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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Tessar
„Das Adlerauge Ihrer Kamera“
Das Tessar ist ein Jahrhundertobjektiv. Kaum etwas Vergleichbares dominierte im 20. Jahrhundert weite Teile der Phototechnik so sehr wie das Tessar. Und zwar nicht allein als ein erfolgreiches Erzeugnis eines einzelnen Herstellers, sondern als Gattungsbegriff für eine Objektivbauform, an der schon bald keine der Konkurrenzfirmen mehr vorbeikam. Als halbverkittete Tripletvariante ist der Tessartyp zu den erfolgreichsten Objektivkonstruktionen aller Zeiten zu zählen. Diese Tatsache erfährt selbst dadurch keinerlei Schmälerung, daß das Tessar im neuzeitlichen kommerziellen Objektivbau quasi keine Rolle mehr spielt.
1. Das Tessar als Ergebnis einer dreizehnjährigen Grundlagenforschung
1.1 Paul Rudolph und sein Neuachromat
Doch so augenfällig uns heute die Charakteristik des Tessars als ein durch Verkittung erweitertes Triplet auch erscheinen mag, und so gerne wir es der Übersichtlichkeit halber jener Gruppe um Zeitgenossen wie dem Heliar (Voigtländer, 1900) oder dem Hektor (Leitz, 1928) zuordnen würden, so wenig stimmt diese Kategorisierung mit dem tatsächlichen historischen Werdegang des Tessars überein. Dieser Eindruck drängt sich wohl nur deshalb auf, weil kaum daß Dennis Taylor im Jahre 1895 einen lediglich aus drei einzelnstehenden Linsen aufgebauten Anastigmaten geschaffen hatte [DRP Nr. 86.757], versuchten Konstrukteure wie Hans Harting sogleich, diesen einfachen Typ in seiner Leistung weiter zu verbessern, indem sie dessen drei Einzellinsen an einer oder mehreren Stellen in Kittgruppen aufspalteten [Heliar, DRP Nr. 124.934 und Nr. 143.889]. Diese Triplets und ihre Abwandlungen machten zu Beginn des 20. Jahrhunderts rasch den Großteil der Objektivproduktion aus und die Unterkategorie „Triplets mit verkitteter Hinterlinse“, die quasi als Synonym für „Tessartyp“ zu verstehen ist, wurde erst im Nachhinein so geschaffen.
Die Liste der Kategorie Triplet(t)s mit verkitteter Hinterlinse in Helmut Naumanns Standardwerk "Das Auge meiner Kamera" aus dem Jahre 1937. Naumann war vor dem II.Weltkrieg bei Busch in Rathenow tätig, wo er mit dem Vario-Glaukar eines der ersten Zoom-Objektive entwickelte. Nach 1945 arbeitete er dann bei Voigtländer und am Schluß bei Rodenstock.
Dabei hatte die Entwicklung von Photoobjektiven bei Carl Zeiss in Jena genau mit einer solchen Triplet-Konstruktion begonnen. Die Arbeiten dazu waren im Jahre 1888 noch von Ernst Abbe (1840-1905) persönlich aufgenommen worden [Vgl. Esche: 75 Jahre fotografische Objektive aus dem Zeiss-Werk Jena; in: Fotografie 9/1965, S. 346ff]. Doch infolge des Todes des Firmengründers Carl Zeiß zum Ende des Jahres, der Abbe nun vollständig die Verantwortung für die Jenaer Weltfirma aufbürdete, gab er die Konstruktionsarbeiten nach kurzer Zeit an seinen Assistenten Paul Rudolph (1858-1935) ab. Dieser mußte jedoch bald darauf feststellen, daß Abbes Konstruktionsansatz trotz sehr guter sphärischer Korrektur und einer Behebung der chromatischen Fehler bis hin zu Apochromasie eine aussichtslose Sackgasse darstellte. Bei der photographischen Überprüfung dieses Triplets ergab sich nämlich, daß nicht nur die Abbildung außerhalb der Bildmitte zunehmend in Unschärfe abglitt, sondern sich zudem seltsame Verzerrungen am Bildrand bemerkbar machten. Die Ursache dafür war im Bildfehler des Astigmatismus zu suchen, der die Leistung von ansonsten gut auskorrigierten Objektiven bislang stets infrage stellte. Der Astigmatismus ist wiederum eine Folge der sogenannten Bildfeldkrümmung, die dazu führt, dass seitlich gelegene Bildeinzelheiten nicht in derselben Ebene abgebildet werden wie im Zentrum gelegene, sondern die Brennpunkte zusammengenommen eine durchbogene Fläche bilden. Es ist logisch, daß ein solches gekrümmtes Bild auf einer flachen Photoplatte nicht bis zum Rand einheitlich scharf wiedergegeben werden kann. Beim Astigmatismus kommt aber erschwerend hinzu, daß sich für Licht, das das Objektiv in senkrecht zueinander stehenden Ebenen durchläuft, zwei getrennte Bildschalen ergeben, die beide in unterschiedlichem Maße oder schlimmstenfalls sogar in unterschiedliche Richtungen ausbrechen können. Man spricht daher auch vom Zweischalenfehler. Während die Bildkrümmung aber noch durch eine geschickte Plazierung der Blende gemildert werden konnte, waren gegen die Unschärfen und Verzerrungen, die durch diesen Astigmatismus hervorgerufen wurden, bislang keine Mittel gefunden worden.
Paul Rudolph im Januar 1905, nachdem er die "Progress Medal" der Royal Photographic Society of Great Britain erhalten hatte [aus: the Photographic Journal Nr. 3/1905]. Rudolph war damals auf dem ersten Höhepunkt seines Wirkens angelangt. Aus der ernüchternden Erfahrung, die er im Jahre 1888 mit dem stark mit Astigmatismus behafteten Abbe-Rudolph-Triplet gemacht hatte, war dem damals gerade einmal 30-jährigen Rudolph gewissermaßen eine Lebensaufgabe erwachsen, die er nun anderthalb Jahrzehnte später auf perfekte Weise gelöst zu haben schien.
Immerhin hatte der Pionier der Objektivberechnung Josef Petzval bereits in den Jahren 1843 und 1857 die Voraussetzung dafür formuliert, wie die Bildfeldkrümmung und damit auch der Astigmatismus gegen Null gebracht werden könnten. Seine Petzval-Bedingung lief letzten Endes darauf hinaus, in den Linsen eines Objektives ein bestimmtes Verhältnis zwischen Brechzahl und Farbzerstreuung zu erreichen. Einen ersten Versuch dahingehend hatte Adolph Steinheil im Jahre 1881 mit seinen Antiplaneten [DRP Nr. 16.354] angestellt, doch verhinderten die unzureichenden Eigenschaften der zur Verfügung stehenden Glassorten letztlich den vollen Erfolg. Diese Situation änderte sich jedoch in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre radikal, als durch die ausgesprochen glückliche Zusammenarbeit des Chemikers Otto Schott mit dem Jenaer Zeisswerk optische Gläser mit völlig neuartigen Eigenschaften hervorgebracht werden konnten. Diese Voraussetzungen mündeten darin, daß der Achromat als einer der wichtigsten Konstruktionselemente der Optik gewissermaßen noch einmal neu erfunden wurde.
Achromate waren schon seit dem 18. Jahrhundert bekannt (John Dollond). Man hatte erkannt, daß mit einer Kombination aus einer Sammel- und einer Zerstreuungslinse die unerträglichen Farbsäume gemildert werden können, die sich ergeben, wenn Licht durch Linsen gebrochen wird. Dazu wurde die Eigenschaft ausgenutzt, daß eine Kron genannte Glassorte bei kleinerer Brechzahl eine geringe Farbzerstreuung aufwies, während sogenanntes Flintglas zwar eine viel höhere Brechzahl zu bieten hatte, diese aber gleichzeitig an eine deutlich größere Farbzerstreuung gekoppelt war. Diese Materialkombination erlaubte es, die von der Sammellinse aus Kronglas hervorgerufene Zerlegung des Lichtes in seine Farben durch eine nachfolgende Zerstreuungslinse aus Flintglas zu kompensieren, die trotz der nötigen geringeren Brechkraft eine gegensätzlich wirkende Dispersion auf gleichem Niveau sicherstellen konnte. Derartige Achromate beflügelten zunächst vor allem den Fernrohrbau, weil hier aufgrund der starken Vergrößerungsfaktoren Farbsäume besonders störend wirkten. Große Erfolge im Bereich der photographischen Objektive wurden erzielt, als man ab den späten 1860er Jahren zwei solche Achromate symmetrisch zu einer Blende anordnete. Diese Aplanate ermöglichten die Korrektur der meisten Bildfehler einschließlich des Kugelgestaltsfehlers und der Koma. Doch es blieb der Astigmatismus.
Optische Medien haben für verschiedene Farben des Spektrums unterschiedliche Brechzahlen. Bei Abbildung mithilfe einer einzelnen Linse stellen sich daher zwei eklatante Bildfehler ein: Die chromatische Längs- und die chromatische Querabweichung. Die Längsabweichung (auch Farbortsfehler genannt) ist eine Folge daraus, daß die Linse über das Spektrum hinweg keine einheitliche Schnittweite aufweist und das Licht daher, nachdem es die Linse verlassen hat, in farbigen Einzelbildern gebündelt wird, die in unterschiedlichen Entfernungen auf der optischen Achse regelrecht aufgereiht erscheinen. Man kann daher nicht gleichzeitig beispielsweise auf das blaue oder das rote Bild scharf einstellen. Die chromatische Querabweichung (auch Farbfehler der Bildgröße genannt) ergibt sich daraus, daß die Linse über das Spektrum hinweg auch noch unterschiedliche Brennweiten hat. Das hat nun wiederum zur Folge, daß die farbigen Einzelbilder auch noch mit einem unterschiedlichen Abbildungsmaßstab auf die Bildebene fallen, weshalb sie unterschiedlich groß erscheinen und sich die gefürchteten farbigen Säume an den Rändern der Bilder ergeben.
Eine Möglichkeit des Ausgleichs dieser Farbfehler ergibt der Achromat als Kombination einer Sammel- und einer Zerstreuungslinse. Diese müssen aus den passenden Glassorten bestehen und aufeinander abgeglichene Brechkräfte haben, um beispielsweise den Farbenvergrößerungsfehler für zwei Farben streng und die Längsabweichung recht gut beheben zu können. Die beiden Linsen können dabei miteinander verkittet werden (Kittfläche K) oder zwischen ihnen wird ein schmaler Luftspalt belassen. Derartige Achromate wurden in der Anfangszeit als einfache Objektive mit recht bescheidener Abbildungsleistung eingesetzt, erlangten aber später eine viel bedeutendere Rolle als Konstruktionselement in komplexeren zusammengesetzten Objektiven. [Beide Abbildungen nach: Naumann, Auge meiner Kamera, 1937.]
Es war nun Paul Rudolph dem es in den Jahren 1889/90 erstmals gelang, endlich einen Weg zur Behebung dieses problematischen Bildfehlers zu finden, in dem er eine neue Form des Achromaten entwickelte. Möglich war dies geworden mit den neuartigen Glassorten, die in Jena durch das Glaswerk Otto Schott & Genossen hervorgebracht werden konnten. Diese Glassorten erlaubten es, jenes über Jahrhunderte hinweg zementierte Gefüge zwischen Brechzahl und Dispersion mit einem Mal zu überwinden. Zentraler Punkt dabei waren die sogenannten Schwerkrone, die das Licht weiterhin nur so stark in seine Spektralfarben zerstreuten, wie die bisherigen Krongläser, es dabei aber so stark brechen konnten, wie man es bislang nur von Flintgläsern her kannte. Gleichzeitig gelang es aber auch, Flintgläser in ihren Eigenschaften stark zu manipulieren, indem ihr Brechungsvermögen auf ungewöhnlich niedrige Werte abgesenkt, und ihre Farbzerstreuung quasi genau an die Grenze zwischen Kron- und Flintgläsern gelegt wurde – daher auch ihr Name Kron-Flint. Auch die ähnlich gelagerten Barit-Leicht-Flinte sowie die sogenannten Kurzflinte zählten zu dieser Klasse, wobei letztere mit ihren anomalen Dispersionsverläufen sogar die Farbkorrektur bis in den apochromatischen Bereich ermöglichten.
Zeichnet man die Vielfalt der Glasarten in ein Koordinatensystem ein, bei dem die y-Achse den Brechungsindex und die x-Achse die Abbe'schen Zahlen bedeuten, dann ergibt sich diese charakteristische Darstellung. Es handelt sich um eine Momentaufnahme aus dem Jahre 1937, die die Fortschritte der letzten exakt 50 Jahre widerspiegelt. Gab es bis 1886 nur Gläser im Bereich Kron (K) und Flint (F), so waren mittlerweile Sorten mit extremen Eigenschaften hinzugekommen, aber eben auch Gläser, die gewissermaßen die Lücken dazwischen ausfüllten und die sich als besonders essentiell erwiesen hatten, um Objektive aus korrigieren zu können. Gut zu sehen zum Beispiel Glassorten, die mit ny-Werten zwischen 50 und 55 in einem Grenzbereich lagen, wo je nach den sonstigen Eigenschaften Flint und Kron regelrecht ineinander übergingen.
Mit diesen Glasarten konnte nun erstmals ein Achromat zusammengestellt werden, der es erlaubte, die oben bereits erwähnte Petzval-Bedingung einzuhalten. In einem Achromat, der insgesamt eine sammelnde Wirkung haben soll, muß die Zerstreuungslinse ja stets aus demjenigen Glas mit der höheren Dispersion bestehen. Nur so ist zu erreichen, dass die durch die stärkere Brechkraft der Sammellinse hervorgehobene große farbliche Aufspaltung des Lichtes durch die nachfolgende Zerstreuungslinse wieder neutralisiert werden kann, obwohl deren Brechkraft ja geringer sein muß, um nicht die positive Gesamtwirkung des Achromaten aufzuheben. Dieses Prinzip ist grundsätzlich nicht zu umgehen. Der große Unterschied zu den bisherigen Achromaten bestand jetzt aber darin, daß durch Einsatz der neuen Glassorten auf einmal die Sammellinse aus dem stärker brechenden, die Zerstreuungslinse jedoch aus dem schwächer brechenden Glas bestehen konnte, ohne die notwendige Aufteilung der Dispersion auf beide Elemente anzutasten. Paul Rudolph hatte nun erkannt, daß mit diesem sogenannten Neuachromat der Schlüssel gefunden war, um die Bildfeldwölbung und den Astigmatismus in einem photographischen Objektiv zu beheben. Das lag daran, daß durch die Umkehrung der Brechzahlverhältnisse im Achromat die Kittfläche zwischen dessen beiden Linsen jetzt auf einmal eine sammelnde Wirkung bekam, während sie beim Altachromat bislang stets zerstreuend gewirkt hatte. Der große Durchbruch gelang Paul Rudolph in den Jahren 1889/90 nun dadurch, indem er einen solchen Neuachromaten mit einem Altachromaten kombinierte, wobei ersterer die Steuerung des Astigmatismus, letzterer wiederum die Korrektur der sphärischen Aberration erlaubte. Ergebnis war das erste von Bildfeldwölbung und Astigmatismus befreite Objektiv, das zunächst „Anastigmat“ genannt wurde und das später unter dem Markennamen Protar vertrieben wurde.
1.2 Das Tessar als Rettung aus einem tiefen Rückschlag
Diese namentliche Präzisierung wurde nötig, weil die Priorität des Zeisswerks in Bezug auf Anastigmate nicht allzu lang währte und recht bald Konkurrenzfirmen nachzogen, die mit ihren Produkten zunächst sogar erfolgreicher waren. Das lag nicht zuletzt auch an den Richtungsentscheidungen Paul Rudolphs, der verbissen an der Umarbeitung seiner Erfindung zu einem Satz-Anastigmaten festhielt, während Konkurrenzfirmen wie Goerz oder Meyer mit symmetrisch gebauten Doppelanastigmaten sehr erfolgreich waren. Rudolph reagierte darauf, indem er im Jahre 1896 mit dem Planar ebenfalls einen Doppelanastigmaten schuf, der freilich weit über das bisher gekannte Maß an sphärischer und chromatischer Korrektur hinausging und deshalb für damalige Verhältnisse eine ungewöhnlich hohe Lichtstärke ohne Zugeständnisse an die Abbildungsleistung erreichte. Doch dieses Planar war ebenso wie der Satz-Anastigmat alles andere als ein Objektiv für den Massenmarkt.
Aber gerade in dieser Hinsicht war an der Wende zum 20. Jahrhundert einiges in Bewegung geraten. Photographische Objektive wurden nun nicht mehr allein für den Atelier-Photographen hergestellt. Eine zunehmende Schar an Amateuren begann die Photographie als ihr Steckenpferd zu entdecken und sie kauften sich dafür kleinformatige Platten- und vor allem die neuartigen Rollfilmkameras. Letztere erlaubten nicht nur, mehrere Aufnahmen hintereinander auf das Filmband aufzunehmen, sondern mit dem neu eingeführten Schutzpapier auch einen Filmwechsel bei Tageslicht. Für diese neue Kameragattung wurden nun Objektive gebraucht, die genau auf das entsprechende Format zugeschnitten waren und die bei hoher Bildqualität möglichst lichtstark sein mußten, um die Aufnahme auch ohne Stativ anfertigen zu können ("Handkamera"). Diesen Trend hatte Paul Rudolph richtig erkannt und er richtete nach der Schaffung des symmetrisch aufgebauten Planars seinen Blick nun wieder auf eine asymmetrische Konstruktion. Hatte er zuvor bei seinem Protar-Anastigmat die sphärische Korrektur in der einen und die anastigmatische Korrektur in der anderen Hälfte an unterschiedlich brechenden Kittflächen vorgenommen, so wies er mit seinem Unar [DRP 134.408 vom 3. November 1899] nach, daß dasselbe Ergebnis auch erreicht werden konnte, wenn die Glaspaare durch Luftzwischenräume voneinander abgegrenzt werden. Dabei erzielte er "Luftlinsen", denen er wiederum in der einen Hälfte des Objektivs eine positive, in der anderen eine negative Wirkung mitgab. Und da das Zwischenmedium Luft mit einer Brechzahl von 1 deutlich größere Brechzahldifferenzen mit dem benachbarten Glas ergab, war die Korrekturwirkung dieser Luftlinsen auch deutlich stärker als bisher die Kittflächen zwischen zwei Gläsern. Auf diese Weise war es Paul Rudolph möglich, eine hohe Bildfehlerberichtigung bei einer für die Zeit um die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert unerhört hohen Lichtstärke von 1:4,5 zu erzielen.
Doch dieses Unar mündete in einer Katastrophe. Rudolph, der meinte, mit diesem Objektiv den großen Durchbruch erreicht zu haben, begann umgehend ein privates Engagement im Geschäftsfeld des Kamerabaus, um für das neue Zeiss-Objektiv selbst die passende Rollfilm-Handkamera mit einem Schlitzverschluß bereitzustellen. Doch nicht nur diese Palmos-Rollfilmkamera war eine Fehlkonstruktion, sondern auch das Unar mußte bereits nach kurzer Zeit wieder vom Markt zurückgezogen werden. Es stellte sich heraus, daß die meniskenhaft durchbogenen Linsen im bildseitigen Systemteil des Unars zu störenden Reflexen führten, die das Objektiv dadurch in der Praxis wenig brauchbar machte [Vgl. Merté, Willy: The Zeiss Index of Photographic Lenses, Volume 1, 1948/49, S. 30.]. Auch ein eilig errechnetes Unar 1:6,3, das aufgrund der geringeren Linsendurchmesser in Zentralverschlüssen untergebracht werden konnte, und damit nicht auf die verkorkste Film-Palmos angewiesen war, konnte diese Konstruktion nicht mehr retten.
Es spricht allerdings für das Ausnahmetalent dieses Paul Rudolph, daß er diesen Rückschlag binnen weniger Monate in einen großen Erfolg verwandeln konnte. Während sein Palmos Camera-Werk erst von seinem Arbeitgeber übernommen und dann unter hohen Verlusten liquidiert werden mußte, sann Rudolph darüber nach, wie er den mit seinem Unar eingeschlagenen, prinzipiell richtigen Konstruktionsansatz retten könne. Richtig für ein modernes Universalobjektiv war der asymmetrische Ansatz, richtig war auch der gedrungene Aufbau aus dünnen Linsen mit flach gehaltenen Krümmungsradien, die Vorteile in Hinblick auf Materialkosten und Herstellungsaufwand mit sich brachten. Konkurrenzfirmen zeigten mit ihren Triplet-Typen, daß man auf dieser Basis sehr erfolgreich im Amateur-Markt sein konnte. Doch der unverkittete Dreilinser verlangte nach zu vielen Kompromissen zwischen Lichtstärke, Bildwinkel und Abbildungsleistung, daß er für Rudolph infrage gekommen wäre.
Es hat sich nun als einer der glücklichsten Wendungen im Bereich des Photoobjektivbaus ergeben, daß Paul Rudolph aus dieser Sackgasse herausfand, indem er das Potential seiner in den letzten zehn Jahren erarbeiteten Grundlagenerfindungen zur gleichzeitigen Beherrschung der Farbfehler, des Kugelgestaltsfehlers und des Astigmatismus zusammenführte. Der Kern seines Tessar-Patentes Nr. 142.294 vom 25. April 1902 basierte dabei darauf, daß er die Korrekturprinzipien seines Protar-Anastigmaten mit demjenigen des Unars kombinierte, das heißt es wurde das Korrekturmittel der gegensätzlich brechenden Nachbarflächen sowohl in der Form wie beim Protar mithilfe einer Kittfläche, als auch wie beim Unar mithilfe eines Luftzwischenraumes angewendet. Aus der obigen Abbildung, die diesen Vorgang schematisiert darstellt, wird auch deutlich, wie Paul Rudolph sich auf diese Weise der hinteren Gruppe des Unars entledigte, die mit ihren meniskenförmigen Linsen das Objektiv so reflexempfindlich gemacht hatte.
Oben die originale Patentschrift von 1902. Seinen erfinderischen Fortschritt (der Dreh- und Angelpunkt eines jeden Patentgesuchs) erläuterte Rudolph folgendermaßen:
"Dieser Erfolg beruht darauf, daß in einem aus vier durch die Blende in zwei Gruppen geteilten einfachen Linsen bestehenden Objektiv die Linsen der einen Gruppe einen Luftabstand erhalten, welcher von einem Nachbarflächenpaar mit negativem Stärkevorzeichen begrenzt ist, die Linsen der anderen Gruppe aber durch eine Kittfläche mit sammelnder Wirkung vereinigt sind.
Durch dieses Objektiv ist der Konstruktionsgedanke des Objektivs nach Patent 56109 [also des "Anastigmats" von 1890] und der des Objektivs nach Patent 134408 [also des "Unars" von 1899] zu einer gewissen Vereinigung gebracht worden. Während man sich nämlich bei ersterem auf durch die Blende getrennte, verkittete Linsengruppen beschränkt und die Gegensätzlichkeit zur Herbeiführung astigmatischer Korrektion nur auf die Brechungswirkung von Kittflächen erstreckt hat, sind bei letzteren [sic!] unter Voraussetzung eines Luftabstandes in jeder Gruppe zwei in der Brechung gegensätzlich wirkende Nachbarflächen wirksam, d. h. zwei Luftlinsen von verschiedenem Stärkevorzeichen.
In dem neuen Objektiv ist nun die zur astigmatischen Korrektion führende Gegensätzlichkeit dadurch geschaffen, daß die Kittfläche der einen verkitteten Gruppe das entgegengesetzte Stärkevorzeichen erhält wie das Nachbarflächenpaar der anderen, einen Luftabstand enthaltenden Gruppe."
In der Folge führt Rudolph noch aus, daß er bei seinem Tessar von den beiden prinzipiell möglichen Lösungen diejenige gewählt hat, bei der eine positiv wirkende Kittfläche einer negativen Luftlinse gegenübergestellt wird. Zwar seien schon früher vielmals Kittflächen und Luftlinsen gegenübergestellt worden aber sowohl beim Petzvalobjektiv wie beim Steinheil'schen Antiplaneten habe die Kittfläche stets dasselbe Stärkevorzeichen besessen wie die Luftlinse.
Endlich war ein insgesamt einfach aufgebautes und vergleichsweise preiswert herstellbares photographisches Objektiv gefunden worden, bei dem gleichzeitig ein bisher nicht gekanntes Niveau an Bildleistung erzielt werden konnte. Dabei war zum Erreichen dieses Zieles fast ein anderthalbes Jahrzehnt an Vorarbeit nötig gewesen, die mehrfach in Sackgassen gemündet war. Paul Rudolph war zwar mit seinem Protar als erstem Objektivkonstrukteur die Korrektur des problematischen Astigmatismus gelungen, doch es zeigte sich schnell, daß es noch weiterer Anstrengung bedurfte, um den Ausgleich dieses bestimmten Abbildungsfehlers nicht durch Zugeständnisse in Hinblick auf die restlichen Abbildungsfehler erkaufen zu müssen.
Auf diesen Grundprinzipien der modernen Optik fußend, ist das Tessar selbst heute noch ein wunderbares – weil auch für den Laien verständliches – Beispiel dafür, daß Abbildungsfehler eben nicht einfach "beseitigt", sondern lediglich so weit gegeneinander abgewogen werden können, daß man sich einem Optimum annähert. Wenn die eine Objektivhälfte die Korrektur des problematischen Astigmatismus und der Wölbung, nicht aber des Kugelgestaltsfehlers zuläßt, dann muß die andere Hälfte letztere Aufgabe übernehmen, ohne wiederum negativ auf die Korrektur des Astigmatismus rückzuwirken, wobei von Vorteil war, daß beide Systemteile schon von sich aus achromatisiert gewesen sind. Diese aufeinander rückwirkenden Einflußfaktoren verlangten nach einem sorgfältigen Abgleichen von optischen Parametern wie Linsenabständen, Linsendicken, Linsenradien, usw., was angesichts der damaligen technischen Möglichkeiten nach unvorstellbar aufwendigen mathematischen Berechnungen verlangte. Speziell vor diesem Hintergrund wird auch die außergewöhnliche Begabung Paul Rudolphs und seiner Zeitgenossen abschätzbar, weil sie abgesehen von ihren mathematischen Fähigkeiten einen weit darüber hinausgehenden Einblick in die optische Materie haben mußten, um Lösungswege abschätzen zu können, die in heutiger Zeit ein Computerprogramm fast automatisch findet, wenn es schlichtweg Millionen an Lösungsmöglichkeiten per Versuch und Irrtum durchspielt.
