Prakticar 1,4

Prakticar 1,4/50

Carl Zeiss Jena

Die Konzeption der neuen Praktica B200 des Jahres 1978 verortete diese Spiegelreflexkamera im Bereich der oberen Amateurklasse. Das läßt sich zum Beispiel an ihrem Motoranschluß ablesen. In diesem Marktsegment waren in Japan mittlerweile Normalobjektive der Lichtstärke 1:1,4 der Standard. Über den praktischen Wert dieser hohen Öffnung kann man natürlich geteilter Meinung sein, zumal der Amateur ohnehin meist ziemlich stark abblendet. Aber diese japanischen Normalobjektive zeichneten sich fast durchweg durch eine erstaunlich kompakte Bauweise aus, sodaß sie sich trotz der hochgezüchteten Öffnung als Universalobjektive eigneten. Auf diesem Gebiet hatte sich seit dem Pancolar 1,4/55 mm von 1963 auf dem internationalen Markt also so einiges getan. Die DDR Photoindustrie mußte nun demzufolge nachziehen und ein vergleichbares Normalobjektiv anbieten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Im Feinoptischen Werk Görlitz wurde zwar schon 1969 ein kompaktes Oreston 1,4/50 entwickelt, das quasi in der Fassung des bisherigen Oreston 1,8/50 Platz fand, dieses Projekt wurde allerdings kurz vor Anlauf der Serienfertigung abgebrochen.

Prakticar f/1.4

War also ein Normalobjektiv mit der Lichtstärke 1:1,4 für die im Herbst 1969 herausgebrachte Praktica L-Reihe offenbar noch entbehrlich, so hatte sich diese Situation nun also knapp zehn Jahre später bei Erscheinen der Praktica B200 geändert. Ein solches Objektiv gehörte nun obligatorisch ins Programm eines Markenherstellers. Bereits seit Mitte der 1970er Jahre waren unter Federführung von Eberhard Dietzsch (zusammen mit Erich Greiner und Hans-Dietrich Siegert) Arbeiten an einem kompakten Pancolar 1,4/50 mm vorangetrieben worden. Diese wurden nun zu einem serienfähigen Prakticar 1,4/50 mm zuendegeführt. Hierbei knüpften die Konstrukteure sichtlich an bereits bestehende Entwicklungen aus der japanischen Industrie an, die mit ausgeprägt gekrümmten Menisken vor der Blende arbeiteten, um die kompakte Bauform und die kurze Brennweite bei einer ausreichend großen Schnittweite zu erzielen. Ihr Entwicklungsergebnis ließen sie sich schließlich im DDR-Patent Nr. DD146.860 vom 28. Dezember 1979 schützen.

Pancolar 1.4/50 mm prototype 1976

Ein erster Prototyp eines Pancolar 1,4/50 mm aus dem Jahre 1976 zeigt bereits den Grundaufbau des späteren Serienobjektivs. Es war noch vollständig mit Importgläsern aus der UdSSR aufgebaut.


Unten offenbar das Musterobjektiv dieses Pancolars 1,4/50 mm mit der Versuchsnummer 622. Es ist der Ära entsprechend mit M42-Anschluß und elektrischer Blendenwertübertragung ausgestattet. [Photo: T. Hirt, Schweiz]

Zeiss Jena Pancolar 1,4/50mm; Versuchsmuster

Als hervorstechende Besonderheit des neuen Zeiss Prakticars 1,4/50 mm, das es von Zeitgenossen abhebt, ist dagegen dessen Frontlinse mit ihrem sehr kleinen Krümmungsradius und einer dadurch ausgeprägt kugeligen Gestalt zu nennen. Im Gegensatz zu üblichen Gaußtypabwandlungen hat diese Frontlinse also eine ausgesprochen hohe Brechkraft.  Dieses zentrale Konstruktionsmerkmal Dietzschs geht auch aus dem unten gezeigten Aufsatz zum neuen Prakticar 1,4/50 hervor, der im Jenaer Jahrbuch 4/1980 erschien.

