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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Prakticar 1,4/50
Carl Zeiss Jena
Die Konzeption der neuen Praktica B200 des Jahres 1978 verortete diese Spiegelreflexkamera im Bereich der oberen Amateurklasse. Das läßt sich zum Beispiel an ihrem Motoranschluß ablesen. In diesem Marktsegment waren in Japan mittlerweile Normalobjektive der Lichtstärke 1:1,4 der Standard. Über den praktischen Wert dieser hohen Öffnung kann man natürlich geteilter Meinung sein, zumal der Amateur ohnehin meist ziemlich stark abblendet. Aber diese japanischen Normalobjektive zeichneten sich fast durchweg durch eine erstaunlich kompakte Bauweise aus, sodaß sie sich trotz der hochgezüchteten Öffnung als Universalobjektive eigneten. Auf diesem Gebiet hatte sich seit dem Pancolar 1,4/55 mm von 1963 auf dem internationalen Markt also so einiges getan. Die DDR Photoindustrie mußte nun demzufolge nachziehen und ein vergleichbares Normalobjektiv anbieten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Im Feinoptischen Werk Görlitz wurde zwar schon 1969 ein kompaktes Oreston 1,4/50 entwickelt, das quasi in der Fassung des bisherigen Oreston 1,8/50 Platz fand, dieses Projekt wurde allerdings kurz vor Anlauf der Serienfertigung abgebrochen.
1. Das Pancolar 1,4/50 mm von 1976
Doch auch für Zeiss Jena läßt sich nachweisen, daß bereits lange bevor diese völlig neue Praktica-Baureihe konzipiert worden ist Arbeiten an einem modernen Normalobjektiv mit der Lichtstärke 1:1,4 aufgenommen wurden. Die seit Herbst 1969 auf dem Markt befindliche Praktica L-Reihe war Mitte der 70er Jahre in einigen Punkten aufgewertet worden (sogenannte 2er Reihe). Außerdem befand sich mit der Praktica EE2 die erste Spiegelreflex der DDR mit vollautomatischer Belichtungssteuerung in der Entwicklung, mit der man in Dresden den Anschluß an die internationalen Entwicklung halten wollte. Unter der Federführung von Eberhard Dietzsch wurde daraufhin der Prototyp für ein kompaktes Normalobjektiv 1,4/50 mm entwickelt. Hierbei knüpften die Konstrukteure sichtlich an bereits bestehende Konstruktionen aus der japanischen Industrie an, die mit ausgeprägt gekrümmten Menisken vor der Blende arbeiteten, denn schließlich mußten gleich mehrere sich eigentlich widersprechende Forderungen erfüllt werden: Um ein möglichst kurz gebautes Objektiv zu erreichen, mußte besonderer Wert auf die Korrektur der Koma gelegt werden. Gleichzeitig mußte eine ausgesprochen große Schnittweite gewährleistet sein, um auch für die Spiegelreflexkamera ein derart lichtstarkes Objektiv mit der für Kleinbild üblichen Normalbrennweite von 50 statt bislang 55 mm zu ermöglichen.
Oben eines der Musterobjektive dieses Pancolars 1,4/50 mm mit der Versuchsnummer 622. Es ist der Ära entsprechend mit M42-Anschluß und elektrischer Blendenwertübertragung ausgestattet. [Photo: T. Hirt, Schweiz]
Aus dem Archiv von Entwicklungsunterlagen des VEB Zeiss Jena, das der Zeiss-Konstrukteur Günther Benedix angelegt hat, lassen sich die Anfänge der Arbeiten an diesem modernen Normalobjektiv der Lichtstärke 1:1,4 tatsächlich auf die Zeit 1975/76 zurückverfolgen. Denn bereits zum 26. August 1976 lag eine Rechnung für ein Pancolar 1,4/50 mm nach Zeichnungsnummer 550441:001.25 vor. Wie das unten gezeigte originale Fertigungsdatenblatt zeigt, war dieser Prototyp vollständig auf Glassorten aus der Sowjetunion aufgebaut. Dabei fallen das selbst nach heutigen Maßstäben noch extrem hochbrechende Schwerflintglas TBF11 sowie das Schwerstkronglas STK20 auf.