Im Zeitalter von Papier und Bleistift, der Logarithmentafeln und der mechanischen Rechengeräte wäre man mit dieser Methode allerdings niemals ans Ziel gelangt. So war auch mit der bloßen Erfindung des Tessars noch lange nicht jenes Spitzenobjektiv geschaffen, das nun bald als "Adlerauge der Kamera" zu Weltruhm gelangen sollte. Denn jetzt schloß sich erst die eigentliche Arbeit an, diesen Typ zu optimieren und anschließend die unzähligen Varianten zu rechnen, die von der Photoindustrie mit ihren verschiedenen Aufnahmeformaten verlangt wurden.
Oben ist die erste öffentliche Bekanntmachung des neuen Tessars 1:6,3 in der Januar-Ausgabe der Monatsschrift "Photographische Korrespondenz" des Jahrganges 1903 wiedergegeben. Interessant zu sehen, welche Folgen die Rechtschreibreform von 1901 damals hatte. Nicht nur, daß sich die Photographische Correspondenz selbst auf einmal mit "K" statt "C" schrieb; nein man machte auch aus Carl Zeiß kurzerhand einen "Karl". Das erinnert sehr an die Verwirrungen, die durch die erneute Rechtschreibereform am Ende desselben Jahrhunderts ausgelöst werden sollte.
Das erste Tessar war auf eine Lichtstärke von 1:5,6 bei einer Brennweite von 135 mm ausgelegt und sein Rechnungsabschluß datiert auf den 21. April 1902, wie uns die Zeiss-Datenblattsammlung auf Karte Nummer 373 mitteilt. Auf der linken Seite ist die Bildwölbung gezeigt für eine Plazierung der Blende im ersten Luftraum, rechts im zweiten. In beiden Fällen verzeichnet das Objektiv ziemlich stark. Die Linsen 1 und 4 bestanden aus neuen hochbrechenden Schwerkron Gläsern, die in etwa den späteren SK1 bis SK4 entsprachen. Linse 2 war aus einem neuartigen Baritflintglas ähnlich dem späteren BaF4 und Linse 3 aus gewöhnlichem Kron.
Oben das erste Prospekt für das Tessar 1:6,3 sowie das Apochromat-Tessar 1:10 bzw. 1:15, das bereits vom Dezember 1902 datiert. Das Errechnen all dieser Varianten sollte die letzte große Arbeitsleistung sein, die Paul Rudolph für das Zeisswerk ablieferte.
2. Ernst Wandersleb übernimmt die Weiterentwicklung
In Rudolphs Tessar-Patent ist für das angegebene Ausführungsbeispiel eine Lichtstärke von 1 : 5,5 zugrundegelegt. Interessant erscheint, daß in dieser Schutzschrift offen zum Ausdruck gebracht wird, daß das angegebene Beispiel lediglich dazu geeignet sei, die grundsätzliche Leistungsfähigkeit seiner Erfindung abzuschätzen, es jedoch noch nicht zu einem Optimum durchgerechnet worden wäre. Diese, auf Grundlage der damals zur Verfügung stehenden Mittel übrigens sehr kräftezehrende Arbeit des Optimierens, hat Rudolph trotz der großen ökonomischen Bedeutung dieses international konkurrenzlosen Objektivtyps bereits nach kurzer Zeit vollständig seinem Assistenten Ernst Wandersleb überlassen. Und das obwohl Wandersleb – mit nur 22 Lebensjahren – gerade erst bei Zeiss eingestellt worden war. Wie wir heute wissen, lag das wohl hauptsächlich daran, daß das Tischtuch zwischen Paul Rudolph und seinem Arbeitgeber bereits seit längerer Zeit zerschnitten war.
Der Anfang 30 jährige Paul Rudolph (dritter von rechts) am 3 Juli 1891 im Kreise seiner Konstrukteurs-Kollegen der anderen Abteilungen sowie einiger Rechen-Assistenten.
Es gehört zur Lebenstragik des Dr. Paul Rudolph, daß dieser geniale Geist im Sommer 1889 mit gerade einmal 30 Lebensjahren einen nach heutigem Verständnis regelrechten Knebelvertrag mit dem Zeisswerk abgeschlossen hatte, der ihm anfänglich ein gutes und vor allem sicheres Auskommen zu sichern schien, sich aber später als ein goldener Käfig entpuppte, der ihm eine Teilhabe an den zunehmend größer werdenden ökonomischen Erträgen aus seinen Erfindungen verwehrte, ihn gleichzeitig aber auch nicht gehen und zum eigenen Herr über seine Erfindungen werden ließ. Um es vorweg zu nehmen: Paul Rudolph mußte erst über 60 Jahre alt werden, um von diesem Vertrag endlich loszukommen – und überdies seine schöpferische Kraft als Objektivkonstrukteur wiederzuerlangen!
Dieses Gefühl, zunehmend von seinem Arbeitgeber übervorteilt zu werden, muß in Paul Rudolph wohl aufgekommen sein, nachdem mit seinem Planar von 1896 das erste Mal mit einem Zeissobjektiv richtig gutes Geld verdient werden konnte, ihm aber aufgrund seines Anstellungsvertrages von 1889 kein Anteil an den Erträgen zustand. Eine im Arbeitsvertrag genannte Beteiligung an Patentlizenzen galt nämlich ausschließlich für seinen später als Protar bekannt gewordenen Anastigmaten von 1889/90. In dem Maße aber, wie Rudolph nun immer fortgeschrittenere Konstruktionen erfand, die das veraltete Protar zunehmend vom Markt verdrängten, fielen die zusätzlichen Einnahmen für ihn um so geringer aus. Für Rudolph ergab sich also die geradezu kafkaeske Situation, daß er immer stärker Opfer seines eigenen Erfolges wurde.
Auch für das Tessar wurden umgehend Fertigungslizenzen vergeben, so zum Beispiel an die US-amerikanische Firma Bausch & Lomb in Rochester und New York City [aus: Camera Work: A Photographic Quarterly Nr. 12, 1905, S. 73.]. Weitere Lizenznehmer waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts Karl Fritsch in Wien, Koristka in Mailand, Krauss in Paris sowie Ross in London.
Man kann daher seine Patentschrift zum Tessar auch so lesen, daß er verzweifelt versuchte, den Kerngedanken seiner Protar-Erfindung von 1889, mit dem ihm erstmals die Korrektur des Astigmatismus gelungen war, in der bildseitigen Kittgruppe des neuen Tessarobjektivs wieder aufleben zu lassen, um damit die vertraglich garantierte Beteiligung an Lizenzeinnahmen zu erzwingen. Doch genau diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Statt an dem großen kommerziellen Erfolg des Tessares zu partizipieren, mußte Rudolph mit ansehen, wie das nach Abbes Tod zum Großkonzern aufgestiegene Zeisswerk den Reibach ganz alleine einstrich. Verschlimmert worden war die ohnehin schon schwierige Lage noch mit einem waghalsigen Versuch, seine Einnahmen durch ein privates Engagement im Kamerabau zu verbessern. Das Scheitern des "Palmos-Camerawerks" hatte indes den endgültigen Bruch mit seinem Arbeitgeber zur Folge, da er diesen in den verlustreichen Bankrott mit hineingezogen hatte.
Die folgende Zeit nach dem Tessarpatent war nun durch eine fast völlige Erlahmung der schöpferischen Tätigkeit Rudolphs überschattet, obwohl er formal Leiter der Abteilung Photo blieb. In der Patentliteratur ist lediglich noch ein "Herumlaborieren" an seinen alten Erfindungen aus den 1890er Jahren nachweisbar. Diese wiederum kafkaesk anmutende Lage ergab sich ebenso als ein Ergebnis des unglücklichen Anstellungsvertrages von 1889: Rudolph hätte binnen zehn Jahren nach dem Ausscheiden bei Zeiss in keiner konkurrierenden Firma tätig werden dürfen, weshalb eine solche – nicht weniger als den Totalverlust seiner Lebensgrundlage bedeutende – Kündigung für ihn nicht infrage kam. Zeiss hatte andererseits Rudolph vertraglich eine unkündbare Stellung zugebilligt, weshalb sie fest an ihn gebunden waren, gleichgültig ob Paul Rudolph Jahrhundertobjektive erfand oder am Schreibtisch saß und Däumchen drehte – eine über die Maßen unbefriedigende Situation für beide Seiten. Diese beinah ins irrwitzige abgleitende Vorgeschichte mußte hier freilich vorweggeschickt werden, um begreiflich zu machen, weshalb die tatsächlich in den Handel gelangten Formen des Tessars keine Hervorbringungen seines Erfinders und Leiters der Photo-Abteilung mehr gewesen sind, sondern de facto diejenigen seines Assistenten Ernst Wandersleb. Willy Merté schreibt hierzu im Jahre 1929:
"Das Ausführungsbeispiel des Grundpatents des Tessars hat P. Rudolph [...] etwa für eine Öffnung 1 : 5,6 sphärisch und auf Sinusbedingung korrigiert, während die anastigmatische Bildebnung und Verzeichnungsfreiheit noch nicht in dem Maße wie bei den damaligen Protaren erreicht war. Dieses Patentbeispiel wurde nicht fabriziert, sondern zwei andere Formen, die P. Rudolph sogleich aus dem Typ herausarbeitete, das Tessar 1 : 6,3 als hervorragendes Universalobjektiv [...] und ein Reproduktionsobjektiv mit der Anfangsöffnung 1 : 10 bis 1 : 15, das 'Apochromattessar' gennant wurde.
Die weitere Entwicklung der Tessarform für die verschiedenen Anwendungsgebiete, vor allem in der Richtung großer Lichtstärke, als Universalobjektiv für Astrophotographie, für Porträtphotographie, für Kinoaufnahmen, für Episkopprojektion, späterhin für Fliegerkammern u. a. m. beruht bis etwa 1915 im wesentlichen auf den Arbeiten von E. Wandersleb, und zwar entstand 1904 ein Astrotessar 1 : 5, 1905 ein Universaltessar 1 : 4,5, 1906 das Tessar 1 : 3,5 mit einem Bildfeld von etwa 35–40° für Kinoaufnahmen und Sonderzwecke, insbesondere späterhin für die ersten Fliegerkammern, 1908 auch ein verhältnismäßig weitwinkliges Tessar mit einem Öffnungsverhältnis 1 : 9 und einem Bildfeld von etwa 80°. [...]
Daneben lief von 1905 an die Ausarbeitung von wichtigen Änderungen innerhalb der Tessare 1 : 6,3 und 1 : 4,5. Da diese Formen, ebenso wie die meisten der vorstehend genannten, zum großen Teil weit innerhalb der Laufdauer des Grundpatents entstanden, fehlte die Veranlassung, neue Schutzrechte für sie auszuarbeiten und so unterblieb bei der Mehrzahl auch ihre druckschriftliche Veröffentlichung [...]. Um so notwendiger schien es dem Verfasser, hier ausdrücklich auf diese wichtigen Arbeiten von E. Wandersleb hinzuweisen." [Merté, Willy: Bauarten der photographischen Objektive, in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band I, Das photographische Objektiv, Wien, 1932, S. 283/284.]
Ernst Wandersleb (1879 - 1963) auf einer Photographie aus derjenigen Zeit, als er Assistent Rudolphs gewesen sein dürfte. (Bild: Deutsche Digitale Bibliothek)
Man erfährt also aus diesen Ausführungen, daß Rudolph lediglich noch in den Jahren 1902 und 1903 das Tessar 1 : 6,3 und das Apo-Tessar ausgearbeitet hat, ab 1904 aber sämtliche Weiterentwicklungen von Rudolphs Assistenten Ernst Wandersleb übernommen worden sind – insbesondere das lange als das "Adlerauge der Kamera" beworbene Tessar 1:4,5. Obendrein kann man aus Mertés Ausführungen noch eine Würdigung Ernst Wanderslebs dahingehend herauslesen, daß dessen große Leistungen als herausragender Objektivkonstrukteur wohl deswegen immer ein wenig unter den Tisch gefallen sind, weil er anders als Merté oder Bertele nicht besonders prominent in der Patentliteratur auftaucht. Zudem wird Wandersleb durchweg als bescheidener Zeitgenosse und Philanthrop beschrieben, der offensichtlich nur wenige Ambitionen zeigte, sich in den Vordergrund zu spielen. Und das obgleich er 1911 als Rudolphs Nachfolger immerhin zum Leiter der Abteilung Photo des Zeisswerks aufgestiegen war.
Als begeisterter Ballonfahrer war Ernst Wandersleb bestrebt, sein privates Hobby mit seiner beruflichen Tätigkeit zu verbinden, wodurch er sich zu einem der Pioniere der Luftbildaufnahmen entwickelte und dabei nicht selten seine neusten Objektivschöpfungen zum Einsatz brachte [Bild: Deutsche Fotothek, Datensatz 90109763.]. Mit Beginn der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird dieser interessante Mann, der mit einer jüdischstämmigen Frau verheiratet gewesen ist, allerdings zunehmend diskriminiert und anschließend aus seiner Führungsposition innerhalb der Abteilung Photo verdrängt. Und wir dürfen uns leider keine Illusionen darüber machen, daß er dies im Wesentlichen seinem Assistenten Willy Merté zu verdanken hatte. Das Terrorregime hatte Wandersleb 1938/39 einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Vermögens geraubt, indem es ihm wie vielen tausend weiteren "jüdisch versippten" Familien nach den Novemberpogromen eine sogenannte "Judenbuße" auferlegt hatte. Nach unvorsichtigen Unmutsäußerungen darüber in der Firma wurde Wandersleb von Merté denunziert, woraufhin die Gestapo auf ihn aufmerksam wurde. Um sich keine weiteren Scherereien mit der Partei einzuhandeln, erteile die Zeiss-Geschäftsführung Wandersleb am 9. Februar 1939 kurzerhand ein Verbot zum Betreten des Betriebes und stellte ihn anschließend kalt. Der zuvor schon auffällig stark nach Profilierung seiner Person strebende Merté hatte sich auf dieser Weise erfolgreich seines Chefs entledigt und zugleich die Leitung der Photo-Abteilung einverleibt.
2.1 Die Tessare 1:6,3
2.1.1 Paul Rudolphs Tessar 1:6,3
Wenn bei der Erstellung des unten gezeigten Datenblatts kein Fehler unterlaufen ist, dann hat Paul Rudolph schon zum 23. März 1902 (!) die Rechnung für das Tessar 6,3/136 mm fertiggestellt – also noch vor Erarbeitung des als Patentbeispiel dienenden Tessares 5,6/135 mm. Bei diesem Tessar 6,3/136 mm ist das Bildfeld besser geebnet als beim Patentbeispiel und dessen hohe Verzeichnung ist fast restlos beseitigt. Bei den Glasarten hat sich dabei nichts Substantielles geändert.
Schnell wurde jedoch die sich rasch weiterentwickelnde Glastechnologie auf den neuen Tessartyp angewendet. Das Datenblatt unten zeigt uns ein Tessar 6,3/155 mm mit einer "Frontlinse aus Barytflint". Später wurden diese Gläser im Schott-Katalog unter der Kategorie "Barit-Leichtflint" eingruppiert. Danach folgt ein noch geringer brechendes Leicht-Flintglas. In der hinteren Gruppe wurde ein Fernrohrflint mit einem schwersten Barytkron verkittet. Letzteres ähnelt dem späteren SSK1. Zum 13. Dezember 1905 wurde diese Rechnung bereits wieder abgelöst durch ein Tessar 6,3/155 mm mit Baritflint Nr. 3932 sowohl in der Front- wie auch in der Rücklinse (Vgl. Karte Nummer 96).
Erste Reihe von ab 1903 gelieferten Tessaren 1:6,3
Serie IIb, Nummer | Brennweite in mm | Plattengröße in cm |
0 | 40 | 3x3 |
1 | 56 | 4x4 |
2 | 84 | 6x8 |
3 | 112 | 6x9 |
4 | 136 | 9x12 |
4a | 145 | 9x12 |
5 | 155 | 10x13 |
5a | 180 | 12x16 |
6 | 210 | 13x18 |
7 | 255 | 13x21 |
8 | 305 | 18x24 |
9 | 365 | 22x26 |
10 | 490 | 24x30 |
11 | 590 | 30x40 |
2.1.2 Ein Tessar 1:6,3 auf Basis des Tessares 1:4,5?
Nachdem Ernst Wandersleb das Tessar 1:4,5 entwickelt die einzelnen Brennweiten gerechnet hatte (siehe folgenden Abschnitt), sollte offenbar im Anschluß auch das Tessar 1:6,3 auf dieser Basis überarbeitet werden. In der Zeiss-Datenblattsammlung ist aus den Jahren 1908/1909 eine große Anzahl an Rechnungen enthalten, die teilweise auch als B-Tessar und Amatar bezeichnet wurden und dabei Variationen des Tessares 1:6,3 darstellen. Es ist jedoch fraglich, ob diese Weiterentwicklung von 1908/09 überhaupt je in den Handel gelangt ist. So scheint es sich nur um eine Zwischenstufe gehandelt zu haben, die letztlich verworfen wurde.
Denn offensichtlich war es nicht sinnvoll, das Tessar 1:6,3 mit dem Einsatz noch exklusiverer Gläser weiter zu verteuern. Oben sieht man als Beispiel für diesen Zwischenschritt die Karteikarte Nr. 192 für ein Amatar 6,3/150 mm (die ähnlich als Karte 191 auch als Tessar vorliegt). Und was hier auffällt ist das für die damalige Zeit extrem hochbrechende Kronglas in den Linsen 1 und 4. Es hatte die Schmelznummer O4511 und ist in die spätere Kategorie der Schwerstkron-Gläser einzuordnen. Im vorderen Objektivteil wurde der Sammellinse aus diesem Glas zudem eine Zerstreuungslinse aus schwerem Baritflint gegenübergestellt. Insgesamt war dies ein materialmäßig sehr aufwendiges Objektiv. Für ein Tessar 1:6,3, das nach Erscheinen des Tessares 1:4,5 einen deutlichen preislichen Abstand zu diesem haben mußte, um noch verkäuflich zu sein, war dieser Ansatz offensichtlich viel zu aufwendig.
2.1.3 Das nach Reichspatent 349.938 optimierte Tessar 1:6,3
Wirklich umgesetzt wurde beim Tessar 1:6,3 daher nachweislich ein ganz anderer Ansatz, der den Materialeinsatz zu mindern gestattete. Diesem Schritt mußte allerdings erst eine gründliche Forschungsarbeit vorausgehen, die in zwei Patentanmeldungen zum Ausdruck kommt – eine für das Tessar 1:4,5 und eine für das Tessar 1:6,3. Für das Tessar 1:6,3 ist dies das Reichspatent Nr. 349.938 vom 15. November 1917.
Von diesem Anmeldejahr 1917 sollte man sich allerdings nicht täuschen lassen. Die Entwicklung geht bereits auf eine Zeit zurück, nachdem Paul Rudolph die Abteilung Photo des Zeisswerks verlassen hatte. Das erkennt man daran, daß sich die in diesem Patent geschützten Spezifikationen bereits in Datenblättern für Tessare 1:6,3 finden, die auf die Jahre 1911 bis 1913 datieren. Die Anmeldung erst im Herbst 1917, nachdem die Tessare schon jahrelang in dieser Form im Handel waren, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu tun, daß nach den damals gesetzlich verankerten 15 Jahren der Patentschutz abgelaufen war (siehe Abschnitt 3). Daß diese beiden Patente gar erst im Frühjahr 1922 veröffentlicht wurden, obwohl die genannten Tessare 1:4,5 und 1:6,3 schon seit vielen Jahren nach diesem technischen Stand gebaut wurden, hat wohl zu falschen Rückschlüssen in Bezug auf die Chronologie der Tessar-Entwicklung geführt. Erst die Zeiss-Datenblatt-Überlieferung schafft diesbezüglich Klarheit.
Wie beim Tessar 1:4,5 (siehe Abschnitt 2.2.2) ging es auch im Falle des Tessares 1:6,3 prinzipiell darum, von den teuren und problematischen Schwerkrongläsern loszukommen. Bei diesen hochbrechenden und niedrig dispergierenden Glasarten kam es bei der Herstellung notorisch zur Bläschenbildung und zu Inhomogenitäten, weshalb oft ein großer Anteil der Schmelze verworfen werden mußte, was den Materialpreis des Tessares übermäßig in die Höhe trieb. Außerdem neigten diese Gläser bei der Benutzung des Objektives durch verschiedene Umwelteinflüsse zum Anlaufen.
Das führte zur Bestrebung, das Schwerkron in der Frontlinse durch ein billigeres, niedriger brechendes Glas zu ersetzen. Die Patentschrift deutet mit der Brechzahl um 1,53 bei einem ny-Wert von etwa 58 auf ein Zinksilikat-Kron hin (als Nummer 15 bzw. später als ZK1 im Glaskatalog verzeichnet). Das oben gezeigte Datenblatt für ein Tessar 6,3/15 cm, dessen Rechnung vom 27. Juli 1911 nachweislich tatsächlich in dieser Form produziert wurde, läßt erkennen, daß auch älteres Barytflint Verwendung fand ("O722 in L1 und L4", später Barit-Leichtflint BaLF4 genannt). Ausschlaggebend ist, daß zum Ausgleich der ungünstigeren Glaseigenschaften laut Reichspatent Nr. 349.938 vom 15. November 1917 eine genau abgestimmte Krümmung der Kittfläche im hinteren Glied vorgesehen war sowie eine Begrenzung des Brechzahlunterschiedes der beiden Glasarten im Kittglied auf maximal 0,05. In dieser kostengünstigen und trotzdem sehr leistungsfähigen Konfiguration wurde das Tessar 1:6,3 noch bist weit in die 1920er und 30er Jahre angeboten – wenn auch mit einer gegenüber dem Tessar 1:4,5 deutlich abnehmenden Bedeutung.
Die Tessare 1:6,3 wurden noch bis weit in die 1920er und 30er Jahre teils sporadisch, teils sogar in größeren Stückzahlen serienmäßig in Kameras eingesetzt, obwohl ihre Entwicklung zunächst auf dem Stand der Zeit vor dem ersten Weltkrieg stehen geblieben war. So unter anderem als Spitzenausstattung für diese einfache Kodak-Faltkamera aus dem Jahre 1929. Bild: David Wright.
Rechnungsdaten von einigen noch in der Zwischenkriegszeit hergestellten Tessaren 1:6,3 mit dem Abschluß vor dem Ersten Weltkrieg
Tessar 6,3/5,5 cm | 13. 11. 1903 |
Tessar 6,3/6,5 cm | 29. 07. 1903 |
Tessar 6,3/7,5 cm | 01. 11. 1912 |
Tessar 6,3/9 cm | 07. 07. 1906 |
Tessar 6,3/12 cm | 02. 04. 1906 |
Tessar 6,3/13 cm | 08. 09. 1906 |
Tessar 6,3/13,5 cm | 27. 05. 1911 |
Tessar 6,3/15 cm | 27. 07. 1911 |
Tessar 6,3/16,5 cm | 03. 06. 1911 |
Tessar 6,3/18 cm | 13. 06. 1911 |
Tessar 6,3/21 cm | 01. 08. 1911 |
Tessar 6,3/25 cm | 29. 09. 1911 |
Tessar 6,3/30 cm | 26. 07. 1912 |
Tessar 6,3/50 cm | 01. 11. 1911 |
2.2 Das erste Tessar 1:4,5
2.2.1 Wanderslebs Ursprungsversion von 1905
Die Korrekturmöglichkeiten, die der Tessartyp mit sich brachte, gaben ihm das grundsätzliche Potential zu weiter gesteigerten Lichtstärken. Schon im Zusammenhang mit dem Unar wurde oben aber angesprochen, daß die Nachfrage nach großen Lichtstärken zumindest in der Stillbildphotographie zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch gering ausgeprägt war. Das hatte unter anderem auch ganz profane technische Gründe. So gab es damals noch keine Zentralverschlüsse, die bei den sehr großen Linsendurchmessern dieser lichtstarken Objektive genügend kurze Verschlußzeiten geboten hätten, um deren Potential auch wirklich voll ausnutzen zu können. Doch das änderte sich gerade. Erstens wurden jetzt zunehmend solche Zentralverschlüsse entwickelt. Sie arbeiteten nicht mehr mit der sehr fragwürdigen "Lederbremse", sondern mit luftgesteuerten Hemmwerken (Compound) oder Räderhemmwerken (Compur). Zweitens wurden zur selben Zeit die Schlitzverschlüsse immer weiter verbessert. Sie hatten den Vorteil, dem Objektiv keinerlei Beschränkungen im Öffnungsdurchmesser aufzuzwingen. Neuartige Apparate wie die Ernemann Klapp-Camera eröffneten mit ihren schnellen Schlitzverschlüssen den lichtstarken Objektiven nun Tür und Tor.
Oben ist Ernst Wanderslebs Aufsatz "Das neue Tessar 1:4,5" aus der "Photographischen Korrespondenz" Nr. 3 von 1907 wiedergegeben, in dem er seine Entwicklung der Öffentlichkeit vorstellte. Der bei voller Öffnung scharf ausgezeichnete Bildwinkel lag bei etwa 55 Grad, was auch diesem neuen Typ die Eigenschaft eines Universalobjektives verlieh. Diese zeichnen sich dadurch aus, daß der scharf ausgezeichnete Bildkreis in etwas so groß ist wie die Brennweite. Wandersleb spricht jedoch auch offen die oben schon erwähnten Anpassungsschwierigkeiten an damals übliche Aufnahmeapparate an. Letztlich führten diese neuen, sehr lichtstarken Objektive in der Folgezeit zu einem ersten Schub in der Verkleinerung der Aufnahmeformate, der in der Zwischenkriegszeit noch einmal deutlich voranschritt.
Einen Einblick in die Entwicklungsgeschichte des Tessares 1:4,5 gibt uns die obige Karte Nummer 90 aus der Zeiss Datenblattsammlung für ein Tessar 4,5/156 mm, die aus dem Jahre 1905 stammen dürfte. Linse 1 und 4 sind aus Schwerkron, Linse 2 aus Leichtflint und Linse 3 aus Kron-Flint. Die Bildfehlerkurven lassen eine ähnlich gute Korrektur wie beim Tessar 1:6,3 erkennen. Die Reihe der Tessare 1:4,5 wurde in den folgenden Jahren bis zum Ersten Weltkrieg ständig erweitert und bestehende Brennweiten mit neuen Gläsern überarbeitet.
2.2.2 Das nach Reichspatent 350.335 optimierte Tessar 1:4,5
Diese Tessare 1:4,5 entwickelten sich auffällig rasch zum Maßstab für ein hochwertiges Normalobjektiv mit einem Bildwinkel bis knapp 60 Grad, an dem sich konkurrierende Hersteller nun stets messen lassen mußten. Dazu muß man noch einmal in Erinnerung rufen, daß die Öffnung 1:4,5 für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als unerhört lichtstark angesehen wurde. Trotzdem war dieses Tessar schon bei leichter Abblendung ebenbürtig mit den besten Doppelanastigmaten sowie den unverkitteten Dreilinsern stets überlegen. Diese Einschätzung gilt auch für die gesamte Zwischenkriegszeit bis 1939.
