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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Vom Ernostar zum Sonnar
Ludwig Bertele – Meister der Koma-Korrektur
1. Das Ernostar als Ausgangspunkt
Jemand der sich für Objektive interessiert gerät bei Erwähnung der Markennamen "Ernostar" und "Sonnar" leicht ins Schwärmen. Ganze Generationen an Amateurphotographen haben sich an den Scheiben der Schaufenster und Vitrinen die Nase plattgedrückt, wenn dort diese Objektivtypen ausgelegt waren. Es ist natürlich in erster Linie die Faszination der hohen Lichtstärke, die diese Begeisterung bis heute nährt. Dabei geht die technikgeschichtliche Relevanz dieser beiden Objektivkonstruktionen weit über den Einzelaspekt der Lichtstärke hinaus.
Viel nüchterner werden diese beiden legendären Objektivtypen übrigens in der Fachliteratur abgehandelt. Ernostar und Sonnar finden sich meist in Zusammenstellungen unter der Rubrik "verkittete Triplets und Triplets mit Zusatzgliedern". Diese Zuordnung hat eine hohe entwicklungsgeschichtliche Relevanz für die Herausbildung des modernen Objektivbaus. Das Taylor'sche Triplet war im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine sehr verblüffende Konstruktion: Mit nur drei gegen Luft stehenden Linsen war es Dennis Taylor (1862 - 1943) gelungen, alle Bildfehler einschließlich des Astigmatismus in den Griff zu bekommen. Und da der Triplet-Typ ein großes Potential zur Variation der Konstruktionselemente bot, man also mit einer alternativen Formgebung der Linsen, Anwendung abweichender Glasarten, Dicken, Abständen usw. seine eigene Version schaffen konnte, baute bald ziemlich jeder Objektivhersteller solche Dreilinser.
Eine der Zeichnung aus dem Originalpatent von H. D. Taylor aus dem Jahre 1893.
Doch so verlockend dieser Ansatz auch war, so begrenzt erwiesen sich zunächst die Möglichkeiten, mit dem einfachen Triplet zu Spitzenleistungen zu gelangen. Dieser Objektivtyp war anfänglich zu dem Zwecke geschaffen worden, einen echten Anastigmaten deutlich preiswerter herstellen zu können. Das steht sogar wortwörtlich in Taylors Patentschrift. Doch mit Beginn des 20. Jahrhunderts wuchsen die Ansprüche in Bezug auf möglichst hohe Lichtstärken auf einmal stark an. Das war einmal der zunehmenden Verbreitung der Amateurphotographie geschuldet. Das Stichwort der damaligen zeit lautete Handapparat. Dahinter verbarg sich das, was für uns heute selbstverständlich ist, nämlich ohne Aufbauen einen Statives spontan aus der Hand eine photographische Aufnahme machen zu können. Das ging nur, wenn die Verschlußzeit kurz genug war.
Ein ähnlich gelagertes Problem ergab sich auch aus dem Aufstieg der Kinematographie kurz vor und vor allem während des Ersten Weltkrieges. Die technischen Bedingungen der Kinokamera, bei der die Belichtungszeit durch die Bildwechselrate auf eine aus damaliger Sicht ziemlich kurzen Momentzeit festgelegt war, verlangte einerseits nach möglichst lichtstarken Objektiven, um das Negativ überhaupt durchbelichten zu können. Andererseits erlaubte das kleine Bildformat mit den kurzen Brennweiten überhaupt den sinnvollen Einsatz solch großer Öffnungsverhältnisse, ohne daß die Schärfentiefe auf wenige Zentimeter geschrumpft wäre. Historisch gesehen brachten diese beiden Grundbedingungen den größten technischen Entwicklungsschub für die Photographie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und das wandlungsfähige Triplet-Objektiv schien die ideale Grundlage für die nötige Aufnahmeoptik zu bieten. Mit verbesserten Glasarten war es zwar möglich geworden, die maximalen Öffnungen auf 1:4,5 und später sogar 1:3,5 und darüber hinaus anzuheben (vergleiche Busch Glaukar 1:3,0), aber dann wurden entweder nur kleine Bildwinkel erreicht oder die Abbildung wurde zunehmend weich. War schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Weg beschritten worden, das Triplet durch hinzufügen von Kittflächen aufzuwerten, – das bekannteste Beispiel dürfte das Heliar aus dem Jahre 1900 sein – so wurde dieser Ansatz nun immer intensiver verfolgt, um die Lichtstärken weiter anheben zu können.
Während in der Folgezeit das einfache Triplet zur Ideallösung für "wohlfeile" Kameras ausgebaut wurde, also wenn so preiswert wie möglich eine gute Leistung zur Verfügung gestellt werden sollte, wurde parallel von vielen namhaften Herstellern versucht, den einfachen Grundtyp abzuwandeln und so zu erweitern, daß bei möglichst gleichbleibendem Korrektionsustand eine höherer Lichtstärke erreicht werden könne. Dabei kristallisierten sich zwei Herangehensweisen heraus, die einzeln angewendet oder von manchen Konstrukteuren auch kombiniert wurden. Die eine Strategie lag darin, die drei Glieder des Triplets durch Einführen von Kittflächen zu erweitern und dabei teils beträchtlich über das schon beim Heliar- und Tessar-Typ erreichte Niveau hinauszugehen. Das bekannteste Beispiel dürfte Max Berek mit seinem Hektor 1:1,9 [DRP Nr. 585.456 vom 7. Juni 1931] gewesen sein, bei dem alle drei Glieder verkittet waren. Die zweite Strategie war das Hinzufügen von Zusatzgliedern, sodaß manchmal kaum noch der Grundtyp erkennbar war, so wie dies vor allem Willy Bielicke mit seinen Tacharen, Pantacharen und Tachonen extensiv betrieben hat [Übersicht oben nach Naumann, Auge meiner Kamera, 1937/51].
Doch das war dann schon in den 1930er Jahren, als die Triplet-Abkömmlinge immer stärke Konkurrenz vom vielversprechenden, aber schwer zu beherrschenden Gaußtyp-Objektiv bekamen. Nach dem Ersten Weltkrieg jedoch, als der junge Ludwig Bertele (1900 - 1985) für die Dresdner Weltfirma Heinrich Ernemann Aktiengesellschaft (HEAG) zu arbeiten begann, muß der Triplet-Typ jedoch der vielversprechendste und lohnenswerteste Grundtyp des photographischen Objektives gewesen sein. Noch war man weit von der später die Entwicklung so vorantreibenden Kleinbildphotographie entfernt. Ernemann war zwar damals bereits ein führender Hersteller im Bereich kinematographischer Aufnahme- und vor allem Vorführgeräte. In der Stillbildphotographie stach der Dresdner Hersteller aber vor allem mit hochentwickelten Schlitzverschlüssen heraus, die kurze Verschlußzeiten und beste Ausnutzung der Objektivlichtstärken erlaubten. Zur Besonderheit der Firma Ernemann gehört daher, daß extrem lichtstarke Objektive nicht nur für die Kinematographie, sondern auch für kleinere bis mittlere Plattenformate entwickelt und in nennenswerten Stückzahlen verkauft wurden. Mit Ausnahme der heute weitgehend vergessenen Firma Rietzschel mit ihrem Prolinear 1,9/13,5 cm hat das in Deutschland in dieser Form sonst kaum ein Hersteller versucht.
Die Entwicklungsgeschichte dieses Ernostars ist ziemlich komplex, was einerseits mit den ständig neuen Konstruktionseinfällen Berteles zu tun hat und zweitens dadurch, daß im In- und Ausland viele verschiedene Patente angemeldet wurden, die sich zum Teil überschnitten. Während in einem Land zu jedem Objektiv Einzelpatente angemeldet wurden, waren dieselben Entwicklungen in einem anderen Land zu einem Patent zusammengefaßt worden. Hinzu kommt, daß einige dieser Schutzrechtsanmeldungen auch nicht völlig ausgereifte Zwischenstufen enthielten, was als Strategie des Ernemann-Werkes gesehen werden kann, die dem Ernostar inneliegenden Konstruktionsansätze für Konkurrenten zu verbauen. Außerdem ist an mindestens zwei Stellen das Verfolgen der exakten Entwicklungsgeschichte des Ernostars besonders deshalb erschwert, weil im Deutschen Reich der Patentschutz verwehrt wurde, während er im Ausland erteilt worden war. Das hatte zum Beispiel zur Folge, daß das Ernostar 1:2,7 in Deutschland nie einen Patentschutz erreichte, wie in Abschnitt 1.3 gezeigt werden wird.