Bei der Durchsicht der Patentliteratur wird rasch deutlich, daß für Dr. Dietzsch zentrales Vorbild bei der Entwicklung des Pancolars 1,4/50 mm zweifellos das Olympus Zuiko 1,4/50 mm war, das Anfang der 70er Jahre eine hervorragende Abbildungsleistung mit einer bislang nicht gekannten Kompaktheit verband. Grundlage für dieses Zuiko 1,4/50 mm bildete dabei das bundesdeutsche Patent Nr. 2.322.302 vom 3. Mai 1973 (in Japan bereits im Jahr zuvor angemeldet). Erfinder war Jihei Nakagawa (Schöpfer einiger der besten Retrofokus-Weitwinkelobjektiven der damaligen Zeit)
Zunächst ist zu bemerken, daß dieses Objektiv in der oben gezeigten Konfiguration nur kurze Zeit gebaut wurde. Bereits nach weniger als zwei Jahren, zum 14. Februar 1975 (Japan wiederum genau ein Jahr zuvor), wurde von Nakagawa eine Weiterentwicklung nachgeschoben, aus der hervorgeht, daß das obige Objektiv in der Frontlinse das extrem hochbrechenden Lathan-Schwerflint LaSFO5 (Ohara) verwendet wurde. Dieses Glas enthielt jedoch das Element Tritium, das problematisch sei, da es dem radioaktiven Zerfall unterliege. Mit dem Patent DE2.506.171 gelang es ihm nun aber, durch das Auffinden einer günstigeren Korrektionsbedingung auf dieses Glas zu verzichten und in der Frontlinse dasselbe Lanthan-Flint einzusetzen, wie bereits in den Linsen Nummer zwei und fünf, ohne die Grundkonstruktion verlassen zu müssen.
Ein Vergleich der zweiten Serienversion des Zuiko 1,4/50 mm (oben) mit dem Prototypobjektiv eines Pancolares 1,4/50 mm (unten) zeigt, daß sich Eberhard Dietzsch zunächst eng am Vorbild Jihei Nakagawas orientiert hat. Doch dürfte klar gewesen sein, daß ein Jenaer Serienobjektiv nicht auf Lanthan-Schwerflint- und Schwerstkrongläsern aus der Sowjetunion fußen konnte. Um diesen Objektivtyp auf DDR-eigene Gläser umstellen zu können – dazu bedurfte es erst einer Erfindung!
Der unmittelbare Vergleich des Olympus Zuiko 1,4/50 mit dem Zeiss Jena Prakticar 1,4/50 mm (2. Serienversion). Während die Baulänge der Optik beim Prakticar 48,55 mm beträgt, ist das Zuiko mit 45,5 mm ganze drei Millimeter kürzer. Der Laie macht sich meist keine Vorstellung davon, welch ein Aufwand für diese etwa sechs Prozent an höherer Kompaktheit nötig ist.
2. Die erste Serienversion des Prakticars 1,4/50
Eberhard Dietzsch hatte für ein Serienobjektiv 1,4/50 also zwei Probleme zugleich zu lösen: Einmal durfte Zeiss Jena natürlich das Japanische Objektiv nicht plagiieren. Diese Gefahr bestand in der Praxis allerdings schon deshalb nicht, da die beim japanischen Vorbild sowie beim Jenaer Versuchsobjektiv verwendeten extrem schweren Lanthan-Flintgläser in der DDR nicht gefertigt wurden. Um andererseits die für ein Normalobjektiv unumgänglichen hohen Stückzahlen gewährleisten zu können, die im Anbetracht der kommenden Praktica B200 in Aussicht standen, war aber unbedingt nötig, das Objektiv auf eigenen Glasarten fußen zu lassen.
Das Entwicklungsergebnis ließen sich Eberhard Dietzsch zusammen mit Erich Greiner und Hans-Dietrich Siegert schließlich im DDR-Patent Nr. DD146.860 vom 28. Dezember 1979 schützen. Den Konstrukteuren war es gelungen, ein ähnlich kompaktes Objektiv mit vergleichbar guter Bildleistung zu schaffen, ohne die sehr teuren extremen Glasarten einsetzen zu müssen. So konnte die Frontlinse aus dem standardmäßig verwendeten Lanthan-Kron SK22 bestehen, das "nur" einen Brechungsindex von 1,68 aufweist. Um trotzdem für die Verkürzung der Baulänge des Objektives nötigen geringen Beträge an sphärischer Aberration und Komafehler gewährleisten zu können, lag einer der zentralen Konstruktionseinfälle Dietzschs darin, daß genau diese Frontlinse einen sehr kleinen Krümmungsradius von weniger als 85% der Objektivbaulänge aufwies und ihr dadurch eine ausgeprägt kugelige Gestalt mitgegeben wurde.