Prakticar 1,4/50

Ausgerechnet diese massive Frontlinse bestand nun aber aus derjenigen Glassorte mit dem kleinsten Brechungsindex des Gesamtobjektives, womit die Herstellungskosten einigermaßen im Rahmen gehalten werden sollten. Für die anderen sechs Linsen wurde allerdings auf für DDR-Verhältnisse auffallend hochbrechende Gläser mit Brechzahlen über 1,7 zurückgegriffen. Trotzdem habe man auf extremste Glassorten verzichtet können. In der Patentschrift sind beispielhaft zwei japanische Erfindungsbeschreibungen der Firma Olympus aufgeführt, die beide mit extrem hochbrechenden Lanthan-Flintgläsern (Brechzahlen über 1,8; Abbesche Zahlen über 40) arbeiten. Diese waren (und sind nach wie vor) nicht nur sehr teuer in der Herstellung, sondern erschwerten den Konstrukteuren offenbar auch das im Zaume halten des sekundären Spektrums, weil derartige Gläser oftmals eine anomale Dispersion aufweisen. Das heißt, bei ihnen weicht der Brechungsindex in Teilbereichen des Spektrums deutlich vom üblichen Verlauf ab. Die Fachleute sprechen auch von einer Kurzflint-Charakteristik. Während aber eine solche Eigenschaft beispielsweise die umfassende Farbfehlerkorrektur von langbrennweitigen Teleobjektiven erst möglich macht, kann sie dieselbe bei lichtstarken Normalobjektiven offenbar sehr erschweren. Der Kunstgriff von Dietzsch und seinen Mitarbeitern, um auf solche extrem hochbrechende Gläser verzichten zu können, lag nun darin, durch die sehr kugelige Form der Frontlinse den optischen Weg für die schief einfallenden Lichtbündel zu verkürzen, was sich wiederum vorteilhaft auf die Korrektur des Astigmatismus und der Koma auswirkte. Auch der Luftzwischenraum zwischen zweiter und dritter Linse mit seiner "eindeutig zerstreuenden Wirkung" hatte laut Patentschrift hieran seinen Anteil.

Praktica B100 Prakticar 1.4 50

Die praktisch ausgeführte Variante des Prakticars 1,4/50 mit Konstruktionsdatum vom 20. März 1978 enthielt aber trotzdem wieder thoriumhaltiges Glas, was ich deswegen mit Sicherheit sagen kann, weil das zweite Patent, auf das ich gleich komme, genau dessen Einsatz zu vermeiden suchte. Als weiteres Indiz dafür neigt die erste Version des Prakticars 1,4/50 bei Dunkellagerung zum bekannten Vergilben. Aufgrund des Einsatzes dieser Gläser war zudem die Produktion dieses Objektives aufwendig und teuer. Nur 12.500 Stück wurden daher von dieser Version zwischen 1980 und 1983 produziert. Es handelt sich angesichts der hohen Öffnung um ein sehr gutes Normalobjektiv in einer wirklich erstklassigen mechanischen Ausführung. Die Glaskörper sind in Messing gefaßt und die Blendenmechanik ist kugelgelagert.

Prakticar 1,4/50 1. Variante

Die erste Version des Prakticars 1,4/50 läßt sich an den außenliegenden Gravuren der Herstellerbezeichnung erkennen. In der untenstehenden Schnittzeichnung fällt die extrem gedrängte Anordnung der Elemente auf, die das Prakticar deutlich kompakter machen, als das alte Pancolar 1,4/55 mm 15 Jahre zuvor.

