie Eigenentwicklungen zu berechnen. Wie der obige Ausschnitt aus einem Bericht zur Frühjahrsmesse 1934 zeigt [aus: Leipziger Messe im Zeichen des wirtschaftlichen Aufstiegs; in: Das Atelier des Photographen, 1934, S. 80ff.], lag ein erster dahingehender Schritt in einem Primolux 1:1,9, von dessen genauen Aufbau leider nichts Näheres bekanntgegeben wurde.

Primoplan Photographische Rundschau 1935

Möglicherweise war dieses Primolux bereits identisch mit dem Primoplan, das seinerseits dann offiziell zur nächsten Frühjahrsmesse des Jahres 1935 herausgebracht wurde [Vgl. Was wir in Leipzig auf der Photomesse gesehen haben; in: Das Atelier des Photographen, 1935, S. 60f.]. Wohlgemerkt handelte es sich, wie die obige Meldung mitteilt, um ein Primoplan 1:1,9 mit 5 cm Brennweite, das zunächst für die Leica und die Contax Sucherkamera vorgesehen war [aus: Photographische Rundschau, 1935, S. 55.]. Auch ein Einbau in einen Zentralverschluß war offenbar möglich. Im Gegensatz zu Rudolphs Plasmaten, den Biotaren und Xenonen basierte dieses Primoplan aber nicht auf Gaußtypabwandlungen auf, sondern waren erweiterte Triplets.

Kiné-Exakta mit Primoplan 1936

Während Meyer-Optik in Bezug auf Kameras wie der Leica und der Contax nach heutiger Diktion als Drittanbieter fungierte, bei dem erst auf Ebene des Handels Kameragehäuse und Objektiv des Fremdanbieters miteinander vereint wurden, scheint die Dresdner Firma Ihagee Kamerawerk Steenbergen schon seit vielen Jahren eine sehr enge Zusammenarbeit mit der Görlitzer Objektivbauanstalt betrieben zu haben. So wurden beispielsweise Trioplane für die Rollfilm- und Plattenkameras des Steenbergen-Werks schon aber Werk als "Ihagee-Anastigmat Trioplan" graviert. Diese enge Zusammenarbeit fand auch ihre Fortsetzung, als zur Leipziger Frühjahrsmesse 1936 die Kiné Exakta vorgestellt wurde. Und das das Primoplan 1,9/5 cm war bereits auf ersten Prospekten als hochlichtstarkes Normalobjektiv für diese neuartige Einäugige Kleinbild-Spiegelreflexkamera zu sehen. Doch eine derart kurze Brennweite erwies sich für eine Reflexkamera als nicht gut geeignet. Der Klappspiegel der Kamera verlangte einen entsprechend weit von der Bildebene entfernten Objektivanschluß. Daraus ergab sich das Problem, daß die Rücklinse des Objektives ungünstig weit aus der hinteren Fassung herausragte.

Primoplan 1,9/5cm

Prototyp eines Primoplan 1,9/5 cm aus dem Jahre 1936. Da tatsächlich die hintere Fläche der letzten Linse den mechanischen Abschluß des Objektives bildete, konnte bereits ein einmaliges unachtsames Abstellen zu einer irreversiblen Beschädigung führen. Bilder: Garry Cullen.

Meyer Primoplan 5cm

Primoplan 5,8 cm für die Reflekamera

Mit einem derart verletzlichen Objektiv konnte man in Görlitz natürlich nicht in die Serienfertigung gehen. Weil sich aber die Schnittweite nicht ohne weiteres ließ, um den hinteren Luftzwischenraum bis zur Brennebene zu vergrößern, mußte ein anderer Weg beschritten werden, um das lichtstarke Normalobjektiv besser an die mechanischen Erfordernisse der Spiegelreflex anpassen zu können. Vor demselben Problem stand zu jener Zeit übrigens auch das Rechenbüro Willy Mertés in Jena, das sich genötigt sah, die Brennweite seines Biotars auf ungewöhnlich lange 5,8 cm anzuheben, um zu einer ausreichend großen Schnittweite zu gelangen. Diesen Schritt ging man nun auch in Görlitz. Im Zuge der Frühjahrsmesse 1937 wurde nun dezidiert für die Exakta ein Primoplan 1,9/5,8 (zusammen mit einer Reihe weiterer Meyer'scher Normal- und Wechselobjektive) herausgebracht [Vgl. Photographische Industrie, 3/1937, S. 357.]. Mit diesem lichtstarken Primoplan und dem hauseigenen Tessartyp "Primotar 3,5/5,4 cm" (das zudem unter dem Markenzeichen "Exaktar" quasi das heutzutage übliche "Original Equipment Manufacturing" vorwegnahm), war Hugo Meyer in Görlitz nun endgültig zu einem ernsthaften Konkurrenten für Zeiss Jena emporgestiegen.