Stellvertretend läßt sich am oben gezeigten Exemplar eines Tessars 4,5/15 cm aus dem Jahre 1927 zeigen, wie sich der Zeiss-Konzern in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre im lebhaften Photomarkt etabliert hatte. Gebaut wurde es als auswechselbares Objektiv einer Zeiss Ikon Ideal 9x12 Plattenkamera, kurz nachdem Zeiss Jena den Dresdner Kamerabau durch die Formierung dieser neuen Firma monopolisiert und auf diese Weise einen stabilen Absatz der hauseigenen Photoobjektive sichergestellt hatte. Auch die führenden Zentralverschlüsse der Marke Compur waren insgeheim Produkte aus dem Zeiss-Konzern. Wie beim Tessar 1:6,3 (siehe Abschnitt 2.1.3) wurde aber auch bei diesen sehr erfolgreichen Tessaren 1:4,5 kurz vor dem Ersten Weltkrieg noch einmal eine umfassende Umkonstruktion in Angriff genommen.
Um diese Umarbeitung zu verdeutlichen, werfen wir einen Blick auf das Datenblatt für genau dieses oben gezeigte Tessar 4,5/15 cm der Zeiss Ikon Ideal von 1927, das nachweislich auf der Rechnung vom 31. Juli 1911 basiert. Zwar sind aufgrund der schlechten Erhaltung der Quelle weder das Achsenschnittbild noch die a- und b-Kurven erkennbar, aber dafür die verwendeten Glasarten. Dabei fällt auf, daß in der hinteren Linse Nummer 4 zwar weiterhin sehr schweres Kronglas verwendet wurde, das in etwa dem späteren SSK1 entsprochen haben dürfte. In der Frontlinse ist das Schwerkron jedoch verschwunden und durch einerseits sehr billiges und zugleich sehr beständiges Barit-Kron ersetzt.
Der Hintergrund für diese Vorgehensweise findet sich im Reichspatent Nr. 350.335 vom 16. Oktober 1917: Hier ging es darum, das ursprünglich für die Frontlinse eingesetzte Barit-Schwerkron zu umgehen, da es bei der Herstellung zu Blasen und Inhomogenitäten neigte, weshalb immer nur eine geringe Menge einer Schmelze brauchbar war. Zweitens konnte es bei diesen Gläsern aufgrund ihrer Zusammensetzung dazu kommen, daß sich durch Umwelteinflüsse die Oberfläche verfärbte oder eintrübte, was die Haltbarkeit des kostbaren Objektivs sehr beschränkte. Um dem zu begegnen, hatte Wandersleb die vordere Sammellinse auf die Glasart O211 umgestellt, die später als Barit-Kron BaK1 geführt wurde. Auf dieser Basis wurden in den Jahren 1911 bis 1913 offenbar alle Tessare 1:4,5 noch einmal überarbeitet und bis zum Ende der 20er Jahre so gefertigt. Auch hier gilt wieder, daß die späte Anmeldung des Patentes im Herbst 1917 nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß die Objektive schon seit Jahren nach dieser Zusammensetzung gefertigt wurden.
2.2.3 Willy Mertés erste Optimierungsarbeiten
Interessant ist, daß offenbar Willy Merté, der seit etwa 1915 für die Tessar-Entwicklung in der Zeiss-Photoabteilung zuständig war [Vgl. Das photographische Objektiv seit 1929, S. 24.], bereits während des Ersten Weltkrieges daran arbeitete, diesen Objektivtyp dadurch auf höhere Leistungsparameter zu bringen und damit konkurrenzfähig zu halten, indem er in beiden Sammellinsen wieder sehr schweres Kronglas einsetzte. Daraus jedenfalls kann man aus dem unten gezeigten Datenblatt eines Tessares 4,5/15 cm mit Rechnungsdatum vom 15. Januar 1917 schließen, das allerdings so nicht in die Fertigung gelangte.
Deutlich ist zu sehen, wie Merté von dem niedrig brechenden Kronglas in der Frontlinse abgegangen war, und das obwohl genau diese Lösung ja erst noch im kommenden Herbst zum Patent angemeldet werden wird. Doch auf die Verwirrung stiftende Chronologie dieser beiden Patente von 1917 ist oben bereits mehrfach hingewiesen worden. Stattdessen hatte er mit dem Schwerstkron SSK2 ausgerechnet das damals höchstmöglich brechende Kronglas für die Frontlinse vorgesehen. Aus diesem hohen Materialeinsatz resultierten außergewöhnlich schlanke Kurven für die sphärische Aberration, den Astigmatismus und die Verzeichnung. Doch für diese aufwendige Rechnung vom Januar 1917 war die Zeit noch nicht reif. Es soll aber bereits an dieser Stelle darauf verwiesen werden, daß Willy Merté das Tessar 1:4,5 Ende der 20er Jahre doch noch auf mittlerweile verbesserte Sorten der Schwerkrongläser umstellen wird, wodurch ihre Bildleistung noch einmal deutlich angehoben werden konnte (siehe Abschnitt 3.1.2).
Oben sieht man eine ICA Cupido 75 für die Plattengröße 6x9 (manchmal auch 6,5x9 bezeichnet), die Anfang der 20er Jahre gefertigt wurde. Lange Zeit hatte in dieser Bildgröße die Brennweite 12 cm dominiert. Die später für das Nennformat 6x9 cm so bedeutende Brennweite 10,5 cm war erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg geschaffen worden. Das Tessar 4,5/12 cm mit dem Rechendatum 8. Juli 1913 wurde dann in den 30er und 40er Jahren hauptsächlich noch für das heute in Vergessenheit geratene Format 6,5x11 cm (Rollfilm D-6 bzw. Typ 116) hergestellt. Bild: Dave Shrimpton.
Abschlüsse für auf der Basis des DRP 350.335 kurz vor dem Ersten Weltkrieg neu gerechnete Tessare 1:4,5
Tessar 4,5/6,5 cm | 25. 01. 1911 |
Tessar 4,5/10,5 cm | 27. 05. 1913 |
Tessar 4,5/11,5 cm | 08. 07. 1913 |
Tessar 4,5/12 cm | 08. 07. 1913 |
Tessar 4,5/13,5 cm | 18. 07. 1911 |
Tessar 4,5/15 cm | 31. 07. 1911 |
Tessar 4,5/16,5 cm | 23. 08. 1911 |
Tessar 4,5/18 cm | 04. 07. 1911 |
Tessar 4,5/21 cm | 05. 08. 1911 |
Tessar 4,5/25 cm | 07. 09. 1911 |
Tessar 4,5/30 cm | 16. 09. 1911 |
Tessar 4,5/36 cm | 30. 01. 1912 |
Tessar 4,5/40 cm | 20. 11. 1911 |
Tessar 4,5/50 cm | 18. 11. 1911 |
2.3 Das erste Tessar 1:3,5
Auch wenn für die folgenden etwa 25 Jahre das Tessar 1:4,5 zahlenmäßig eindeutig die dominanteste Rolle einnimmt, so sollte dennoch nicht Wanderslebs erstes Tessar 1:3,5 außer Acht gelassen werden, obwohl vorerst nur ein sehr geringer Anteil der hergestellten Tessare auf diesen Typ entfiel. Eine Objektivöffnung 1:3,5 wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als unerhört lichtstark angesehen. Man könnte zwar einwenden, der Petzval'sche Schnellarbeiter habe seit fast siebzig Jahren eine derartige Lichtstärke gehabt, aber seine jahrzehntelange Dominanz hat nur mit der guten Eignung im Anwendungsfeld der Portraitaufnahmen im Atelier zu tun. Sein langgestreckter Bau ließ kein großes Bildfeld zu und die Schärfe wurde außerhalb der Mitte durch die nicht korrigierbare Wölbung der Bildschalen begrenzt.
Es bedeutete daher einen immensen Fortschritt, als Ernst Wandersleb bei seinem Tessar 1:3,5 im Jahre 1906 diese große Objektivöffnung mit einer sphärischen, chromatischen und gleichzeitig astigmatischen Korrektur verbinden konnte. In der Praxis bedeutete das: Wenn man nun eine Person vor einer gleichmäßig strukturierten Fläche photographierte, zum Beispiel einer Ziegelwand, dann wurden auch diese Ziegel – und vor allem ihre senkrecht und waagerecht verlaufenden Fugen! – nicht nur allesamt gleichzeitig scharf abgebildet, sondern es fehlte auch an jener eigenartigen geometrischen Veränderung, die eine Wölbung des Bildfeldes stets mit sich brachte und die bei gleichmäßig strukturierten Bildeinzelheiten in einem unerträglichen Maße störend auffiel.
Für die Veröffentlichung seines Tessares 1:3,5 wählte Ernst Wandersleb eine andere Form als zuvor für sein Tessar 1:4,5. Er hatte eine größere theoretische Arbeit mit dem Titel "Über die Verzeichnungsfehler photographischer Objektive" verfaßt, die in zwei Teilen im Februar- und März-Heft des Fachblattes Zeitschrift für Instrumentenkunde des Jahres 1907 erschien. Im zweiten Teil dieses Aufsatzes, in dem Wandersleb Beispiele für Verzeichnungskurven praktisch ausgeführter Objektive gibt, ist das neue Tessar 1:3,5 quasi nebenbei mit vollständigen Konstruktionsdaten veröffentlicht.
Was für eine große Herausforderung es zur damaligen Zeit bedeutete, die astigmatische wie auch die komatische Korrektur gleichsam mit einer derart großen Lichtstärke zu verknüpfen, kann man daran ablesen, daß Wandersleb den Bildwinkel des Tessares 1:3,5 auf etwa 35 Grad beschränken mußte. Der beim Tessar 1:4,5 sichergestellte Bildwinkel von etwa 55 Grad war beim Tessar 1:3,5 also nicht zu erreichen, weshalb von einem universellen Normalobjektiv noch keine Rede sein konnte. Mit anderen Worten: Das damalige Tessar 1:3,5 wurde stets mit einer im Vergleich zum Aufnahmeformat etwa doppelt so großen Brennweite geliefert. Bis heute ist das ein typischer Wert für die sogenannten Portraitbrennweiten. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden drei Ausführungen des Tessares 1:3,5 geschaffen: Die Brennweite 21 cm für das Format 6x9 cm, die oben zu sehende Brennweite von 25 cm für das Format 9x12 cm (Rechnung vom 3. Oktober 1906) und die Brennweite 30 cm für das damals viel benutzte Format 12x16 cm. Welch absolute Spezialobjektive diese Tessare 1:3,5 damals gewesen sind, das läßt sich auch an ihrem Preis ablesen: Das obige Exemplar, das kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gebaut wurde, kostete damals 400,- Reichsmark, was inflationsbereinigt auf das Jahr 2023 gerechnet etwa 2800,- Euro sind. Es wurde höchstwahrscheinlich an einer sogenannten Flieger-Kamera eingesetzt.
Oben ist das Datenblatt für ein Tessar 3,6/174,6 mm gezeigt, dessen Rechnung vom 16. August 1905 stammt und das daher als Ausgangspunkt für die Entwicklung dieser lichtstarken Variante gesehen werden kann. In der hintersten Linse kam ein neues hochbrechendes Kronglas zum Einsatz, das in etwa dem späteren Schwerstkron SSK1 entsprach. Auf dieser Basis fußt auch das unten auf Karte Nummer 107 der Zeiss-Datenblattsammlung überlieferte erste serienmäßige Tessar 3,5/300 mm. Die Bildschalen sind gut geebnet, aber die sphärischen Zonen durchaus merklich.
Das unten zu sehende Datenblatt Nr. 236 für ein Tessar 3,5/50 mm mit Rechnungsdatum 18. August 1906 weist auf den zweiten Anwendungsbereich für dieses neue lichtstarke Tessar: die Kinematographie. Neben den oben genannten ziemlich langbrennweitigen Varianten für die damals gängigsten Plattenformate wurden noch drei kürzere Brennweiten geschaffen, die speziell auf die Anwendung in der damals gerade erst entstehenden Filmtechnik ausgelegt waren. Die weiteste Verbreitung hat dabei das sogenannte Kino-Tessar 3,5/5 cm gefunden, das als Normalobjektiv für kinematographische Aufnahmekamera von großer Bedeutung für die junge Spielfilmindustrie gewesen ist. Das Aufnahmeformat war mit 18x24 mm nur halb so groß wie das spätere Kleinbild. Die Bildfehlerkorrektur war vor dem Hintergrund des begrenzten Auflösungsvermögens des kleinen Filmbildes schon sehr weit getrieben.
Die aus damaliger Sicht sagenhaft hohe Lichtstärke wurde wirklich gebraucht, da die Kinokamera mit einer an die Bildwechselzahl geknüpften Belichtungszeit von etwa 1/50 Sekunde arbeitete. Was uns heute lang erscheint, war damals eine sehr kurze Momentzeit. Um bei Aufnahmen im Freien eine ausreichende Exposition des geringempfindlichen Kinéfilmes bei allen Wetterlagen zu erreichen sowie im Studio den Aufwand an künstlicher Beleuchtung zu reduzieren, verlangten die Kameraleute nach möglichst lichtstarken Objektiven. Gleichzeitig wurde mit im Vergleich zum kleinen Aufnahmeformat ziemlich langen Brennweiten gearbeitet, um das Motiv möglichst groß abzubilden und damit das begrenzte Auflösungsvermögen des Filmbildchens nicht überzustrapazieren.
Dieses sogenannte Lichtspielwesen erlebte damals einen enormen Aufschwung. Mit der Zahl der Kinotheater wuchs auch die Nachfrage nach immer neuen Filmen und nach den Gerätschaften, um sie herzustellen. In der Folgezeit wurden bei Zeiss noch ein Tessar 3,5/7,5 cm sowie ein Tessar 3,5/10 cm geschaffen. Wie uns die obige Datenkarte zeigt, wurde letztere Variante am 4. September 1908 abgeschlossen. Oberhalb einer Hauptstrahlneigung von 15 Grad liefen zwar die Kurven für die Abbe'sche Sinusbedingung und der Verzeichnung auf und davon, doch das spielte keine Rolle, da nur ein wesentlich kleineres Bildfeld ausgenutzt wurde. Diese Kino-Tessare gingen natürlich an den Dresdner Kino-Pionier Ernemann, aber auch an Debrie in Frankreich, Akeley in den USA sowie Houghton-Butcher in England (Cine-Ensign). Auch Hollywood arbeitete damals bereits mit Aufnahmeoptiken aus Jena!
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit dem Rechnungs-Abschlußdatum vom 18. Februar 1921 aber ein neues, gezielt auf den Kinofilm ausgelegtes Tessar 3,5/4 cm geschaffen, das eine verkürzte Brennweite aufzuweisen hatte. Dieses Objektiv hatte den Hintergrund, daß Emanuel Goldberg im Jahre 1921 mit der Ica Kinamo eine Normalfilmkamera konstruiert hatte, die speziell den Amateur ansprechen sollte, wofür ein Objektiv mit einer Brennweite benötigt wurde, die deutlich näher an der Formatdiagonale von 30 mm lag [Bild: Rob Bryce]. Damit war ein erster Schritt zu einem universelleren Tessar 1:3,5 getan. Richtig konsequent wurde er allerdings erst eingeschlagen mit der Einführung neuer Schwerkrongläser, die das Tessar 1:3,5 ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre endlich zum gängigen Normalobjektiv vieler Rollfilm- und Kleinbildkameras machen sollte (siehe folgenden Abschnitt).
2.4 Mit Vorsatzlinsen zum Satzobjektiv?
Wollen wir noch einmal die Vorzüge des Tessars aufzählen, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu jener Revolution im Objektivbau gemacht hatte, um im Vergleich dazu einen seiner wenigen Nachteile beurteilen zu können: Durch die geniale Verknüpfung von über die Jahre erarbeiteten Korrekturprinzipien ließen sich beim Tessar die Bildfehler für damalige Verhältnisse optimal gegeneinander abwägen. Dabei waren nur schwach gekrümmte, relativ dünne Linsen nötig, die sich gut fertigen und montieren ließen und wenig Absorptionsverluste mit sich brachten. Die gedrungene Bauform der Optik sorgte für eine gute Randausleuchtung und verlangte zudem keine übermäßig große Fassung. Trotz Höchstleistung war daher das Tessar auch für den Amateur noch finanziell tragbar.
Nur eine Sache schien zu stören: Photographen waren es seit den 1860er Jahren gewöhnt, mit Objektivsätzen zu arbeiten. Man kaufte nicht ein einzelnes Objektiv, sondern eine Anzahl unterschiedlicher Objektivhälften, die in beliebiger Kombination in eine Fassung geschraubt werden konnten, und auf diese Weise unterschiedliche Brennweiten ergaben. Zum Beispiel wurden aplanatische Objektivsätze von Busch in Rathenow über viele Jahrzehnte hinweg fast unverändert verkauft. Der Preis war vergleichsweise bescheiden, die Abbildungsleistung jedoch ebenso. In den 1890er Jahren kamen dann anastigmatisch korrigierte Satzlinsen auf, die dieses Prinzip des Satzobjektives noch einmal auf eine neue Ebene hoben. Auch diesen Trend hat unser Paul Rudolph angestoßen. Doch waren die einfachen aplanatischen Sätze vergleichsweise billig, so gerieten Satzanastigmate beinah unerschwinglich.
Das was das Tessar nun so leistungsfähig machte, nämlich daß die eine Objektivhälfte auf perfekte Weise den Teil der Bildfehlerbehebung übernahm, den die jeweils andere nicht bieten konnte, machte es für die Auslegung als Satz-Objektiv völlig ungeeignet. Das Tessar konnte einfach nicht zerrissen und beliebig neu zusammengestellt werden. Schon vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigte man sich in der Abteilung Photo daher intensiv mit der Möglichkeit, die Brennweite eines Tessares mit negativen und positiven Vorschaltlinsen zu verlängern oder zu verkürzen. In der Zeiss Datensammlung sind schon aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg etliche Karteikarten enthalten, mit denen das Ausbrechen der Bildfehler bei Verwendung unterschiedlicher Bauweisen von Vorschaltlinsen untersucht wurde (Stichwort: Oswald- oder Wollaston-Linse). Oben ist ein Beispiel willkürlich herausgegriffen. Die Wirkung auf die sphärischen Fehler und die Verzeichnung sind erheblich, doch konnte eine derartige Linse durchaus so ausgelegt werden, daß sich der Astigmatismus kaum verschlechterte. Für konturenscharfe Bilder mußte dann halt stark abgeblendet werden, außer man wollte den Weichzeichnereffekt für künstlerische Portraits.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden diese Linsen weiter verbessert und sehr gut auf die Objektive abgestimmt. Es wurden neben den brennweitenverlängernden Distar-Linsen auch die brennweitenverkürzenden Proxar-Linsen eingeführt. Das System funktionierte zwar, doch waren die Ergebnisse oft bescheiden. Als viel ausschlaggebender erwies sich jedoch, daß Plattenkameras mit Laufboden und stark variablem Auszug, wie die oben zu sehende Certo-Sport, seit Mitte der 20er Jahre sehr schnell außer Mode kamen. Und für Rollfilmkameras mit ihrem festen Auszug war das System natürlich nicht geeignet. Angestoßen durch neuartige Photogeräte wie die Leica setzten sich ab den 30er Jahren ohnehin vollständig in sich korrigierte Wechselobjektive durch.
Im Jahre 1911, als diese Reklame geschaltet wurde, waren die Tessare tatsächlich die unübertroffenen Objektive für moderne Kameras. Das Tessar hatte den zuvor dominierenden Doppelanastigmat auf die Plätze verwiesen; zugleich war es aber leistungsfähiger als zeitgenössische asymmetrische Anastigmate wie die vielen Triplets oder das Heliar. Der drei Jahre später ausbrechende Erste Weltkrieg bedeutete aber eine Zäsur für die Phototechnik als Hochtechnologie-Sektor des Konsumgütermarktes und nach dem Kriege wurden die Karten neu gemischt. Bald würde sich das Zeiss Tessar auch gegen ernsthafte Konkurrenz behaupten müssen.
3. Die Verbesserungen des Tessars in der Zwischenkriegszeit
Das Grundpatent zum Tessar war abgelaufen, während gerade der Erste Weltkrieg Europa im Banne hielt. Da die beiden in Abschnitt 2.1.3 und 2.2.2 beschriebenen Patente vom Herbst 1917 erst im Frühjahr 1922 veröffentlicht wurden, konnte nun der Eindruck entstehen, Zeiss habe sein Spitzenobjektiv erst neuerdings und im Zuge zunehmender Konkurrenz weiterentwickelt. Tatsächlich basierten die Tessare 1:4,5 und 1:6,3 schon seit der Zeit vor 1914 auf diesen beiden Reichspatenten Nr. 349.938 und 350.335, mit denen damals die teuren und problematischen Schwerkrongläser gegen billigere und chemisch beständigere Glasarten ersetzt worden waren.
Es fällt folgender Widerspruch auf: Im Reichspatentgesetz war in §7 die Dauer eines Patentes auf 15 Jahre festgelegt. Es ist danach unerklärlich, weshalb das zum 25. April 1902 angemeldete Tessar erst am 25. April 1920 erlöscht sein soll, wie die obige Pressemeldung aus der Photographischen Korrespondenz vom November 1920 wissen läßt. Möglicherweise gab es bedingt durch den Krieg eine Art Moratorium, so ähnlich wie während der Besatzungszeit in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre.
Die Kriegsjahre selbst und auch die unmittelbare Nachkriegszeit waren verständlicherweise durch eine große Stagnation im Konsumgüterbereich überprägt. Stattdessen sind einige "Flieger-Tessare" mit Brennweiten um 50 cm als Neuentwicklungen nachweisbar. Zur Wirtschaftskrise als Folge der Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion gesellte sich im Deutschen Reich die bekannte Zeitspanne höchster politischer und gesellschaftlicher Instabilität, die letztlich auch durch den plötzlichen Wegfall der autoritären Strukturen des alten Kaiserreichs bedingt waren. Diese schwierige Lage, die durch Streiks, politische Morde und rechtsradikale Putschversuche geprägt war, schlug jedoch ebenso unvermittelt ins Positive um, als sich mit dem Ende des sogenannten Ruhrkampfes im September und der Überwindung der Hyperinflation im November 1923 die wirtschaftlichen Verhältnisse rasch konsolidierten und die bisherige Stagnation in eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwunges umbrach. Auf einmal konnte man mit der Produktion von Luxusgütern wie Photoapparaten wieder Geld verdienen – im Inland, aber vor allem auch auf den Exportmärkten. Und da die Bemühungen des Zeiss-Konzerns, mit der Gründung der ICA AG die Photogeräteindustrie zu monopolisieren, auf halbem Wege stecken geblieben waren, gelang es nun zunehmend der Konkurrenz, in diese Nachfragelücke vorzustoßen und sie auszufüllen.
Dies zeigte sich nicht zuletzt darin, daß andere Objektivbauanstalten begannen, den prestigeträchtigen Tessartyp nachzubauen. Wie der obige Artikel wissen läßt [aus: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, 1921-27, S. 203f.], brachten die großen Mitspieler Ernemann, Goerz und Busch jeweils ihre eigenen Versionen des "Triplets mit einer sammelnden Fläche in der letzten Linse" heraus, genauso wie die "Newcomer" RüO und Laack. Eine besondere Rolle spielte jedoch die erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg gegründete optische Fabrik von Joseph Schneider in Kreuznach. Hier hatte der (später für Voigtländer tätige) Hans Deser im Jahre 1919 das Xenar 1:4,5 geschaffen [Vgl. Schneider (Hrsg.): 25 Jahre im Dienste der Photographie, 1938, S. 11.]. Zur wirklich ernsthaften Herausforderung für Zeiss wurde dieser rheinische Hersteller jedoch erst mit der Tätigkeit des hochtalentierten Optikers Albrecht Wilhelm Tronnier ab dem Jahre 1924 [Vgl. ebenda.]. Ihm gelang es, die Schneider-Objektive in der Folgezeit auf ein höchstes qualitatives Niveau zu heben und sich mit dem Zeissianer Willy Merté ein regelrechtes Kopf-an-Kopf-Rennen um die optische Leistungsfähigkeit zu liefern, was sowohl von den Kameraherstellern als auch der Kundschaft aufmerksam verfolgt wurde.
Als Reaktion des Zeiss-Konzerns auf diese Lage lassen sich in der Folgezeit vier verschiedene Strategien erkennen: Einen fast hilflosen Eindruck vermittelte der Versuch, den Konkurrenzfirmen (und gar den Fachzeitschriften) rechtliche Schritte anzudrohen, falls sie in ihren Veröffentlichungen die fremden Erzeugnissen als Tessartyp bezeichnen würden [aus: Photographische Korrespondenz, 4/1927, S. 128.]. Der Nachbau dieses Objektivtyps ließ sich damit natürlich nicht verhindern. Man sorgte allenfalls dafür, daß sich der eingangs dieses Aufsatzes bereits angeführte Ausdruck „Triplet mit verkitteter Hinterlinse“ als Synonym für „Tessartyp“ nur umso rascher durchsetzte.
Eine zweite Strategie, den aufkommenden Konkurrenzerzeugnissen namhafter Objektivbaufirmen zu begegnen, lag darin, für die Tessare wieder intensiv zu werben, wie diese beiden Beispiele aus den Jahren 1923 (oben) und 1925 (unten) zeigen. Sie sollen nur stellvertretend für die enorme Vielzahl der unterschiedlich gestalteten Annoncen stehen, die nun nicht mehr nur in der Fachpresse, sondern beispielsweise auch in allgemeinen illustrierten Zeitschriften geschaltet wurden. In dieser Zeit wurde auch der bekannte Werbespruch vom "Adlerauge Ihrer Kamera" stark popularisiert.