"Dadurch wird der optische Weg für schief einfallende Lichtbündel im System verkürzt und es zeigt sich, daß man damit eine besonders gut geebnete astigmatische und Komakorrektur erreichen kann. Wegen der hohen Brechkraft der ersten Linse L₁ mußte die Brechkraft der zweiten Linse L₂ verringert werden. Diese erhält eine nahezu afokale Wirkung, was dadurch zum Ausdruck kommt, daß die beiden begrenzenden Radien der Linse um weniger als 10% voneinander unterschieden sind. Der Luftraum zwischen der zweiten Linse L₂ und der dritten Linse L₃ besitzt eindeutig die Form eines zerstreuenden Mensikus, wodurch eine gute sphärische Korrektion erreichbar ist." [DD146.860 vom 28. Dezember 1979.]
Im Gegensatz zu üblichen Gaußtypabwandlungen hat diese Frontlinse also eine ausgesprochen hohe Brechkraft. Dieses zentrale Konstruktionsmerkmal geht auch aus dem unten gezeigten Aufsatz zum neuen Prakticar 1,4/50 hervor, der im Jenaer Jahrbuch 4/1980 erschien.
Ausgerechnet diese massive Frontlinse bestand nun also aus derjenigen Glassorte mit dem kleinsten Brechungsindex des Gesamtobjektives, was half, die Herstellungskosten im Rahmen zu halten. Der Verzicht auf extrem hochbrechende Lanthan-Flintgläser hatte aber noch eine weitere positive Wirkung über die Kostenreduzierung hinaus. Denn diese Glasarten zeigen ein Verhalten, das demjenigen sogenannter Kurzgläser nahekommt. Darunter versteht man ein Abweichen der Farbzerstreuung vom sonst üblichen Kurvenverlauf. Solcherlei Kurzflingläser wurden bereits seit der Wende zum 20. Jahrhundert beispielsweise bei Reproduktionsobjektiven eingesetzt, um das sogenannte sekundären Spektrum zu eliminieren. Auch bei Teleobjektiven sind Gläser mit einer anomalen Teildispersion hilfreich, um den problematischen Farblängsfehler ausgleichen zu können. Bei lichtstarken Normalobjektiven kann jene Kurzflint-Charakteristik lanthanhaltiger Gläser jedoch einen gegenteiligen Effekt haben und die chromatische bzw. sphärochromatische Korrektur sehr erschweren.
Die praktisch ausgeführte Variante des Prakticars 1,4/50 mit Konstruktionsdatum vom 20. März 1978 enthielt aber trotzdem wieder thoriumhaltiges Glas, was ich deswegen mit Sicherheit sagen kann, weil das zweite Patent, auf das ich gleich komme, genau dessen Einsatz zu vermeiden suchte. Als weiteres Indiz dafür neigt die erste Version des Prakticars 1,4/50 bei Dunkellagerung zum bekannten Vergilben. Aufgrund des Einsatzes dieser Gläser war zudem die Produktion dieses Objektives aufwendig und teuer. Nur 12.500 Stück wurden daher von dieser Version zwischen 1980 und 1983 produziert. Es handelt sich angesichts der hohen Öffnung um ein sehr gutes Normalobjektiv in einer wirklich erstklassigen mechanischen Ausführung. Die Glaskörper sind in Messing gefaßt und die Blendenmechanik ist kugelgelagert.
Die erste Version des Prakticars 1,4/50 läßt sich an den außenliegenden Gravuren der Herstellerbezeichnung erkennen. In der untenstehenden Schnittzeichnung fällt die extrem gedrängte Anordnung der Elemente auf, die das Prakticar deutlich kompakter machen, als das alte Pancolar 1,4/55 mm 15 Jahre zuvor.