Prakticar 1,4/50 1978 Schema

Doch dieses Objektiv war einfach in der Herstellung zu teuer. Das geht wörtlich aus der DDR-Schutzschrift Nr. 214.946 vom 2. Mai 1983 hervor, in welcher die teuren Lanthangläser des bisherigen Prakticars 1,4/50 mm ausdrücklich im Abschnitt zum Forschungsstand erwähnt werden. Gegenstand des neuen Patentes von Günther Benedix und Utz Schneider war im Prinzip ein Umarbeiten der bestehenden Konstruktion mit dem Ziel, "ein lichtstarkes Objektiv für einäugige Spiegelreflexkameras mit einem Bildformat von 24 x 36 mm [zu schaffen], das unter Verwendung preisgünstiger Gläser hohe Gebrauchswerteigenschaften besitzt. Auf den Einsatz von thoriumhaltigen Gläsern soll verzichtet werden." Diese Prämisse fand ihren Niederschlag darin, daß sich in dieser neuen Ausführung des Prakticar 1,4/50 mm nur noch zwei Glassorten mit einer über dem Wert 1,7 liegender Brechzahl befinden. Offensichtlich war dies ohne nennenswerte Verschlechterung der Bildleistung machbar. Da in beiden Schutzschriften die Aberrationskurven angegeben sind, ist ein direkter Vergleich möglich. Ich habe beide unten angegeben, sodaß sich jeder selbst ein Bild machen kann.

Prakticar 1,4/50 Version 1982

Dieses neue Prakticar 1,4/50 mit Konstruktionsdatum 1. Juni 1982 ist in eine noch etwas gefälligere Fassung eingebaut, die kompakter erscheint, obwohl sich die Linsenform eigentlich nicht prinzipiell geändert hat. Trotz des preiswerteren Materialeinsatzes wurde aber auch dieses Normalobjektiv mit knapp 14.000 Stück in sechs Jahren nicht wirklich häufig gebaut. Das verwundert nicht, denn mit 865,- Mark war der Inlands-Verkaufspreis schließlich beinah noch einmal so hoch wie derjenige des Kameragehäuses. Für den DDR-Bürger war es zudem zumindest außerhalb der Hauptstadt nur schwer erhältlich.

Prakticar 1,4/50 1982 Schema
Korrektionszustand Version 1978
Korrektionszustand Version 1982

Oben: Gegenüberstellung der Fehlerkurven der beiden Prakticare 1:1,4; links die Version von 1978 (Patent 1979), rechts die Rechnung von 1982 (Patent 1983). Die oftmals der ersten Version nachgesagte bessere Bildleistung ist zumindest aus diesen Kurven nicht ersichtlich.   

Oben: Trotz guten Lichtes wurde hier einmal bei vollkommen geöffneter Blende photographiert. Das Prakticar 1,4/50 (1. Version) liefert dann freilich nur eine mäßige Schärfe bei deutlich vermindertem Kontrast. Das ist aber nichts Außergewöhnliches für solch lichtstarke Objektive aus dieser Zeit. Ausschlaggebend für ein gutes Amateurobjektiv ist, daß die Bildleistung schon bei leichter Abblendung sehr gut wird. Die volle Objektivöffnung bleibt dann Einsatzfällen unter sehr schlechten Lichtverhältnissen vorbehalten, oder wenn man wirklich außergewöhnliche Bildwirkungen erzielen will.

Meiner Erfahrung nach ist bereits bei Abblendung um eine Stufe die Scharfzeichnung in den mittleren Bildregionen so gut, daß sie das Übertragungsvermögen der meisten Filmemulsionen übertrifft. Man merkt dann gar nicht mehr, daß man mit einem hochlichtstarken Objektiv photographiert hat. Das schafft Reserven, wenn man mal an einem trüben Tag in "finstren Löchern" photographieren muß. Das Bild oben ist mit dem ersten 1,4er an der Praktica B100 bei nur leichter Abblendung entstanden - eine sehr praxistaugliche und zudem recht zuverlässige Kombination übrigens (bei einer ansonsten insgesamt leider ziemlich anfälligen Praktica B-Reihe).

Hier zwei Aufnahmen mit der zweiten Version des Prakticar 1,4/50 mm bei vollkommen geöffneter Blende. Oben mit der BX 20 auf Fuji Pro 400 H, unten mit der B200 auf Kodak Pro Image 100. Diese zweite Version arbeitet stets farbneutral, was zumindest in der analogen Farbphotographie sehr von Bedeutung ist. Außerdem ist aufgrund der deutlich transparenteren Linsen die effektive Lichtstärke höher. Und da in meinen Augen obendrein noch die Fassungsgestaltung gelungener erscheint, möchte ich diese zweite Version nur wärmstens empfehlen.