1.1 Berteles Triplet mit aufgespaltener Frontlinse
Viel wesentlicher ist jedoch, daß diese "Ungereimtheiten" in der Patentliteratur bislang völlig vereitelt haben, den eigentlichen Startpunkt der Geschichte des Ernostars zu erkennen. In den bekannten Abhandlungen zum Ernostar wird gewissermaßen mittendrin begonnen. Auch bei der jüngsten Veröffentlichung, die von seinem Sohn stammt, und auf die weiter unten noch öfter Bezug genommen werden wird, ist das so. Das liegt daran, weil das erste Patent, das Ludwig Bertele für sein späteres Ernostar anmelden ließ, in Deutschland nie erteilt worden ist. Und wenn es kein deutsches Patent gibt, wird der Inhalt schon nicht so wichtig sein. Dabei läßt uns eine Englische Version mit der Nummer 186.917, die Ernemann erst ein Jahr später nachgereicht hat, wissen, daß die Anmeldung im Deutschen Reich bereits zu 4. Oktober 1921 erfolgt war! Dieses frühe Datum weist diese Erfindung damit eindeutig als Ausgangspunkt der Ernostar-Enwticklung aus. Die Englische Anmeldung im Jahr darauf fällt hingegen in die Phase nach den ersten Ernostar-Grundpatenten und erweckt daher bei flüchtiger Betrachtung den Eindruck, nur eine der vielen Varianten zu sein, die Bertele erarbeitet hatte. Aufgrund der Signifikanz dieses Patentes gebe ich im Folgenden das englische Original wieder, sowie eine aus dem Englischen zurückübersetzte Version, die uns einen Eindruck vermittelt, was in etwa in der originalen Deutschen Schutzrechtanmeldung vom Oktober 1921 gestanden hat.
Photographisches Objektiv
(Rekonstruktion der deutschen Patentanmeldung vom 4. Oktober 1921)
[...]
Das nachfolgend beschriebene Objektiv dient der Aufnahme und Projektion kinematographischer Bilder und bietet gegenüber den bisher bekannten Objektiven mit sphärischer Korrektur und anastigmatisch flachem Bildfeld den Vorteil, dass ein sehr großes Öffnungsverhältnis erreicht und das Ausmaß der sphärischen Zonen in engeren Grenzen gehalten wird, als dies mit den bisher bekannten Typen möglich ist.
Dieser Vorteil wird dadurch erreicht, daß der divergente Strahlengang, der sich bei den bereits bekannten Objektiven mit einer negativen Mittelkomponente (bestehend aus einer einzelnen Linse oder mehreren Linsen) hinter dieser Mittelkomponente ausbildet, zugunsten eines konvergenten oder zumindest parallelen Strahlengangs aufgegeben wird. Unter divergent, konvergent und parallel ist in diesem Fall der Verlauf der Strahlen innerhalb der einzelnen Strahlenbüschel zu verstehen bezogen auf die Achse des Büschels selbst, sodaß es sich also bei dem neuen Objektiv um eine konische Verjüngung des Strahlenbüschels handelt oder zumindest an die Stelle der konisch divergierenden Strahlenbündel der bekannten Objektive ein zylindrischer Strahlengang tritt. Dies wird erstens durch die Tatsache erreicht, dass die Brechkraft der vorderen positiven Komponente größer gemacht wird als es beispielsweise in der Patentanmeldung Nr. 1991/93 für verschiedene Arten von Objektiven vorgeschlagen wurde. Der dort vorzufindende Grad der Konvergenz ist jedoch nicht hoch genug, um bei Objektiven mit sehr großem Öffnungsverhältnis die Korrektur der Aberrationen bis zu den angestrebten kleinen Restfehlern zu erreichen. Die dazu notwendige Verkürzung der Brennweite der positiven Frontkomponente müßte so weit getrieben werden, daß die daraus resultierenden starken Krümmungen es bei sehr großen Öffnungsverhältnissen nicht mehr zulassen würden, diese vordere sammelnde Komponente noch als eine Einzellinse auszulegen. Daher muss die positive Frontkomponente in zwei einzelne Sammellinsen aufgeteilt werden, die untereinander durch einen kleinen Luftraum getrennt werden. Die Erfordernisse der sphärischen Korrektur verlangen dabei die Meniskusform mindestens der zweiten Sammellinse der positiven Frontkomponente.
Die Konvergenz der Büschel im Luftraum hinter der negativen Mittelkomponente kann auch dadurch gesichert werden, daß dessen Brechkraft abgeschwächt wird. Dies führt zwar zu einer Beeinträchtigung der Bildfeldkrümmung, die jedoch durch die Vergrößerung des Luftraums zwischen der zweiten Positivlinse und der Negativlinse ausgeglichen werden kann. Diese Erhöhung der Büschelkonvergenz im Luftraum hinter der Zerstreuungslinse führt dazu, daß die Restfehler der sphärischen Aberration, des Astigmatismus und der Bildfeldkrümmung über die gesamte Öffnung bzw. das gesamte Feld hinweg sehr klein werden, was einen Fortschritt in der Konstruktion photographischer Objektive bedeutet.
Das im Folgenden ausführlicher beschriebene Objektiv mit ausführlicheren Angaben zu den Linsenradien, ihrer Dicke, den Lufträumen, dem Abstand der Blende und den verwendeten Glasarten weist noch nicht den maximalen Korrekturzustand auf, der durch die vorliegende Erfindung erreicht werden kann an deren Verwirklichung noch gearbeitet wird. Es werden jedoch die Möglichkeiten der durch die Erfindung erreichten Korrektur aufgezeigt. Die verwendeten Glasarten können durch andere ersetzt werden, die mehr oder weniger stark davon abweichen. Auch der Ort der Blende als Korrekturmittel ist variabel.
Wenn die Vereinigung der Strahlen des Farbbüschels zufriedenstellend erfolgen soll, ist es, wie Experimente gezeigt haben, vorzuziehen, die Brennweite der vorderen Komponente mindestens annähernd gleich der Hälfte oder mehr als der Hälfte der Gesamtbrennweite der Linse zu wählen.
Das in der Zeichnung dargestellte Objektiv ist sphärisch korrigiert für ein Öffnungsverhältnis von 1:2 und die sphärische Längsaberration der achsparallelen Randstrahlen beträgt 0,16 % der Brennweite in Richtung einer Überkorrektur, die der Zonenstrahlen parallel zur Achse 0,13 % der Brennweite in Richtung einer Unterkorrektur. Die Krümmung des Bildfeldes beträgt 0,18 % der Brennweite bei einer Hauptstrahlneigung von 12°. Es ist jedoch vorherzusehen, daß die Restfehler auf einen noch deutlich kleineren Wert reduziert werden können.
[...]
Nachdem wir nun die Natur unserer besagten Erfindung und die Art und Weise, in der sie ausgeführt werden soll, genau beschrieben und festgestellt haben, beanspruchen wir:
1. Objektiv mit anastigmatisch flachem Bildfeld und eliminierter sphärischer Aberration, bestehend aus zwei durch einen kleinen Luftzwischenraum getrennten Sammellinsen als Vorderteil, einer Zerstreuungslinse als Mittelteil und einer Sammellinse als Rückteil, wobei vor und hinter der Zerstreuungslinse ein Luftzwischenraum vorhanden sein soll dadurch gekennzeichnet, daß im Luftraum hinter der zerstreuend wirkenden Mittelkomponente die Lichtbüschel konvergent zu ihrer eigenen Achse verlaufen, weil die Frontkomponente aus zwei Sammellinsen eine vergleichsweise kurze Brennweite hat und die Zerstreuungslinse eine vergleichsweise lange Brennweite.
2. Objektiv nach Anspruch 1 dadurch gekennzeichnet, daß die Brennweite des aus zwei Sammellinsen bestehenden Frontteils mindestens etwa die Hälfte oder mehr als die Hälfte der Gesamtbrennweite des Objektivs beträgt.