3. Die zweite Serienversion des Prakticars 1,4/50
Doch dieses Objektiv war einfach in der Herstellung zu teuer. Das geht wörtlich aus der DDR-Schutzschrift Nr. 214.946 vom 2. Mai 1983 hervor, in welcher die teuren Lanthangläser des bisherigen Prakticars 1,4/50 mm ausdrücklich im Abschnitt zum Forschungsstand erwähnt werden. Gegenstand des neuen Patentes von Günther Benedix und Utz Schneider war im Prinzip ein Umarbeiten der bestehenden Konstruktion mit dem Ziel, "ein lichtstarkes Objektiv für einäugige Spiegelreflexkameras mit einem Bildformat von 24 x 36 mm [zu schaffen], das unter Verwendung preisgünstiger Gläser hohe Gebrauchswerteigenschaften besitzt. Auf den Einsatz von thoriumhaltigen Gläsern soll verzichtet werden." Diese Prämisse fand ihren Niederschlag darin, daß sich in dieser neuen Ausführung des Prakticar 1,4/50 mm nur noch zwei Glassorten mit einer über dem Wert 1,7 liegender Brechzahl befinden. Offensichtlich war dies ohne nennenswerte Verschlechterung der Bildleistung machbar. Da in beiden Schutzschriften die Aberrationskurven angegeben sind, ist ein direkter Vergleich möglich. Ich habe beide unten angegeben, sodaß sich jeder selbst ein Bild machen kann.
Dieses neue Prakticar 1,4/50 mit Konstruktionsdatum 1. Juni 1982 ist in eine noch etwas gefälligere Fassung eingebaut, die kompakter erscheint, obwohl sich die Linsenform eigentlich nicht prinzipiell geändert hat. Trotz des preiswerteren Materialeinsatzes wurde aber auch dieses Normalobjektiv mit knapp 14.000 Stück in sechs Jahren nicht wirklich häufig gebaut. Das verwundert nicht, denn mit 865,- Mark war der Inlands-Verkaufspreis schließlich beinah noch einmal so hoch wie derjenige des Kameragehäuses. Für den DDR-Bürger war es zudem zumindest außerhalb der Hauptstadt nur schwer erhältlich.
Hier die Gegenüberstellung der Fehlerkurven der beiden Prakticare 1:1,4; oben die Version von 1978 (Patent 1979), unten die Rechnung von 1982 (Patent 1983). Die oftmals der ersten Version nachgesagte bessere Bildleistung ist zumindest aus diesen Kurven nicht ersichtlich.
Oben im Vergleich dazu die Bildfehlerkurven des Olympus Zuiko 1,4/50 mm von 1974 (zweite Serienversion nach Patent DE2.506.171). Es ist einfach nur verblüffend, wie es der Abteilung Photo des VEB Carl Zeiss JENA durch sorgfältige Korrekturarbeit gelungen war, mit wesentlich geringerem Materialeinsatz ein Erzeugnis zu schaffen, das im praktischen Einsatz dem aufwendigen Konkurrenzerzeugnis kaum nachstehen dürfte.
4. Über Radioaktivität und Vergilbung
Oder: Weshalb es das Prakticar 1,4/50 gewissermaßen zweimal gibt
Mittlerweile hat uns Herr Günther Benedix, der zur letzten Generation an Objektivkonstrukteuren bei Zeiss Jena zu zählen ist, einige Informationen und Originaldokumente zum Prakticar 1,4 zur Verfügung gestellt, die die obigen Aussagen noch präzisieren und einen interessanten Einblick liefern, wie es damals im Zeisswerk zuging. Benedix war zusammen mit Utz Schneider beauftragt, die thoriumhaltigen Linsen der ersten Version zu ersetzen. Es handelte sich dabei um zwei Linsen im hinteren Systemteil, die aus dem Schwerstkron SSK11 bestanden. Wie aus dem unten wiedergegebenen Originaldokument ersichtlich ist, war dieses thoriumhaltige Glasmaterial nicht ohne weiteres durch das Lanthan-Schwerkron LaSK3 ersetzbar.
Der Hintergrund des obigen Schreibens lag darin, daß das Patent der Herren Benedix und Schneider, mit denen sie das Prakticar 1983 thoriumfrei gemacht hatten, am 6. September 1989 endlich erteilt worden war. Das Patentamt hatte also mehr als sechs Jahre gebraucht, um die ausreichende Erfindungshöhe der Neuerung anzuerkennen. Angesichts der vielen, über die Jahrzehnte hinweg angehäuften internationalen Patente zum Gaußtyp und der Tatsache, daß bei dieser Objektivbauform kaum noch Spielraum für Neuerungen vorhanden war, ist diese lange Prüfdauer nicht verwunderlich. Mit der nun, noch kurz vor der Wende erfolgten Erteilung ihres Patentes, hatten die beiden Konstrukteure eine Handhabe, eine ausreichende Vergütung für ihre Arbeit einzufordern. Das Glück für uns liegt nun darin, daß durch diesen betriebsinternen Vorgang Informationen zum Prakticar 1,4/50mm überliefert geblieben sind, die ansonsten vielleicht schon in Vergessenheit geraten wären.
