Leica-Sonnar

Leica-Sonnar

Ein Sonnar, das gar keins ist?

Leica Sonnar

Objektivbau in den Fängen der Rüstungsfertigung

Während des Totalen Krieges wurde im Objektivbausektor bei Carl Zeiss Jena ein Technologiesprung von ungeheurer Tragweite vorangetrieben. Die Wehrmacht verlangte nach speziellen Objektivkonstruktionen, die als Teil des Kriegsgerätes extreme Lichtstärken bieten mußten. Ein ganz spezieller Teil machte Objektive aus, die im Zusammenhang mit Kathodenstrahlröhren als Nachtsichtgeräte im unsichtbaren Infrarotbereich genutzt wurden. Eines dieser "Ultrarot-Objektive" für das Suchgerät "Mosel" wies bei einer Brennweite von 400 Millimetern eine Lichtstärke von 1:1,5 auf! Das schier gigantische Objektiv war Teil eines an der Küste stationierten Nachtsichtgerätes, bei dem mit einem anderthalb Meter großen, 16 Kilowatt starken Infrarotscheinwefer in bis zu sieben Kilometern Entfernung das Meer abgesucht werden konnte. Um solche Ziele zu erreichen waren bedeutende wissenschaftliche Leistungen im Bereich der optischen Konstruktion notwendig. Solcherlei "Errungenschaften" bildeten aber auch den Grund, weshalb dieser verbrecherische Krieg bis fünf Minuten nach Zwölf weitergeführt werden konnte.

"Projekt Adler" 1:1/5cm

"Adler, Uhu, Seehund". Was klingt wie aus Brehms Tierleben war in Wirklichkeit ein hinter Tarnbezeichnungen versteckter Geräteapparat zur photographischen und/oder visuellen Luftaufklärung aber vor allem für den Einsatz als Ortungs- und Waffenleitgeräte auf Schiffen, Panzern und in Jagdbombern. Hier wurde im für das Auge unsichtbaren Ultrarot-Bereich (heute Infrarot genannt) gearbeitet, was diese höchsten Objektivlichtstärken sowie eine spezielle Korrektur in diesem Spektralgebiet verlangte. Das unten genannte "FG1252" wurde beispielsweise auf Panzern montiert, um im Schutze der Dunkelheit operieren zu können. Es war ein als "Fahrgerät" bezeichnetes, aktives Nachtsichtgerät, bei dem das Gelände mit einem Infrarotscheinwerfer ausgeleuchtet und mit einem dieser hochlichtstarken Objektive auf einem Bildwandler abgebildet wurde. Die Seehund-Geräte wurden dagegen bei der Marine eingesetzt; und zwar hier zur Nachrichtenübermittlung. Es gab außerdem auch rein passiv arbeitende Ortungsgeräte ("Wärmepeilgeräte" genannt), für die derartige hochlichtstarke Optiken benötigt wurden. All diese Entwicklungen waren damals so geheim, daß man auch heute nur teilweise darüber bescheid weiß. Sogar die Fertigungsstätten wurden chiffriert: Bei dem oben gezeigten Exemplar eines 1:1/5 cm Objektives [Bild: Baumgartner] steht "blc" beispielsweise für die Jenaer Militärabteilung. Ein weiterer Tarnname für Zeiss war "rln", der offenbar für das sogenannte Südwerk verwendet wurde. Bei dem obigen Objektiv 1/5 cm war der Infrarotfilter gleich innerhalb der Optik integriert. Nachdem was heute bekannt ist, war dieses Objektiv eine Sonnarkonstruktion.

Projekt Adler Uhu Seehund

Diese zum Teil noch bis in die letzten Wochen des Krieges mit riesigem Aufwand fabrizierten Spezialgeräte konnten die deutsche Niederlage freilich auch nicht mehr abwenden. Was dann nach dem Kriege bei Zeiss von diesen Geheimprojekten übrig war, haben die Amerikaner mitgenommen (Liste oben). Etwa ein anderthalbes Jahr später demontierte die Sowjetische Besatzungsmacht fast die gesamten Fertigungsanlagen. Danach fiel Carl Zeiss Jena als Lieferant für Photoobjektive lange Zeit aus. Erst nach 1950 konnte man wieder sukzessive an die ehemalige Bedeutung in diesem Sektor anknüpfen.