3. Objektiv nach Anspruch 1 dadurch gekennzeichnet, daß zumindest die zweite der beiden Sammellinsen des Frontteils die Form eines Meniskus aufweist.
Aus dem Patent können wir nun die Erkenntnis Berteles herauslesen, daß der bislang bei Tripletobjektiven hinter der Zerstreuungslinse auseinanderlaufende Strahlengang in Richtung eines konvergenten oder zumindest parallelen Strahlenverlaufs umgestaltet werden müsse, um auf diese Weise das Ausmaß der sphärischen Zonen abzumildern, die ein weiteres Anheben der Öffnung vereitelten. Bei der als Beispiel für den üblichen divergenten Strahlengang erwähnten Patentanmeldung Nr. 1991/93 dürfte es sich um das weiter oben bereits angesprochene Cooke-Triplet von Taylor handeln. Um dieses Ziel zu erreichen, den bislang divergenten Strahlengang hinter der negativen Komponente zu verjüngen, mußte jedoch die Brechkraft der vorderen sammelnd wirkenden Komponente angehoben werden, was (zumindest mit den damals verfügbaren Glasarten) nur durch das Aufspalten derselben in zwei einzelne Sammellinsen zu erzielen war.
Rudolf Kingslake hat darauf verwiesen, daß bereits im Jahre 1916 der Konstrukteur Charles Minor in Chicago auf den Gedanken gekommen war, den Luftraum zwischen der vorderen Sammellinse und der darauffolgenden Zerstreuungslinse des Triplets durch eine weitere Sammellinse auszufüllen [Kingslake,History of the Photographic Lens, 1989, S. 110.]. Diese Erfindung nach US-Patent Nr. 1.360.667 habe die Grundlage für den Ultrastigmat von Grundlach gebildet ebenso wie für das weiter oben schon angesprochene Prolinear der Firma Rietzschel (später Agfa). Im Gegensatz zu Charles Minor hatte Ludwig Bertele jedoch erkannt, daß die zweite Sammellinse der vorderen Komponente als Meniskus ausgeführt werden müsse, um zu einer guten sphärischen Korrektur des Gesamtsystems zu gelangen (Schutzanspruch 3). Genau diese charakteristische Meniskenform in der zweiten Komponente wird sich dann in allen Ernostar- und Sonnar-Entwicklungen wiederfinden, die Ludwig Bertele in den kommenden 20 Jahren in Dresden noch schaffen wird.
Bleibt die technikgeschichtlich interessante Frage, was überhaupt den Ausschlag gegeben hat, derart lichtstarke Systeme zu entwickeln, die schließlich ihrer Ära deutlich voraus gewesen sind. Dazu muß man in Betracht ziehen, daß die Firma Heinrich Ernemann Aktiengesellschaft damals zu den bedeutendsten Herstellern im Bereich der Kinotechnik auf dem Weltmarkt gehörte. Insbesondere die noch vor dem Ersten Weltkrieg aufgenommene Produktion von Kinoprojektoren war nun bei der Umstellung auf Friedensfertigung zu einem wichtigen Standbein der Firma geworden. Es liegt daher nahe, daß der noch nicht einmal volljährige Ludwig Bertele vom Werkleiter Alexander Ernemann beauftragt worden war, ein Projektionsobjektiv für die Kinotheatermaschinen zu entwickeln, das sich vom bisher verwendeten Petzval-Typ absetzte. Zwar hießen diese Petzvalsysteme bei Ernemann "Kinostigmat", doch Stigmate waren sie deswegen noch lange nicht. Der Astigmatismus war eben gerade nicht korrigiert und die Wölbung des Bildfeldes nahm außerhalb der Bildmitte rasch zu, was angesichts der immer größeren Lichtspielhäuser mit ihren immer größeren Leinwänden zu Schärfeproblemen Richtung Bildrand führte.
Der Ausgangspunkt für das Ernostar lag also zunächst nicht in dem Verlangen nach einem extrem lichtstarken Photoaufnahmeobjektiv, sondern in einem deutlich verbesserten Projektionssystem. Die Firmen Hugo Meyer in Görlitz und Emil Busch in Rathenow hatten ihre Triplets Trioplan und Glaukar zu jener Zeit auf die Öffnung 1:3 bringen können. Ludwig Bertele hatte indes ein Grundprinzip entdeckt, das es ihm erlaubte, deutlich über diese Grenze hinausgehen zu können und es muß ihm sofort klar geworden sein, welch weiteres Potential in diesem Korrekturprinzip verborgen lag. Aufgrund der damals noch rein manuellen Berechnungsmethoden dauerte es freilich noch ein paar Monate, bis Bertele ein wirklich durchoptimiertes System schaffen konnte. Angesichts dessen ließe sich erklären, weshalb in Deutschland erst seine nachfolgenden Schritte als patentfähig angesehen wurden. Möglicherweise war das explizite Erwähnen der Vorläufigkeit seiner Erfindung ein taktischer Fehler Berteles, der ihm die Erteilung seiner ersten deutschen Patentanmeldung letztlich vereitelt hat
1.2 Das Ernostar 1:2,0
Doch der Ansatz war damit gefunden, und die hohe Arbeitsgeschwindigkeit Berteles hatte zur Folge, daß bereits drei Monate später zum 14. Januar 1922 eine erste Ausführungsform seines Ernostars beim Patentamt angemeldet werden konnte. Diese war in Form des Reichspatentes Nr. 401.274 nun erstmals auch in Deutschland erfolgreich. Damit hatte der im Monat zuvor gerade erst 21 Jahre alt gewordene Ludwig Bertele seinen Fuß mit einer ersten eigenständigen Entwicklung in die Geschichte des Objektivbaues gesetzt. Über diesen Konstruktionserfolg des Ernostares 1:2,0 verfaßte Bertele seinen ersten Fachbeitrag, der dann 1925 in der Central-Zeitung für Optik und Mechanik erschien.
Da diese Neuentwicklung die Anforderungen an ein Projektionssystem übererfüllte und damit sogar als Aufnahmesystem geeignet war, veranlasste die Firma Ernemann zu dem besonderen Wagnis, eine Schlitzverschlußkamera mit dem nun "Ernostar" genannten Objektiv auszustatten. Zum 25. Oktober 1924 folgte noch ein Patent Nr. 435.762, mit dem es Bertele gelang, die Baulänge des Objektivs merklich zu verkürzen und damit "Ermanox" etwas kompakter zu machen. Von Alexander Ernemann war zuvor der Ausspruch überliefert: "Zu viel Objektiv für die kleine Kamera".
Bemerkenswert ist dieses Reichspatent 401.274 von 1922 auch deshalb, weil Bertele bereits ein sehr hohes Niveau der Bildfehlerberichtigung erzielen konnte. Die sphärische Zone überschreitet kaum ⅓ Prozent der Brennweite und auch der Astigmatismus ist sehr gering [nach: Merté, Willy: Bauarten der photographischen Objektive, in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band I, Das photographische Objektiv, Wien, 1932, S. 330.]. Sein zentraler Konstruktionsgedanke dafür war die Einführung zweier chromatisch gegensätzlich wirkender Kittflächen in den beiden vorderen Sammelgliedern, um den Farbenvergrößerungfehler (chromatische Queraberration) durch einen chromatisch unterkorrigierend wirkenden Kittradius, die farbliche Varianz des Kugelgestaltsfehlers (Sphärochromasie) jedoch mit einem chromatisch überkorrigierend wirkenden Kittradius zu beseitigen.
Oben das hier stets wiederkehrende Korrekturprinzip Berteles. Rückwirkungen auf das Ausmaß der sphärochromatischen Fehler, die er sich beim Beseitigen des Farbvergrößerungsfehlers in der ersten Sammellinse eingehandelt hatte, eliminierte er durch das Einführen einer gegensätzlich wirkenden Kittfläche in der zweiten Sammellinse. Dieser Konstruktionsgedanke wird sich durch die gesamte Ernostar- und Sonnar-Entwicklung ziehen.