Das Schwerstkron SSK11 war mit einer Hauptbrechzahl von 1,7564 ein hochbrechendes Glas, das angesichts dieses hohen Brechungsvermögens eine vergleichsweise geringe Farbzerstreuung aufzuweisen hatte (Abbesche Zahl von 52,9). Diese beiden Eigenschaften in Kombination sind sehr wertvoll. Optische Linsen sind quasi Abschnitte aus einer Glaskugel. Hochbrechende Gläser ermöglichen es dem Objektivkonstrukteur, Linsen einzusetzen, die bei gleicher Brechkraft viel flacher sein können. Genauer gesagt brauchen die Oberflächen weniger stark gekrümmt sein. Damit können Bildfehler im Zaume gehalten werden, die nun garade aus dieser Kugelgestalt der Linse herrühren. Hat dieses Glas gleichzeitig noch eine geringe Farbzerstreuung zu bieten, dann gelingt es, weitere problematische Abweichungen wie den Gaußfehler zu begrenzen: Das Außmaß des durch die kugelige Gestalt der Linse hervorgerufenen Öffnungsfehlers ist zu allem Unglück nämlich auch noch abhängig von der Lichtfarbe. Ein Glas also, das das Licht von vornherein weniger stark in seine Farben aufspaltet, macht das Beherrschen und gegenseitige Abwägen solcher Abbildungsfehler bei lichtstarken Objektiven überhaupt erst möglich.
Wenn meine Recherchen stimmen, dann ist das Schwerstkron SSK11 ein Boratglas, das aus diesbezüglichen Forschungsarbeiten Werner Vogels und Wolfgang Heindorfs Ende der 50er Jahre im VEB JENAer Glaswerk hervorgegangen ist [DDR Patent Nr. 22.535 vom 26. Juni 1959]. Diese Gläser enthalten neben Bortrioxid, Lanthantrioxid und Cadmiumfluorid auch um die 20 Prozent Thoriumdioxid. Bei letzterem handelt es sich um das Thoriumisotop 232, das zwar radioaktiv ist, aber durch seine lange Halbwertszeit (länger als das Universum alt ist) derart langsam zerfällt, daß die fertige Linse an sich unbedenklich ist. Allerdings verursachen Thoriumverbindungen eine sehr starke gesundheitliche Gefährdung bei denjenigen Menschen, die diese verarbeiten. Das Erschmelzen solcher Gläser, aber insbesondere deren Schleifen, Polieren und Zentrieren müssen unter besonderem Arbeitsschutz erfolgen, da eingeatmete Stäube stark karzinogene Wirkung haben. Die von diesem Material abgegebene Alphastrahlung, bei der bekanntermaßen schon ein Blatt Papier genügt, um sie abzuschirmen, und die von daher normalerweise gar nicht von außen in den Körper vordringen kann, entfaltet hingegen sofort dann eine stark schädigende Wirkung, sobald sie durch sogenannte Inkorpation des Thoriumdioxids direkt innerhalb des Organismus gelangt.
Das ist der eine, sehr einleuchtende Grund, weshalb ein Hersteller eine Glassorte, die eine radioaktive Komponente enthält enthält, nicht unbedingt in einem Objektiv einsetzen sollte, das für den Konsumgüterbedarf gedacht ist und deswegen in großen Stückzahlen fabriziert werden soll. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, der darin liegt, daß SSK-11-haltiges Glas durch die Eigenstrahlung des Thoriumdioxids nach und nach seine Transparenz durch Vergilbung einbüßt. Damit wird der Wert und die Nutzungsdauer eines lichtstarken Objektives auf Basis dieses Glases von vornherein zeitlich begrenzt. Die Vermeidung des sukzessiven Gebrauchswertverlustes von Objektiven durch Substitution dieses Glases war übrigens einer der wesentlichen Gründe, weshalb Benedix und Schneider am Ende ihre Vergütung durch ihren Arbeitgeber doch noch erhalten haben. Derartige Probleme mit der Langzeitstabilität entsprechender Erzeugnisse waren dem Herstellerwerk wohlbekannt. [Vgl. Protokoll zur Beratung der Nachvergütung vom 2. Oktober 1989]
Damit hatte also gleichermaßen der Hersteller des Glases sowie die Objektivbauanstalt ein berechtigtes Interesse an der Verdrängung eines solchen Glasmateriales. Die Hoffnungen der Glaswerker, das oben vorgeschlagene, neu entwickelte Lanthan-Schwerkron LaSK3 könne problemlos an die Stelle des SSK11 treten, erfüllte sich indes nicht. Es erreichte mit einer Hauptbrechzahl von 1,7344 nicht das Lichtbrechungsvermögen und mit der Abbeschen Zahl von 51,98 auch nicht ganz die geringe Farbzerstreuung des Vorgängers. Wie mir Herr Benedix versicherte, war damit eine Einfache "Umrechnung" nicht nur beim Prakticar 1,4/50 mm erfolglos, sondern auch bei den im obigen Dokument genannten Spezialobjektiven für Mikrofilm-Lesegeräte. Diese hatte Benedix ebenfalls mit dem LaSK3 neu gerechnet. Nach dem Bau von Musterobjektiven und deren Prüfung mußte allerdings eingesehen werden, daß das Austauschglas auch hier nicht dieselben Ergebnisse brachte und deshalb SSK11-Glas für diesen Einsatzfall nun sogar explizit vorgehalten werden mußte. Um so drängender wurde es daher, das SSK11 in Konsumgüter-Objektiven wie dem Prakticar zu ersetzen.