Gebrauchsmuster Meyer Primoplan 1936

Erst etwa anderthalb Jahre nach dem Erscheinen des  Primoplans wurde im Juni 1936 eine Gebrauchsmusteranmeldung [D.R.G.M. Nr. 1.387.593] vorgenommen. Darin fallen die für damalige Verhältnisse ausnehmend hochbrechenden ("schweren") Glassorten auf. Die Brechzahlen liegen allesamt deutlich über 1,6. Für die Linsen 1 bis 5 scheinen folgende Glasarten aus dem Angebot des Schott'schen Glaswerkes zur Anwendung gekommen zu sein: Schwerstkron SSK 5, Schwerflint SF 12, Schwerkron SK 10, Schwerflint SF 8 und Schwerstkron SSK 2. Im Unterschied zu den bisher auf den Markt gekommenen Primoplanen ist dieses Gebrauchsmuster jedoch auf eine Lichtstärke von 1:1,5 hin ausgekegt.

Meyer Primoplan 1,5/2,5cm

Dieses Potential des Primoplans mit der vollen Lichtstärken bis 1:1,5 wurde allerdings in der Praxis nur im Schmalfilmbereich vollkommen ausgenutzt, wo beispielsweise beim 16 mm Film die Normalbrennweite von 25 mm etwa doppelt so lang ist wie die Bilddiagonale. Dadurch beträgt die Bildwinkelausnutzung also nur etwa 28 Grad. Da die Schwierigkeiten bei sehr lichtstarken Systemen stark anwachsen, die Korrektur des Astigmatismus und der Koma für weite Bildwinkel durchzuführen, war diese Beschränkung beim Schmalfilmobjektiv sehr förderlich. Bei einem Normalobjektiv für das Kleinbild hätten dagegen Bildwinkel deutlich über 40 Grad gewährleistet werden müssen, weshalb hier die Öffnung auf 1:1,9 beschränkt blieb.

Meyer Primoplan 1,5/2,5 cm

Für die volle Lichtstärke 1:1,5 sind unten einmal die Kurven der sphärischen Längsabweichung und der Abweichung von der Sinusbedingung (a), die der sagittalen und tangentialen Bildfeldkrümmung (b) sowie die der Verzeichnung (c) angegeben [Nach: Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 52.]. Da der Maßstab der Koordinatensysteme (bis auf die die Verzeichnung) derselbe ist, wie beim Biotar 1:1,4, kann man ohne weiteres einen Vergleich zwischen beiden Objektiven ziehen. Man wird unumwunden zugeben müssen, daß beim Biotar die Kurve für Kugelgestaltsfehler deutlich schlanker gemacht werden konnte als bei Schäfters Primoplan.

Primoplan Korrektionszustand

Da jedoch beim Kleinbild-Primoplan 5 cm bzw. 5,8 cm die Lichtstärke auf 1:1,9 beschränkt wurde, fallen diese Unterscheide in den Aberrartionskurven in der Praxis kaum ins Gewicht. Sowohl das Biotar 2/5,8 cm als auch das Primoplan 1,9/5,8 cm waren nach damaligen Maßstäben selbst bei voller Öffnung ausgesprochen leistungsfähig. Wenig bekannt ist allerdings, daß auch für das Kleinbild-Primoplan die Ausnutzung der vollen Lichtstärke 1:1,5 versucht wurde.

Primoplan 1,5/58

Bei diesem Primoplan 1,5/58 mm, das entweder ein Prototyp ist, oder aber aus einer Kleinserie stammt, wurde das im Gebrauchsmuster geschützte volle Lichtstärke-Potential des Primoplans ausgenutzt. Unbekannt ist, aus welcher Zeit das Objektiv stammt. Die Angabe der Brennweite in Millimeter wäre für die 30er Jahre untypisch, aber nicht völlig ausgeschlossen. Bilder: Garry Cullen