Zum Verständnis:
Die Sphärische Aberration
In der Skizze oben erklärt uns Helmut Naumann, wie die charakteristischen Kurven für die sphärische Aberration zustandekommen. E ist die Bildebene, die ein dünner Lichtstrahl erzeugt, wenn er mittig auf die Linse fällt, also nahe der optischen Achse verläuft. Je weiter die Blende geöffnet und je breiter also das die Linse durchtretende Lichtbüschel wird, um so höher sind dann die Anteile der Randstrahlen, deren Bildpunkte in einem kürzeren Abstand zur Linse entstehen. Das ist deshalb so, weil bei den üblichen kugelig geschliffenen Linsen deren Brechkraft Richtung Linsenrand ansteigt. Man nennt die sphärische Aberration daher auch Kugelgestaltsfehler oder Öffnungsfehler. Bei einer einzelne Sammellinse bricht die entstehende Kurve auf der x-Achse stark ins Negative aus: Man spricht von sphärischer Unterkorretion. Beim Ernostar 2,0 im obigen Patent ist die Kurve leicht ins Positive gewölbt, der Kugelgestaltsfehler ist für das Gesamtobjektiv also geringfügig überkorrigiert.
Sphärische Überkorrektion dagegen haben "von Hause aus" Zerstreuungslinsen, wie uns Herman Erich Fincke mit der Skizze oben zeigt. Jetzt dürfte sofort klar sein, daß sich die sphärische Aberration beheben läßt, wenn eine Sammellinse und eine Zerstreuungslinse geeigneter Form miteinander kombiniert werden. Vollständig eliminieren läßt sich der Öffnungsfehler in der Praxis freilich nicht; meist wird man nur einen ganz bestimmten Randstrahl genau auf diejenige Ebene bringen können, in der auch der achsennahe Strahl vereinigt wurde. Der dazwischenliegende, mehr oder wenige ausgeprägte "Bauch" in der Aberrationskurve wird Zonenfehler oder kurz Zone genannt. Bei lichtstarken Objektiven müssen diese Zonen möglichst gering im Ausmaß gehalten werden, weil man sonst allenfalls eine "duftige Schärfe" erhalten wird.
Oben ist einmal in einem übertriebenem Maße anhand der sehr kugeligen Linse in der hinteren Gruppe des Sonnares 1,5/5 cm die Ursache für die sphärische Aberration verdeutlicht. Stellt man sich die Oberfläche einer Linse als Aneinanderreihung vieler kleiner Prismen vor, dann ist der Brechungswinkel der Prismen am Linsenrand deutlich steiler als derjenigen nahe der Linsenachse. Also werden auch die Strahlen am Linsenrand stärker abgeknickt als im Zentrum der Linse.
Die a-Diagramme enthalten neben der Kurve für die sphärische Aberration noch diejenige, die über die Einhaltung der Abbe'schen Sinusbedingung Auskunft gibt, und die gestrichelt gezeichnet wird. Es genügt nicht, daß die Brennpunkte, die von allen Linsenzonen erzeugt werden, möglichst auf einer Ebene liegen, sondern die Bilder müssen auch gleich groß sein. Ähnlich wie bei der chromatischen Aberration haben wir es also auch beim Öffnungsfehler mit einer Abweichung der Lage (also der Schnittweite) und einer Abweichung des Maßstabs (also der Brennweite) zu tun. Naumann formuliert:
"Auch hier strebt man eine möglichst gesteckte Kurve an, und wenn das nicht möglich ist, sucht man beide Kurven einander anzuschmiegen. Das bedeutet etwa, daß wenigstens die auf die Schicht geworfenen 'Schatten' der einzelnen Bilder gleich groß werden sollen, wenn die Bilder selbst nicht auf der Schicht liegen."
Die Sphärochromasie
Eine weitere Verkomplizierung dieses Themas ergibt sich auch daraus, daß der Öffnungsfehler für die unterschiedlichen Spektralfarben des Lichtes nicht konstant ist. Während es bei Objektiven geringer Öffnung genügt, den Kugelgestaltsfehler für einen mittleren Spektralbereich zu korrigieren, muß bei lichtstarken Systemen die von der Lichtfarbe abhängige Drift dieser sphärischen Abweichung beachtet werden. Diese nach ihrem ersten "Bezwinger" auch Gaußfehler genannte Erscheinung vereitelt ansonsten bei voller Öffnung eine kontrastreiche Abbildung.
Um ein Ausbrechen dieses Gaußfehlers für die Randstrahlen zu vermeiden, ohne daß Kompromisse im Bereich der optischen Achse zugelassen werden müssen, waren schon Ende des 19. Jahrhunderts Kittglieder vorgeschlagen worden, bei denen sich die Gläser im Bereich der Brechungsindizes nur geringfügig unterschieden, während die Abbe'schen Zahlen teils beträchtlich voneinander abwichen (=> Planar). Mithilfe der Durchbiegung der entstehenden Kittfläche konnte die farbliche Drift des Kugelgestaltsfehlers für die Achsen-, Zonen und Randstrahlen wieder weit genug einander angenähert werden.
1.3 Das Ernostar 1:2,7
Schaut man oben beim Ernostar 1:2,0 auf die Bildfehlerkurven, dann erkennt man, daß der wahre Bildwinkel bei etwa 30 Grad lag, für den das Objektiv wirklich als astigmatisch geebnet betrachtet werden konnte. Für Projektionssysteme war das perfekt; für Photoaufnahmeobjektive jedoch zu gering. Um einen deutlich größeren Bildwinkel bis über 50 Grad erreichen zu können und damit für das gegebene Aufnahmeformat die Brennweite zu verkürzen, legte Bertele im Sommer 1924 zunächst einen Zwischenschritt ein und entwickelte ein Ernostar 1:2,8 (auf den Markt gebracht mit der Lichtstärke 1:2,7). Aus Patentschriften aus anderen Ländern erfahren wir, daß die zugehörige Patentanmeldung im Deutschen Reich auf den 29. Juli 1924 datierte, doch scheint in Deutschland nie Erteilung erfolgt zu sein. Das könnte daran gelegen haben, weil dieses fünflinsige Ernostar 1:2,8 ein Zusatzpatent zu einem vereinfachten, nur vierlinsigen Ernostar 1:2,0 gewesen ist, das im Deutschen Reich unter der Nummer 458.499 zuerkannt wurde und in Großbritannien unter der Nummer 237.212. In Österreich wurden beide Objektive dagegen gleich in ein und demselben Patent zusammengelegt [AT101.912 vom 10. Dezember 1924]. Aus dem Inhalt des Patentes zum Ernostar 1:2,8 läßt sich aus der unten wiedergegebenen englischen Patentschrift schließen.
Das Datenblatt unten für ein Ernostar 2,7/15 cm zeigt den großen Korrekturerfolg Berteles. Geringe sphärische Zonen und und ein großes, vollständig geebnetes Bildfeld bei einem für damalige Verhältnisse sehr lichtstarken Objektiv. Willy Merté und Ernst Wandersleb haben kurze Zeit später etwas ähnliches versucht mit ihrem Biotessar 1:2,8 [DRP 451.194 vom 7. August 1925]., doch es sollte sich bald herausstellen, daß in Berteles Konstruktionsansatz noch viel mehr Potential steckte, als ein an allen drei Gliedern verkittetes Tessar.
Oben ein Exemplar eines solchen Ernostars 2,7/15 cm für das Format 9x12 cm. Diese Brennweite entsprach genau dem Nennwert der Formatdiagonale. Bild: Kristjan Kelt
Wie wichtig es war, das eigene Korrekturprinzip in möglichst viele Richtungen hin für sich abzusichern, zeigt sich im Deutschen Reichspatent Nr. 428.825, das die Firma Goerz am 13. Februar 1925 für sich angemeldet hatte. Hier wurde eine Ernostar-Abwandlung geschützt, die ebenfalls mit einem Kittglied in der zweiten Linsengruppe arbeitete, bei der die Kittfläche jedoch ihre Konkavseite Richtung Bild wendete statt in Objektrichtung, wie es beim Ernostar 1:2,8 der Fall ist.