Leica-Sonnar 5,8cm

Fälschungen als Phänomen bei der Umstellung auf eine Friedenswirtschaft

In dieser "Zwischenphase" müssen gar seltsame Dinge vor sich gegangen sein. Das ist ja auch kein Wunder, wenn hochspezialisierte Facharbeiter arbeitslos sind. Die suchen sich dann eben ihren Unterhalt. Und so ähnlich, wie niemand so recht sagen kann, wo genau eigentlich zu ebenjener Zeit die Mimosa-Kamera herkam, so verhält es sich auch mit diesem ominösen Leica-Sonnar. Dieses Objektiv gibt es in vielen, in Details voneinander abweichenden Ausführungen – mit unterschiedlichen Brennweitenangaben, mit verschiedenen Lackierungen und ab und an sogar vergütet. Eines haben diese Objektive aber allesamt gemein: Sie sind weder von Leitz ("Leica") noch von Zeiss ("Sonnar") fabriziert worden. Diese beiden Markenbezeichnungen wurden schlichtweg geklaut.

Leica-Sonnar 1.5/5.8 cm

Diese Leica-Sonnare, die hin und wieder auftauchen, sind interessante Überreste aus der obenbeschriebenen kurzen "Zwischenphase" der späten 1940er Jahre. Diese kurze Zeitspanne ist heute zum Teil schon vergessen, weil sie in beiden deutschen Staaten sehr rasch von einer Ära des Wiederaufbaus und der Neuentwicklungen abgelöst wurde, deren Glanz noch heute das geschichtliche Bild bestimmt. In Wirklichkeit war jedoch die Zeit vor allem kurz nach den Währungsreformen vom Sommer 1948 noch einmal von großer wirtschaftlicher Depression und hoher Arbeitslosigkeit geprägt. Um so wertvoller ist eine zeitgenössische Veröffentlichung der Abteilung Photo des Zeisswerkes aus dem Jahre 1949, die unter dem Titel "Ein trübes Kapitel: Nachahmungen und Fäschungen" ein Licht auf diesen Zeitabschnitt wirft:


"Während der Demontage im Winter 1946 auf 1947 sind, teils durch Werksangehörige, teils durch Außenstehende, die während dieser Zeit Zutritt zum Werk hatten, Objektive in fertigem und halbfertigem Zustand, teils auch nur in Einzelteilen, herausgeschafft und fremden Stellen in die Hand gespielt worden. Soweit es sich um fertige oder fast fertige, jedenfalls schon geprüfte Objektive handelte, ist eine Schädigung unseres Namens kaum eingetreten. Anders liegt der Fall bei den aus Einzelteilen von anderer Seite mit mehr oder weniger Geschick und Glück zusammengebauten Objektiven. Nur da, wo die Objektive errechnet und hergestellt werden, kennt man die genauen Daten und Maße, die beim Fassen unbedingt eingehalten werden müssen, soll jedes Objektiv die vorgeschriebene Leistung haben. Linsen aus verschiedenen Fabrikationsserien kann man nicht ohne weiteres zu einem vollwertigen Objektiv kombinieren. Darum kehren sie die Pfuscher aber nicht, wenn nur das Objektiv äußerlich wie 'Zeiss' aussieht und so graviert ist.

Wir haben sogar in einigen Fällen Gelegenheit gehabt festzustellen, daß einzelne Linsen fehlten.

Ein großer Teil der gefälschten Objektive ist dem sorgfältigen Beobachter äußerlich an der schlechten Gravierung der Entfernungs- und Meterteilung oder der üblichen Objektivbeschriftung zu erkennen. Auch die vielfach ganz willkürlich gewählten Fabrikations-Nummern berechtigen zu Zweifeln an der Echtheit, wenn sie bei Sonnaren unter der Zahl 2 000 000 liegen.

[...] Seit vorigem Jahr [also 1948, MK] sind an vielen Stellen Objektive mit der Gravierung Sonnar 1,5/5,8 cm (oder 6 cm) aufgetaucht, vereinzelt auch mit der Gravierung 5 cm. Hauptsächlich werden diese Objektive in Fassungen für die Leica angeboten. Die Gravierung lautet mitunter 'Leica-Sonnar' ohne jede Firmenbezeichnung, während manche auch mit Carl Zeiss, Jena graviert sind.