Primoplan 1,5/58

Ähnlich wie das Ernostar und das daraus hervorgegangene Sonnar von Ludwig Bertele ist das Primoplan eine Konstruktion, die als Abwandlung des Cook'schen Triplets angesehen werden kann. Das Primoplan gehört somit einer gänzlich anderen Gruppe an, als der "Doppelgauß" Biotar. Innerhalb dieser Tripletformen bilden Ernostar und Primoplan aber wiederum je einen eigenständigen Typus, die lediglich gemeinsam haben, daß bei ihnen die Erweiterung des Triplets durch zusätzliche Elemente innerhalb des vorderen Systemteils erfolgte. Sie unterscheiden sich aber darin, daß diese Erweiterung beim Primoplan eine sammelnde Wirkung aufweist, während beim Sonnartypus der zerstreuende Systemteil erweitert wurde. Fincke charakterisiert damit das Primoplan als ein Triplet, das quasi zwei sammelnde Vorderlinsen besitzt, die obendrein noch eine sammelnd wirkende Luftlinse einschließen. [Vgl. Fincke, H. E.: Physikalisch-optische und physiologische Grundlagen; in  Teicher (Hrsg.): Handbuch der Fototechnik, 2. Auflage, 1963, S. 46.]. Zur Bildfehlerkorrektur ist die zweite Sammellinse aus einem zerstreuend und einem sammelnd wirkenden Meniskus zusammengesetzt, die beide miteinander verkittet sind.

Primoplan Scheme

Insgesamt müssen diese Primoplane als ein großer Forstschritt für Meyer-Optik beurteilt werden, weil sie die Görlitzer Firma wieder in die erste Riege der Objektivbauer gebracht hatten. Insbesondere beim mächtgen Zeiss-Konzern muß dies mit großer Aufmerksamkeit beobachtet worden sein. Man bedenke, daß Zeiss noch zehn Jahre zuvor den damals als sehr ernsthaft angesehenen Konkurrenten Ernemann ausgeschaltet hatte, indem man sich über die Deutschen Bank Insiderinformationen über dessen prekäre Finanzlage hatte zuspielen lassen. Hinter dem Rücken der Firmeninhaber hatte Jena Ernemann quasi bereits eingekauft, als man vordergründig noch so tat, als verhandele man auf Augenhöhe. Mit der Integration der Ernemannwerke in die neue Zeiss Ikon AG – und damit in den Zeiss-Konzern – konnte Jena nicht nur in den Dresdner Objektivbau liquidieren, sondern man hatte sich auch gleich den genialen Konstrukteur Ludwig Bertele mit „eingekauft“. Hatte Jena also diesen Konkurrenten gerade erst ausgeschaltet, so wuchs nun mit Meyer ein neuer, ernstzunehmender Solcher heran, der hohe Qualität zu günstigeren Preisen lieferte. Und mit dem Erscheinen der Kleinbildkameras taten sich nun im Wettbewerb neue Marktlücken auf, die Meyer-Optik binnen kürzester Frist auszufüllen wußte. Wie getrieben Zeiss Zeiss Jena nun war, kann man daran ablesen, daß das oben bereits angesprochene Biotar 2/5,8 cm mit seinem Abschlußdatum der Konstruktion vom 19. Oktober 1936 bereits zwei Monate später, nämlich am 14. Dezember 1936, in die Endfertigung ging. Das zeigt, wie hart damals der Konkurrenzkampf zwischen diesen beiden Herstellern gewesen ist. Es ging um nicht weniger als die Vormachtstellung im deutschen Objektivbau. Dem Primoplan 1,9/58 von Paul Schäfter liegt also eine historische Brisanz inne, die man diesem Objektiv auf den ersten Blick gar nicht zutrauen würde.

Primoplan Contax

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem allmählichen Wiederaufbau der Photoindustrie begann im vormaligen Mitteldeutschland der Siegeszug der Einäugigen Kleinbildspiegelreflexkamera. Forciert durch die Sowjetische Besatzungsmacht wurden Vorkriegsmodelle wie die Exakta und die Praktiflex weitergebaut, oder Neukonstruktionen wie die Spiegelcontax herausgebracht. Für diese hochwertigen, sehr exportträchtigen Kameras wurden sogleich auch wieder leistungsstarke Objektivausstattungen benötigt. So wurde auch das Primoplan Schäfters frühzeitig wieder fabriziert, da sich mit lichtstarken Objektiven auch die Exportchancen verbesserten. Insbesondere in den USA, wo sich während des Krieges ein großer Nachfragestau aufgehäuft hatte, der jetzt abgebaut werden wollte, waren die Absatzmöglichkeiten hochwertiger Photogeräte anfänglich besonders groß.