Goerz gelang es auf diese Weise, daß die nach der zweiten Sammelkomponente des Vordergliedes konvergent gemachten Strahlenbüschel (siehe Abschnitt 1.1!) auf die Zerstreuungslinse mit einem kleineren Winkel auftreffen konnten. Dies ermöglichte, diese Zerstreuungslinse mit geringeren Krümmungen herstellen zu können, wodurch einerseits die Lichtstärke des Gesamtsystems angehoben werden konnte und zugleich der Durchmesser der Zerstreuungslinse angehoben, um die Randausleuchtung des Bildfeldes zu erhöhen. Es ist nicht bekannt, ob Goerz selbst je ein nach diesem Patent aufgebautes Objektiv auf den Markt gebracht hat. Doch das weltbekannte Primoplan der Firma Meyer in Görlitz folgt exakt diesem Grundprinzip.
1.4 Das Ernostar 1:1,8
Damit hatte Bertele zwei Objektive: Ein lichtstarkes Ernostar 2/10 cm, das zwar keinen für ein Universalobjektiv nötigen Bildwinkel hatte, aber für Bühnenaufnahmen oder Portraits an der Ermanox bereits einen unerhörten Fortschritt darstellte. Und zweitens ein Ernostar 1:2,7, bei dem er über ein großes Bildfeld hinweg eine sehr hohe Bildfehlerkorrektur erreicht hatte. Nun trachtete er danach, beide Ansätze miteinander zu verbinden und dabei das Öffnungsverhältnis noch weiter anzuheben. Das erreichte er mit dem im DRP Nr. 436.260 verankerten Ernostar 1:1,8 bereits zum Jahresende 1924. Der brauchbare Bildwinkel lag nun bei etwa 45 Grad – also dort, wo man auch heute noch die Normalbrennweiten verortet. Dies erreichte er, in dem er die bisher auf die beiden vorderen Sammellinsen verteilten Kittflächen mit gegensätzlicher chromatischer Wirkung in einer einzigen, dreifach verkitteten Linse unterbrachte. Das konnte die erste oder zweite Sammellinse sein, oder sogar die Zerstreuungslinse. Praktisch verwirklicht und in den Handel gebracht wurde jedoch das Patentbeispiel II mit einer dreiteiligen Sammellinse im zweiten Glied. Seine Konstruktionsleistung faßte Bertele in einem großen Fachbeitrag zusammen, den er im November 1925 geschrieben hatte und der dann gleich zu Jahresanfang 1926 erschien [Vgl. Bertele, Ludwig: Ein neues lichtstarkes Objektiv; in: Zeitschrift für wissenschaftliche Photographie, Band 24, Heft 1/1926, S. 32].
Das Ernostar 1:1,8 als Beispiel Nr. II im Deutschen Reichspatent Nr. 436.260 vom 6. Dezember 1924 – erster Höhepunkt der schöpferischen Tätigkeit des gerade erst 23 jährigen Ludwig Bertele (25. Dezember 1900 - 16. November 1985). Verblüffend die wohl kürzesten Schutzansprüche, die wir überhaupt im Bereich der Spitzenoptik finden werden: Eines der Glieder hat zwei chromatisch gegensätzlich wirkende Kittflächen, um die chromatischen und sphärochromatischen Bildfehler zugleich Beheben zu können.
Anhand des Patentes 436.260 durchgerechnete Optiken in der Zeiss-Datenblattsammlung: Oben das als Ernostar 1:1,8 auf den Markt gebrachte Patentbeispiel 2. Wir sehen quasi dieselben guten Kurven für Kugelgestaltsfehler und Astigmatismus, die auch Bertele in seinem Aufsatz angibt. Unten dagegen das Patentbeispiel 3 mit dreiteiliger Negativlinse, das im Vergleich dazu geradezu fürchterliche Kurven für die sphärischen und sphärochromatischen Fehler zeigt und auch einen deutlichen Astigmatismus. Das Patentbeispiel 3 ist also nicht als ein marktfähiges Produkt zu werten, aber mit der Einbeziehung in die Schutzansprüche hat man speziell diese Lösung für die Mitbewerber erfolgreich verbauen können.
Ein großes Augenmerk mußte Bertele wiederum auf das Problem der Sphärochromasie legen. Ihm kommt dabei das Verdienst zu, wohl als erster für ein anastigmatisch korrigiertes Objektiv einer solch hohen Öffnung diese weitreichende Korrektur des Gaußfehlers erreicht zu haben (bis Willy Mertès in dieser Hinsicht vergleichbares Biotar-Patent sollten noch mehr als zwei Jahre vergehen). In seinem oben bereits angesprochenen Aufsatz vom November 1925 belegte Bertele diesen Korrekturerfolg, indem er die Kurven der sphärischen Abweichung des Ernostars für die gelborange D-Linie des Spektrums (Figur 2 in der Abbildung unten) – also am langwelligen Ende des für normale Aufnahmen infrage kommenden Lichtes – und rechts daneben (Figur 3) die Abweichungen für die blauviolette G-Linie am kurzwelligen Ende gegenüberstellte. Anhand der Figur 4 verglich er nun diese beiden Kurven mit dem typischen Kugelgestaltsfehler eines damals üblichen Triplettyps [Ebenda, S. 33]. Mit einer derart starken Ausbeulung der Kurven für die sphärische Aberration und der Abweichung von der Sinusbedingung – in der Fachsprache Zonen genannt –, wie sie bei diesem Triplettyp erkennbar ist, wäre das lichtstarke Ernostar bei voller Öffnung komplett unbrauchbar gewesen.
Die besondere Reife, die Bertele mit seinem Ernostar 1:1,8 um 1925/26 endlich erreicht hatte, wird auch daran deutlich, daß trotz der Steigerung der Lichtstärke gegenüber den eigenen Vorgängertypen der Lichtstärke 1:2,0 der nutzbare Bildwinkel auf fast 50 Grad angehoben werden konnte. Damit genügte für das Plattenformat 4,5x6 cm nun eine Brennweite von 85 statt 100 mm und das Ernostar war zum Universalobjektiv tauglich gemacht worden. Diese Ausweitung des Bildwinkels verlangte aber nach einer noch sorgfältigeren Ebnung des Bildfeldes und damit der Beherrschung des Astigmatismus. Erst bei einer Hauptstrahlneigung über 20 Grad beginnen die beiden Bildschalen merklich auseinanderzulaufen.
Mit dieser Anhebung des Bildwinkels war Bertele erstmals mit einem Bildfehler konfrontiert, der ihn die nächsten Jahre noch sehr intensiv beschäftigen wird. Denn auch die bei voller Öffnung schräg einfallenden Lichtbüschel unterliegen der sphärischen Aberration. Wegen der dadurch hervorgerufenen stark asymmetrischen Zerstreuungsbilder wird diese Erscheinung Koma genannt. Diese Komakorrektur muß dem Ernemann'schen Konstruktionsbüro ein größeres Maß an Rechenarbeit aufgebürdet haben, als es in Berteles Aufsatz zum Ernostar 1:1,8 zum Ausdruck kommt. Die dazu notwendigen Kittflächen im zweiten Sammelglied machten den damals neuartigen und besonders charakteristischen Aufbau dieses Ernostar-Typus aus [Vgl. Bertele, lichtstarkes Objektiv, 1926, S. 35f.], der sich dann in ähnlicher Form auch kurze Zeit später beim Sonnar wiederfand.
Zum Verständnis:
Der Asymmetriefehler (die Koma)
Verkompliziert wird die das Auskorrigieren lichtstarker optischer Systeme dadurch, weil die vom Objekt ausgehenden parallelen Strahlenbüschel eben nicht senkrecht auf die Linse treffen, das heißt parallel zur optischen Achse, sondern schräg dazu in einem mehr oder weniger großen Winkel. Der größtmögliche Winkel, der dafür infrage kommen kann, ist der sogenannte halbe Bildwinkel σ [sprich: Sigma], für den das System konzipiert ist und der sich aus den b-Kurven für den Astigmatismus ablesen läßt. Diese Bildwinkelabhängigkeit läßt auch zunächst an den Astigmatismus denken, doch geht es bei der Koma nicht nur um den dünnen Hauptstrahl, sondern um die volle Schar an Strahlen (Büschel oder Bündel genannt), die parallel durch die weit geöffnete Blende fallen. Auch diese schiefen Büschel unterliegen der sphärischen Aberration.