Prakticar f/1.4
Prakticar 1.4

Die nie völlig zu beseitigende Restfärbung der ersten Version des Prakticars 1,4/50 kann in der klassischen Photographie zu einem Kippen der Farben führen, das sich nachträglich kaum noch auskorrigieren läßt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn weitere ungünstige Faktoren wie lange Belichtungszeit, Überlagerung des Materials oder Verarbeitungstoleranzen hinzukommen. Dann verlaufen schlichtweg die Gradationskurven der einzelnen Farbschichten nicht mehr parallel. Es sollte aber nicht verschwiegen werden, daß genau diese Formen der vorher nicht kalkulierbaren Imperfektion der "analogen Photographie" in den letzten Jahren viele neue Anhänger verschafft hat. Praktica B200, Kodak Pro Image 100

Prakticar 1.4/50

Wie eingangs bereits erwähnt, war es wichtig, daß die in den 70er Jahren auch beim Amateur immer beliebteren Normalobjektive der Maximalöffnung 1:1,4 trotzdem universell einsetzbar waren. Dazu sind auch Aufnahmen im Nahbereich zu zählen, die für lichtstarke Systeme mit stark asymmetrischer Brechkraftverteilung schnell zum Problem werden können. Zwar wird niemand auf die Idee kommen, mit einem solchen Objektiv ausgerechnet Reproduktionen anzufertigen, aber trotzdem sollten Astigmatismus, Wölbung und Koma im Nahbereich einigermaßen im Rahmen bleiben. Hier ist das Prakticar 1,4/50 (2. Version) bei seiner kürzesten Nahdistanz von 40 cm bei großer Öffnung der Blende eingesetzt worden. Praktica BX20, Portra 400 belichtet auf 24 DIN.

Der für die folgenden Aufnahmen eingesetzte Film Adox CMS 20 ist derart unempfindlich, daß man selbst im vollen Sonnenlicht gezwungen ist, das Objektiv weit aufgeblendet zu nutzen, um zu verreißungsfreien Bildern zu gelangen. Das scheint mir noch viel ausschlaggebender dafür zu sein, daß man mit diesem Film die Leistungsfähigkeit von Objektiven an ihre Grenze bringen kann, als die Tatsache, daß seine Emulsion praktisch völlig kornfrei und extrem dünn ist. Praktica B100, Prakticar 1,4/50 (2. Version) bei offener oder nur um eine Stufe geschlossener Blende. Der CMS 20 wurde auf 12 DIN belichtet und 30 Minuten in ORWO R09 1:200 entwickelt.

Über Radioaktivität und Vergilbung


Oder: Weshalb es das Prakticar 1,4/50 gewissermaßen zweimal gibt

Mittlerweile hat uns Herr Günther Benedix, der zur letzten Generation an Objektivkonstrukteuren bei Zeiss Jena zu zählen ist, einige Informationen und Originaldokumente zum Prakticar 1,4 zur Verfügung gestellt, die die obigen Aussagen noch präzisieren und einen interessanten Einblick liefern, wie es damals im Zeisswerk zuging. Benedix war zusammen mit Utz Schneider beauftragt, die thoriumhaltigen Linsen der ersten Version zu ersetzen. Es handelte sich dabei um zwei Linsen im hinteren Systemteil, die aus dem  Schwerstkron SSK11 bestanden. Wie aus dem unten wiedergegebenen Originaldokument ersichtlich ist, war dieses thoriumhaltige Glasmaterial nicht ohne weiteres durch das Lanthan-Schwerkron LaSK3 ersetzbar.