Eine dritte Maßnahme lag darin, daß der Zeiss-Konzern lästige Marktgegner einfach dadurch beseitigte, indem er sie aufkaufte und anschließend ihre Photoobjektiv-Produktionen einstellte. Gegen Ende der 20er Jahre hatte sich Zeiss auf diese Weise der bedeutenden Konkurrenten Ernemann in Dresden, Goerz in Berlin und auch Busch in Rathenow entledigt. Doch auch diese Strategie zeigte nur unbefriedigende Resultate. Bei Zeiss muß man damals den Eindruck gehabt haben, daß dem enthaupteten Drachen gleich drei neue Köpfe nachzuwachsen schienen. Denn kaum hatte man mit der Zeiss Ikon AG den Dresdner Kamerabau monopolisiert, so erlebten mit der Ihagee, den Kamera-Werkstätten Niedersedlitz, den Korelle-Werken, usw. sogleich eine Vielzahl sehr innovativer Mitbewerber einen ungeahnten Aufstieg. Und diese kleinen, dynamischen Kamera-Fabriken kauften ihre Tessartypen nun nicht selten bei den unabhängigen Herstellern Schneider-Kreuznach oder Meyer-Görlitz. Zeiss jedoch wäre nicht bis heute jene Weltfirma geblieben, wenn man nur mit Tricks und der unternehmerischen Brechstange reagiert hätte. Im Hinblick auf das Tessar zeigt sich das charakteristische Streben der Zeissianer nach beständiger Technologieführerschaft in den beachtlichen Weiterentwicklungen, die dieses Objektiv seit Mitte der 1920er Jahre erfahren hat. Dabei spielte auch die ständige Verbesserung der Herstellungstechnologie eine große Rolle, ohne die man preislich nicht konkurrenzfähig geblieben wäre, wie die unten stehende Reklame aus dem Jahre 1928 bekräftigt.
Denn der Bedarf an immer leistungsfähigeren lichtstarken Objektiven wuchs nun nach dem Ersten Weltkrieg enorm. Den größten Schub dafür brachte wohl die Einführung des 16-mm-Schmalfilmes im Jahre 1923, der dafür sorgte, daß die Kinematographie erstmals auch beim Amateur ankam. Da aber bei den zugehörigen Kameras die Belichtungszeit prinzipbedingt zwischen etwa 1/30 bis 1/60 Sekunde festlag, die nach damaligen Maßstäben sehr kurz war, bedurfte es nach möglichst weit geöffneten Objektiven, was die Objektivbauanstalten herausforderte. Doch auch der Käuferkreis von Photokameras und deren Nutzerverhalten änderte sich. Die Rollfilm-Springkameras verdrängten die umständliche Plattenkamera beim Amateur und ihre kürzeren Brennweiten erlaubten ebenfalls lichtstärkere Objektive
3.1 Die Rückkehr der Schwerkron-Gläser in das Tessar
3.1.1 Das neue Tessar 1:3,5 mit großem Bildwinkel
Diese dadurch hervorgerufenen Umwälzungen lassen sich gut am Tessar 1:3,5 deutlich machen. Dieses aus damaliger Sicht außergewöhnlich lichtstarke Objektiv hatte Ernst Wandersleb, wie im Abschnitt 2.3 bereits dargestellt, noch vor dem Ersten Weltkrieg geschaffen. Schaut man aber in die Kataloge aus jener Zeit, dann fällt auf, daß es einerseits nur als kurzbrennweitiges Tessar 3,5/5 cm und 3,5/7,5 cm für das professionelle 35-mm-Kinoformat herausgebracht worden war, oder aber mit den langen Brennweiten 21; 25 und 30 cm für die Formate 6x9, 9x12 und 13x18 cm, wo sie aufgrund des kleinen Bildfeldes nur für Portraitzwecke einsetzbar waren. Diejenigen Brennweitenbereiche jedoch, wie sie damals für sogenannte Handkameras benötigt wurden; also die typischen Werte 12 cm, 13,5 cm, 15 cm, 16,5 cm usw., die fehlten hingegen. Das lag daran, daß Wanderslebs Tessar 1:3,5 bei voller Öffnung nur etwa 30...35 Grad Bildwinkel abdeckte, was für den Einsatz als Universalobjektiv einfach nicht ausreichte. Außerdem waren vor dem Kriege derart lichtstarke Objektive für Handkameras kaum gefragt [Vgl. Die neuen lichtstarken Zeiß-Objektive; in: Das Atelier des Photographen, 1925, S. 186f.]. Das hatte auch damit zu tun, daß ein lichtstarkes Objektiv nur kombiniert mit einem "schnellen" Zentralverschluß sinnvoll ist. Auch diese setzten sich erst in den 1920er Jahren durch (Stichwort "Compur").
Doch in den 20er Jahren vollzog ich ein rascher Wandel im Käuferverhalten. Kleine Plattenkameras beispielsweise mit dem vorher kaum ernsthaft erwogenen Format 6,5 x 9 waren nun gefragt oder gleich die sehr beliebten Rollfilm-Faltkameras. Zwischen den lange Zeit dominierenden Großformaten und dem nur briefmarkengroßen Kinobildchen bildeten sich nun Mittelformate. Mit deren verkleinerten Bilddiagonalen ging eine Verkürzungen der Brennweiten einher, die jene Lichtstärke 1:3,5 nun praktisch nutzbar werden ließ und vom Staus einer Extremöffnung zum neuen Standardwert für hochwertige Anastigmate verwandelte.
Voraussetzung dafür war freilich, den ausnutzbaren Bildwinkel auf mindestens 50 Grad anzuheben, um ein derart hochgeöffnetes System als universelles Normalobjektiv einsetzen zu können. Getrieben auch von den Konkurrenzfirmen sah man sich bei Zeiss daher in der Mitte der 1920er Jahre veranlaßt, ein völlig neues Tessar 1:3,5 zu entwickeln. Diese Anstrengungen sind im Reichspatent Nr. 463.739 vom 27. Juni 1926 dokumentiert, dessen Schutzansprüche ganz bestimmte Krümmungsverhältnisse der Linsen formulieren, die zum Erreichen dieser Leistung geführt hatten. Eine große Rolle dürften aber auch der Einsatz der Schwerkron-Gläser SK7 und SK10 in beiden Sammellinsen gespielt haben sowie des neuen, besonders niedrigbrechenden Leichtflints LF7 in Linse Nummer 2. Ein derartiger Glaseinsatz war nötig, um die bei einer Lichtstärke von 1:3,5 sehr weit geöffneten Büschel auch bei schrägem Lichteinfall noch auskorrigieren zu können. Asymmetriefehler oder Koma nennt der Experte die Erscheinung, wenn bei großer Büschelneigung am Bildrand kometenförmige Zerstreuungsfiguren entstehen, die das Bild außerhalb der Mitte völlig verderben können. Mit dieser Weiterentwicklung gelang es, das neue Tessar 1:3,5 auf einen für Universalanwendungen ausreichend großen Bildwinkel von 55 Grad zu bringen.
Oben das Datenblatt für ein "Tessar 1:3,5 mit großem Bildwinkel, f = 15 cm vom 14. 4. 1926". Aus den b- und c-Kurven läßt sich der zugrundegelegte halbe Bildwinkel von 27,5 Grad ablesen. Die Glasarten sind genau diejenigen, die auch in der Patentschrift Nr. 463.739 angegeben wurden. Die sphärische Korrektur ist gut und die Kurve der Erfüllung der Sinusbedingung ist völlig deckungsgleich, was als Anzeichen für eine gute Komakorrektur gewertet werden kann. Das war für die damalige Zeit - also vor ziemlich genau 100 Jahren - ein sehr großer Fortschritt!
Oben ist das Datenblatt des ersten "Kleinbild-Tessares" 3,5/5 cm zu sehen, dessen Rechnungsabschluß auf den 25. Juli 1929 datiert und die praktische Umsetzung der Patentschrift Nr. 463.739 bekräftigt. Auch dieses Normalobjektiv hatte einen Bildwinkel von 55 Grad, weil es für die Zeiss Ikon Kolibri vorgesehen war, die mit dem Rollfilm A8 arbeitete und das etwas größere Nennformat 3x4 cm hatte. Auch die Ihagee Parvola (Modell 1450), die Krauss Peggy, die Mentor Dreivier, die Korelle 3x4 u. a. wurden mit diesem Objektiv versehen. Über 20.000 Stück wurden zwischen Oktober 1929 und Dezember 1930, also nur binnen eines Jahres, von dieser Rechnung produziert. Das lag daran, daß diese Kleinbild-Rollfilmkameras eine ganz kurze Konjunktur hatten, die ganz schnell wieder abebbte, als man feststellte, wie rückschrittlich sie gegenüber "echten" Kleinbildkameras auf 35-mm-Material hatten. Bei letzteren mußte kein Rotfenster beachtet werden, sondern es gab einen automatischen Bildstop und bei einigen Modellen sogar eine Kupplung des Filmtransports mit dem Verschlußaufzug. Mit den Rollfilm-Kleinbildkameras ging dies alles nicht, und schlechte die Planlage des Filmes sorgte für Unschärfen im Negativ. Die erste Serie an Tessaren 3,5/5 cm für die neue Contax basierte noch auf der Rechnung von 1929, dann wurde eine auf das Kleinbildformat 24x36 mm hin optimierte Version gerechnet (siehe Abschnitt 3.5) und der Vorgänger aus dem Programm gestrichen.
Diese Ikonta 4,5x6 aus dem Jahr 1936 ist mit einem Tessar 3,5/7 cm ausgestattet, das mit dieser Brennweite erst im Februar 1929 geschaffen worden war – und zwar speziell für dieses neue Bildformat, das durch Teilung des 6x9-Formates entstand, um 16 statt nur 8 Aufnahmen auf einem Rollfilm BII (Typ 120) unterzubringen. Da die tatsächliche Bildgröße etwa 42x56 mm betrug, war die Diagonale mit 70 mm genau so lang wie die Brennweite, was einem Bildwinkel von 53 Grad entspricht.
Bemerkenswert an diesem Reichspatent 463.739 ist zudem, daß die Radien Nummer 2 und Nummer 5 auf Unendlich gebracht worden waren – also plane Flächen darstellten. Damit wurden freilich nicht weniger als zwei sechstel der Linsenschleifzeit eingespart, denn diese Flächen mußten nur noch plan poliert statt in Kugelform gebracht werden. Für ein Objektiv, das in großen Stückzahlen zu möglichst wettbewerbsfähigen Preisen ausgestoßen werden sollte, war das ein immenser Vorteil. Auf Basis dieses Patentes wurden offenbar in den Folgejahren nicht nur das Tessar 1:3,5, sondern auch das Tessar 1:4,5 zukzessive und fast komplett neu berechnet. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen ging das Zeiss Tessar mit der Zeit und paßte sich den gestiegenen Qualitätsanforderungen insbesondere der neuen Roll- und Kleinbildformate an. Das war höchste Zeit, denn die in- und ausländischen Konkurrenzfirmen hatten es geschafft, in Windeseile aufzuschließen.
Vermutlich im Zuge des Patentes Nr. 463.739 von 1926 neu gerechnete Tessare 1:3,5:
Tessar 3,5/2,8 cm | 06. 01. 1927 |
Tessar 3,5/3,5 cm | 22. 11. 1926 |
Tessar 3,5/4 cm | 30. 08. 1928 |
Tessar 3,5/5 cm | 25. 07. 1929 |
Tessar 3,5/7 cm | 14. 03. 1928 und 19. 02. 1929 |
Tessar 3,8/7,5 cm | 15. 10. 1928 (Rolleiflex!) |
Tessar 3,5/8,5 cm | 29. 07. 1929 |
Tessar 3,5/9 cm | 12. 12. 1929 |
Tessar 3,5/10,5 cm | 31. 03. 1926 |
Tessar 3,5/12 cm | 31. 08. 1926 |
Tessar 3,5/13,5 cm | 31. 03. 1926 |
Tessar 3,5/15 cm | 31. 03. 1926 |
Tessar 3,5/16,5 cm | 04. 09. 1926 |
Tessar 3,5/19 cm | 15. 12. 1927 |
Tessar 3,5/21 cm | 26. 04. 1926 und 09. 02. 1929 |
Tessar 3,5/25 cm | 14. 02. 1927 und 07. 02. 1929 |
Tessar 3,5/30 cm | 15. 06. 1928 und 31. 01. 1929 |
Speziell für die neu auf den Markt gekommene Rolleiflex wurde im Oktober 1928 ein Tessar 3,8/7,5 cm geschaffen. Das für das 6x6-Format dieser Zweiäugigen Reflexkamera gedachte Tessar hatte nur deswegen diese abweichende Lichtstärke, damit es noch in den damaligen Compur mit 1/300 Sekunde kürzester Verschlußzeit untergebracht werden konnte. Erst mit der Einführung des Compur-Rapid 00 ab 1934, der eine größere Blendenöffnung hatte, konnte auch für diese Brennweite die Lichtstärke auf 1:3,5 angehoben werden. Einige Exemplare des Tessars 3,8/7,5 cm wurden auch an Welta für die Perfekta 6x6 geliefert.
Obwohl die Filmkameras diesen Trend zum lichtstarken Massenobjektiv ausgelöst hatte, fehlten interessanterweise vorerst noch spezielle kurzbrennweitige Versionen des Tessares 1:3,5 für das neue 16-mm-Format. Das beim Normalfilm-Kameramann sehr beliebte Tessar 3,5/4 cm wurde nach einer Rechnung vom 18. Februar 1921 gefertigt. Ein großer Bildwinkel war in der Kinematographie nicht notwendig.
3.1.2 Das neue Tessar 1:4,5
Die späten 1920er Jahre müssen für die Abteilung Photo des Zeisswerkes eine ausgesprochen geschäftige Zeit gewesen sein. Das hatte seine Ursache darin, daß damals das Tessar als zentrales Photoobjektiv des Zeisskonzerns in einer kaum überschaubaren Vielfalt für alle möglichen Formate und Anwendungen im Angebot war. Und nachdem die Ausführung mit der Lichtstärke 1:3,5 im Jahre 1926 eine bedeutende Verbesserung erfahren hatte, stand die nächste Aufgabe an, den sehr stark verbreiteten Tessartyp 1:4,5 ebenfalls auf Basis der neuen Glasarten zu überarbeiten. De facto lief dies jedoch auf eine Neukonstruktion jeder einzelnen Ausführung hinaus, denn es wurde nicht einfach nur eine bestehende Rechnung auf längere oder kürzere Brennweiten angepaßt, sondern jeder einzelne Typ wurde vollständig neu durchgerechnet. Diese Rechenarbeit war damals sehr aufwendig und kräftezehrend.
Für dieses Tessar 1:4,5, das vorher schon als Adlerauge der Kamera beworben worden war, konnte nun eine Bildleistung erreicht werden, die auf ein kaum noch zu übertreffendes Optimum zwischen Aufwand und Resultat hinauslief. Um das zu belegen, sei an dieser Stelle vorweggenommen, daß eine abermalige Verbesserung aus der Zeit nach 1945 nach kurzer Fertigungsdauer wieder fallengelassen werden wird, um anschließend erneut auf diese Rechnungen aus den späten 1920er Jahren zurückzuwechseln. Schaut man sich nun aber die einzelnen Brennweiten etwas detaillierter an, dann ergibt sich ein nicht ganz einheitliches Bild: So waren ein Tessar 4,5/5,5 cm (4. Mai 1921), ein Tessar 4,5/6,5 cm (26. November 1920) und ein Tessar 4,5/7,5 cm (15. September 1922) erst kurz nach dem Ersten Weltkrieg neu konstruiert worden und wurden daher jetzt nicht noch einmal überarbeitet. Bei einem Tessar 4,5/11,5 und 4,5/12 cm wurde gar die Rechnung vom 8. Juli 1913 weiter gefertigt sowie beim Tessar 4,5/15 cm und dem Tessar 4,5/16,5 cm jeweils diejenige vom 31. Juli bzw. 23. August 1911. Für alle anderen Tessare 1:4,5 wurde jedoch in der Zeit zwischen etwa 1928 und 1930 eine Neurechnung durchgeführt, mit denen die Versionen von vor dem Ersten Weltkrieg nun sukzessive ersetzt wurden.
Eine Ausnahme bildet das Tessar 4,5/10,5 cm, das damals zu den am häufigsten eingesetzten Tessartypen zählte und von dem insgesamt mindestens drei verschiedene (Neu-) Rechnungen vom 5. Mai 1927, 9. Juli 1930 und 13. Mai 1932 vorliegen, die abwechselnd wild durcheinander verwendet werden. Der Grund für diese Praxis ist schwer erkennbar. Zunächst liegt die Vermutung nahe, es habe eine Zuordnungen der verschiedenen Varianten zu bestimmten Anwendungsbereichen gegeben. So ist zum Beispiel die oben gezeigte Ikonta 6x9 aus dem Jahre 1938 mit einem Tessar 4,5/10,5 cm von 1927 ausgestattet, und man könnte nun meinen, diese Rechnung sei speziell für die sogenannte Frontlinseneinstelllung ("Efrl") vorgesehen gewesen. Diese Annahme wird jedoch sofort widerlegt durch den Fakt, daß diese Version auch bei 6x9-Rollfilm- und Plattenkameras mit der üblichen Standartenfokussierung Verwendung fand, wie unten gezeigt ist. Die Rechnung von 1930 findet sich bei zum Beispiel bei der Rollfilm-Meßsucherkamera mit Schneckengangverstellung Modell Welta Solida, bei der Kodak Regent aber auch bei Zeiss Ikon Icarette-Modellen. Ein ähnliches Durcheinander ist in Bezug auf die Rechnung von 1932 feststellbar, die sowohl für Kameras mit Frontlinsenverstellung als auch mit Standartenfokussierung geliefert wurde. Genaue Aussagen zur Zuordnung können somit nicht gegeben werden. Es ist wohl anzunehmen, daß diese Tessare jeweils auf anderen Glasarten aufgebaut waren und die Kamerahersteller zwischen verschiedenen Preisniveaus der unterschiedlich aufwendigen Varianten wählen konnten (vgl. dazu auch Abschnitt 3.2.3).
Zwei Beispiele für das Tessar 4,5/10,5 cm nach Rechnung von 1927. Oben eine Kodak Reomar 18 von 1930 [Bild: Graham Buxton-Smither]; unten eine Zeiss Ikon Icarette 500/2 von 1928 [Bild: Michele Becatti].
Schon vom Februar 1926 datiert ein Datenblatt für zwei Versuchsobjektive Tessar 4,5/15 cm. Das eine hatte dasselbe Schwerkron in Linse 1 und 4, das andere zwei verschiedene Schwerkrone. Es fallen der geringe Astigmatismus und die fast nicht vorhandene Verzeichnung auf.
Im Zuge der Patente Nr. DE463.739 vom Sommer 1926 sowie Nr. DE603.325 (s. Abschnitt 3.4) vom Sommer 1930 neu gerechnete Tessare 1:4,5:
Tessar 4,5/5 cm | 15. 09. 1930 |
Tessar 4,5/8 cm | 10. 05. 1928 |
Tessar 4,5/9 cm | 30. 06. 1930 |
Tessar 4,5/10,5 cm | 05. 04. 1927; 20. 03. 1929; 09. 07. 1930; 13. 05. 1932 |
Tessar 4,5/13,5 cm | 05. 04. 1927 |
Tessar 4,5/18 cm | 28. 05. 1929 |
Tessar 4,5/21 cm | 06. 06. 1929 |
Tessar 4,5/25 cm | 09. 10. 1928 |
Tessar 4,5/30 cm | 08. 05. 1928 |
Tessar 4,5/36 cm | 08. 10. 1928 |
Tessar 4,5/40 cm | 16. 07. 1929 |
Tessar 4,5/50 cm | 26. 07. 1929 |
Ganz gleich wie viel man nachforscht; es lassen sich nicht alle Fragen um das Tessar lösen. Diese beiden hier als Paar für eine Stereokamera zu sehenden Tessare 4,5/8,5 cm dürfte es eigentlich gar nicht geben, in der Zeiss Fertigungskartei sind sie unter diesen Seriennummern als Tessare 4,5/9 cm mit Rechnungsdatum vom 28. Mai 1925 gelistet, von denen angeblich 1000 Stück auf einmal hergestellt wurden. Wie man sieht, gibt es da eine kleine Diskrepanz.[Bild: Igor Reznik]
3.1.3 Das Tessar 1:2,7
Eigentlich hätte dieser Abschnitt zur Erneuerung des Tessars während der Zwischenkriegszeit mit diesem Tessar 1:2,7 begonnen werden müssen, da dessen Entwicklung noch vor der Schaffung des neuen Tessars 1:3,5 mit vergrößertem Bildwinkel in Angriff genommen worden war. Wie gleich noch gezeigt werden soll, ist der Werdegang der beiden Objektive aber deutlich verwickelter. Ausgangspunkt war, daß sich seit Anfang der 1920er Jahre ein Wettlauf um immer höhere Lichtstärken abzuzeichnen begann, bei dem abzusehen war, daß er weit über den bisherigen Höchstwert 1:3,5 hinausgehen würde. Für Zeiss wurde dies sichtbar, als ein knapp über 20-jähriger Ludwig Bertele für die Konkurrenzfirma Ernemann unvorstellbar lichtstarke Objektive zu rechnen begann. Und dann gab es ja auch noch einen gewissen Paul Rudolph, der sich im Jahre 1922 wieder vollständig als rechnender Optiker zurückgemeldet hatte und mit dem Kino-Plasmat 2/3,5 cm sogleich einen neuen Maßstab setzen konnte. Die Abteilung Photo des weltberühmten Zeiss-Werks stand nun unter einem enormen Konkurrenzdruck. Ein bis auf den November 1922 zurückverfolgbarer Versuch Willy Mertés, diesen Kino-Plasmaten und Ernostaren so rasch wie möglich ein eigenes Kinoobjektiv der Öffnung 1:1,9 entgegenzusetzen [V6/1922; später DRP. Nr. 404.805 vom 2. August 1924], scheiterte jedoch bereits im Ansatz. Das Objektiv gelangte gar nicht erst in die Fertigung.
Dieser von Zeiss im Nachhinein als Biotar III bezeichnete Versuch Willy Mertés von 1922/23, das Tessar mit einer Zusatzlinse auf die Lichtstärke auf über 1:2,0 anzuheben, war schon zu den Akten gelegt, als er 1924 zum Patent angemeldet wurde. Stattdessen widmete sich Merté seit Sommer 1923 wieder dem Tessar. Erst mit dem vom Gaußtyp abgeleiteten Biotar 1:1,4 sollte ihm vier Jahre später der große Lichtstärkesprung gelingen.
Die Nachfrage nach besonders lichtstarken Objektiven nahm durch die wachsende Bedeutung der Spielfilmindustrie indes immer weiter zu. Die Kameraleute standen vor der Aufgabe, die von Drehbuchautor und Regisseur verlangte Authentizität durch Außendreharbeiten mit den technischen Gegebenheiten der bei der Kinokamera unveränderlich feststehenden Belichtungszeit in Einklang zu bringen. Zur selben Zeit wurden in der Fachpresse Artikel zu den Spiegelverlusten in Objektiven mit vielen Glas-Luft-Grenzflächen veröffentlicht und der geringe Wirkungsgrad derartiger Objektive angeprangert. Ludwig Bertele reagierte darauf bekanntermaßen, indem er sein Ernostar zum Sonnar weiterentwickelte, das nur noch dreigliedrig aufgebaut war. Vor diesem Hintergrund, daß das Erweitern des Tessartyps durch Einfügen zusätzlicher Elemente wenig Erfolg gebracht hatte, läßt sich nahtlos an das fallengelassene Biotar-III-Konzept eine erneute Zuwendung Willy Mertés zum altbekannten vierlinsigen Tessar-Aufbau nachweisen, den er auf die Lichtstärke 1:2,7 zu bringen versuchte. Verkompliziert wird das Nachvollziehen der Entwicklung dieses Tessares 1:2,7, weil Merté seit Sommer 1923 gleichzeitig an drei verschiedenen Lösungsmöglichkeiten für diese Aufgabe arbeitete.
Der erste Ansatz ist in der Zeiss-Datenblattsammlung auf Karte Nummer 611 überliefert, die den Versuch Nr. 5 vom 7. Juli 1923 zeigt. Ausschlaggebend ist das bildseitige Kittglied, bei dem nicht nur die Stellung von Sammel- und Zerstreuungslinse gegeneinander vertauscht sind, sondern die Kittfläche dadurch nicht mehr gegen das Bild, sondern in Richtung der Blende konkav durchbogen ist. Die vielen Kurven geben uns ein Zeichen dafür, wie sehr dieser Aufbau noch im Experimentierstadium steckte.
Die Karten Nummer 631 vom 26. Januar und Nummer 635 vom 23. Februar 1924 zeigen uns, daß Merté in den folgenden Monaten weiter an diesem Ansatz mit der Richtung Blende durchgebogenen Kittfläche gearbeitet hatte. Im letzten Beispiel war die Blende vorzugsweise in den zweiten Luftraum gewandert, wo sie bei Zeiss üblicherweise placiert war.
Aus derselben Zeit stammt aber auch der Versuch Nr. 1 vom 25. Januar 1924, der mit Karte Nummer 630 überliefert ist. Bei dieser neuartigen Tessar-Bauform war das Kittglied dingseitig angeordnet und damit der traditionelle Tessar-Aufbau gewissermaßen umgekehrt worden. Auch hier lag der Bildwinkel nur bei etwa 40 Grad. Die weit ausbrechenden a-Kurven dieser Tessare 1:2,7 dürften in der Praxis für ziemlich weiche Bilder bei voller Öffnung gesorgt haben.
Also betrat Willy Merté noch einen dritten Weg. Bei seinem Tessar 2,7/8 cm vom 7. Februar 1924, das mit der Karte 640 der Zeiss-Datenblattsammlung überliefert ist, sieht man den üblichen Tessar-Aufbau mit dem Kittglied bildseitig und der Konkavseite der Kittfläche Richtung Bild gerichtet. Man sieht aber auch, daß in der hintersten Sammellinse nun das Schwerkron SK10 eingesetzt wurde. Damit wurde bereits das vorausgenommen, was zwei Jahre später zum im Abschnitt 3.1 bereits beschriebenen neuen Tessar 1:3,5 führen wird; allerdings unter Verzicht auf dessen großen Bildwinkel.
Man muß wohl davon ausgehen, daß das neue Tessar 1:2,7 zuerst in dieser dritten Konfiguration herausgebracht worden ist. Das geht aus dem oben gezeigten Aufsatz Mertés "Die neuen lichtstarken Zeißobjektive" hervor, der in der "Photographischen Korrespondenz" vom Oktober 1925 erschienen ist. Gut ist herauszulesen, daß Merté dieses neueTessar 1:2,7 haupsächlich für eine Anwendung im Bereich Normal- und Schmalfilm geeignet hielt, während für lange Brennweiten eine deutliche Skepsis spürbar ist. Die damals üblichen Plattenkameras 6x9; 9x12 und 10x15 cm waren mit einem derart lichtstarken Objektiv weitgehend überfordert. Es mußten erst neue Aufnahmegeräte geschaffen werden, die beispielsweise einen völlig spielfreien Spreizenmechanismus aufwiesen mußten. Größere Stückzahlen wurden zudem in den Brennweiten 3,5; 4 und 5 cm für den Kino-Normalfilm hergestellt, sowie später als Tessar 2,7/1,5 cm, 2,7/2 cm und 2,7/2,5 cm für den neuen 16-mm-Schmalfilm.