Primoplan Normalblende

Zwei Exemplare des Primoplan 1,9/58 aus der Nachkriegszeit, als aufgrund der großen Nachfrage nach Spiegelreflexkameras aus Dresden die produzierten Mengen dieses Objektives auf einmal stark erhöht werden mußten. Oben sieht man die Fassung mit der sogenannten Normalblende, unten mit der Einrichtung für Blendenvorwahl, die ein bequemeres Arbeiten ermöglichen sollte

Primoplan Vorwahlblende

Im Laufe der 50er Jahre war das Primoplan 1,9/58 mm dann immer öfter im Inlandshandel der DDR anzutreffen. Es war ehrlich gesagt nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Anders als sein Zeitgenosse, das Biotar 2/58, wurde das Primoplan nicht mit einer Springblende ausgerüstet. Grund dafür könnte ein merklicher Hang zur sogenannten Blendendifferenz gewesen sein. Restbeträge von sphärischer Aberration sorgen dafür, daß die "Stelle der kleinsten Einschnürung" entlang eines charakteristischen Lichtschlauches ("Kaustik") wandert, wenn man abblendet und damit das Ausmaß dieses Kugelgestaltsfehlers verringert. Das führt schlichtweg dazu, daß die Punkte der größten Schärfe bei offener Blende und abgeblendet jeweils nicht an derselben Stelle liegen, was bei Objektiven mit Blendenautomatik besonders ungünstig ist.

Primoplan Normalblende

Das Primoplan 1,9/58 mm dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit im Jahre 1956 ausgelaufen sein. Zur Frühjahrsmesse 1956 war die Praktica FX2 erschienen, die in der Serienfertigung mit einem Mechanismus für die Druck- bzw. Springblendenautomatik ausgestattet wurde. Zur Herbstmesse 1956 erhielt auch die Contax F einen dazu kompatiblen Auslöser im Inneren des Spiegelkastens. Das führte dazu, daß Restexemplare des Vorgängermodells Praktica FX nunmehr mit Restexemplaren des Primoplans zu sehr günstigen Preisen abverkauft wurden. Kostete die Praktica FX mit Primoplan 1955 noch 558,19 Mark, so waren es im Sommer 1956 nur noch 329,- Mark.


Es dauerte nun ein Weilchen, bis der Görlitzer Objektivhersteller auf diesen Technologiesprung adäquat reagieren konnte. Zunächst mußten eigene Lösungen für eine Blendenautomatik erarbeitet werden. In dieser Hinsicht ist das Feinoptische Werk Görlitz meiner Einschätzung nach überrumpelt worden. Die halbautomatische Springblende war offenbar von Zeiss Ikon in verdeckter Kooperation mit Zeiss Jena initiiert worden [DDR-Patent Nr. 10752 vom 3. Mai 1952]. Eine Umsetzung war aber angesichts der unübersehbaren Lähmung des VEB Zeiss Ikon Mitte der 50er Jahre zunächst unterblieben. Dieser Knoten wurde nun aber rasch durchschlagen, als im Laufe des Jahres 1956 der VEB Kamerawerke Niedersedlitz das Ruder übernahm. Die Niedersedlitzer bauten die Halbautomatische Springblende mit Innenauslösung nämlich bereits seit 1954 in ihre Praktina FX ein. Die Lösung, die nun für den M42-Anschluß gefunden wurde, war der Springblende der Praktina sehr ähnlich, und wurde offenbar wiederum eng mit Jena zusammen erarbeitet [DDR-Patent Nr. 18.920 vom 30. März 1956].


Durch diesen umfassenden Patentschutz war man in Görlitz gezwungen, sich eine eigene Lösung auszudenken, die aber mit dem kameraeigenen Mechanismus kompatibel sein mußte. Ergebnis war der bekannte Druckblendenmechanismus, der kein vorheriges Spannen der Springblende wie bei den Zeissobjektiven erforderte. Schon im August 1956 gab es dahingehende Schutzrechtsanmeldungen, die ihren erstmaligen Einsatz im Primotar E fanden, das auf der Frühjahrsmesse 1957 vorgestelt wurde. Mit einer Lichtstärke von 1:3,5 fand dieser Tessartyp trotz seiner hervorragenden Bildqualität jedoch leider nicht besonders großen Anklang. Es bedurfte also auch im optischen Bereich großer Anstrengungen, um wieder zu einem lichtstarken Spitzenobjektiv zu gelangen. Zwar wurde bereits im November 1958 ein Objektiv zum Schutze angemeldet, aus dem dann später das kurzlebige Domiron 2/50mm werden sollte, aber die angegebenen Konstruktionsdaten zeigen, daß für dieses Domiron neuentwickelte Schwerkrone nötig waren, die Jena offenbar nur sehr widerwillig bereitstellte. Es dauerte dadurch schließlich noch bis in das Jahr 1965, bis Görlitz mit dem neuen Oreston 1,8/50 endlich wieder ein lichtstarkes Normalobjektiv herstellte, das an die Tradition des Primoplan aus dem Jahre 1936 anknüpfen konnte.