Der Hintergrund des obigen Schreibens lag darin, daß das Patent der Herren Benedix und Schneider, mit denen sie das Prakticar 1983 thoriumfrei gemacht hatten, am 6. September 1989 endlich erteilt worden war. Das Patentamt hatte also mehr als sechs Jahre gebraucht, um die ausreichende Erfindungshöhe der Neuerung anzuerkennen. Angesichts der vielen, über die Jahrzehnte hinweg angehäuften internationalen Patente zum Gaußtyp und der Tatsache, daß bei dieser Objektivbauform kaum noch Spielraum für Neuerungen vorhanden war, ist diese lange Prüfdauer nicht verwunderlich. Mit der nun, noch  kurz vor der Wende erfolgten Erteilung ihres Patentes, hatten die beiden Konstrukteure eine Handhabe, eine ausreichende Vergütung für ihre Arbeit einzufordern. Das Glück für uns liegt nun darin, daß durch diesen betriebsinternen Vorgang Informationen zum Prakticar 1,4/50mm überliefert geblieben sind, die ansonsten vielleicht schon in Vergessenheit geraten wären.


Das Schwerstkron SSK11 war mit einer Hauptbrechzahl von 1,7564 ein hochbrechendes Glas, das angesichts dieses hohen Brechungsvermögens eine vergleichsweise geringe Farbzerstreuung aufzuweisen hatte (Abbesche Zahl von 52,9). Diese beiden Eigenschaften in Kombination sind sehr wertvoll. Optische Linsen sind quasi Abschnitte aus einer Glaskugel. Hochbrechende Gläser ermöglichen es dem Objektivkonstrukteur, Linsen einzusetzen, die bei gleicher Brechkraft viel flacher sein können. Genauer gesagt brauchen die Oberflächen weniger stark gekrümmt sein. Damit können Bildfehler im Zaume gehalten werden, die nun garade aus dieser Kugelgestalt der Linse herrühren. Hat dieses Glas gleichzeitig noch eine geringe Farbzerstreuung zu bieten, dann gelingt es, weitere problematische Abweichungen wie den Gaußfehler zu begrenzen: Das Außmaß des durch die kugelige Gestalt der Linse hervorgerufenen Öffnungsfehlers ist zu allem Unglück nämlich auch noch abhängig von der Lichtfarbe. Ein Glas also, das das Licht von vornherein weniger stark in seine Farben aufspaltet, macht das Beherrschen und gegenseitige Abwägen solcher Abbildungsfehler bei lichtstarken Objektiven überhaupt erst möglich.


Wenn meine Recherchen stimmen, dann ist das Schwerstkron SSK11 ein Boratglas, das aus diesbezüglichen Forschungsarbeiten Werner Vogels und Wolfgang Heindorfs Ende der 50er Jahre im VEB JENAer Glaswerk hervorgegangen ist [DDR Patent Nr. 22.535 vom 26. Juni 1959]. Diese Gläser enthalten neben Bortrioxid, Lanthantrioxid und Cadmiumfluorid auch um die 20 Prozent Thoriumdioxid. Bei letzterem handelt es sich um das Thoriumisotop 232, das zwar radioaktiv ist, aber durch seine lange Halbwertszeit (länger als das Universum alt ist) derart langsam zerfällt, daß die fertige Linse an sich unbedenklich ist. Allerdings verursachen Thoriumverbindungen eine sehr starke gesundheitliche Gefährdung bei denjenigen Menschen, die diese verarbeiten. Das Erschmelzen solcher Gläser, aber insbesondere deren Schleifen, Polieren und Zentrieren müssen unter besonderem Arbeitsschutz erfolgen, da eingeatmete Stäube stark karzinogene Wirkung haben. Die von diesem Material abgegebene Alphastrahlung, bei der bekanntermaßen schon ein Blatt Papier genügt, um sie abzuschirmen, und die von daher normalerweise gar nicht von außen in den Körper vordringen kann, entfaltet hingegen sofort dann eine stark schädigende Wirkung, sobald sie durch sogenannte Inkorpation des Thoriumdioxids direkt innerhalb des Organismus gelangt.