Etliche hundert Stück wurden außerdem nachweislich vom oben auf Karte 640 schon gezeigten Tessar 2,7/8 cm für die neue Ica Minium-Palmos im Format 4,5x6 cm hergestellt [Bild: S. Katz]. Auch beim Tessar 2,7/12 cm läßt sich eine Fertigung beispielsweise für die Mentor Klapp-Reflex 6x9 und Nettel Deckrullo-Kameras nachweisen, sowie bei den Tessaren 2,7/14,5 und 2,7/16,5 cm für Reflexkameras des Formates 9x12 cm, wie die Ica-Reflex 756 oder die neue Mirroflex. Da diese neuen Spiegelreflexkameras mit ihren Schlitzverschlüssen und der Mattscheibeneinstellung eine wirklich sinnvolle Ausnutzung dieses Objektives gestatteten, wurden die Tessare 1:2,7 in diesen längeren Brennweiten noch bis 1928 produziert. Ab 1929 wurden sie dann aber von den neugerechneten Biotessaren 2,8/13,5 und 16,5 cm abgelöst, die eine bessere Bildleistung zeigten [DRP Nr. 451.194].
Ein monströses und damals sehr teures Objektiv: Das Tessar 2,7/16,5 cm wurde seit 1925 immer wieder in kleineren Serien für Reflexkameras des Bildformates 9x12 cm gefertigt. Die etwas längere Brennweite war nötig, um dem Reflexspiegel genügten Raum für das Hochklappen zu belassen. Dadurch war der Bildwinkel auch nicht überansprucht. Während eines einzigen Jahres wurden zwischen Dezember 1927 und Dezember 1928 noch einmal 700 Stück gebaut, von denen die meisten an der Miroflex 9x12 eingesetzt wurden, der neuen Zeiss Ikon Klapp-Spiegelreflexkamera. Daher die vergleichsweise großen Stückzahlen. Bild: Stefan Larsson.
Wirklich erfolgreich im Sinne eines Massenobjektivs wurden die Tessare 1:2,7 jedoch erst nach einer Neurechnung von 1927 bzw. 1928 nur mit den Brennweiten 1,5 cm und 2 cm und 2,5 cm, von denen für Kinamo-, Filmo-, Pathe- und Movikon-Kameras nun etliche 10.000 Stück abgesetzt werden konnten. Diese 1927/28 gerechneten Tessare 1:2,7 müssen allerdings streng von den im obigen Artikel beschriebenen, bereits 1924 geschaffenen unterschieden werden, da ihnen eine Erfindung zugrunde lag, die erst im Reichspatent Nr. 558.058 vom 24. Oktober 1928 geschützt wurde. Der Bildwinkel betrug weiterhin nur 45 Grad und demnach war kein Universalobjektiv angestrebt worden. Eine Leistungssteigerung konnte jedoch dadurch erreicht werden, indem das einfallende Strahlenbündel verhältnismäßig stark eingeschnürt wurde, bevor es auf die einzeln stehende Zerstreuungslinse fiel. Um dies zu ermöglichen, kehrte Merté den Aufbau des Tessares um, sodaß die für das Tessar typische Kittgruppe mit der sammelnd wirkenden Kittfläche nach vorn verlegt wurde. Zweitens wurde die einzeln stehende Zerstreuungslinse viel weiter als bislang von der sammelnden Kittgruppe entfernt, wodurch die Fehler der schiefen Büschel besser beseitigt werden konnten. Die Patentschrift läßt außerdem erkennen, daß in beiden Sammellinsen das Schwerkron SK10 zum Einsatz kam
Willy Merté hatte also den Ansatz vom Jahresanfang 1924 noch einmal aufgegriffen, der oben schon auf Karte Nummer 630 gezeigt worden ist. Zeugnis darüber legt sein Versuch Nr. 8 aus 1927 für ein Tessar 2,7/10,5 cm ab, das uns durch Karte 768 der Zeiss-Datenblattsammlung überliefert ist. Die sphärischen Zonen sind auf etwa fünf Promille der Brennweite begrenzt und die Kurve für die Erfüllung der Abbe'schen Sinusbedingung folgt der Kurve für den Kugelgestaltsfehler fast deckungsgleich. Front- und Rücklinse sind aus SK10.
Auf Karte 797 ist beispielhaft das neue Tessar 2,7/2 cm für den 16-mm-Schmalfilm überliefert. Das Rechnungsdatum ist nicht mehr erkennbar, aber es hat an dieser Stelle bestimmt einmal der 3. November 1927 gestanden. Als Bildwinkel wurden nur 35 Grad abverlangt, da die Formatdiagonale des 16-mm-Filmes nur etwa 12,8 mm beträgt. Neben dem Tessar 2,7/2 cm für die 16-mm-Schmalfilmkamera Kinamo S10 wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Tessar 2,7/4 cm für die 35-mm-Normalfilmkamera Kinamo N25 mit diesem nach vorn gekehrten Kittglied neu berechnet. Auch das 1927 neu geschaffene Tessar 2,7/1,5 cm sowie das 1928 noch einmal neu gerechnete Tessar 2,7/2,5 cm könnten diesen Aufbau besitzen.
Aus der ersten Serie des neu geschaffenen Tessares 2,7/4 cm mit nach vorn gekehrter Kittgruppe stammt dieses Exemplar für die Kinamo N25.
Tessare 1:2,7 von 1924 mit Kittglied hinten und von 1927/28 vermutlich mit Kittglied vorn:
Tessar 2,7/1,5 cm | 07. 12. 1927 |
Tessar 2,7/2 cm | 09. 08. 1924; 03. 11. 1927 und 18. 01. 1928 |
Tessar 2,7/2,5 cm | 08. 04. 1924 und 02. 01. 1928 |
Tessar 2,7/3,5 cm | 11. 04. 1924 |
Tessar 2,7/4 cm | 24. 04. 1924 und 26. 10. 1927 |
Tessar 2,7/5 cm | 25. 04. 1924 |
Tessar 2,7/6,5 cm | |
Tessar 2,7/8 cm | 07. 04. 1924 |
Tessar 2,7/10 cm | |
Tessar 2,7/12 cm | 17. 04. 1924 |
Tessar 2,7/13,5 cm | |
Tessar 2,7/14,5 cm | 26. 01. 1925 |
Tessar 2,7/16,5 cm | 08. 05. 1924 |
3.2 Der große Schub durch neuartige schwere Flint- und Krongläser
3.2.1 Das Tessar 1:2,8 mit Barit-Flint
Mit diesen Tessaren 1:2,7 konnte sich das Zeiss-Rechenbüro aber trotzdem noch nicht zufrieden geben. Das lag auch daran, daß die stets unter 40 Grad liegenden Bildwinkel noch nicht für ein Universalobjektiv geeignet waren. So gab es zwar beispielsweise ein am 25. April 1924 gerechnetes Tessar 2,7/5 cm, doch für das Kleinbildformat 24x36 mm hätte der Bildwinkel bei mindestens 45 Grad liegen müssen, wobei angesichts der hohen Schärfeansprüche kaum ein merklicher Randabfall geduldet worden wäre.
Aber die heute mit dem Kleinbild verbundenen 24x36 mm Bildgröße hätten zur damaligen Zeit noch nicht einmal ausgereicht. Ende der 20er Jahre schien sich nämlich zunächst ein ganz anderes Kleinbildformat durchzusetzen; nämlich die Bildgröße 3x4 cm auf dem Rollfilm A8 (Typ 127). Auch die Zeiss Ikon AG setzte mit ihrer Kolibri zunächst auf diese Form des Kleinbildes. Da diese Negative statt 43,3 mm eine Diagonale von etwa 55 mm hatten, wurde dem 50-mm-Normalobjektiv ein deutlich größerer Bildwinkel abverlangt, der bei etwa 55 Grad lag. Bei Zeiss sah man sich also gezwungen, zwei schwierig miteinander zu vereinende Forderungen anzugehen: Hohe Lichtstärke gepaart mit einem großen Bildwinkel. Schwierig deshalb, weil je weiter die einfallenden Lichtbüschel geöffnet sind und je steiler sie zugleich zur optischen Achse geneigt einfallen, um so schwerwiegender wirkt sich insbesondere der Abbildungsfehler der sogenannten Koma aus. Dieses Problem konnte letztlich nur auf Basis einer weitgreifenden Neukonstruktion in Angriff genommen werde.
Diese wurde mit dem Reichspatent Nr. 603.325 vom 18. Juli 1930 verwirklicht. Auf den ersten Blick erkennt man nicht, daß mit dieser Patentschrift ein neues Tessar 1:2,8 geschützt wurde, das zugleich mit einem Bildwinkel versehen war, der die Anforderungen an ein universelles Normalobjektiv erfüllte. Im Text selbst ist nur von einem mittleren Öffnungsverhältnis im Bereich 1:5,6 die Rede, während in den Schutzansprüchen das Adjektiv "lichtstark" auftaucht. Es scheinen wiederum nur bestimmte Verhältnisse der Linsenradien und Scheitelabstände die Grundlage der Verbesserung zu bilden.
Erst auf den zweiten Blick offenbart sich, daß der Kernpunkt dieser Optimierungsarbeit vielmehr in einem neuen optischen Glas verborgen liegt. Es handelt sich um das hochbrechende und für ein Flintglas sehr niedrig dispergierende Barit-Flint BaF 10, das oben im ersten Patentbeispiel in der Rücklinse und im zweiten Beispiel sogar sowohl in der Front- als auch in der Rücklinse zum Einsatz kam. Ich gebe hier zusätzlich noch einmal die Abbildungen aus der US-amerikanischen Patentschrift wieder, weil man anhand der eigenhändigen Unterschriften gut erkennt, daß neben Merté dazumal auch nach wie vor noch Wandersleb an der Weiterentwicklung des Tessares beteiligt war.
Neue, hochbrechende Gläser nach D.R.P. Nr. 596.513
1. Das Barit-Flint BaF10
Beim Rückblick auf die Geschichte des Objektivbaus lassen sich immer wieder qualitative Schübe ausmachen, die sich unmittelbar auf die Verfügbarkeit neuer Glasarten zurückführen lassen. Von besonderem Interesse sind dabei natürlich Gläser, die neue Extrembereiche auf dem "Glaskontinent" besetzen. Für den Konstrukteur sind dabei hohe Brechungsindizes begehrenswert, weil sie es erlauben, eine Linse von einer bestimmten Brechkraft mit kleineren Krümmungsradien herzustellen. Damit geht eine Verringerung derjenigen Abbildungsfehler einher, die sich speziell aus der Kugelform der Linsenoberflächen ergeben, was in Bezug auf die Gesamtkorrektur des Systems von hoher Bedeutung ist.
Ein solcher Schub ging auch von den neuen Barit-Flint-Gläsern BaF8, BaF9 und BaF10 aus, die seit dem Ende der 1920er Jahre durch Schott zur Verfügung gestellt wurden. Mit dem BaF9 hatte Merté 1927 bereits sein Biotar 1:1,4 geschaffen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit beruht speziell das hochbrechende BaF10 auf dem oben im Ausschnitt wiedergegebenen Reichspatent Nr. 596.513 vom 6. November 1930. Ziel war es, Brechzahlen deutlich über 1,6 zu erreichen, ohne daß die Farbzerstreuung in gleichem Maße zunahm, wie das bei den bekannten Bleioxydgläsern der Fall war. Erreicht wurde dies durch Beigaben großer Mengen an Oxyden von Erdalkali-Metallen. Wenn man sich oben im Patent die Tafel anschaut, dann erkennt man, daß in den praktisch verwirklichten Gläsern dies wohl hauptsächlich Calciumoxyd mit Anteilen von 10 Prozent und vor allem Bariumoxyd mit Anteilen von über einem Drittel betraf (anstelle der in der Patentschrift ebenfalls erwähnten Metalle Beryllium, Magnesium und Strontium).
Glasart | Brechzahl nd | ny-Wert für d | Gelbfärbung | Bläschen |
BaF 8 | 1,6237 | 47,0 | g | |
BaF 9 | 1,6433 | 47,8 | g | b |
BaF 10 | 1,6700 | 47,2 | g | bb |
Oben sind zum Vergleich die tatsächlichen Katalogwerte der Brechzahlen und der Abbe'schen Zahlen der neuen Barit-Flinte wiedergegeben (Stand 1937). Gut erkennt man, wie insbesondere mit dem BaF10 eine für damalige Verhältnisse sehr hohe Brechzahl erreicht wurde bei einer Farbzerstreuung, die nur knapp unterhalb der Grenze lag, bei der die Krongläser verortet sind (bei diesen Brechzahlen ist das für gewöhnlich der ny-Wert von 50). Mit dieser offensichtlich sehr vorteilhaften Lage beider Werte war die Basis für einen beträchtlichen Fortschritt im Objektivbau in der Folgezeit gelegt. Das BaF10 nahm in gewissen Maße das vorweg, was nach 1945 mit den Lanthan-Flintgläsern seine Fortsetzung finden sollte. Übrigens: Auch Ludwig Bertele hat diese Barit-Flingläser in der Folgezeit intensiv in seinen Sonnaren eingesetzt.
2. Das Spitzenglas SSK5
Es lohnt sich aber noch einen zweiten Blick auf das Patent 569.513 zu werfen. In der ersten Spalte ist nämlich ein Glas zu sehen, das bei der Abbe'schen Zahl den "magischen Wert" von 50 überschreitet. Das ist für gewöhnlich – zumindest bei hochbrechenden Gläsern – die Grenze für die Einteilung in Kron und Flint. Bei der Schmelze in dieser ersten Spalte, die nur einen geringen Bleianteil enthält, jedoch besonders viel Bariumoxid und eine Spur Natriumoxid könnte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um das neue Schwerstkron SSK 5 gehandelt haben. Es war lange Zeit das am höchsten brechende Kronglas, welches für den regulären Einsatz und in großen Mengen verfügbar war. Theoretisch wurde es schon wenige Jahre später durch lanthan- und thoriumhaltige Gläser von dieser Position verdrängt, doch diese konnten in Wahrheit erst nach 1945 in größeren Mengen geliefert werden, nachdem eine völlig neue Schmelztechnologie eingeführt worden war.
Die Beimengung von Titanoxyd in beiden Gläsern hatte übrigens hauptsächlich die Bewandtnis, die Fleckempfindlichkeit der Gläser herabzusetzen. Das war wichtig, um diese neuen Glasarten uneingeschränkt in Front- und Rücklinsen zum Einsatz bringen zu können, wo beispielsweise Fingerabdrücke oft vorkommen, die die Politur der Oberfläche sehr schnell zerstören könnten. Es sei daran erinnert, daß in der Zeit vor den Entspiegelungsschichten das Glas direkt allen Umwelteinflüssen ausgesetzt war. Der Begriff Vergütung muß auch vor dem Hintergrund dieser Schutzwirkung vor Umwelteinflüssen gesehen werden.
Einen genaueren Einblick in den Entstehungsprozeß des Tessars 1:2,8 ermöglicht uns wiederum die Datenblattsammlung des Photo-Rechenbüros des Zeisswerks, die Ende des 19. Jahrhunderts ursprünglich für Moritz von Rohrs Werk "Theorie und Geschichte des photographischen Objektivs" angelegt worden war, und deren Fortführung Willy Merté Anfang 1913 übernommen hatte. Damals waren dort etwa 300 Objektive verzeichnet; zum Endes des Jahres 1930 hatte sich diese Anzahl jedoch bereits verdreifacht. Als Willy Merté inmitten der Neubearbeitung dieser Datensammlung im Frühjahr 1948 unvermittelt verstarb, war der Umfang auf anderthalb tausend Objektive angewachsen – also insgesamt eine Verfünffachung während seiner Schaffenszeit. Die nur teilweise erhaltene Quelle ist durch Mikroverfilmung zwar qualitativ teils sehr mängelbehaftet, mit etwas Mühe lassen sich aber sehr wertvolle Aussagen aus den damaligen Entwicklungsvorgängen ableiten.
Ausgangspunkte sind demnach diese beiden Versuchsobjektive: Oben der Versuch V11 vom 29. November 1930 auf Karte 869 für ein Tessar 2,7/5 cm und unten der Versuch Nr. 4 vom 27. Februar 1931 auf Karte 879. Leider ist die Lesbarkeit der Quellenüberlieferung sehr schlecht, sodaß hier die Wiedergabe der Bildfehlerkurven unterbleiben muß. Es sind aber folgende Informationen wichtig: Erstens lag der Bildwinkel des obigen Tessars noch bei unter 40 Grad, während das unten gezeigte bis zu 50 Grad erreichte. Zweitens war beim Versuch vom November 1930 die Frontlinse aus dem neuartigen, sehr gering dispergierenden Schwerkron SK16, während im Februar 1931 erstmals das neu erschienene, hochbrechende Schwerstkron SSK5 in der ersten Linse eingesetzt wurde. Gemeinsam haben aber beide Objektive jedoch, daß bereits das neue Baritflint BaF10 in der hintersten Linse zum Einsatz kam.
Dieser Glasaufbau findet sich dann auch in der ersten Serienversion des Tessar 2,8/5 cm wieder, die auf den 2. April 1931 datiert und mit der oben gezeigten Karte Nr. 929 überliefert ist. Die Frontgruppe besteht wiederum aus dem Spitzenglas SSK5 und dem Schwerflint SF2, das Kittglied hinter der Blende aus einer Kombination von Leichtflint LF5 und dem besagten Baritflint BaF10. Das war ein ziemlich aufwendiger Materialeinsatz. Von diesem Tessar 2,8/5 cm wurden jedoch nur 1500 Stück für Zentralverschlüsse der Größe C24 hergestellt.
Parallel zur Entwicklung dieser neuen Tessare 1:2,8 und 1:3,5 mit großen Bildwinkeln wurde bei Zeiss eine Darstellung schräg einfallender, geneigter Büschel eingeführt, um die Ausmaße der Koma graphisch darzustellen. Der Koordinatennullpunkt wird vom Hauptstrahl definiert, der die Bildebene markiert. Auf der x-Achse ist der Tangens der Austrittswinkel der schiefen Strahlen abgezeichnet und die y-Achse gibt die Abweichung der unteren und der oberen Koma von dieser Bildebene an. Um all die hier gezeigten Tessare in Bezug auf die bei lichtstarken Objektiven sehr wichtige Abbildung weit geöffneter, gegen die Achse geneigter Strahlenbüschel vergleichen zu können, müsse deren Kurven nebeneinander betrachtet werden. Soweit es die ziemlich schlecht erhaltene Quelle hergibt, habe ich im Folgenden immer noch diese Komakurven als Vergleichsmaßstab hinzugefügt.
Interessant ist daher das oben gezeigte Blatt 920 der Zeiss Datensammlung vom 14. September 1931 für ein Tessar 2,8/5 cm "mit Änderungen K2". Dieses K steht für Kombinationsrechnungen, die immer dann nötig werden, wenn beispielsweise neue Glasschmelzen "angebrochen" werden. Wichtig ist das in Klammern gesetzte "Kontax". Dies ist der erste erhalten gebliebene Hinweis auf ein Tessar 2,8/5 cm, das ganz gezielt für das Kleinbildformat 24x36 mm gerechnet worden ist. Bei genauem Hinsehen sieht man in den b- und c-Diagrammen eine Markierung bei etwa 22,5 Grad halbem Bildwinkel, der mit den Ecken des Kleinbildes korrespondiert. Hier liegt beispielsweise der Wert der Verzeichnung bei etwa 0,5 Prozent und die sagittale und meridionale Bildschale fallen wieder in einem Punkt nahe der Achse zusammen. In der vorderen Gruppe ist SSK5 und SF2 nun aber durch SK10 und SF4 ersetzt worden.
Die Komakurven dieser Karte 920 zeigen uns im direkten Vergleich mit der obigen Karte 929, daß tatsächlich die Bildqualität bei sehr starker Büschelneigung (Diagramm 3) erheblich schlechter geworden ist. Doch wie gesagt wurde dieser große Bildwinkel wurde im Kleinbild-Format gar nicht ausgenutzt, weshalb auf das Schwerstkron SSK5 in der Frontlinse zugunsten des einfacheren Schwerkron SK10 verzichtet werden konnte. Mit gewissen Zugeständnissen bei voller Ausnutzung des Bildwinkels bis über 50 Grad war es trotzdem noch für das Nennformat 3x4 cm geeignet, wie es beispielsweise von der Kolibri, der Nagel Pupille und ähnlichen Kameras mit dem Rollfilm A8 verwendet wurde. Mit großer Sicherheit können wir davon ausgehen, daß ein sehr ähnliches Objektiv dann mit einem Abschlußdatum vom 8. Oktober 1931 als erstes Tessar 2,8/5 cm in einer echten Großserienfertigung umgesetzt wurde.
Oben ein sehr frühes Exemplar des ersten Tessars 2,8/5 cm für die Contax, das im November 1931 gefertigt worden ist, als die Produktion dieser neuen Kleinbildkamera gerade erst angelaufen war. Man hatte ein lichtstarkes Normalobjektiv zur Verfügung, das besser war als das Hektor 2,5/5 cm von Leitz. Es darf aber auch nicht übersehen werden, daß konzernintern bereits mit dem Sonnaren 2/5 cm zeitgleich ein großer Konkurrent erwuchs, der dieses neue Tessar 2,8/5 cm gleich wieder auf den zweiten Platz verweisen sollte.
Mit dieser Anhebung der Lichtstärke auf 1:2,8 war nun allerdings trotz der kurzen Brennweiten das Potential des Tessartyps vollkommen ausgereizt – wenn nicht gar überreizt – worden. Bei voller Öffnung zeichneten diese Tessare 1:2,8/5 cm ziemlich weich, was den nicht ganz unbeträchtlichen Restbeträgen der sphärischen Aberration geschuldet sein dürfte. Eng damit im Zusammenhang stehen zudem die oben bereits angesprochenen Komaerscheinungen. Da die meisten Aufnahmen jedoch ziemlich stark abgeblendet erfolgen, nahmen die damaligen Anwender diese Probleme oft gar nicht wirklich wahr, da Öffnungsfehler und Koma mit kleiner werdendem Querschnitt der Büschel stark zurückgehen. Ein zweites Mittel, speziell der Koma zu begegnen, lag darin, die Büschelneigung zu begrenzen. Es fällt deshalb auf, daß, nachdem Kleinbild-Rollfilmkameras wie die Kolibri wieder aus den Katalogen verschwunden waren, das Tessar 2,8/5 cm nochmals ganz speziell auf das Kleinbild 24x36 mm hin optimiert wurde, wo 45 Grad Bildwinkel nicht überschritten werden mußten. Diese zum 8. Mai 1933 erfolgte Umkonstruktion, die noch im gleichen Monat in Serie ging, blieb dann bis zum Kriegsende aktuell.
Das oben gezeigte Datenblatt für ein Versuchsobjektiv Tessar 2,8/5 cm vom 25. April 1938 zeigt uns noch, wie in der Frontlinse das Schwerkron wieder durch ein stärker brechendes ersetzt werden sollte, nämlich durch Einsatz von Baritflint BaF10 in beiden Sammellinse. Wie man unten sieht, war tatsächlich die Koma für die Büschelöffnung 1:4 bedeutend kleiner als oben beim Tessar 2,8/5 cm nach Karte 920. Doch dieses Objektiv gelangte nicht in die Serienfertigung.
Eine ähnlich kurzfristige Überarbeitung wie beim Tessar 2,8/5 cm gab es 1931 übrigens auch beim für die Baby-Rolleiflex 4x4 neu geschaffenen Tessar 2,8/6 cm. Diese "Kleinbild-Rolleiflex", die zunächst mit einem Tessar 3,5/6 cm ausgestattet worden war (siehe folgenden Abschnitt), sollte unbedingt ein Tessar 1:2,8 erhalten, um mit der Leica konkurrieren zu können. Eine erste Rechnung wurde zum 27. März 1931 abgeschlossen und am 1. April fertiggestellt. Auf dem Photo oben sieht man Ernst Wandersleb (Mitte), wie er kurz darauf dieses Musterobjektiv an Paul Franke (links) und Reinhold Heidecke (rechts) bei einem Treffen in Oberstdorf übergibt [nach Prochnow: Rollei Report, 1993, S. 210.]. Von dieser Rechnung wurden aber nur 1000 Stück gefertigt. Sie wurde durch eine neue Rechnung vom 8. Oktober 1931 ersetzt, von der dann bis 1938 reichlich 10.000 Stück an Franke & Heidecke geliefert wurden.
Oben: Eine Korelle K von Franz Kochmann in Dresden ausgestattet mit dem ebenfalls gerade erst geschaffenen Tessar 2,8/3,5 cm. Statt des Leicaformates verwendete Kochmann das originale Kinobild 18x24 mm. Bild: Igor Reznik.
Es war natürlich verlockend, das was man im Kleinbild erreicht hatte, nämlich mit den flachen, dünnen Linsen des Tessar-Aufbaus die hohe Öffnung von 1:2,8 erreicht zu haben, auch für das mittlerweile sehr erfolgreiche Mittelformat 6x6 cm zu verwirklichen. Zwei große Schwierigkeiten standen dem entgegen: Erstens verlangt ein Objektiv mit 80 mm Brennweiten bei einer Formatdiagonale von netto ebenfalls 80 mm einen Bildwinkel von 53 Grad statt 45 oder 46 Grad im Kleinbild, was die Behebung der außerachsialen Fehler immens erschwert. Zweitens wachsen bei einer derartigen Verlängerung der Brennweite von über 60 Prozent auch die Bildfehler auf der Achse linear mit an. Auch wenn die Negative nicht ganz so stark vergrößert werden müssen, wie im Kleinbild, so sollte natürlich auch das 6x6-Negativ scharf und vor allem kontrastreich sein. Die Abteilung Photo hatte zwar zum 27. Januar 1933 ein Tessar 2,8/8 cm fertiggestellt und zwei Musterobjektive wurden an Franke & Heidecke geliefert, die eine Rolleiflex auf einen Compurverschluß der Baugröße 0 umrüsteten, um das Objektiv zu testen. Der Serienbau jedoch unterblieb. Ob das wirklich an den nicht völlig überzeugenden Leistungen des Tessars 2,8/8 cm lag oder daran, daß im Frühjahr 1933 der für dieses Objektiv nötige Compur 0 noch eine 1/250 Sekunde als kürzeste Verschlußzeit zu bieten hatte, ist nicht ganz klar.