Die Ausrichtung des Büschels wird durch den sogenannten Hauptstrahl vorgegeben, der durch die Mitte der Blende verläuft und der gewissermaßen als optische Achse der Büschelstrahlen gedacht werden kann, die hier mit -2 bis +2 symbolisiert sind, um ihren Verlauf verfolgen zu können [nach: Fincke, Objektiv Deiner Kamera, 1963, S. 71]. Die obige Abbildung verdeutlicht nun, wie diese Komastrahlen durch ihre unterschiedliche Neigung gegenüber der Linsenfläche völlig unterschiedliche Winkel gegenüber dem Verlauf des Hauptstrahles einnehmen, sobald sie die Linse passiert haben. Zur Verdeutlichung hat hier Herr Dr. Fincke einen positiven Meniskus mit seiner erhabenen Seite in Richtung Bildebene gestellt, weil dieser Fall den stärksten Kugelgestaltsfehler ergibt, den man sich überhaupt denken kann.
Um zu verdeutlichen, wie es zu diesen besonders auffälligen Zerstreuungsfiguren kommt, die diesem Bildfehler letztlich den Namen "Koma" verschafft haben, ist die Zeichnung oben noch einmal auf die äußersten Randstrahlen minimiert und durch den Brennpunkt des Hauptstrahles eine gedachte Brennebene gezogen. Man sieht nun gut, wie der Komastrahl -2 weit vor dieser Brennebene den Hauptstrahl schneidet, während der Komastrahl +2 noch weit dahinter liegen würde. Beide Komastrahlen werfen nun einen diffusen Schein auf die Brennebene und man sieht, daß dabei der Kern des Scheines +2 näher am Brennpunkt des Hauptstrahles liegt und damit heller erscheint als der Schein des Komastrahles -2. Die Lichtverteilung ist damit asymmetrisch und erinnert an den Schweif eines Kometen, was die beiden Bezeichnungen für diese Erscheinung erklärt. Dieser Schweif kann der optischen Achse zugekehrt oder auch abgewandt sein (innere oder äußere Koma).
Die Koma hat im Objektivbau zunächst eine untergeordnete Rolle gespielt, weil erstens generell nur geringe Öffnungsverhältnisse erreicht wurden, bei denen dieser Fehler kaum störend in Erscheinung trat und zweitens Objektive oftmals auch symmetrisch aufgebaut waren, wo die Koma allein durch gegenüberstellen der beiden Hälften fast völlig zum verschwinden gebracht wurde. Mit dem Bau sehr lichtstarker Anastigmate änderte sich dies schlagartig - die Koma wurde nun zu einem kaum beherrschbaren Problem. Besonders komplex war die sogenannte Sagittalkoma, bei der die Komastrahlen an keinem Punkt die optische Achse schneiden. Diese sogenannten windschiefen Strahlen waren bis zum Aufkommen von Digitalrechnern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so gut wie gar nicht verfolgbar, weil ihr Berechnung geradezu uferlos wurde. Um so größer sollte der Respekt vor Optikrechnern wie Ludwig Bertele sein, die damals ein ungeheures Maß an Gespür für ihr Metier mitbringen mußten.
Zur Verdeutlichung des Korrekturerfolge bezüglich der Koma wählte Bertele in seinem Aufsatz eine Darstellungsweise, die damals nach dem Ersten Weltkrieg noch ziemlich neu war: Die Kurven für die Queraberrationen, die Aufschluß über die meridionale Koma geben. Auf der x-Achse wird der Tangens des halben Bildwinkels δ' (= kleines Delta) und auf der y-Achse Δy' (= großes Delta) als Querabweichung in der besten Einstellebene angegeben. Die durchgezogene Kurve bezieht sich auf die gelbe "Grundfarbe" d, die gestrichelte auf die blaue Spektrallinie G'. Damit enthält diese Darstellung Aussagen über die sphärische Aberration achsenparalleler Strahlen und ihre Abhängigkeit von der Farbe des Lichtes genauso wie jene der schiefen Büschel. Nur die windschiefen Strahlen und damit die Sagittalkoma fehlt, weil sie damals nur schwer zu berechnen war. Das war nebenbei bemerkt ein Grund dafür, weshalb damals so viele Versuchsobjektive gerechnet und dann in Form von Mustern gefertigt werden mußten, um tatsächlich beurteilen zu können, wie gut die Abbildung dingseitig geneigter Strahlenbüschel gelungen war.
Bei allem Erfolg hat sich der junge Ludwig Bertele in seinem Aufsatz bei einem Aspekt ein wenig getäuscht: Daß sein Ernostar gegenüber den damals gut etablierten Triplets und Tessartypen acht statt sechs Glieder aufzuweisen hatte, bewirke seiner Auffassung nach ja lediglich einen vernachlässigbaren Lichtverlust. Bertele schrieb:
"Ganz abgesehen davon, ist es vollkommen bedeutungslos für die Lichtstärke eines Objektives, ob es 9% mehr oder weniger durchläßt. Im Öffnungsverhältnis ausgedrückt würde das Objektiv in seiner Lichtstärke durch das Hinzufügen dieser vierten freistehenden Linse gegenüber einem dreigliedrigen Objektiv in der Lichtstärke von 1:1,8 auf 1:1,88 herabgedrückt sein." [Ebenda, S. 33]
Oben: Die Ermanox in den Nennformaten 4,5x6; 6x9 und 9x12 cm. Bild: Ira Cohen.
Unten sieht man den doch recht aufwendigen Glaseinsatz beim Ernostar 1:1,8. Das machte das Objektiv vor allem in den längeren Brennweiten auch materialmäßig sehr teuer.
In der Praxis geht es nun aber gerade nicht um einen Vergleich zu anderen Anastigmaten, sondern um den Gesamtwirkungsgrad eines Objektives. Und was das betrifft, hatte August Klughardt (1887-1970) im selben Jahre Untersuchungen durchgeführt, die ernüchternde Ergebnisse brachten: Mitsamt der Absorption und der Spiegelverluste kamen beim Ernostar 1:2,0 nur 52 Prozent des eintretenden Lichtes auf der lichtempfindlichen Schicht an [Vgl. Klughardt: Die wirkliche Lichtstärke photographischer Objektive, Centralzeitung für Optik und Mechanik, 1926, S. 79f]. Das bedeutet nichts anderes, als daß knapp die Hälfte des eintretenden Lichtes im Objektiv verloren ging. Die wirksame Lichtstärke des Ernostars lag demnach nicht bei 1:2,0 sondern lediglich bei 1:2,8. Die Spiegelverluste setzten zudem den Kontrast der Abbildung herab und sorgten bei schwierigen Motiven für kaum kontrollierbare Lichtflecke. Dieser Übelstand wurde alsbald zum Ansporn für Ludwig Bertele, die Anzahl der Objektivgruppen seines Ernostars von vier auf drei zu verringern. Aus diesem Streben heraus entstand nun der Sonnartyp.
Erwähnt werden sollte noch, daß es gerade jener August Klughardt gewesen ist, der Ludwig Bertele, diesen hoffnungsvoll talentierten, blutjungen Optikrechner im Jahre 1919 von Rodenstock in München mit nach Dresden in die Ernemannwerke mitgenommen hatte [Vgl. Bertele, Erhard: Ludwig J. Bertele - Ein Pionier der geometrischen Optik, Zürich, 2017, S. 33. Leider schreibt der Autor durchweg den Namen Klughardt falsch]. Als dann Ludwig Bertele so große Erfolge mit seinen Objektivschöpfungen feierte, begann Dr. Klughardt als Leiter der Ernemannschen Optikabteilung allerdings, dieselben für sich zu requirieren, wodurch es zum Zerwürfnis kam und Bertele sogar kurzzeitig aus der Ernemann AG ausschied, später nach dem Weggang Klughardts aber wieder zurückkehrte. [Vgl. ebenda, S.50.]
Mit dem Reichspatent Nr. 441.594 vom 12. März 1925 hatte Bertele ein Ernostar mit dem maximalen Öffnungsverhältnis 1:1,0 geschaffen. Eng schmiegt sich die Kurve für die sphärische Aberration an die Bildebene an, die Abweichung beträgt nur wenige Promille der Brennweite. Doch ein Blick in die Patentschrift läßt erkennen: Für photographische Aufnahmen war das Objektiv nicht gedacht, sondern um Mikropräparate zu projizieren.