Das ist der eine, sehr einleuchtende Grund, weshalb ein Hersteller eine Glassorte, die eine radioaktive Komponente enthält enthält, nicht unbedingt in einem Objektiv einsetzen sollte, das für den Konsumgüterbedarf gedacht ist und deswegen in großen Stückzahlen fabriziert werden soll. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, der darin liegt, daß SSK-11-haltiges Glas durch die Eigenstrahlung des Thoriumdioxids nach und nach seine Transparenz durch Vergilbung einbüßt. Damit wird der Wert und die Nutzungsdauer eines lichtstarken Objektives auf Basis dieses Glases von vornherein zeitlich begrenzt. Die Vermeidung des sukzessiven Gebrauchswertverlustes von Objektiven durch Substitution dieses Glases war übrigens einer der wesentlichen Gründe, weshalb Benedix und Schneider am Ende ihre Vergütung durch ihren Arbeitgeber doch noch erhalten haben. Derartige Probleme mit der Langzeitstabilität entsprechender Erzeugnisse waren dem Herstellerwerk wohlbekannt. [Vgl. Protokoll zur Beratung der Nachvergütung vom  2. Oktober 1989]

Beratungsprotokoll

Damit hatte also gleichermaßen der Hersteller des Glases sowie die Objektivbauanstalt ein berechtigtes Interesse an der Verdrängung eines solchen Glasmateriales. Die Hoffnungen der Glaswerker, das oben vorgeschlagene, neu entwickelte Lanthan-Schwerkron LaSK3 könne problemlos an die Stelle des SSK11 treten, erfüllte sich indes nicht. Es erreichte mit einer Hauptbrechzahl von 1,7344 nicht das Lichtbrechungsvermögen und mit der Abbeschen Zahl von 51,98 auch nicht ganz die geringe Farbzerstreuung des Vorgängers. Wie mir Herr Benedix versicherte, war damit eine Einfache "Umrechnung" nicht nur beim Prakticar 1,4/50 mm erfolglos, sondern auch bei den im obigen Dokument genannten Spezialobjektiven für Mikrofilm-Lesegeräte. Diese hatte Benedix ebenfalls mit dem LaSK3 neu gerechnet. Nach dem Bau von Musterobjektiven und deren Prüfung mußte allerdings eingesehen werden, daß das Austauschglas auch hier nicht dieselben Ergebnisse brachte und deshalb SSK11-Glas für diesen Einsatzfall nun sogar explizit vorgehalten werden mußte. Um so drängender wurde es daher, das SSK11 in Konsumgüter-Objektiven wie dem Prakticar zu ersetzen.

Lanthan-Schwerkron LaSK3

Das Lanthan-Schwerkron LaSK 3 war zusammen mit dem Lanthan-Kron LaK 75n erst zur Leipziger Frühjahrsmesse 1981 herausgebracht worden [Vgl. die obige Meldung in einer Messe-Sonderbeilage der Jenaer Rundschau]. Während das LaK 75n problemlos das bisherige Schwerstkron SSK10 ersetzen konnte, war der Austausch von SSK 11 durch LaSK 3 nicht ohne weiteres möglich. Dennoch beeindruckt letzteres durch seine herausragenden Transmissionswerte fast bis an den UV-A Bereich heran. Gelbstiche waren mit diesem Glas also passé. Es wurde unter anderem im Prakticar 4/300 eingesetzt.