Doch auch diese Situation änderte sich im Laufe des Jahres 1934, als für die Baugröße 0 ebenfalls ein Compur Rapid zur Verfügung gestellt werden konnte, der als kürzeste Verschlußzeit nun eine 1/400 Sekunde bot. Diese Errungenschaft nutzte gleich die Zeiss Ikon AG, um als Neuheit des Jahres 1935 eine Super Ikonta 6x6 herauszubringen, die zunächst einen gekuppelten Drehkeil-Entfernungsmesser hatte, der kurze Zeit später zum vollwertigen Meßsucher umgebaut wurde. Das eröffnete damals eine Alternative zur Mattscheibeneinstellung. Und auch für die Reflex-Korelle des Kochmann-Werkes ist bereits 1935 eine Fertigung des Tessars 2,8/8 cm nachweisbar, was die große Pionierrolle dieser Einäugigen Reflexkamera unterstreicht.
Doch während dazumal unser Ernst Wandersleb, bloß weil er mit einer jüdischen Ehefrau verheiratet war, erst diskriminiert und anschließend aus seiner Position in der Abteilung Photo herausgedrängt wurde, um später sogar gänzlich von Zeiss entlassen zu werden, so konnte sich der Jude Franz Kochmann nur noch durch Flucht in letzter Minute vor der Ermordung durch seine deutschen Mitmenschen retten. Das nun rassisch vorbildlich lupenreine Zeisswerk konnte daraufhin das Tessar ohne Bedenken an einen ebenso lupenreinen Arier namens Brandtmann liefern, der sich das Korelle-Werk unter den Nagel gerissen hatte. Emmy Wandersleb indes überlebte das KZ Theresienstadt, in das sie verschleppt worden war, nur mit Glück. So war das damals, liebe Leser. Wenn wir hier so sehr über die Errungenschaften jener Zeit reden, dann dürfen wir über die Abgründe nicht schweigen.
Noch im Jahr des Kriegsbeginns wurde dann die oben zu sehende Ikoflex III herausgebracht, die als eine Provokation des Zeisskonzerns gegenüber dem langjährigen Partner Franke & Heidecke angesehen werden muß. Diese hochwertige Zweiäugige Reflexkamera hatte im Prinzip all die Vorzüge des Rolleiflex-Automaten (dessen aufwendiges Filmtastwerk aufgrund der mittlerweile vereinheitlichten Startmarken auf den Rollfilmen entbehrlich war), bot aber das lichtstärkere Objektiv, welches F&H sechs Jahre zuvor noch abgelehnt hatte. Zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen beiden Firmen kam es aber nicht mehr, da die Herstellung des Tessares 2,8/8 cm schon kurz nach Kriegsbeginn eingestellt wurde.
Im Zuge des Patentes 603.325 von 1930 neu geschaffene Tessare 1:2,8
Tessar 2,8/3 cm | 05. 02. 1935 |
Tessar 2,8/3,25 cm | 05. 02. 1935 |
Tessar 2,8/3,5 cm | 05. 12. 1932; 08. 08. 1939 |
Tessar 2,8/3,75 cm | 17. 09. 1937 |
Tessar 2,8/4 cm | 01. 02. 1937 |
Tessar 2,8/4,5 cm | 22. 11. 1939 |
Tessar 2,8/5 cm | 02. 04. 1931; 08. 10. 1931; 08. 05. 1933 |
Tessar 2,8/6 cm | 27. 03. 1931; 08. 10. 1931 |
Tessar 2,8/7 cm | 26. 04. 1933 (Schmalfilm, keine Serie) |
Tessar 2,8/7,5 cm | 18. 01. 1932 |
Tessar 2,8/8 cm | 27. 01. 1933 |
Tessar 2,8/10 cm | 07. 10. 1932 |
3.2.2 Das mit Baritflint-Gläsern nochmals verbesserte Tessar 1:3,5
Das Reichspatent Nr. 603.325 von 1930 wirkte sich aber auch positiv auf das Tessar 1:3,5 aus, weil jenes nun ebenfalls noch einmal auf Basis der neuen Glastechnologie überarbeitet wurde. Beim Tessar 1:3,5/5 cm beispielsweise folgte nach der Rechnung vom Juli 1929 nur 19 Monate später die verbesserte vom Februar 1931. Die war nun während der 1930er und 40er Jahre die Basis für ein äußerst beliebtes Normalobjektiv vieler Kleinbildkameras. Die meisten Exemplare wurden anfänglich natürlich für die neue Contax gebaut, für die das Tessar 3,5/5 cm das preiswerteste und gleichsam das wohl leistungsstärkste Normalobjektiv darstellte. Auch für die bei Zeiss Ikon intern zunächst "Spreiz-Contax" genannte Super-Nettel kam es zum Einsatz sowie bei mehreren tausend Retinas der Konkurrenzfirma Kodak.
Leider ist nicht direkt das Datenblatt für dieses neue "Contax-Tessar" 3,5/5 cm mit Rechnungsabschluß vom 27. Februar 1931 überliefert, das nun das bisherige "Kolibri-Tessar" 3,5/5 cm von 1929 ablöste (siehe Abschnitt 3.1.1), wohl aber dasjenige des Versuchsobjektivs V12 vom 13. Dezember 1930, auf dem das spätere Serienobjektiv mit sehr großer Wahrscheinlichkeit beruhte. Man sieht sehr gut, daß das neue Tessar 3,5/5 cm wie sein zur selben Zeit entwickeltes Pendant 2,8/5 cm aufgebaut war. Auf eine Frontlinse aus Schwerkron folgt eine Zerstreuungslinse aus Flint. Das hintere Kittglied ist dagegen aus einem niedrigbrechenden Flint (offenbar Doppel-Leichtflint) und dem hochbrechenden Barit-Flint BaF10 zusammengesetzt. Dieses Objektiv zeigte eine gute sphärochromatische Korrektur, wie oben die vielen Kurven im a-Diagramm andeuten. Es eignete sich daher besonders gut für Farbaufnahmen. Daß man sich bei Zeiss mit dieser Konstruktion einem gewissen Optimum angenähert zu haben scheint, kann man daran ablesen kann, daß die darauffolgende Rechnung von 1931 über die nächsten 23 Jahre beibehalten worden ist und als Tessar 3,5/50 mm auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder für Sucherkameras der Firmen Balda/Belca, Certo und Welta geliefert wurde; aber auch für die neuen Spiegelreflexkameras aus Dresden, bis die Fertigung dann 1954 endgültig eingestellt wurde.
Auch das Tessar 3,5/7,5 cm wurde im Juni 1934 neu gerechnet. Genau genommen wurde es völlig neu geschaffen. Zuvor gab es nur eine alte Version vom Februar 1920 für den Kino-Normalfilm, das für Mittelformat einen viel zu kleinen Bildwinkel gehabt hätte. Als Ende der 1920er Jahre – ausgelöst durch die neue Rolleiflex – das Rollfilmformat 6x6 cm seine große Erfolgsgeschichte antrat, wurde von Zeiss im Oktober 1928 zunächst erst ein Tessar 3,8/7,5 cm geschaffen. Diese geringfügig geringere Lichtstärke hatte den Hintergrund darin, daß die damaligen Compurverschlüsse der Baugröße C24 keinen genügend großen Öffnungsdurchmesser aufwiesen, um die Lichtstärke 1:3,5 zu verwirklichen. Diese Lage änderte sich zu Beginn der 30er Jahre, als die Friedrich Deckel AG den neuen Compur-Rapid 00 herausbrachte, bei dem dieser Öffnungsdurchmesser in Blendenebene gezielt auf die Bedürfnisse der Kameraindustrie hin vergrößert worden war. Das erlaubte die Anhebung der Lichtstärke auf die üblichen 1:3,5 auch für die Brennweite von 7,5 cm. Neben der sehr erfolgreichen Standardbestückung für die Rolleiflex wurde dieses Tessar 3,5/7,5 cm auch in großen Stückzahlen bei den Zeiss-Ikon-Kameras Ikonta und Ikoflex eingesetzt.
Die Firma Friedrich Deckel in München hatte im Jahre 1932 einen Zentralverschluß in der Entwicklung, bei dem die kürzeste Verschlußzeit des bisherigen Compur von einer 1/300 auf eine 1/600 Sekunde verkürzt werden sollte. Es war geplant, ihn ab März 1933 an die Kamerahersteller als neue Spitzenausstattung auszuliefern. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch, weil der Verschluß nicht langzeitstabil arbeitete. Das Projekt hatte aber zur Folge, daß Zeiss Jena das bisherige Tessar mit 7,5 cm Brennweite überarbeitete, weil ein größerer Blendendurchmesser zur Verfügung gestanden hätte. Zum 12. März 1933 wurde ein Versuch Nr. 5 abgeschlossen und zum 4. Juli ein Versuch Nr. 6 für ein neues Tessar 3,5/7,5 cm. Erst als ab Sommer 1934 der neue Compur-Rapid mit einer 1/500 Sekunde in Serie gehen sollte, wurde zum 1. Juni 1934 das tatsächliche Serienobjektiv eines Tessares 3,5/7,5 abgeschlossen. Es wurde in der Folgezeit in ungewöhnlich großen Produktionslosen von bis zu 5000 Stück pro Auftrag fabriziert, was Aufschluß über die hohe Beliebtheit des neuartigen 6x6-Formates in jener Zeit gibt.
Die Firma Franke & Heidecke in Braunschweig war während der 1930er Jahre in einen Faustischen Pakt mit dem Zeisskonzern geraten. Das zeigen diese beiden Zweiäugigen Reflexkameras, die beide mit dem neuen Tessar 3,5/7,5 cm ausgestattet waren. Beide Objektive wurden 1936 hergestellt. Mit dieser Ikoflex II trat Zeiss Ikon in eine direkte Konkurrenz zur Rolleiflex Standard. Sie hatte denselben Verschluß mit dem zusammengelegten Spann- und Auslösehebel und viele andere Annehmlichkeiten, die bislang nur die Rollei bot. Ein Verklagen der Zeiss Ikon AG, wie zuvor gegen die ortsansässige Konkurrenzfirma Voigtländer, wäre für Franke & Heidecke aber in einer Katastrophe gemündet. Zu diesem Schwur kam es allerdings wegen des Kriegsausbruches nicht mehr.
Für die kleine Rolleiflex 4x4 hatte Zeiss zudem ein Tessar 3,5/6 cm geschaffen. Auch dessen Rechnung vom 21. August 1930 wurde nach 3000 Exemplaren von einer neuen ersetzt, die auf den 12. Februar 1931 datierte. Das Bild unten einer Baby-Rolleiflex aus der Nullserie zeigt das 25. Objektiv der ersten Version von 1930.
Mit diesen in rascher Folge vorgenommenen Verbesserungen konnte sich das Tessar in dem extrem schnellen Wandel der Phototechnik in der Zwischenkriegszeit sehr gut behaupten. Durch seinen recht simplen Aufbau war der Tessartyp in der Fertigung sehr gut beherrschbar und konnte daher in großen Stückzahlen vergleichsweise preiswert ausgestoßen werden. Durch die (vor allem im Vergleich zum Sonnar) recht flachen Linsen blieben auch bei Einsatz teurer Spezialgläser die Herstellungskosten einigermaßen im Rahmen.
Nicht alle nach 1930 neu gerechneten Tessare 1:3,5 hatten das Patent Nr. 603.325 zur Grundlage, wie anhand dieser beiden Tessare 3,5/3,5 cm sichtbar wird. Das oben gezeigte Exemplar, das am 3. November 1932 gerechnet worden war, basierte eindeutig noch auf dem Patent 463.739 vom Sommer 1926. SK7, LF7, KF2, SK10 sind die Glasarten. Es war somit genau so aufgebaut wie das Tessar 3,5/5 cm von 1929 (siehe Abschnitt 3.1). Von ihm wurden anschließend etwa 350 Stück für die Korelle K 18x24 mm gefertigt.
Erst für ein Tessar 3,5/3,5 cm vom 13. Dezember 1941, das als Weitwinkel für die Contax vorgesehen war, wurde das hochbrechende Barit-Flint in der Rücklinse eingesetzt. Immerhin mußte es das volle Format 24x36 mm auszeichnen. Es fällt auf, wie flach alle drei Fehlerkurven trotz des großen Bildwinkels verlaufen. Doch dieses Tessar ging anschließend nicht mehr in Serienfertigung.
Nach 1930 neu gerechnete Tessare 1:3,5 bzw. 1:3,8:
Tessar 3,5/1,5 cm | 07. 07. 1938 |
Tessar 3,5/2,5 cm | 27. 01. 1932 |
Tessar 3,5/3 cm | 05. 02. 1935 |
Tessar 3,5/3,25 cm | 05. 02. 1935 |
Tessar 3,5/3,5 cm | 03. 11. 1932; 13. 12. 1941 |
Tessar 3,5/3,75 cm | 05. 10. 1937 |
Tessar 3,5/4 cm | 17. 02. 1932 |
Tessar 3,5/5 cm | 27. 02. 1931 |
Tessar 3,5/6 cm | 21. 08. 1930; 12. 02. 1931 |
Tessar 3,5/7,5 cm | 01. 06. 1934 |
Tessar 3,8/7,5 cm | 04. 10. 1933 (Verschlußbaugröße C24) |
Tessar 3,5/8 cm | 11. 04. 1933 |
Tessar 3,5/10,5 cm | 26. 05 1936 |
Tessar 3,8/10,5 cm | 17. 05. 1934 (Verschlußbaugröße C32) |
Tessar 3,5/25 cm | 15. 11. 1935 |
Tessar 3,5/30 cm | 07. 12. 1937 |
3.2.3 Das Tessar 1:4,5 auf Baritflint-Basis
Aus der Zeiss-Datenüberlieferung läßt sich herauslesen, daß auch das Tessar 1:4,5 auf Basis des Reichspatentes Nr. 603.325 mit dem Baritflint BaF10 gerechnet wurde. Eine konkrete Fertigung ist leider nicht nachweisbar, aber zumindest für das Tessar 4,5/10,5 cm ist sie sehr wahrscheinlich. Für diese Brennweite gibt es auf Karte 833 eine Versuchs-Rechnung Nr. 13, die eindeutig die Anwendung des Patentes 603.325 belegt. Sie datiert bereits auf den 28. November 1929 und korreliert sehr gut mit dem Patentbeispiel 1, bei dem Schwerkron SK12 in der Frontlinse und Barit-Flint BaF10 in der hinteren Sammellinse verwendet wurde. Auch entspricht dem Patentbeispiel 1 das charakteristische Merkmal, daß die beiden Zerstreuungslinsen gleichermaßen aus Leicht-Flint LF3 bestehen. Möglicherweise basiert das Tessar 4,5/10,5 cm mit Rechnung vom 9. Juli 1930 auf diesem Versuchsobjektiv. Zumindest läßt sich für diese Brennweite eine Serienfertigung einer Neurechnungen nachweisen.
Für andere Brennweiten ist eine Fertigung auf BaF10-Basis lediglich für die Tessare 4,5/5 cm (Rechnung vom 15. September 1930) und 4,5/9 cm (vom 3. Juni 1930) sehr wahrscheinlich, aber nicht anhand von Datenblättern nachweisbar. Dagegen sind sind mehrere BaF10-Rechnungen für das Tessar 1:4,5/13,5 cm in der Zeiss-Datenblattsammlung enthalten, die dann nicht in die Fertigung umgesetzt wurden, aber einen Eindruck für die damals sehr rege Konstruktionstätigkeit liefern. Es handelt sich um die Versuche Nr.1 (Karte Nr. 837 vom 12. Februar 1930), Nr. 2 (Karte 839), Nr. 3 (Karte Nr. 843 vom 18. April 1930) und Nr. 4 (Karte Nr. 856 vom 3. Juli 1930). Alle diese Versuchsrechnungen arbeiten mit BaF10 in der Front- und in der Rücklinse und entsprechen daher dem Beispiel 2 im Reichspatent Nr. 603.325.
Gut am Versuchsobjektiv Nr. 1/1930 ist zu sehen die hervorragende sphärochromatische Korrektur (die a-Kurven für drei Farben sind hier auf drei Ordinaten aufgefächert, weil sie ansonsten deckungsgleich übereinander liegen würden), ferner das ausgezeichnet geebnete Bildfeld und die quasi nicht mehr vorhandene Verzeichnung. Damit war das Tessar nach mehr als einem Vierteljahrhundert seiner Existenz auf einem höchsten qualitativen Niveau angelangt!
Auch das Versuchsobjektiv Nr. 4 vom 3. Juli 1930 scheint auf den ersten Blick kaum noch Verbesserungen zu bringen. Dazu ist aber zu bemerken, daß diesen Datenkarten ursprünglich zusätzliche Blätter beigegeben waren, die Kurven für die Koma-Korrektur enthielten. Diese sind aber heute nicht mehr entzifferbar oder verloren gegangen, sodaß diese Information leider fehlt. Wir müssen aber davon ausgehen, daß spätestens mit dem Reichspatent 603.325 dieser Koma besondere Beachtung geschenkt wurde und die vielen verschiedenen Versuchsrechnungen in kurzen Zeitabständen sicherlich in Hinblick auf die Optimierung bei diesem Bildfehler entstanden sind.
Für die Zeit kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gibt es zudem Anzeichen dafür, daß das BaF10 durch das mit der Brechzahl 1,6667 nur geringfügig schwächer brechende BaF11 ersetzt werden sollte, das mit einer Abbe-Zahl von 48,6 aber noch weiter an die Grenze zu den Krongläsern rückte. Doch diese Tessare 1:4,5 gingen nicht mehr in die Serienfertigung.
4. Mertés und Wanderslebs asphärisches Tessar
Das Tessar innerhalb von drei Jahrzehnten auf ein Öffnungsverhältnis von 1:2,8 gebracht zu haben war zweifellos eine bemerkenswerte Leistung der Abteilung Photo des Zeisswerks. Und trotzdem war das noch nicht genug. Mit der sich geradezu explosionsartig verbreitenden Kleinbildphotographie wurden Anfang der 30er Jahre noch höhere Lichtstärken auch im Amateurbereich verlangt. Das lag daran, daß erst bei einem derart kleinen Format die Schärfentiefenverhältnisse so günstig sind, daß man die große Blendenöffnung überhaupt praktisch ausnutzen kann. Andererseits wurde damals vor beinah 100 Jahren diese Reserve an Lichtstärke auch wirklich gebraucht, denn die damaligen Negativmaterialien erreichten Empfindlichkeiten von etwa 10...15 DIN, der neue Kodachrome hatte 1935 etwa 12 DIN und der Agfacolor am Anfang gar nur 7 DIN. Daß dabei versucht wurde, gerade den Tessartyp auf solch hohe Lichtstärken zu bringen, lag an dessen sehr gutem Wirkungsgrad. Erstens waren aufgrund der drei Linsengruppen die Spiegelverluste geringer, als bei Objektiven wie dem Biotar. Zweitens waren die Linsen vergleichsweise dünn, weshalb auch leicht gelb gefärbte Schwerkrongläser den Gewinn an geometrischer Öffnung nicht durch erhöhte Absorptionsverluste gleich wieder zunichte machten.
Elegant und hochtalentiert - aber angesichts seines rücksichtslosen Karrierestrebens sowie seiner Schlüsselposition bei Zeiss Jena während des Totalen Krieges nicht über jeden Zweifel erhaben: Dr. Willy Merté. Als führender Fachmann unter anderem auf dem Gebiet asphärischer Flächen wurde er nach dem II. Weltkrieg in die USA abgeworben und arbeitete in Boston und Dayton, wo er - noch keine 60 Jahre alt - im Frühjahr 1948 unerwartet verstarb, ohne seine bahnbrechenden Forschungen auf diesem Gebiet zuendegeführt zu haben.
Für eine weitere Anhebung der Lichtstärke mußten jedoch andere Hebel angesetzt werden. Bislang völlig unbekannt war, daß in der Abteilung Photo bereits in der Zeit des Ersten Weltkrieges erstmals an Objektiven mit asphärischen Linsen geforscht wurde! Ohne Zweifel sind in der Zeiss Datenblattsammlung jedoch auf Karte 380 sowohl ein Triotar, als auch auf Karte 383 ein Tessar verzeichnet, die jeweils mit deformierten Hinterlinsen versehen waren. Leider ist die Quelle nur sehr schlecht erhalten. Als Jahr läßt sich nur noch mit Mühe 1915 erahnen. Aus dem Inhaltsverzeichnis kann man lediglich mit Gewißheit sagen, daß dieses Tessar die Daten 3,5/300 mm gehabt hat. Die langen Zahlenreihen unter dem Datenblatt beziehen sich wohl auf den Grad der Deformation ausgedrückt als r-σ.
Auf diesen Ansatz, einzelne Flächen des Tessares von der Kugelform abweichen zu lassen, um die von dieser Kugelform herrührenden Bildfehler besser beherrschen zu können, griffen Willy Merté und Ernst Wandersleb Anfang der 1930er Jahre wieder zurück, als es darum ging, ein Tessar zu schaffen, das es mit den Sonnaren seines konzerninternen Konkurrenten Ludwig Bertele aufnehmen konnte. Das früheste Anzeichen dafür ist das unten gezeigte Datenblatt "Deform. lichtstarkes Objektiv 1:2, f = 46,2 mm v. 27. 2. 32" auf Karte 957 der Zeiss-Sammlung. Genauer gesagt ist die "Fläche 5 deformiert". Äußerlich handelt es sich um eine Tessarform mit dem neuen Schwerkron SK16 in der vorderen und dem Baritflint BaF10 in der hinteren Sammellinse. Beide negative Komponenten bestehen aus Flintglas.
Willy Merté und Ernst Wandersleb scheinen sich in dieser Zeit sehr intensiv mit den Möglichkeiten deformierter Linsenflächen auseinandergesetzt zu haben, worüber ein Patent Nr. 645.202 vom 31. Januar 1934 Zeugnis ablegt. Das dort beschriebene Objektiv aus zwei Menisken, die ihre erhabenen Flächen einander zukehren ist ebenfalls in der Zeiss-Datenblattsammlung erhalten und zeigt eine ganz erstaunliche Leistung.
Doch besonders hoch muß der Drang gewesen sein, das Tessar mit all seinen Vorteilen durch Nutzung von asphärischen Flächen auf eine höhere Lichtstärke zu bringen. Oben sieht man anhand des Datenblatts für den Versuch V1935 Nr. 11 (Karte 1085), wie man in den letzten mehr als drei Jahren vorangekommen war. Mittlerweile wurde die erste Fläche deformiert. Die Kurve für die sphärische Aberration verläßt die y-Achse praktisch nicht mehr. Der Bildwinkel erreicht jedoch nicht einmal 40 Grad, wobei die Werte für den Astigmatismus und die Verzeichnung bereits ziemlich erheblich sind.
Schon im Jahr zuvor hatte man mit dem Versuch 11 aus 1934 ein sphärisches Tessar 1:1,5/5 cm gerechnet. Auch hier war die erste Fläche deformiert. Doch diese begehrenswerten lichtstärkeren Varianten wären allenfalls für Schmalfilmkameras geeignet gewesen, denn sie erreichten den für ein Kleinbild-Normalobjektiv nötigen Bildwinkel von 46 Grad nicht (das gelang nur bei zwei Versuchsobjektive 2,8/5 cm Nr. V6 und V8 aus 1934). Abgesehen von den fertigungstechnischen Schwierigkeiten, die Asphären mit sich gebracht hätten, mag dieser ungenügende Bildwinkel ausschlaggebend dafür gewesen sein, daß letztlich keines dieser deformierten Tessare in die Serienfertigung gelangte.
Doch genau zu diesem Problem, daß sich asphärische Flächen (noch lange Zeit) nicht mit der nötigen Präzision herstellen ließen, hatte sich Ernst Wandersleb Gedanken gemacht. Seine Lösung lag darin, frei an Luft nur sphärische Flächen grenzen zu lassen, die deformierten Flächen jedoch gewissermaßen in eine Verkittung mit einer anderen Linse einzubetten, wo die Forderungen an die Genauigkeit ihrer Ausführung herabgesetzt waren. Bemerkenswert an diesem Patent ist, daß es zwar im Juli 1939 angemeldet wurde, aber erst im Februar 1953 vom DDR-Patentamt erteilt worden ist.
Oben ist ein Versuchsobjektiv Nr. 40 für ein Tessar 2/5 cm von 1939 zu sehen, das genau eine solche in eine Verkittung eingebettete deformierte Fläche zeigt. Mit L4 ist offenbar das Verkittungsmittel gemeint.
Auch erst vom Nachfolgestaat DDR wurde ein zweites Patent am 23. Juli 1954 veröffentlicht, das sich direkt auf diese asphärischen Tessare bezieht und das am 6. Dezember 1940 angemeldet worden war. Der Urheber Willy Merté war zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits seit sechs Jahren verstorben. Im Prinzip hatte sich Merté hier auf seinen eigenen Namen dasjenige patentieren lassen, was oben mit den Datenblättern der Jahre 1934 und 35 schon gezeigt worden ist und was er mit hoher Wahrscheinlichkeit zusammen mit Ernst Wandersleb erarbeitet hatte. Doch während Merté nach Kriegsausbruch wegen seiner hochgradig rüstungsrelevanten Objektiventwicklungen auf der Karriereleiter einige Sprossen emporgestiegen war, ging es für Wandersleb zur selben Zeit sukzessive bergab. Und das hatte nichts mit einem geringfügigeren Leistungsvermögen Wanderslebs zu tun, sondern beruhte auf rein rassistischen Grundlagen. Nach der Diktion der Nazis lebte Wandersleb in einer sogenannten "Mischehe" mit einer Jüdin. Seit Juli 1938 war dies offiziell als Grund für eine Scheidung anerkannt, was im Umkehrschluß bedeutete, daß vom "arischen" Ehepartner erwartet wurde, sich scheiden zu lassen, wenn er weiterhin als Volksgenosse seine vollwertigen Bürgerrechte wahrnehmen wollte. Für Wandersleb, der seine Frau damit der völligen Entrechtung preisgegeben hätte, kam dies jedoch nicht infrage, weshalb es mit ihm in der Folgezeit bei Zeiss steil bergab ging. Interessant ist vor diesem Hintergrund, daß Merté in seinem obigen Patent die noch vor dem Kriegsausbruch auf Wandersleb angemeldete Einbettung der asphärischen Fläche in eine Kittschicht ziemlich explizit herausnimmt und von einem dünnen Luftspalt spricht, um dessen Schutzrechte nicht zu verletzen. Zumindest vor dem Patentgesetz waren alle Deutschen noch gleich.