Das Primoplan 1,9/75 mm

Meyer Primoplan 1.9/75

Bei Zeiss hatte man sich im Jahre 1938 daran gewagt, das volle Potential des Merté'schen Biotars auszunutzen und die Lichtstärke auf 1: 1,5 anzuheben. Durch die noch kürzere Schnittweite dieser Variante mußte aber die Brennweite auf 75 mm angehoben werden, was gleichzeitig der Bildleistung in den Randbereichen des Bildes zugute kam, weil der Bildwinkel weniger stark beansprucht werden mußte. Dieses Biotar 1,5/7,5 cm ging an die Grenzen des damals Machbaren; geriet dadurch allerdings auch zu den teuersten Objektiven seiner Zeit. Sehr geschätzt wurde aber die Bildwirkung der leicht angehobenen Brennweite, die beispielsweise bei Portraitarbeiten perspektivisch bedingte Verzerrungen des Motivs vermied.

Meyer Primoplan 1.9/75

Um auch ein solches Portraitobjektiv im Angebot zu haben, errechnete Schäfter für Meyer-Optik ein Primoplan, dessen Brennweite er auf 75 mm verlängerte, ohne jedoch wie beim Biotar die Lichtstärke anzuheben. Das ergab ein deutlich kompakteres und im direkten Vergleich auch preiswerteres Portrait-Objektiv. Eine Preisliste mit Stand vom 4. Juni 1956 belegt, daß das 75er Primoplan auch längere Zeit nach dem Kriege noch lieferbar war, und zwar zu einem Preise von 224,- Mark. Damit kostete es weniger als die Hälfte des exklusiven 75er Biotars. Es wurde aber offensichtlich gar nicht mehr so lange gefertigt. Schon im Katalog von 1954 ist es nicht mehr enthalten und befand sich daher 1956 sicherlich bereits im Abverkauf.

Primoplan 75 mm offene Blende
Primoplan 75 mm Blende 5,6

Hier sieht man die ausgezeichnete Freistellungswirkung des Primoplan 1,9/75mm bei offener Blende und bei Abblendung auf einen Wert zwischen 5,6 und 8. Aufgenommen mit der unten gezeigten Kombination aus den frühen 1950er Jahren.

Primoplan 1.9/75 Exakta
Meyer Primoplan f/1.5

Oben: Das Meyer Primoplan 1,5/2,5 cm bei voller Öffnung der Blende. Bild: Toby Marshall

Primoplan Vergleich

Das Meyer Primoplan 1,9/58 mm bei offener Blende und abgeblendet auf 1:4. Praktica LTL2, Fuji Pro 400 H. Oben als Animation zum direkten vergleich, unten noch einmal in größerer Auflösung.

Meyer Primoplan fully open
Meyer Primoplan @ f/4
Primoplan Vergleich

Oben sieht man einen echten Härtetest für das Primoplan. Mit einer umgebauten digitalen Kompaktkamera, wie sie unten gezeigt ist, wurde nur ein winziger Teil des Bildfeldes des Primoplans aufgenommen. Dieser ist nämlich nur etwa 4,6 x 6,2 mm groß, was einem Dreißigstel der Bildfläche des normalen Kleinbildes entspricht. Diese kleine Fläche wird aber mit 14 Megapixeln aufgelöst. Diese Apparatur ermöglicht also eine sehr tiefgreifende Analyse der Abbildungsleistung eines Objektives in der Bildmitte. Ich habe schon etliche Objektive auf diese Weise geprüft und bin erstaunt, wie gut dieses historische Objektiv hierbei abschneidet. Freilich ist das Bild bei offener Blende verwaschen, aber gerade solch auffällige Bildfehler wie die Farbquerabweichung sind kaum auszumachen. Auch die oben angesprochene Blendendifferenz dürfte in der Praxis wohl kaum eine Rolle gespielt haben. Bei Blende 5,6 wird eine sehr gute Leistung erzielt. Mehr zu diesem Testverfahren findet sich hier.

Primoplan Casio Testkamera

Marco  Kröger


letzte Änderung: 25. Januar 2024