Dazu mußte das Prakticar 1,4/50 mm aber quasi noch einmal neu erfunden werden. Denn am Ende ging es nicht mehr nur darum, bedenkliche Glassorten zu ersetzen, sondern ganz allgemein um eine drastische Kostenreduzierung in der Produktion. Im Prakticar 1,4/50 mit Konstruktionsdatum 1. Juni 1982 ist das SSK11 schließlich durch das deutlich niedrigbrechendere Lanthan-Kron LaK75 (Hauptbrechzahl: 1,6965; Abbesche Zahl: 53,29) ausgetauscht worden. Es wurden etliche Kombinationen durchgespielt. Es mußte immerhin bis zu einer Variante Nr. 23 gerechnet werden, bis ein Kompromiß zwischen optischer Leistung und der erforderlichen Kostenreduzierung erreicht werden konnte, wobei Benedix und Schneider "an die absoluten Grenzen des gerade noch Vertretbaren gegangen" seien. Dazu war nicht nur das Schwerstkron SSK11 des Vorgängers ersetzt worden, sondern auch ein hochbrechendes Lanthanflint in den Linsen 1; 2 und 5. Daß diese Materialkosteneinsparung dabei noch ohne sichtbare Zugeständnisse an die Bildleistung (siehe Bildfehlerkurven oben) möglich war; genau darin lag die erfinderische Leistung der beiden Konstrukteure.

Datenblatt Pancolar 1,4 Variante 1

Hier sehen Sie zwei Datenblätter des Pancolar/Prakticar 1,4/50 aus dem Herstellerwerk, die mir Herr Benedix freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Oben die erste Variante vom 14. März 1978, die so nicht produziert wurde. Der ersten Version des Prakticar 1,4 lag dann eine Rechnung vom 20. März 1978 zugrunde.


Unten sieht man die kostenreduzierte, thoriumfreie 23. Variante vom 1. Juni 1982, die in exakt dieser Form in der zweiten Version des Prakticar 1,4/50 mm umgesetzt wurde. Bemerkenswert: Die Gesamtheit der hier versammelten Angaben auf einem einzigen Blatt Papier würden genügen, das Prakticar 1,4/50 durch einen qualifizierten Betrieb heute noch herstellen zu lassen.

Datenblatt Prakticar 1,4 Variante 23

Nicht mehr ganz klären ließ sich, inwieweit  das Lanthan-Schwerkron LaSK3 oder andere Austausch-Glassorten ohnehin hätten aus der Sowjetunion  bezogen werden müssen. An mehreren Stellen ist schließlich von Importeinsparungen zu lesen. [Protokoll zur Beratung der Nachvergütung vom  2. Oktober 1989]

In den Unterlagen von Herrn Benedix fand sich auch noch eine Daten-Zusammenstellung, die Auskunft über die Anfänge der Arbeiten bei Carl Zeiss Jena an einem modernen Normalobjektiv der Lichtstärke 1:1,4 liefert. Demzufolge lag bereits vom 26. August 1976 eine Rechnung für ein Pancolar 1,4/50 mm vor, die vollständig auf Glassorten aus der Sowjetunion aufgebaut war. Damals dominierte noch die Praktica L-Reihe die Produktion des Dresdner Kamerabaus. Anhand des Linsenschnitts erkennt man, daß der prinzipielle Aufbau dieses Objektives bereits ausgearbeitet vorlag; nur der spezielle Korrektureinfall der kugeligen Frontlinse ist noch nicht erkennbar. Gleichzeitig wird anhand dieser Datierung auf das Jahr 1976 noch einmal deutlich, wie viele Jahre die Entwicklungsabteilung letztlich in dieses Projekt investiert hat und wie komplex die Abwägungen zwischen Kosten und erreichbarem Qualitätsniveau gewesen sein mögen.

Datenblatt Pancolar 1,4/50mm SU-Glas

Wie radioaktiv ist radioaktives Glas?

Abschließend doch noch einmal ein paar Worte zur Radioaktivität thoriumhaltiger Gläser. Zuschriften zeigen nämlich, daß viele Leser durch diese Problematik verunsichert sind. Ein Kollege von mir, der Sandro, hat einmal ein Takumar 1,4/50 mm, dessen Eigenschaften ähnlich gelagert sind, wie beim obigen Prakticar, von der Sächsischen Landesmeßstelle für Radioaktivität in Chemnitz überprüfen lassen. Hier kam man zur folgenden Einschätzung:


"Die gemessene Dosisleistung in 5 cm Abstand zur thoriumhaltigen Linse beträgt 2,1 µSv/h; das ist hier die kameranahe Seite des Objektivs. Bei der Messung an der Kamera mit montiertem Objektiv ergab sich im ungefähren Abstand Auge – Linse ein Wert von 0,6 µSv/h. Die Werte sind Brutto-Dosisleistungen; die gemessene natürliche Hintergrundstrahlung von 0,1 µSv/h ist nicht abgezogen. Im Strahlenschutz gilt das Abstandsquadratgesetz. Wie gestern messtechnisch gezeigt, führt eine Verdopplung des Abstandes zur Strahlenquelle zur Reduzierung der Dosisleistung um den Faktor 4.