5. Harry Zöllners Vervollkommnung des Tessars zum modernen Universalobjektiv
5.1 Neuanfang '45
Erst mit dem Ende der Kampfhandlungen im Frühjahr 1945 mag vielen überlebenden Deutschen erst so recht klar geworden sein, welch mannigfaltige Konsequenzen der Zivilisationsbruch der letzten zwölf Jahre jetzt haben wird. Jeder sah zwar, daß die Betriebe und die Wohnungen ausgebombt waren, daß es keinen Strom gab und das ganze Land unter die Verwaltung der Besatzungsmächte gestellt wurde. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Wenn wir uns hier an dieser Stelle überhaupt damit beschäftigen, weshalb überhaupt nur wenige Wochen und Monate nach dem Ende des Krieges unbedingt so etwas als völlig nebensächlich erscheinendes wie die Produktion von Kameras und Photoobjektiven wieder angefahren wurde, dann läßt sich dies mit einem Wort auf den Nenner bringen: Hunger. Das einzige nämlich, was bis kurz vor dem Zusammenbruch des NS-Regimes ziemlich reibungslos geklappt hatte, das war die Lebensmittelversorgung ihrer arischen Volksgemeinschaft. Das war natürlich nur zu dem Preis möglich, daß man anderswo in Europa die ausgeplünderten Völker zu Hunderttausenden hat verhungern lassen. Doch damit war nun Schluß. Und wenn Sie, lieber Leser, wie der Verfasser dieses Aufsatzes, noch Großeltern gehabt haben, die die unmittelbare Nachkriegszeit als Kinder erlebten, dann werden Sie sich vielleicht an dieser Stelle erinnern, wie diese Generation bis an das Ende ihrer Tage von diesem Trauma des Hungers geprägt worden ist.
Nun jedoch war man in Deutschland wieder darauf angewiesen, wie schon seit den Anfängen der Industriezeit, Lebensmittel und andere Güter in großem Umfange zu importieren, um den Bedarf zu decken. Dafür wurde aber konvertierbare Währung gebraucht, und gerade feinmechanisch-optische Geräte deutscher Produktion waren im Ausland ganz besonders nachgefragt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, zum Beispiel auf dem engen Sektor der Schmalfilmgeräte, gab es beispielsweise auf dem riesigen US-amerikanischen Markt kaum Hersteller, deren Produkte mit dem technischen Niveau deutscher Anbieter konkurrenzfähig gewesen wären. Vor diesem Hintergrund darf es nicht völlig verwundern, daß man in den einschlägigen Zentren in Dresden, Braunschweig und Wetzlar noch aus den Trümmern heraus versuchte, wieder Kameras auszuliefern. Und da keine Kamera ohne Objektiv auskommt, waren auch die Produkte dieser Unternehmen gleich wieder gefragt. Insbesondere in Bezug auf den Tessartyp war abzusehen, daß jener aufgrund seiner guten Eignung für die Massenfertigung wieder an seine alte Bedeutung würde anknüpfen können. So läßt sich schon im Juli 1945 eine Montage von mehreren tausend Stück Tessare 2,8/5 cm nachweisen für Praktiflex und Exakta. Sicherlich handelte es sich dabei teilweise um die Montage vorhandener Teile, doch belegt das die unmittelbar nach Kriegsende vorhandene Nachfrage nach diesen Erzeugnissen.
Doch dann geschah bei Zeiss in Jena etwas, was dieses gerade exakt 100 Jahre alt gewordene Werk beinah für immer ausgelöscht hätte. War zuvor durch Bombenabwürfe die Gebäudesubstanz zu etwa einem Viertel zerstört worden, so wurden nun aus den zu großen Teilen bereits wiederhergerichteten Fabrikanlagen fast der gesamte Maschinenpark ausgebaut und in Kisten verpackt, um auf das Territorium der Sowjetunion verbracht zu werden. Es ist heute wohl für niemanden mehr nachvollziehbar, wie es den Menschen in Jena damals gelungen ist, nach diesem Aderlaß vom Winter 1946/47 Zeiss Jena noch einmal quasi aus dem Nichts heraus aufzubauen und sogar wieder zu jener Weltfirma werden zu lassen.
5.2 Das neue Tessar 2,8/5 cm vom Oktober 1947
Noch wenige Wochen vor der Demontage des Werkes waren am 1. Oktober 1946 zwei Musterobjektive eines Versuchs Nr. 1 für ein Tessar 2,8/5 cm fertiggestellt worden, dessen Rechnung auf den 15. August 1946 datierte. Das dürfte eine der ersten Entwicklungsarbeiten des neuen Leiters der Abteilung Photo Harry Zöllner gewesen sein. Für April, Mai, Juni, August und September 1947 lassen sich zahlreiche weitere Versuchsmuster nachweisen, bis mit dem Versuch Nr. 18 mit Rechnungsabschluß vom 29. Oktober 1947 endlich diejenige Lösung gefunden wurde, die dann tatsächlich in Produktion ging. Zöllner gelang es damals, das Kleinbild-Tessar so zu optimieren, daß es bis in das Jahr 1988 – also vier Jahrzehnte lang – optisch unverändert gefertigt werden wird. Es werden dabei die größten Stückzahlen einer einzelnen Objektivkonstruktion überhaupt erreicht werden. Dieser 29. Oktober 1947 ist damit auch symbolisch als Neuanfang für das Jenaer Zeisswerk nach der Katastrophe von 1946/47 anzusehen.
Gewissermaßen die Verkörperung des Wiederaufbaus der Abteilung Photo des Zweisswerks nach dem II. Weltkrieg: Dr. Harry Zöllner
Doch die Entwicklung schritt rasch voran. Noch während des Krieges waren Versuche unternommen worden, die in den USA bei Kodak entdeckten Lanthan-Schwerkrone auch für Deutschland verfügbar zu machen. Bald ging es nicht mehr nur um die eigentliche Zusammensetzung der Gläser, sondern um das Verfahren, das Glas blasen- und schlierenfrei herstellen zu können bzw. nach dem Erstarren überhaupt eine amorphe Glasmasse zu erhalten. Dafür mußten unter anderem völlig neue Schmelzverfahren entwickelt werden. Man erkennt das auch aus der damaligen Patentliteratur, in der neben der eigentlichen "Rezeptur" für das Glas immer mehr auf seine Herstellungstechnologie abgestellt wurde. Bis etwa 1953 verliefen die Entwicklungen bei Schott in Jena und in Mainz noch weitgehend Hand in Hand. Man kann mit großer Sicherheit davon ausgehen, daß die vom VEB JENAer Glaswerk Otto Schott & Genossen angebotenen Schwerkron-Gläser SK 21 bis SK24 weitgehend dem LaK1 bis LaK4 aus Mainz entsprachen. Erst danach trennten sich die Entwicklungen sichtlich. Diese neuen Glasarten haben in den 50er Jahren noch einmal eine Revolution im Objektivbau ausgelöst, da die hohen Brechzahlen bei niedriger Dispersion bzw. die sehr günstigen Dispersionsverläufe gestatteten, insbesondere sphärochromatische Fehler in bisher nicht gekannter Weise in den Griff zu bekommen.
Auch das Tessar wurde auf Basis dieser neuen Lanthan-Schwerkrone weiterentwickelt, was in dem DDR-Patent Nummer 8721 vom 17. März 1951 zum Ausdruck kommt. In der Frontlinse des Patentbeispiels 1 wurde das neue SK22 eingesetzt. Nicht bekannt ist jedoch, in wie weit tatsächlich der Lanthan-Kron Einsatz in die Praxis überführt wurde. Zwar wurde beispielsweise am 19. September 1950 ein neues Tessar 2,8/50 gerechnet und am 18. Dezember 1950 in zwei Versuchsexemplaren gefertigt. In die Produktion wurde diese Version jedoch nicht überführt; hier blieb es bei der Rechnung von 1947. Man muß schlichtweg davon ausgehen, daß sich die theoretisch ermittelten Fortschritte in der Bildleistung durch Einsatz dieser Gläser kaum wirklich in der praktischen Anwendung der Objektive bemerkbar machten – zumindest nicht mit den damals zur Verfügung stehenden Aufnahmematerialien. Noch im Jahre 1972 verweist Zöllner in seinem Aufsatz zum 70. Jubiläum des Tessares darauf, daß selbst mit den mittlerweile zur Verfügung stehenden rechnergestützten Optimierungsprogrammen kaum noch eine wesentliche Verbesserung der Bildleistung dieses Objektivtyps möglich sei. Dessen namensgebende vier Linsen, damit vier verschiedene Glassorten, vier Linsendicken, zwei Lufträume und – durch die Verkittung – insgesamt sieben frei wählbare Radien ließen nur wenig Spielraum für weitere Leistungssteigerungen [Vgl. Zöllner, Harry: 70 Jahre Tessar; in: Fotografie 1972, S. 33.]. Um so höher ist die damalige Leistung Paul Rudolphs und seiner Nachfolger zu bewerten, die für das Auffinden und Optimieren solcher optischen Systeme seinerzeit noch keine automatisch arbeitenden Computer zur Verfügung hatten, sondern die einzig und allein auf ihr außergewöhnliches Talent und ein tiefgreifendes Verständnis der optischen Materie vertrauen konnten.
Oben ist der Erfolg der qualitativen Verbesserung des Tessars in der Zeit um 1930 und nach 1945 in Form von Kurven für die Querabweichungen dargestellt – einem Konglomerat aus sphärischer Aberration und meridionaler Koma. Als Referenz dient das Tessar 1:6,3 von 1902. Auf der x-Achse ist der Tangens des halben bildseitigen Bildwinkels δ' (= kleines Delta) und auf der y-Achse Δy' (= großes Delta) als Querabweichung in der besten Einstellebene angegeben. Alle Zahlenwerte verstehen sich auf eine Brennweite von 100 mm bezogen. Anmerkung: Beim Tessar 4,5 muß es statt 1939 sicherlich 1929 heißen. Ganz unten vergleicht Harry Zöllner sein verbessertes Tessar 2,8/50 von 1947 mit dem Vorgänger von Willy Merté aus dem Jahre 1931. [nach Zöllner, Harry: 70 Jahre Tessar; in: Fotografie 1972, S. 33.].
In der ersten Hälfte der 1950er wurde für das neue Tessar 2,8/50 vergleichsweise intensiv Reklame gemacht - zumindest in Hinblick darauf, daß dies für Normalobjektive sonst nicht so üblich ist. Daraus könnte man schließen, daß man in Jena darauf bedacht war, vom eher zweifelhaften Ruf des bisherigen Tessars 2,8/5 cm loszukommen.
Eine weite Verbreitung fand das neue Tessar 2,8/50 mm seit den 1950er Jahren sowohl als Normalobjektiv für einfache Sucherkameras als auch für teils sehr teure Spiegelreflexkameras. Bei den einfachen Sucherkameras wie von Balda bzw. Belca war die große Lichtstärke von 1:2,8 nicht immer voll ausnutzbar, weil die Entfernung geschätzt werden mußte. Bei Reflexkameras gab es hingegen große Vorteile in bezug auf die Sucherbildhelligkeit und damit für das Schafstellen - auch wenn dann bei der Aufnahme in den meisten Fällen ebenfalls ziemlich stark abgeblendet wurde. Mit Auslaufen der Werra-Reihe in den späten 60er Jahren wurde das Tessar 2,8/50 dann nur noch für die Spiegelkameras Exa und die Praktica angeboten, für die es bis ins Jahr 1988 (!) im Programm blieb.
Die Abbildung oben zeigt uns die Bildfehlerkurven des Tessars 2,8/50 mm in der Version von 1947 [nach Fincke]. Mit etwas Übung läßt sich aus ihnen ablesen, weshalb dieses Tessar nach heutigen Maßstäben bei offener Blende nicht das beste Objektiv der Welt ist, wieso diese Schwächen aber bereits bei leichter Abblendung weitgehend verschwinden. Die Kurve a) gibt die sphärische Aberration wieder sowie (gestrichelt) die Abweichung von der Sinusbedingung. Beide Kurven liegen übereinander, was sehr wünschenswert ist. Nicht verwirren lassen sollte man sich dadurch, daß alle Zahlenangaben hier auf eine Brennweite von 100 mm bezogen sind, was schlichtweg eine Konvention darstellt, um Längen in Millimeter als Prozent der Brennweite ausdrücken zu können. Die sogenannte Einfallshöhe des Lichtbündels, die auf beiden Seiten der y-Achse je etwa 17,5 mm beträgt, also zusammengenommen etwa 35 mm, paßt nun geradewegs etwa 2,8 mal in die Brennweite von 100 mm, woraus sich die bekannte Lichtstärke unseres Tessars 2,8/50 ergibt. Auffällig ist nun, daß die Kurven in a) eine ziemliche Ausbeulung aufweisen, die der Photooptiker als Zonen bezeichnet. Der Punkt der schärfsten Abbildung liegt an diesen Stellen nicht genau auf der Bildebene (= y-Achse), wie das bei Lichteinfall entlang der optischen Achse (= x-Achse) der Fall ist, sondern der Schärfepunkt liegt bei einer Einfallshöhe von 15 mm reichlich 0,5 % VOR der Bildebene. Weil, wie oben erwähnt, die Brennweite des Tessars 2,8/50 auf 100 mm umgerechnet ist, sind das also auch reichlich 0,5 mm Abweichung bzw. reichlich 0,25 mm bezogen auf die tatsächliche Brennweite des Tessars von 50 mm. Wer gern mit Formeln hantiert, der kann sich die Größe des Unschärfekreises ausrechnen, der sich aus dieser Verschiebung des Schärfepunktes ergibt. Er überschreitet zwar noch nicht den für das Kleinbild zulässigen Wert, kommt ihm aber ziemlich nahe. Wichtig ist aber, daß diese Überlagerung des scharfen "Kern-Bildes" nur von solchen Lichtstrahlen hervorgerufen wird, die das Tessar in den äußersten Bereichen des Linsendurchmessers durchlaufen. Bei einer Abblendung auf 1:5,6 (entsprechend einer Einfallshöhe von etwa 9 mm) wird die sphärische Aberration hingegen rasch vernachlässigbar. Wie man erkennt, beginnt die Kurve erst oberhalb der 10-mm-Marke auszubrechen. Damit war der durchaus merkliche Restbetrag des Öffnungsfehlers dieses Tessars 2,8/50 in der Praxis nur bei denjenigen seltenen Gelegenheiten wirklich zu spüren, in denen einmal mit weitgeöffneter Blende photographiert wurde. Da das Tessar 2,8/50 spätestens ab Mitte der 60er Jahre eine Rolle als preiswertes Amateurobjektiv zugewiesen bekommen hatte, war seine Charakteristik, daß es erst bei leichter Abblendung richtig leistungsfähig wird, völlig unproblematisch.
Diese Eigenart des kräftigen Leistungsanstiegs beim Abblenden wird auch noch einmal in diesen beiden MTF-Diagrammen deutlich, wo das Tessar 2,8/50 mm dem zeitgenössischen Meritar 2,9/50 mm von Ludwig gegenübergestellt ist. Die Aussagekraft solcher Diagramme ist immer begrenzt, zumal die hier zu sehende Darstellung aus den frühen 70er Jahren stark von der heute üblichen abweicht, weil die Kontrastübertragung in Abhängigkeit von der sog. Ortsfrequenz abgetragen ist, während heutzutage für 3...4 feste Frequenzen die Kontrastleistung in Abhängigkeit von der Bildhöhe dargestellt wird. Aufschlußreich sind die beiden Diagramme aber deshalb, wiel sie ja mit demselben Meßverfahren ermittelt wurden und daher einen direkten Vergleich beider Objektive ermöglichen. Man erkennt, daß das Meritar das damals übliche "Schärfekriterium" 40 Linien je Millimeter bei 40 Prozent Kontrast selbst bei Abblendung nur geradeso überschreitet. Während das Tessar 2,8/50 bei offener Blende ebenfalls sehr schwache Leistungen zeigt, kann man sehr gut den kräftigen Zuwachs bei Abblendung um zwei Stufen erkennen. Vergleicht man die Kurven des Tessars allerdings mit denjenigen, die zum Beispiel auf der entsprechenden Seite für das Oreston 1,8/50 mm angegeben sind, so erkennt man, daß ein solcher Gaußtyp bei Abblendung noch einmal deutlich besser wird als das an die Grenzen seiner Leistung gebrachte Tessar 1:2,8. Positiv fallen beim Tessar jedoch die eng beieinander liegenden Kurven für Mitte und Rand auf, die in der Praxis eine gleichmäßige Verteilung der Schärfe über das Bildfeld hinweg erwarten lassen.
5.3 Erneute Versuche zur Steigerung der Lichtstärke des Tessares
Auch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg hat es nicht an Bestrebungen gefehlt, den Tessartyp über die Öffnung 1:2,8 hinaus anzuheben. Von den asphärischen Tessar-Versuchen der 30er Jahre war auf deutschem Boden wohl nichts übriggeblieben, denn alle Prototypen wurden 1945 von den US-Streitkräften beschlagnahmt und nach Amerika verbracht. Der neue Chef der Abteilung Photo des Jenaer Zeisswerks Harry Zöllner und sein Assistent Fritz Disep (bekannt als Schöpfer des Apo-Germinars) haben aber nachweislich seit 1948 wieder an verschiedenen Ansätzen für ein Tessar 1:2/50 mm gearbeitet. Ob sie dabei auch im Kriege abgebrochene Projekte Mertés zuende geführt haben, ist bislang nicht geklärt.
Bilder: Stefan Baumgartner
Beim oben zu sehenden Versuchsobjektiv eines Tessares 1:2/5 cm [Sammlung Baumgartner], das im August 1948 gerechnet wurde, fällt im zugehörigen Linsenschnittbild [unten, Sammlung Benedix] die stark gekrümmte Kittfläche auf, die sich ungewöhnlicherweise auch noch in Richtung der Bildebene wölbt, da hier die übliche Anordnung von Sammel- und Zerstreuungslinse gegeneinander vertauscht wurde. Nicht mehr ermittelbar warjedoch, ob bei diesem Versuchsobjektiv vielleicht noch eine in die Verkittung eingebettete asphärische Fläche vorhanden ist, wie dies in Abschnitt 4 beschrieben wurde.
Ein weiterer, oben zu sehender Prototyp eines Tessares 2/50 mm mit der Seriennummer 3.543.297 [Bild: Nico Schulze] ist ein Beleg dafür, daß die Arbeiten an derartigen Tessaren mit erhöhter Lichtstärke unter der Leitung Harry Zöllners noch mehr als zwei Jahre fortgeführt worden sind. Denn dieses Versuchsobjektiv Nr. 93 wurde am im Oktober 1950 gerechnet und gelangte am 15. Dezember 1950 in die Fertigung. Mittlerweile waren die Glasoberflächen allesamt mit einem Transparenzbelag versehen.
Das Linsenschnittbild oben [Sammlung Benedix] läßt wissen, daß die hintere Kittgruppe des Tessares hier dreiteilig ausgeführt ist, indem ein zerstreuender Minus zwischen den beiden Hälften des Achromaten eingefügt wurde. Auch hier fällt besonders auf, wie beide Kittflächen stark Richtung Bildebene gewölbt sind. Offenbar war dies der Höhepunkt der Versuche, den einfach aufgebauten Tessartyp auf die verlockend hohe Lichtstärke zu bringen und damit eine preiswerte Alternative zum aufwendigen Biotar 2/58 zu schaffen. Keines der hier gezeigten Beispiele erreichte jedoch Serienwirksamkeit.
5.4 Weitere Tessar-Neurechnungen
Aber nicht nur das Tessar 2,8/50 mm konnte von der während des Krieges weiterentwickelten Glastechnologie profitieren. Auch das im Mittelformat sehr dominierende Tessar 3,5/75 mm war bereits zum 28. Mai 1947 neu berechnet worden – gerade einmal zehn Wochen nach dem Ende der Demontage des Zeiss-Werks durch die Sowjetische Besatzungsmacht [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss Jena 1945-1990, 2004, S. 52.]. Auch für diese "Mittelformat-Variante" bestand nun wieder sehr großes Nachfragepotential. Eigentlich sollte die Braunschweiger Rolleiflex wieder umfangreich mit diesem Objektiv ausgestattet werden, aber die Reparationsverpflichtung Zeiss Jenas für die Sowjetunion vereitelte dies. In der DDR wurde das Tessar 3,5/75 später unter anderem in der einfachen 6x6-Faltkamera Weltax eingesetzt. Im Jahr 1948 wurden auch einige Versionen des Tessars 1:4,5 einer Optimierungsarbeit unterzogen. Besonders hervorhebenswert ist dabei das Tessar 4,5/135 mm, weil hier mehr als nur ein Austausch der Glassorten stattfand.
Bei diesem Tessar 4,5/135 vom 10. Februar 1948 (oben) fällt gegenüber seinen Vorgängern und auch gegenüber seinem Nachfolger von 1957 (unten) die deutlich vergrößerte Frontlinse auf. Damit hat man mit hoher Wahrscheinlichkeit der Randabdunklung entgegentreten wollen. Zweitens stechen bei meinem Exemplar die in großer Vielzahl vorhandenen Glasbläschen ins Auge. Das war damals ein sicheres Zeichen dafür, daß hochbrechende Schwerkrongläser zum Einsatz kamen, bei denen sich dieser Schönheitsfehler mit der damaligen Herstellungstechnologie nie ganz vermeiden ließ. Kenner wußten seinerzeit, daß diese Bläschen nicht als Zeichen für dritte Wahl, sondern für den höchstmöglichen Materialeinsatz zu deuten sind.
Im frühen Nachkriegs-Prospekt von 1950/51 wurden die Tessare allgemein (oben) und das Tessar 1:2,8 gesondert abgehandelt (unten). Tenor auch hier: Während die lichtschwächeren Tessare schon immer einen hohen Leistungsstand erreichten, so ist dies jetzt auch beim neu gerechneten Tessar 1:2,8 sichergestellt.
Offensichtlich war es so, daß fast alle Tessare 1:4,5 im Jahre 1948 auf der Basis der aktuellsten Glasarten neu berechnet wurden, daß jedoch dieser aufwendige Materialeinsatz nach kurzer Zeit als unrentabel erkannt wurde. Das läßt sich aus folgenden zwei Gegenmaßnahmen schließen: Entweder man kehrte wieder auf Mertés vorherige Konstruktion aus den späten 1920er Jahren zurück – so geschehen im Falle der Tessare 4,5/50 mm; 75 mm; 150 mm; 180 mm; 210 mm und 300 mm. Oder aber man führte nach kurzer Zeit eine abermalige Neurechnung durch, die offenbar aus qualitativer Sicht als notwendig erachtet wurde, jedoch ebenfalls Kosten zu sparen schien. Dies war offensichtlich der Fall beim Tessar 4,5/105 mm und bei dem oben bereits angesprochenen Tessar 4,5/135 mm. Eine Besonderheit stellte zudem das Tessar 4,5/165 mm dar, das seit 1945 nicht mehr produziert worden war und das erst im Jahr 1960 wieder ins Angebot aufgenommen wurde, wobei die neue Rechnung vom 18. Juli 1959 gleich diejenige vom 23. August 1911 ersetzte, da diese Brennweite offensichtlich nie durch Merté überarbeitet worden war.
Nach 1945 neu gerechnete und neu geschaffene Tessare (ohne Prototypen):
Tessar 2/16 mm: 19. 07. 1949
Tessar 2/28 mm: 01. 10. 1949
Tessar 2,8/16 mm: 27. 04. 1948
Tessar 2,8/50 mm: 29. 10. 1947
Tessar 2,8/80 mm: 07. 07. 1950
Tessar 3,5/37,5mm: 04. 07. 1946; 12. 12. 1973 und 19. 09. 1975
Tessar 3,5/50 mm: 12. 10. 1973 und 18. 09. 1975
Tessar 3,5/70 mm 05. 07. 1962; 15. 02. 1972
Tessar 3,5/75 mm: 28. 05. 1947
Tessar 3,7/70 mm: Übertragungsfehler von Thiele. In Wahrheit 3,5/70 mm
Tessar 4/16 mm: 07. 08. 1973
Tessar 4/24 mm: 04. 03. 1973
Tessar 4,5/40 mm: 20. 04. 1948
Tessar 4,5/50 mm: 26. 08. 1948
Tessar 4,5/75 mm: 16. 09. 1947
Tessar 4,5/105 mm: 14. 01. 1948 und 02. 07. 1951
Tessar 4,5/115 mm: 29. 06. 1949
Tessar 4,5/135 mm: 10. 02. 1948 und 07. 03. 1957
Tessar 4,5/150 mm: 23. 10. 1947
Tessar 4,5/165 mm: 18. 07. 1959
Tessar 4,5/180 mm: 09. 02. 1948
Tessar 4,5/210 mm: 16. 02. 1948
Tessar 4,5/300 mm: 04. 06. 1948
Tessar 4,8/15 mm: 28. 08. 1964 und 20. 06. 1970
Tessar 4,8/30 mm: 28. 02. 1974
Tessar 5/13,5 mm: 22. 09. 1986
Tessar 5/16 mm: 15. 06. 1978
Tessar 5,6/100mm: 31. 01. 1975
Tessar 5,6/135 mm: 12. 02. 1975
Tessar 6,3/135 mm: 16. 08. 1947
Tessar 6,3/210 mm: 03. 09. 1947
Tessar 6,3/300 mm: 14. 05. 1946
Tessar 8/16 mm: 07. 08. 1973
Auch das Tessar 3,5/37,5 mm wurde neu berechnet; und zwar bereits im Sommer 1946, weil es wohl dringend für die Bestückung der Tenax benötigt wurde, die nun als Taxona neu herausgebracht werden sollte. Dasselbe Objektiv wurde auch für die Belplasca verwendet, deren etwas größeres Format 24x29 mm eine Diagonale aufwies, die genau der Größe der Brennweite dieses Tessares entsprach.
Ansonsten läßt sich aus der obigen Zusammenstellung folgendes zusammenfassen: Die Tessare 1:3,5, die seit den 30er Jahren zu den wichtigsten Photoaufnahmeobjektiven Zeiss Jenas gehört hatten, liefen alle bis zum Ende der 1950er Jahre aus, weil schlichtweg die Kameras aus dem Programm genommen wurden, in denen sie zum Einsatz gekommen waren. Einzige Ausnahme war das oben gezeigte Tessar 3,5/37,5 mm, dessen Produktion im Oktober 1963 wieder aufgenommen wurde, um als Projektionsobjektiv für die Dokumator-Lesegeräte zu dienen. Das geschah zunächst auf Basis der Rechnung vom Juli 1946, die dann aber im Januar 1976 zunächst durch eine Rechnung von 1975 und anschließend seltsamerweise durch eine frühere von 1973 ersetzt wurde. Ähnliches geschah mit dem Tessar 3,5/50 mm, das 1954 ausgelaufen war, und jetzt mehr als 20 Jahre später ab 1975 mit zwei Rechnungen erst von 1975 und dann von 1973 wieder anlief. Aus Schriftverkehr in Bezug auf das neue Prakticar 1,4/50 mm wissen wir, daß diese neu gerechneten Tessare 3,5/37,5 und 3,5/50 sowie das Tessar 5/16 mit dem thoriumhaltigen Schwerstkron SSK11 arbeiteten, um höchstmögliche Abbildungsleistung sicherzustellen. Diese Optiken, sowie einige andere aus der obigen Zusammenstellung, die quasi nur noch für Sonderzwecke angewandt wurden, trugen dabei nicht notwendigerweise die äußerliche Bezeichnung "Tessar", sondern wurden nur wegen ihres Aufbaus als Tessartyp betriebsintern in diese Gruppe eingeordnet. So waren im Prinzip alle seit Anfang der 70er Jahre eingeführten Tessarformen quasi nur noch für Spezialanwendungen gedacht und nicht mehr als klassische Photoaufnahmeobjektive, wie zum Beispiel die Typen mit der Öffnung 1:4,8, die als Projektionsobjektive in Planetarien dienten.