Unten: Der besagte Aufsatz Berteles zum Ernostar 1:1,8 vom November 1925 in seiner Gesamtheit. Anmerkung: Die von Ludwig Bertele hier verwendete Form DER Ernostar hat sich nicht durchsetzen können.
Es war dann die aufkommende Kleinbildphotographie, die für neuen Ansporn sorgte. Die Ermanox mit ihren Brennweiten um die 100 Millimeter machte ein Ausnutzen der vollen Objektivöffnung aufgrund der geringen Schärfentiefe beinah unmöglich. Das Gelingen der Aufnahme war nicht selten ein Produkt des Zufalls – selbst bei den Modellen mit Reflexsucher. Die enormen Glasmassen der großen Linsen ließen diese Objektive zudem unglaublich teuer werden. Entsprechend gering waren dann auch die hergestellten Mengen. Die Kleinbildphotographie halbierte diese Brennweiten nun durchweg, weshalb hohe Lichtstärken überhaupt erst praktisch sinnvoll wurden. Zudem war seit dem Erscheinen der Leica im Gefüge der Photoindustrie einiges passiert. In Dresden hatte der Zeisskonzern einen massiven Konzentrationsprozeß unter seiner Ägide angestoßen, dem sich letztlich auch die Ernemann AG nicht mehr entziehen konnte. Mit Übernahme der Ernemann'schen Objektivabteilung war Bertele plötzlich Angestellter der Zeiss-Tochter "Zeiss Ikon AG" geworden. Zum allgemeinen Konkurrenzdruck im Photomarkt bahnte sich damit obendrein auch noch ein Wettstreit im eigenen Firmenimperium an.
2. Das Sonnar als Resultat einer evolutionären Entwicklung
Damit war Willy Merté in Jena auf einmal zum Kollegen Berteles geworden. Dieser hatte unterdessen, nachdem er einige Zeit mit Triplet-Abkömmlingen experimentiert hatte ("Biotar III", Biotessar) den Rudolph'schen Planar-Typus aufgegriffen und durch eine Abkehr vom symmetrischen Aufbau und durch Einsatz neuer Gassorten sein Biotar 1:1,4 geschaffen [DRP Nr. 485.798 vom 30. September 1927]. Dieser Gaußtyp erreichte eine bis dahin nicht gekannte Korrektur der sphärischen und sphärochromatischen Fehler, was eine Nutzung derart hoher Lichtstärken im Bereich der Normalbrennweiten möglich machte. Anwendung fand das teure Biotar jedoch zunächst nur beim professionellen Film und an hochwertig ausgestatteten Schmalfilmkameras.
Ludwig Bertele reagierte mit einem Ernostar 1,4/5 cm, das zwar durch die Zeiss-Datenblattsammlung überliefert ist, aber leider in einer derart schlechten Qualität, daß über den genauen Aufbau nur spekuliert werden kann. Auch das Konstruktionsdatum ist leider nicht genannt. Gut zu sehen ist jedoch, daß Wölbung und Astigmatismus für einen Halbwinkel von über 20 Grad korrigiert waren, also mindestens das Kino-Normalformat ausgezeichnet wurde – wenn nicht gar das Kleinbild.
2.1 Das Reichspatent Nr. 530.843
"M[eines] E[rachtens] ist es nicht möglich, bei Anwendung von Kugelflächen ein aus drei in Luft stehenden Gliedern bestehendes [lichtstarkes] Objektiv so zu korrigieren, daß eine einwandfreie Bildqualität herbeigeführt wird, wie man sie von den lichtschwächeren Objektiven gewöhnt ist."
Mit Postulaten ist das so eine Sache, lieber Leser. Ihre Halbwertszeit kann unter Umständen von nur sehr kurzer Dauer sein. So hatte ein gewisser Paul Rudolph in seinem Aufsatz "Über den Astigmatismus photographischer Linsen" in Eders Jahrbuch von 1891 auf Seite 232 postuliert, in einem symmetrischen Doppelobjektiv könne sein Verfahren der astigmatischen Bildfeldebnung nicht angewandt werden. Schon im Jahr darauf hatte ein gewisser Emil von Höegh genau diese These widerlegt und ein Patent auf ein solches Objektiv angemeldet. Das Dagor ist anschließend geradezu zum Inbegriff des Doppelanastigmaten geworden.
Von ähnlich begrenzter Haltbarkeit hat sich letztlich auch Berteles Aussage vom November des Jahres 1925 erwiesen. Nur war es diesmal kein Konkurrent, der den Postulierenden eines Besseren belehrte, sondern Bertele selbst. Wir können heute nur vermuten, daß er auch im Angesicht der Erfolge der Gaußtyp-Objektive erkannt hatte, welche Konkurrenzfähigkeit ein lichtstarkes Objektiv haben würde, wenn es doch nur aus drei gegen Luft stehende Gruppen aufgebaut sein könne. In einer Zeit vor der Einführung von Entspiegelungsverfahren brachte dies immense Vorteile im praktischen Einsatz eines Objektives.
Bild: Stefan Baumgartner
Eine Schlüsselrolle dabei kommt seinem Reichspatent Nr. 530.843 vom 14. August 1929 zu, das den Übergang vom Ernostar zum Sonnar dokumentiert. Äußeres Merkmal war die Reduktion von vier Gruppen mit acht Spiegelflächen auf drei Gruppen, die nur noch sechs Glas-Luft-Übergänge mit sich brachten. Der konstruktive Trick Berteles – wenn man das so nennen darf – lag bei beim Übergang zum Sonnar darin, einen bisherigen Luftzwischenraum des Ernostares schlichtweg mit einer Linse aus niedrigbrechendem aber auch wenig dispergierendem Kronglas auszufüllen, zum Beispiel mit Bor- und Fluor-Kronen. Sein mit den Ernostaren erarbeitetes Verfahren, die sphärische und sphärochromatische Korrektur mit chromatisch gegensätzlich wirkenden Kittflächen zu erreichen, führte Bertele nun an diesem dreiteilig verkitteten Triplet durch.
Das Reichspatent Nr. 530.843 vom 14. August 1929 schützt die grundlegende Sonnarbauform, die in der einfachsten Ausführung nur aus vier Linsen aufgebaut ist. Während lichtstarke, normalbrennweitige Aufnahmeobjektive nach den unten gezeigten Zusatzpatenten erweitert werden mußten, folgten langbrennweitige Objektive wie die beiden Sonnare 4/13,5 cm und 2,8/18 cm den hier gezeigten Aufbauten. Auch die sehr lichtstarken Projektionsobjektive nach Sonnarbauform, die bei Zeiss Ikon als "Alinare" bezeichnet wurden, waren nach den Schemen in Figur 1 und 2 ausgelegt.
2.2 Das Zusatzpatent Nr. 570.983
Koma, immer wieder Koma. Die Probleme mit diesem Abbildungsfehler ziehen sich wie ein roter Faden durch die Entwicklung von Ernostar und Sonnar. Das hat auch damit zu tun, daß sich in einigermaßen symmetrisch aufgebauten Objektiven einige Bildfehler viel besser korrigieren lassen, als wenn das Objektiv asymmetrisch ausgelegt ist und die Brechkräfte sehr gegensätzlich verteilt sind. Um den neuen Sonnar-Typ zum lichtstarken Normalobjektiv für die in den Startlöchern stehende Contax zu ertüchtigen, war wie zuvor beim Ernostar ein Bildwinkel um die 45 Grad notwendig, der jedoch beim Kleinbild mit kompromißloser Fehlerkorrektur bis in die äußersten Ecken des Bildfeldes einhergehen mußte, da das Kleinbild stets beträchtlich vergrößert werden muß, um zu betrachtungsfähigen Bildern zu gelangen. Jedes Grad an zusätzlichem Bildwinkel hatte jedoch einen immer steileren Einfall der weit geöffneten Lichtbüschel zu Folge, was bei weit geöffneter Blende dazu führte, daß die sich ergebenden Komaerscheinungen das Bild außerhalb der Mitte unbrauchbar werden ließen.