Bei Multiplikation der gemessenen Dosisleistung mit der Aufenthalts- bzw. Nutzungszeit erhält man die Dosis. Bei z. B. (sehr hoch angesetzten) 100 Stunden pro Jahr ergibt sich für die Handhabung des TAKUMAR-Objektivs eine Dosis von 210 µSv (0,21 mSv). Zum Vergleich dazu liegt die mittlere effektive Dosis aus natürlichen Strahlenquellen in Deutschland bei 2,1 mSv pro Jahr. Diese setzt sich zusammen aus 1,1 mSv durch eingeatmetes Radon und seine Zerfallsprodukte, 0,3 mSv aus direkter kosmischer Strahlung, 0,4 mSv aus direkter terrestrischer Strahlung und 0,3 mSv aus der Nahrung. Die mittlere effektive Dosis aus künstlichen Strahlenquellen in Deutschland (geht fast komplett auf die Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlung am Menschen in der Medizin zurück) liegt bei 1,7 mSv pro Jahr. Die zusätzliche Strahlenexposition durch die von Ihnen beschriebene Nutzung der Kameras bzw. Handhabung der Objektive ist somit vernachlässigbar."


Solange Sie also Ihr Objektiv nicht zerlegen, die Linsen ausbauen, anschließend an ihnen herumschleifen und die entstehenden Stäube in Ihre Lunge aufnehmen, besteht keinerlei Gefahr. Über das Vermeiden oder sogar Zurückdrängen der durch die Radioaktivität hervorgerufenen Vergilbungserscheinungen mithilfe von UV-Strahlung existieren im Internet bereits genügend Veröffentlichungen. Ich rate Ihnen nur: Haben Sie Geduld und nutzen Sie den natürlichen UV-Anteil des Tageslichtes. Vor dem Hantieren mit irgendwelchen künstlichen UV-Quellen kann ich nur dringend warnen! Diese sind allemal gefährlicher als jegliche Radioaktivität Ihres Objektives.

Vergleich Prakticar/Takumar

Noch eine Anmerkung: Bei direkten Vergleichsmessungen zwischen dem oben genannten Takumar und der ersten Version des Prakticares 1,4/50 durch unseren Leser Francesco Mazzeo schien Letzteres so gut wie überhaupt keine Strahlung auszusenden. Erst ein weiteres Exemplar mit der ersten Bauform der Fassung, das jedoch deutlich die bekannten Vergilbungserscheinungen zeigte, brachte es auf dieselben Strahlendosen wie das Takumar. Daraus kann man folgende Schlußfolgerung ziehen: Wir wissen zwar anhand der Montageanweisung des VEB Carl Zeiss Jena mit absoluter Sicherheit, daß die neue Fassung ab September 1984 produziert wurde (siehe Abbildung oben), doch ist damit nicht ausgeschlossen, daß bereits vorher die neue optische Formel verwendet wurde. Im Gegenteil: Man kann fast mit Gewißheit von einer "Übergangs-Serie" ausgehen, bei dem die neue Rechnung in die alte Fassung montiert wurde. Durch unseren Leser Helmut Sigismund haben wir mittlerweile die Bestätigung bekommen, daß das Produktionslos zwischen den Seriennummern 9004 und 11.004, das ab 13. April 1984 in die Endfertigung ging, bereits die neue Optik enthielt, während die Fassung noch von der ersten Bauart war.

Marco Kröger


letzte Änderung: 21. Februar 2024