Das Lanthan-Schwerkron LaSK 3 war zusammen mit dem Lanthan-Kron LaK 75n erst zur Leipziger Frühjahrsmesse 1981 herausgebracht worden [Vgl. die obige Meldung in einer Messe-Sonderbeilage der Jenaer Rundschau]. Während das LaK 75n problemlos das bisherige Schwerstkron SSK10 ersetzen konnte, war der Austausch von SSK 11 durch LaSK 3 nicht ohne weiteres möglich. Dennoch beeindruckt letzteres durch seine herausragenden Transmissionswerte fast bis an den UV-A Bereich heran. Gelbstiche waren mit diesem Glas also passé. Es wurde unter anderem im Prakticar 4/300 eingesetzt.
Dazu mußte das Prakticar 1,4/50 mm aber quasi noch einmal neu erfunden werden. Denn am Ende ging es nicht mehr nur darum, bedenkliche Glassorten zu ersetzen, sondern ganz allgemein um eine drastische Kostenreduzierung in der Produktion. Im Prakticar 1,4/50 mit Konstruktionsdatum 1. Juni 1982 ist das SSK11 schließlich durch das deutlich niedrigbrechendere Lanthan-Kron LaK75 (Hauptbrechzahl: 1,6965; Abbesche Zahl: 53,29) ausgetauscht worden. Es wurden etliche Kombinationen durchgespielt. Es mußte immerhin bis zu einer Variante Nr. 23 gerechnet werden, bis ein Kompromiß zwischen optischer Leistung und der erforderlichen Kostenreduzierung erreicht werden konnte, wobei Benedix und Schneider "an die absoluten Grenzen des gerade noch Vertretbaren gegangen" seien. Dazu war nicht nur das Schwerstkron SSK11 des Vorgängers ersetzt worden, sondern auch ein hochbrechendes Lanthanflint in den Linsen 1; 2 und 5. Daß diese Materialkosteneinsparung dabei noch ohne sichtbare Zugeständnisse an die Bildleistung (siehe Bildfehlerkurven oben) möglich war; genau darin lag die erfinderische Leistung der beiden Konstrukteure.
Hier sehen Sie zwei Datenblätter des Pancolar/Prakticar 1,4/50 aus dem Herstellerwerk, die mir Herr Benedix freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Oben die erste Variante vom 14. März 1978, die so nicht produziert wurde. Der ersten Version des Prakticar 1,4 lag dann eine Rechnung vom 20. März 1978 zugrunde.
Unten sieht man die kostenreduzierte, thoriumfreie 23. Variante vom 1. Juni 1982, die in exakt dieser Form in der zweiten Version des Prakticar 1,4/50 mm umgesetzt wurde. Bemerkenswert: Die Gesamtheit der hier versammelten Angaben auf einem einzigen Blatt Papier würden genügen, das Prakticar 1,4/50 durch einen qualifizierten Betrieb heute noch herstellen zu lassen.