Es handelt sich bei diesen Linsen um während des Krieges von anderer Seite für Sturzvisiere nach einer Sonnarform hergestellte Objektive in einer ziemlich rohen Fassung ohne Irisblende und ohne jede weitere Beschriftung. Es ist anzunehmen, daß verschiedene Werkstätten, die leider noch nicht ermittelt werden konnten, diese Objektive umgefaßt und ergänzt haben. Die Käufer derartiger Objektive haben verschiedentlich bei uns wegen der schlechten Bildqualität reklamiert. Selbstverständlich lehnen wir jede Nachprüfung und Instandsetzung ab und versuchen, die Objektive aus dem Verkehr zu ziehen.

[...] Durch eine Anzeige in verschiedenen Fach- und Tageszeitungen haben wir vor dem Ankauf von unter der Hand angebotenen Objektiven gewarnt und gebeten, vorher unter Angabe der vollen Beschriftung und der Fabrikations-Nummer anzufragen, ob es sich um ein Original-Zeiss-Fabrikat handelt. Eine sichere Feststellung ist natürlich nur an Hand des betreffenden Objektivs möglich, da wir an Hand der Nummer nur feststellen können, ob darunter ein Objektiv der angegebenen Art von uns hergestellt worden ist. Die Fälscher können nämlich absichtlich oder zufällig eine Nummer aufgraviert haben, unter der tatsächlich ein gleiches Objektiv von uns hergestellt und ausgeliefert worden ist.

[...]"


Sturzvisiere waren spezielle Zielgeräte für Kampfbomber. Wer über diese martialischen Tötungsmaschinerien Nähreres wissen möchte, der lese in einschlägigen Quellen unter den Stichworten "Stuvi" und "Stuka" nach. Da das ganze Gerät bei der Zeiss Ikon in Dresden gefertigt wurde, wird wohl auch das zugehörige Objektiv von dort her stammen. Ja, vielleicht ist es sogar noch von Ludwig Bertele, dem Erfinder der Sonnare, errechnet worden; der hatte schließlich sein Büro in den ehemaligen Ernemannwerken behalten. Und so wie die Mimosa allen Indizien nach durch arbeitslose Zeiss Ikon Mitarbeiter geschaffen worden sein mag, so könnten auch diese Leica-Sonnare auf ähnliche Weise entstanden sein, indem in Dresden die vorhandenen Linsen neu gefaßt und mit einer Irisblende versehen wurden.


Ich persönlich habe allerdings einen ganz anderen Eindruck. Erstens einmal ergibt es durch die starken Zerstörungen im Ikon-Werk wenig Sinn, daß die Umbauten nun gerade in Dresden erfolgt sein sollten, wo die Anlagen und Maschinen schließlich in Trümmern lagen. Bei genauerer Betrachtung dieses ominösen Sonnars fielen mir doch etliche Ähnlichkeiten mit Objektiven auf, wie sie vor, während und nach dem Kriege von Meyer-Optik in Görlitz gefertigt wurden. Dazu gehören die Machart der Aluminiumfassung genau so, wie die Gravur mit ihrem charakteristischen Schriftbild. Aber das sind natürlich nur Vermutungen, die heute keiner mehr belegen oder entkräften kann. Ich kann mir aber ehrlich gesagt nicht vorstellen, daß die hier zu sehende Objektivfassung in irgendeiner Hinterhofwerkstatt zusammengeschustert wurde. Im Gegenteil: Es ist eine echte Ingenieurleistung erkennbar. Die Fassung des Leica-Sonnars mußte sogar komplexer aufgebaut sein, als bei üblichen Normalobjektiven mit Leica-Anschluß. Das liegt daran, daß die Brennweite dieses "Sonnars" länger ist, als bei Leitz üblich (ca. 52 mm). Bei den originalen Normalobjektiven wird zur Kupplung mit dem Entfernungsmesser einfach der Objektivhub abgetastet, um beispielsweise auf einen Meter scharfzustellen. Durch die längere Brennweite des Leica Sonnars ist dieses Maß aber nicht nutzbar. Die Kurve zur Kupplung mit der Abtastrolle des Entfernungsmesser braucht daher eine besondere Form.

Daß dieses dubiose Leica-Sonnar keine für photographische Zwecke ausreichende Bildqualität erreicht, muß übrigens nicht verwundern. Schließlich lag seine Aufgabe ursprünglich im rein visuellen Bereich, indem es zwei Visiermarken – eine gekoppelt an die Flugzeuglängsachse, die andere an die Bordwaffe – im Unendlichen abbildete, mit deren Hilfe dann gezielt werden konnte. Digitalphotographen haben freilich längst wieder das cremige Bokeh für sich entdeckt...

Marco Kröger M.A.


letzte Änderung: 15. März 2024