Sieht von der oben bereits angesprochenen "Rück-Vereinfachung" der Tessare 4,5/105 und 4,5/135 ab, dann war das Tessar 2,8/80 mm vom Juli 1950 das letzte neu geschaffene Tessar für Photoaufnahmezwecke. Es war in erster Line für die Bestückung der 6x6-Reflexkameras Primarflex II und Meister-Korelle gedacht sowie für die neu erschienene Exakta 6x6. Nachdem diese drei Kameras jedoch nach kurzer Zeit wieder aus dem Angebot verschwunden waren, wurde die Meßsucher-Faltkamera Certo Six umfangreich mit dem Tessar 2,8/80 ausgestattet. Noch kurz war es für die neue Praktisix im Einsatz, wurde dann aber rasch durch das neue Biometar abgelöst, das einfach deutlich bessere Leistungen zeigte. Auch beim Tessar 2,8/80 wurde offenbar Ende des Jahres 1950 versucht, wie beim Tessar 2,8/50 Lanthan-Krongläser in die Konstruktion einzuführen. Dazu wurden zum 9. Oktober 1950 zwei Versuchsobjektive V91 gerechnet und am 4. Dezember 1950 in Fassungen eingebaut. Eine Übernahme in die Serienfertigung erfolgte jedoch auch hier nicht.
Zeiss Jena hatte für den zweiten Versuch der Exakta 6x6 quer im Sommer 1951 schon mehrere 100 Tessare 2,8/80 mm gefertigt, die nicht abgenommen wurden, weil diese Kamera nicht in Serie ging. Sie wurden knapp drei Jahre später für die neu konstruierte Exakta 6x6 verwendet. Für deren größer dimensioniertes Bajonett wurden sie serienmäßig mit einem Adapter versehen.
lnteressant sind auch die beiden auf sehr hohe Lichtstärke gebrachten Tessare 2/16 und 2/28 mm, die 1949 als Normalobjektive für die 16- und 35-mm-Arriflex geschaffen worden waren, aber letztlich nur in geringen Mengen hergestellt wurden.
Das Tessar 1:4,5 lieb auch nach 1945 noch ein fester Anker im Objektiv-Programm Zeiss Jenas. Die Brennweiten 50; 75; 105; 135; 165; 180; 210; 250; 300 und 360 mm wurden nachweislich noch bis in die 1980er Jahre gefertigt. Auch das rechts zu sehenden Tessar 4,5/50 mm ist ein Beispiel dafür, daß Neurechnungen der Zeit um 1948 später wieder wieder aufgegeben wurden. Es war am 26. Juni 1948 neu berechnet und bis 1953 in dieser Konfiguration hergestellt worden. Das nächste Produktionslos von 1958 verwendete dann allerdings wieder die Rechnung vom 15. September 1930. Auf dieser Grundlage von 1930 wurde das Tessar 4,5/50 mm gebaut, bis die Produktion im März1985 mit einer letzten Serie auslief.
6. Einige Beispiele für die Vielfalt der Tessaranwendung
Zwei Beispiele für Tessare in M42-Fassung: Oben ein Tessar 3,5/50 mit Normalblende, unten das für die Praktica FX2 und die Contax F gelieferte Tessar 2,8/50 mit Halbautomatischer Springblende. Bewegt man hier den Blendenring über den Öffnungswert 2,8 hinaus, so rastet die Blende in der vollen Öffnung ein. Kurz vor Auslösung des Verschlusses wird der Stößel des Objektivs so weit eingedrückt, daß die Rastung aufgehoben wird und die Blende auf den vorher eingestellten Arbeitswert zuspringt. Der Vorteil dieses Systems lag darin, daß der Auslöser kaum mit einer zusätzlichen Kraft belastet wurde. Als Nachteil ergab sich aber, daß nach jeder Verschlußauslösung die Blende stets wieder manuell geöffnet werden mußte. Daher Halbautomatische Springblende.
Oben: Eines der ersten Objektive mit M42-Gewinde (genaugenommen wohl das siebenundsiebzigste) ist dieses Tessar 3,5/5 cm vom März 1948. Der international als Praktica- oder Pentax-Gewinde bekannte M42-Standard sollte eigentlich "Praktiflex-Gewinde" heißen.
Oben: Der Inbegriff des Tessartyps ist für viele Amateurphotographen das Tessar 2,8/50 mm. Es wurde in die einfache Beltica genau so eingebaut wie in die Spitzenmodelle der Werra-Reihe. Selbst für die Praktina IIA - mit dem Tessar immerhin sechs mal so teuer wie die Beltica II - war dieses Objektiv in Hinblick auf die Abbildungsleistung auf dem nötigen Niveau. Wichtig ist aber, daß es dazu auch mechanisch mit der Zeit gehen mußte. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre war das Tessar 2,8/50 eines der ersten Objektive weltweit, das mit vollautomatischer Springblende versehen wurde. Auch der rastende Blendenring mit konstanten Abständen zwischen den Blendenwerten war eine unerhörte Neuheit, die uns heute nur deshalb kaum spektakulär vorkommt, weil das später alle Hersteller so nachgebaut haben.
Im oben gezeigten Prakticar 2,8/50 mm steckt auch ein Tessar, und zwar dasjenige von Harry Zöllner aus dem Jahre 1947. Das Besondere ist aber, daß dessen Gläser hier – und auch nur hier! – mehrschichtvergütet gewesen sind. Das nur in geringen Stückzahlen gefertigte Prakticar 2,8/50 stellt also die höchste Entwicklungsstufe des Jenaer Tessars 2,8/50 dar. Das spiegelte sich freilich auch im Preise wieder. Kostete das Tessar 2,8/50 mit Druckblende für die Praktica MTL oder die Exa Ib 140,- Mark, so hatte sich dessen Preis als Prakticar mit 320,- Mark mehr als verdoppelt. Da das Kombinat Pentacon mit Erscheinen der B-Reihe ein seit zehn Jahren in der Schublade liegendes Projekt für ein Prakticar 2,4/50 wieder hervorholte und dieses Objektiv durch Auftragsfertigung bei IOR in Bukarest zudem im Preis auf 275,- Mark gedrückt werden konnte, wurde das Saalfelder Prakticar 2,8/50 rasch eingestellt. Schon als die Auslieferung der Praktica B100 begann, befand es sich bereits im Abverkauf. Nur 2600 Stück waren bis dahin entstanden.
Bislang völlig unbekannt war, daß offenbar Restbestände des Tessares 2,8/50 mm noch NACH der Deutschen Wiedervereinigung in den Handel gelangten. Anders ist weder die Aufschrift "Made in Germany" zu erklären, noch die völlig von allen Schemata abweichende Seriennummer 0417. Es ist sehr wahrscheinlich, daß für Reparaturzwecke noch auf Lager liegende Teile montiert und evtl. durch die Nachfolgefirma Docter abverkauft wurden. Bild: Felix Heil
Kuriosum: Für diese Contax-Sucherkamera wurde das Tessar in den 30er Jahren sogar als Grundlage für ein ausgesprochenes Weitwinkel mit 75 Grad Bildwinkel verwendet. Das war eine Verlegenheitslösung, weil allein schon aus Gründen der hohen natürlichen Vignettierung für solch große Feldwinkel eigentlich Spezialkonstruktionen nötig sind. Trotz der ohnehin geringen Lichtstärke von 1:8 wurde daher im Katalog dem Nutzer empfohlen, nach Möglichkeit noch auf 1:16 abzublenden, um ausreichende Schärfe zu erzielen und den Lichtabfall zum Bildrand hin in Grenzen zu halten.
Praktisch eingesetzt und abgeblendet auf 1:11 ergibt dieses Tessar 8/2,8 cm aber dennoch absolut brauchbare Aufnahmen, wie man am Bildbeispiel unten sehen kann (Contax I, Agfapan APX 100).
Unten: Reklame für die Weitwinkel-Tessare 8/2,8 cm und 8/5,5 cm, die letztlich serienmäßig für die Contax und für die Standard-Exakta hergestellt wurden. Vom am 9. November 1932 abgeschlossenen Tessar 8/2,8 cm wurden bis 1946 etwa 8000 Stück hergestellt, vom am 23. Dezember 1932 gerechneten 8/5,5 cm bis 1939 dagegen nur etwa 550.
Nachdem das Tessar 1:2,8 in das Kleinbild eingeführt worden war, ging Willy Merté daran, mit einem Tessar 2,8/8 cm (Rechnung vom 27. Januar 1933) diesen Typ auch im Mittelformat mit dieser hohen Lichtstärke zu etablieren. Die ungünstigeren Schärfentiefenverhältnisse, die starke Wölbung des Rollfilmes aber nicht zuletzt auch die nicht ganz optimale Bildleistung dieses überzüchteten Tessares sorgten freilich dafür, daß es nur in wenigen Kameras (hier eine Super Ikonta) eingebaut wurde. Bei Franke und Heidecke war zwar 1934 viel Aufwand aufgebracht worden, eine Rolleiflex mit diesem Tessar 2,8 zu entwickeln (immerhin mußte zur nächstgrößeren Verschlußbaugröße übergegangen werden), die Serienproduktion wurde aufgrund der mangelnden Qualität dieses Tessars aber fallengelassen [Vgl. Prochnow, Rollei-Report, 1993, S. 190.].
Was man an dem obigen Exemplar gut erkennen kann, sind durch Verwitterung entstehenden Beläge, die die Oberflächen der Linsen so regenbogenfarbig schimmern lassen. Schon frühzeitig hatten Praktiker erkannt, daß solche Objektive brillanter arbeiteten, als solche mit frisch polierten Linsen, und sie bevorzugten ebenjene Exemplare für Aufnahmen in hartem Licht. Auf diesem Grundprinzip der Interferenz an dünnen Schichten basierte dann auch die in den 30er Jahren in Jena entwickelte Entspiegelung von Glasflächen (Alexander Smaklua).
Trotz dieser qualitativen Schwierigkeiten mit diesem Tessar 2,8/80 wurde zum 7. Juli 1950 noch einmal versucht, es durch Neuberechnung konkurrenzfähig zu halten, um es als Normalobjektiv für die damaligen 6x6-Spiegelreflexkameras Primarflex II, Meister-Korelle und der Exakta 6x6 einzusetzen. Das ist insofern verwunderlich, weil schon zuvor im Jahre 1948 ein fünflinsiges Biometar 2,8/80 mm für die Braunschweiger Rolleiflex entwickelt worden war, das nach damaliger Sicht perfekt auskorrigiert war. Dabei handelte es sich um eine vereinfachte Gaußtypabwandlung, die eine viel bessere Korrektur der sphärischen Aberration und der Farbquerkoma erlaubte.
Insbesondere solche Restbeträge eines nicht ideal auskorrigierten Kugelgestaltsfehlers hatten einen Hang des Tessars 2,8/80 zur Blendendifferenz zur Folge. Dieser Bildfehler ist die bei Kameras mit Mattscheibeneinstellung besonders problematisch. Das liegt daran, daß sich der Punkt der größten Schärfe als "Stelle der engsten Einschnürung" innerhalb des "Lichtschlauches" (Kaustik) entlang der optischen Achse verschiebt, wenn das Objektiv abgeblendet wird und daher die sogenannten sphärischen Zonen als Restbeträge des Kugelgestaltsfehler quasi ausgeblendet werden. Damit liegt dieser Punkt der höchsten Schärfe also bei offener Blende woanders als bei der tatsächlichen Aufnahmeblende. Da die Praktisix die erste Spiegelreflexkamera der Welt mit einer vollautomatischen Springblende war, bei der die Mattscheibeneinstellung nun stets und prinzipiell bei voller Objektivöffnung stattfand, kam es quasi nun immer zur Blendendifferenz, sobald das Objektiv zur tatsächlichen Aufnahme abgeblendet wurde. Das war ein für Zeiss ziemlich unbefriedigender Umstand.
Oben: An diesem Tessar 2,8/80 mm fällt insbesondere seine hochmodernen Fassung auf. Erstmals weltweit gab es 1956 eine linearisierte Blendeneinstellung mit gleichen Abständen der Blendenzahlen auf dem Blendenring. Dazu war eine völlig neuartige Lagerung der sichelförmig gestalteten Blendenlamellen nötig. Um die extrem kurzen Schließzeiten der neuartigen vollautomatischen Springblende zu gewährleisten, wurde der Treibring der Blendenlamellen erstmals kugelgelagert. Das oben gezeigte Exemplar stammt vom Frühjahr 1957 und bezeugt, daß die Praktisix sofort exportiert wurde, nachdem sie herausgekommen war, denn für den Westexport mußte es zum "Jena T" verschleiert werden.
Bei voller Öffnung ist das Tessar 2,8/80 mm wirklich schwach. Schon bei Abblendung zwischen 1:4,0 und 5,6 werden jedoch die Auswirkungen der merklichen Zonen der sphärischen Aberration deutlich zurückgedrängt und aus einem ziemlichen Weichzeichner wird die bekannte Strichschärfe des Tessars. Ein derartig "launiges" Verhalten war jedoch für ein modernes Normalobjektiv Ende der 50er Jahre nicht mehr akzeptabel. Exakta 6x6, Fortepan 100, 1/25 sec.
In Anbetracht der Abbildungsschwächen des Tessars 2,8/80 wurde für die Primarflex lieber das Tessar 3,5/105 mm als Normalobjektiv eingesetzt. Da es für das 6x9 Format gerechnet ist, hielt sich der Randabfall bei 6x6 in Grenzen, zumal diese Version 1936 für die Ikonta noch einmal optimiert worden war. Oben sieht man ein sehr spätes Exemplar aus der letzten Bauserie vom Sommer 1953, das bereits eine Einrichtung zur Blendenvorwahl besitzt.
Unten sieht man ein stattliches Tessar 3,5/165 als Portraitobjektiv für diese Kamera. Es handelt sich dabei eigentlich um ein im Jahre 1926 für das Großformat 9x12 bzw. 10x15 konstruiertes Tessar, das 1948 in Primarflex-Fassung geliefert wurde.
Oben ist zweimal der Rolleiflex Automat gezeigt; links das Modell kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, rechts das nur geringfügig veränderte Modell aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Beide sind mit einem Tessar 3,5/75 mm ausgestattet; links aus Jena, rechts aus Oberkochen. Anhand dieses vom Zeisskonzern unabhängigen Kameraherstellers Franke & Heidecke kann man sich noch einmal klar machen, in welch einer schwierigen Lage sich die Photoindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg befand. Kamerafirmen, die auf den langjährigen Partner Zeiss angewiesen waren, sahen sich nun im Stich gelassen. Erst wurde das Jenaer Werk Ende 1946 fast vollständig durch die Sowjetunion demontiert, und nachdem der dadurch hervorgerufene Stillstand langsam überwunden werden konnte, war Zeiss Jena zu weiten Teilen durch Reparationslieferungen ausgelastet. Auch wiederum an die Sowjetunion. Daß in Oberkochen eine Konkurrenzfirma etabliert wurde, hat nicht allein mit dem Kalten Krieg und dem Kampf der Systeme zu tun. Die Zulieferungen an Photoobjektiven wurde vonseiten der westzonalen Kameraindustrie auch wirklich dringend gebraucht. Also fing man in Oberkochen mit den altbewährten Typen an. Dabei basierte freilich auch dieses neue westdeutsche Tessar 3,5/75 mm auf der Rechnung Harry Zöllners, die dieser am 28. Mai 1947 in Jena geschaffen hatte, bevor sich die Bande zwischen beiden Zeiss-Firmen endgültig zu lösen begannen.
Auch wenn die Kurven für die Modulationsübertragung dieses Tessars 3,5/75 mm nur einen bescheidenen Eindruck hinterlassen (oben), so handelt es sich in der Praxis dennoch um ganz hervorragendes Universalobjektiv für das Mittelformat 6x6. Wie bei dem Bildbeispiel unten auf 1:5,6 abgeblendet, lassen sich die Aufnahmen nicht von den viel aufwendigeren 5-; 6- oder gar 7-linsigen Normalobjektiven der späteren Zeit unterscheiden.
Durch diese langsam aufgelaufene Parallelproduktion in Oberkochen, weil Jena nicht liefern konnte, häuften sich übrigens Anfang der 50er Jahre, als die Reparationsverpflichtungen der Ostzone zurückgingen, bei Zeiss Jena zuvor nie gekannte Lagerbestände an, die nicht verkauft werden konnte - auch im Bereich Photo [Vgl. CIA-RDP82-00457R014000020002-6 vom 29. September 1952]. "[...] deliveries to West Germany and the Western countries have stopped almost entirely. This is due to the East-West trade restrictions and the fact that Zeiss-Opton in West Germany has reached the stage where it is in active competition in many respects with Zeiss Jena." [Ebd.]. Demontagen und Reparationsforderungen durch die Sowjetunion hatten in Hinblick auf Zeiss also langfristig schwerwiegende Folgen.
7. Tessare für den Berufsphotographen
Tessare in Normalfassung für sogenannte Reise- und Atelierkameras blieben noch bis zum Ende der DDR im Produktionsprogramm des VEB Carl Zeiss Jena; ja sie gehörten wohl mit zu den allerletzten Photoobjektiven, die in überhaupt noch die traditionsreichen Werkshallen in Jena bzw. Saalfeld verlassen haben. Das Tessar 4,5/135 lief 1986 aus, das Tessar 4,5/360 zum Jahresende 1985. Die letzten Tessare 4,5/180; 210; 250 und 300 mm wurden hingegen noch im April bis Juni 1991 in historisierenden Messingfassungen montiert. Dann wurden die Reste des Kombinates endgültig zerschlagen und der Saalfelder Betriebsteil durch eine Nachfolgefirma weitergeführt, die auch solche traditionsreichen Objektive noch eine Weile im Angebot hatte. Die Stückzahlen dürften aber marginal gewesen sein. In den 80er Jahren beim Tessar 4,5/180 mm noch übliche Produktionslose von bis zu 2000 Stück hat es sicherlich nicht wieder gegeben. Die Nachfrage blieb zu DDR-Zeiten auch deshalb hoch, weil diese Tessare zur Standardbestückung der Fachkameras Mentor Studio und Mentor Panorama gebraucht wurden. Da diese beiden Großformatkameras außergewöhnlicherweise mit Schlitzverschlüssen ausgestattet waren und diese Tessare somit keinen eigenen Zentralverschluß benötigten, konnte Zeiss Jena am Ende des 20. Jahrhunderts noch so viele Großformatobjektive in der mittlerweile eigentlich ungebräuchlichen Normalfassung absetzen.
Zum großen Kuriosum der Wendezeit dürfte auch gehören, daß einige dieser Großformat-Tessare in Messingfassungen mit der Gravur "Meyer-Optik Germany" versehen wurden. Solcherlei Objektive müssen wir heute als historische Überreste aus einer rasch von den Folgeentwicklungen überrannten Zeitspanne ansehen, die uns daran erinnern, daß nach 1985 das ehemalige Weltunternehmen in Görlitz neben Saalfeld zur bloßen Fertigungsstätte eines alles überragenden Kombinates in Jena degradiert worden war.
Interessant ist, daß über die DDR-Zeit hinweg auch einige Tessare 1:6,3 noch längere Zeit im Angebot blieben. Mit dieser Lichtstärke wurde dieser Typ immerhin 1902 ursprünglich geschaffen. Genau genommen waren es noch zwei Modelle. Das oben zu sehende Tessar 6,3/135 mm stammt aus dem vorletzten Produktionslos vom Januar 1961. Ein Jahr später erfolgte die letzte Fertigung. Noch bis zum Oktober 1975 wurde hingegen ein Tessar 6,3/210 mm hergestellt. Zuletzt angeblich sogar noch einmal 1000 Stück. Die lange Produktionszeit von letzterem läßt sich daraus erklären, daß es mit der Öffnung 1:6,3 in einer Normalfassung N42 Platz fand bzw. in einem Verschluß der Baugröße 1, der noch kurze Verschlußzeiten bis zur 1/400 Sekunde zuläßt. Außerdem waren diese beiden Typen 1947 neu gerechnet worden und erreichten eine ganz ausgezeichnete Bildleistung. Außerdem hatten sie einen größeren Bildwinkel bis an die 70 Grad und boten damit größere Verstellreserven an den Fachkameras.
Unten einmal eine Tabelle der lieferbaren Tessare aus dem Jahre 1987 [aus: Brauer, Egon: Foto Optik; eine Warenkunde für den Fachverkäufer und den Fotoamateur, 8. Aufl. Leipzig, 1987]. Diese Angaben sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, weil die Bücher Brauers nicht gut recherchiert sind bzw. nachlässig aktualisiert wurden. Wie gerade dargelegt, war die Produktion des Tessars 6,3/135 bereits 25 Jahre zuvor eingestellt worden. Auch die Angabe der Masse in der letzten Spalte stimmt vorn und hinten nicht.
Unten ein Prospekt über Großformat-Tessare für den westdeutschen Markt aus dem Jahre 1969. "Carl Zeiss Jena" wurde zu aus Jena und das "Tessar" zum JENA-T "entschärft.
8. Der Fall Dominar
Zum Abschluß möchte ich noch auf ein kleines Mysterium verweisen: Um 1930 herum wurden von Zeiss Ikon Kameras mit zwei verschiedenen Tessartypen ausgestattet. Einmal natürlich das Zeiss Tessar; zum anderen aber auch ein "Dominar-Anastigmat". Der unten zu sehende Ausschnitt aus dem Zeiss-Ikon-Katalog von 1932 zeigt, daß diese beiden, demselben Typus angehörenden Objektive, tatsächlich nebeneinander aufgelistet sind.
Zu diesem Dominar, über das man ansonsten sehr wenige Informationen findet, habe ich nun zwei Theorien parat. Die eine lautet: Es handelt sich um Restbestände des früheren "Ernoplast", das der Tessartyp der Vorgängerfirma Ernemann gewesen ist, das aber nun nicht mehr so heißen durfte, weil die Gründung der Zeiss Ikon AG ja nun gerade darauf abzielte, konkurrierende Objektivbaufirmen auszuschalten. Auch ein kurz vor der Einverleibung in den Zeiss-Konzern bei Goerz entwickelter Tessartyp kommt in Frage [Vgl. Merté: Objektiv-Sammlung des Zeiss-Photo-Rechenbüros, Karten Nummer 707 und 709.]. Nachdem es abverkauft wurde, verschwindet dieses Dominar wieder aus den Katalogen und es bleibt nur noch das Zeiss'sche Tessar.
Meine zweite, nicht minder plausibel klingende Theorie, fußt auf der Tatsache, daß Ende der Zwanziger Jahre alle bisherigen, von Wandersleb geschaffenen Tessare, durch Willy Merté auf Basis verbesserter Glastechnologie neu berechnet wurden. Durch die Auflistungen im Thiele kann man belegen, daß der Übergang von den alten, noch vor dem Ersten Weltkrieg berechneten Tessaren, auf die neuen, verbesserten Tessare, SUKZESSIVE erfolgte. Das lag zum Teil auch daran, daß es beispielsweise beim stark nachgefragten Tessar 1:4,5 keinen abrupten Übergang gegeben hat, weil jede Brennweite für sich langwierig neu berechnet wurde. Man muß daher davon ausgehen, daß über eine gewisse Zeitspanne hinweg BEIDE Tessare – also zum Beispiel ein neues Tessar 4,5/135 und ein altes 4,5/135 – gleichzeitig im Handel auftauchten bzw. noch bei den Kameraherstellern vorrätig blieben. Möglicherweise wurde bei Zeiss Ikon dieser Umstellung begegnet, indem das alte Tessar als "Dominar" preiswerter angeboten wurde. Denn im Katalog von 1931 kann man lesen: "Übertroffen wird das Dominar nur von dem in der Genauigkeit der Ausführung und Sorgfalt bei der Glaswahl einzigartigen, weltberühmten Zeiss Tessar 1:4,5." Ab der zweiten Hälfte der 30er Jahre findet das Dominar dann keine Erwähnung mehr in den Zeiss-Ikon-Publikationen.
Rechnungen ausgewählter Tessartypen: Serienversionen
Tessar 2,8/50
1: 02. 04. 1931 ca. 1500 Stck.
2: 08. 10. 1931 über 10. 000
3: 08. 05. 1933 Großserie (v.a. Contax)
4: 29. 10. 1947 Einstellung der Produktion Frühjahr 1988
Tessar 2,8/80
1: 27. 01. 1933
2: 07. 07. 1950 letzte Stücke im Febr. 1958 für Praktisix ASB
Tessar 3,5/50
1: 25. 07. 1929 Kolibri
2: 27. 02. 1931 Contax Ära, Herstellung bis Jahresende 1954 (Exakta)
Tessar 3,5/75
1: 20. 02. 1920 Nur wenige Exemplare
2: 01. 06. 1934 DIE Normaloptik für Rolleiflex etc.
3: 28. 05. 1947 letzte Großserie 3000 Stck. Jahresende 1955 für Weltax
Tessar 3,5/105
1: 31. 03. 1926 Etwa 7000 Stck. bis 1936
2: 26. 05. 1936 Produktion 1957 ausgelaufen (Ercona)
Tessar 4,5/135
1: 18. 07. 1911
2: 28. 05. 1929
3: 10. 02. 1948 große Frontlinse
4: 07. 03. 1957 bis 1986
Tessar 4,5/180
1: 04. 07. 1911
2: 28. 05. 1929 bis zum Ende 1991 (Messingversionen)
3: 09. 02. 1948 nur ca. 300 Stck. 1951/52, dann wieder Version 2
Tessar 4,5/210
1: 05. 08. 1911
2: 06. 06. 1929 bis zum Schluß 1991 (Messing)
Tessar 4,5/300
1: 16. 09. 1911
2: 05. 08. 1928 bis zum Ende 1991 (Messingversionen)
3: 04. 06. 1948 nur ca. 450 Stck. 1948-52, dann Rechnung aufgegeben
Tessar 4,5/360
1: 30. 01. 1912
2: 08. 10. 1928 1985 letzte Serie von 500 Stck.
Marco Kröger
letzte Änderung: 15. November 2024
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