Diese zweite Version des Prakticars 1,4/50 mm beweist wieder einmal, was sich im Objektivbau allein mit sorgfältiger Rechenarbeit für Erfolge erzielen lassen. Ohne Zweifel wäre mit dem Einsatz sowjetischer Lanthanflintgläser das Ziel leichter zu erreichen gewesen, doch das kam aufgrund des viel zu hohen Preises einfach nicht infrage [siehe unten: Protokoll zur Beratung der Nachvergütung vom 2. Oktober 1989]. Bedenken Sie aber auch, wie extrem aufwendig diese Konstruktionsarbeiten waren. Sicherlich mußten auch etliche Musterobjektive angefertigt und geprüft werden.
5. Wie radioaktiv ist radioaktives Glas?
Abschließend doch noch einmal ein paar Worte zur Radioaktivität thoriumhaltiger Gläser. Zuschriften zeigen nämlich, daß viele Leser durch diese Problematik verunsichert sind. Ein Kollege von mir, der Sandro, hat einmal ein Takumar 1,4/50 mm, dessen Eigenschaften ähnlich gelagert sind, wie beim obigen Prakticar, von der Sächsischen Landesmeßstelle für Radioaktivität in Chemnitz überprüfen lassen. Hier kam man zur folgenden Einschätzung:
"Die gemessene Dosisleistung in 5 cm Abstand zur thoriumhaltigen Linse beträgt 2,1 µSv/h; das ist hier die kameranahe Seite des Objektivs. Bei der Messung an der Kamera mit montiertem Objektiv ergab sich im ungefähren Abstand Auge – Linse ein Wert von 0,6 µSv/h. Die Werte sind Brutto-Dosisleistungen; die gemessene natürliche Hintergrundstrahlung von 0,1 µSv/h ist nicht abgezogen. Im Strahlenschutz gilt das Abstandsquadratgesetz. Wie gestern messtechnisch gezeigt, führt eine Verdopplung des Abstandes zur Strahlenquelle zur Reduzierung der Dosisleistung um den Faktor 4.
Bei Multiplikation der gemessenen Dosisleistung mit der Aufenthalts- bzw. Nutzungszeit erhält man die Dosis. Bei z. B. (sehr hoch angesetzten) 100 Stunden pro Jahr ergibt sich für die Handhabung des TAKUMAR-Objektivs eine Dosis von 210 µSv (0,21 mSv). Zum Vergleich dazu liegt die mittlere effektive Dosis aus natürlichen Strahlenquellen in Deutschland bei 2,1 mSv pro Jahr. Diese setzt sich zusammen aus 1,1 mSv durch eingeatmetes Radon und seine Zerfallsprodukte, 0,3 mSv aus direkter kosmischer Strahlung, 0,4 mSv aus direkter terrestrischer Strahlung und 0,3 mSv aus der Nahrung. Die mittlere effektive Dosis aus künstlichen Strahlenquellen in Deutschland (geht fast komplett auf die Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlung am Menschen in der Medizin zurück) liegt bei 1,7 mSv pro Jahr. Die zusätzliche Strahlenexposition durch die von Ihnen beschriebene Nutzung der Kameras bzw. Handhabung der Objektive ist somit vernachlässigbar."
Solange Sie also Ihr Objektiv nicht zerlegen, die Linsen ausbauen, anschließend an ihnen herumschleifen und die entstehenden Stäube in Ihre Lunge aufnehmen, besteht keinerlei Gefahr. Über das Vermeiden oder sogar Zurückdrängen der durch die Radioaktivität hervorgerufenen Vergilbungserscheinungen mithilfe von UV-Strahlung existieren im Internet bereits genügend Veröffentlichungen. Ich rate Ihnen nur: Haben Sie Geduld und nutzen Sie den natürlichen UV-Anteil des Tageslichtes. Vor dem Hantieren mit irgendwelchen künstlichen UV-Quellen kann ich nur dringend warnen! Diese sind allemal gefährlicher als jegliche Radioaktivität Ihres Objektives.
Noch eine Anmerkung: Bei direkten Vergleichsmessungen zwischen dem oben genannten Takumar und der ersten Version des Prakticares 1,4/50 durch unseren Leser Francesco Mazzeo schien Letzteres so gut wie überhaupt keine Strahlung auszusenden. Erst ein weiteres Exemplar mit der ersten Bauform der Fassung, das jedoch deutlich die bekannten Vergilbungserscheinungen zeigte, brachte es auf dieselben Strahlendosen wie das Takumar. Daraus kann man folgende Schlußfolgerung ziehen: Wir wissen zwar anhand der Montageanweisung des VEB Carl Zeiss Jena mit absoluter Sicherheit, daß die neue Fassung ab September 1984 produziert wurde (siehe Abbildung oben), doch ist damit nicht ausgeschlossen, daß bereits vorher die neue optische Formel verwendet wurde. Im Gegenteil: Man kann fast mit Gewißheit von einer "Übergangs-Serie" ausgehen, bei dem die neue Rechnung in die alte Fassung montiert wurde. Durch unseren Leser Helmut Sigismund haben wir mittlerweile die Bestätigung bekommen, daß das Produktionslos zwischen den Seriennummern 9004 und 11.004, das ab 13. April 1984 in die Endfertigung ging, bereits die neue Optik enthielt, während die Fassung noch von der ersten Bauart war.
Oben: Trotz guten Lichtes wurde hier einmal bei vollkommen geöffneter Blende photographiert. Das Prakticar 1,4/50 (1. Version) liefert dann freilich nur eine mäßige Schärfe bei deutlich vermindertem Kontrast. Das ist aber nichts Außergewöhnliches für solch lichtstarke Objektive aus dieser Zeit. Ausschlaggebend für ein gutes Amateurobjektiv ist, daß die Bildleistung schon bei leichter Abblendung sehr gut wird. Die volle Objektivöffnung bleibt dann Einsatzfällen unter sehr schlechten Lichtverhältnissen vorbehalten, oder wenn man wirklich außergewöhnliche Bildwirkungen erzielen will.
Hier zwei Aufnahmen mit der zweiten Version des Prakticar 1,4/50 mm bei vollkommen geöffneter Blende. Oben mit der BX 20 auf Fuji Pro 400 H, unten mit der B200 auf Kodak Pro Image 100. Diese zweite Version arbeitet stets farbneutral, was zumindest in der analogen Farbphotographie sehr von Bedeutung ist. Außerdem ist aufgrund der deutlich transparenteren Linsen die effektive Lichtstärke höher. Und da in meinen Augen obendrein noch die Fassungsgestaltung gelungener erscheint, möchte ich diese zweite Version nur wärmstens empfehlen.
Die nie völlig zu beseitigende Restfärbung der ersten Version des Prakticars 1,4/50 kann in der klassischen Photographie zu einem Kippen der Farben führen, das sich nachträglich kaum noch auskorrigieren läßt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn weitere ungünstige Faktoren wie lange Belichtungszeit, Überlagerung des Materials oder Verarbeitungstoleranzen hinzukommen. Dann verlaufen schlichtweg die Gradationskurven der einzelnen Farbschichten nicht mehr parallel. Es sollte aber nicht verschwiegen werden, daß genau diese Formen der vorher nicht kalkulierbaren Imperfektion der "analogen Photographie" in den letzten Jahren viele neue Anhänger verschafft hat. Praktica B200, Kodak Pro Image 100
Wie eingangs bereits erwähnt, war es wichtig, daß die in den 70er Jahren auch beim Amateur immer beliebteren Normalobjektive der Maximalöffnung 1:1,4 trotzdem universell einsetzbar waren. Dazu sind auch Aufnahmen im Nahbereich zu zählen, die für lichtstarke Systeme mit stark asymmetrischer Brechkraftverteilung schnell zum Problem werden können. Zwar wird niemand auf die Idee kommen, mit einem solchen Objektiv ausgerechnet Reproduktionen anzufertigen, aber trotzdem sollten Astigmatismus, Wölbung und Koma im Nahbereich einigermaßen im Rahmen bleiben. Hier ist das Prakticar 1,4/50 (2. Version) bei seiner kürzesten Nahdistanz von 40 cm bei großer Öffnung der Blende eingesetzt worden. Praktica BX20, Portra 400 belichtet auf 24 DIN.
Der für die folgenden Aufnahmen eingesetzte Film Adox CMS 20 ist derart unempfindlich, daß man selbst im vollen Sonnenlicht gezwungen ist, das Objektiv weit aufgeblendet zu nutzen, um zu verreißungsfreien Bildern zu gelangen. Das scheint mir noch viel ausschlaggebender dafür zu sein, daß man mit diesem Film die Leistungsfähigkeit von Objektiven an ihre Grenze bringen kann, als die Tatsache, daß seine Emulsion praktisch völlig kornfrei und extrem dünn ist. Praktica B100, Prakticar 1,4/50 (2. Version) bei offener oder nur um eine Stufe geschlossener Blende. Der CMS 20 wurde auf 12 DIN belichtet und 30 Minuten in ORWO R09 1:200 entwickelt.
Marco Kröger
letzte Änderung: 29. Juni 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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