An dieser Problemstellung hat Ludwig Bertele mehr als zwei Jahre gearbeitet. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie aufwendig die Verfolgung eines einzigen Strahles durch ein mehrgliedriges System vor 100 Jahren gewesen ist. Heute kann jeder Oberschüler den Sinus oder den Logarithmus in vielstelliger Exaktheit mit einem billigen Taschenrechner bestimmen. In der Zeit um 1930 mußten diese Werte in Tafelwerken aufgesucht werden. Dabei war höchste Konzentration gefordert, denn ein einziger Fehler konnte die gesamte Arbeit infrage stellen. Nach diesen langwierigen Untersuchungen, zu den Korrekturmöglichkeiten der Komaerscheinungen schob Bertele am 2. September 1931 das oben zu sehende Zusatzpatent Nr. 570.983 nach, das als eigentlicher Startpunkt für das Sonnar 1:2,0 angesehen werden kann. Berteles "Kunstgriff" war die Einführung einer sammelnden Kittfläche in das hinterste Glied, die ihre Wölbung Richtung Dingseite zeigen mußte.
Die Abbildung oben zeigt, daß für diesesSonnar 2/5 cm die damals neueste Glastechnologie eingesetzt wurde. Die Frontlinse besteht aus dem neuartigen Schwerkron 16. Die zweite und die letzte Linse sind aus dem ebenfalls völlig neuartigen Barit-Flint 10 aufgebaut, das bei einem hohen Brechungsindex an der Grenze zu den Krongläsern lag und damit einen sehr interessanten Bereich auf dem "Glaskontinent" einnahm. Sehr gut ist auch zu erkennen, was den eigentlichen Schritt vom Ernostar zum Sonnar ausmacht: Mit dem sehr niedrig brechenden, aber auch nur sehr niedrig dispergierenden Fluor-Kron 3 hat Bertele "einfach" die beim Ernostar an der dortigen Stelle befindliche Luftlinse mit einem Glas ausgefüllt, wodurch nunmehr alle drei Linsen miteinander verkitte und deshalb die bislang an jenen Grenzflächen auftretenden Spiegelverluste eliminiert werden konnten.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit basiert das neue Barit-Flint BaF10 auf dem oben gezeigten Reichspatent Nr. 596.513 vom 6. November 1930. Es war der rechte Fortschritt zur rechten Zeit, denn nicht nur Berteles Sonnar-Entwicklungen, sondern auch Mertés Tessar 1:2,8 wurden durch dieses neue Material stark beflügelt.
2.3 Das Zusatzpatent Nr. 581.742
Wenig bekannt ist, daß Bertele zu Beginn des Jahres 1932 noch ein weiteres Zusatzpatent zu seinem Grundpatent von 1929 nachgelegt hatte, das zwar kein fertiges Produkt nach sich zog, aber von Bedeutung bei seiner Arbeit zur Kommakorrektur ist. In Abschnitt 5.1 wird noch gezeigt werden, daß die Geschichte des Sonnars als Spitzenobjektiv des Photomarktes mit einem Schmalfilmobjektiv 1,4/2,5 cm beginnt, das im Sommer 1930 gerechnet worden war und im Februar 1931 ausgeliefert wurde. Dieses Objektiv war in den Prospekten wie in den internen Zeiss-Unterlagen ausdrücklich mit dem Hinweis "für Kodacolor" versehen. Dieses Kodacolor hat noch nichts mit den Mehrschicht-Farbverfahren der späteren Zeit zu tun, sondern war noch ein additives Verfahren, bei dem die Farben rot, grün und blau zusammengemischt wurden ("addiert"). Dabei waren Kodacolor (und kurze Zeit später auch das erste Agfacolor) keine Kornrasterverfahren mehr, die für Kleinbild und Schmalfilm ein viel zu schlechtes Auflösungsvermögen gehabt hätten, sondern sogenannte Linsenrasterverfahren, bei denen der Film selbst keine farbige Elemente enthielt. Vielmehr wahren im Schichtträger mikroskopisch kleine Linsen eingeprägt worden, die ein vor dem Aufnahmeobjektiv angebrachtes Filter aus roten, grünen und blauen Streifen auf die photographische Schicht abbildeten. Dazu wurde der Film mit der Schichtträgerseite Richtung Objektiv am Bildfenster der Kamera vorbeigeführt. Um eine Vorstellung von der notwendigen Präzision zu bekommen: Beim Kodacolor-Verfahren hatten die Mikrolinsen eine Breite von 43 µm, beim Agfacolor-Verfahren waren es sogar nur 28 µm [Vgl. Heymer: Die neuere Entwicklung der Farbenphotographie; in: Handbuch, 1943, S. 400.]. Diese Farbverfahren brachten Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre die Phototechnik in Aufruhr, weil man meinte, endlich einen Weg gefunden zu haben, Farbphotographie für Jedermann möglich zu machen. Alles was man benötigte, schien ein Streifenfilter vor dem Aufnahme und dem Projektionsobjektiv zu sein. In Wahrheit waren die technischen Hürden beträchtlich und die Linsenrasterfahren verschwanden klanglos in der Versenkung, nachdem sich ab 1935/36 die mehrschichtig ("subtraktiv") arbeitenden Farbverfahren Kodachrome und Agfacolor neu am Markt etabliert hatten.
Welcher Art die technischen Hürden bei den Linsenrasterverfahren waren, davon gibt uns Berteles Zusatzpatent Nr. 581.742 vom 18. Februar 1932. Der Hintergrund lag darin, daß die Agfa Filmfabrik angekündigt hatte, den Agfacolor-Film auch mit 35 mm Breite für Kleinbildkameras herauszubringen. Man kann nur vermuten, daß die Agfa frühzeitig mit den führenden Kameraherstellern beraten hat, um sicherzustellen, daß das Verfahren auch wirklich positive Ergebnisse liefert. Ja man hat fast den Eindruck, als habe die Agfa besonders eng mit der Zeiss Ikon AG zusammengearbeitet. Die Contax bot mit ihrem Bajonettanschluß einen entscheidenden technischen Vorteil: Während das Normalobjektiv wie üblich im Innenbajonett eingesetzt war, konnte das Filter am freien Außenbajonett befestigt werden. Auf diese Weise war gewährleistet, daß die Ausrichtung der Farbstreifen im Vorsatzfilter zum Linsenraster auf dem Schichtträger genau definiert und immer dieselbe war. Das Filter wäre nur ein preiswertes Zusatzgerät zur bestehenden Contax-Ausrüstung.
Die praktische Umsetzung erwies sich jedoch als deutlich schwieriger. Wenn sich nämlich das Filter nicht innerhalb des Objektives befindet, sondern davor gesetzt wird, dann bilden die Mikrolinsen des Filmes nicht das Filter selbst auf der Schicht ab, sondern das vom Objektiv entworfene virtuelle Bild dieses Streifenfilters. Durch die jedem Objektiv innewohnende Vignettierung wurde dieses virtuelle Bild jedoch in den Randbereichen in einer Weise abgeschattet, sodaß die betreffenden Teile des Filters für die Farbwiedergabe beschnitten wurden, was zu schweren Farbfehlern führte. Das obige Zusatzpatent gibt uns einen Eindruck davon, wie Bertele erneut mit dem Problem der Komafehler zu tun hatte, als er ein möglichst vignettierungsfreies Sonnar 2,5/5 cm für diese Linsenrasterfilme schaffen wollte. Die hier gefundene Lösung mit einem stark gekrümmten Meniskus L4 im mittleren Kittglied wurde zwar nicht praktisch verwirklicht, sie zeigt uns aber, wie intensiv Bertele zu jener Zeit am Problem der Komakorrektur laborierte.
Für dieses "Linsenraster-Sonnar" gibt es auch ein Datenblatt in der von Willy Merté weitergeführten Sammlung von Photoobjektiven internationaler Hersteller. Auch wenn dieses Objektiv nicht in die Fertigung gelangte, so ist der bildseitig aufgeweitete Durchmesser von Bedeutung für Berteles Entwicklungsarbeiten zum Biogon 2,8/3,5 cm.
2.4 Das Reichspatent Nr. 673.861
Denn nur wenige Monate später folgte bereits das nächste Grundsatzpatent mit der Nummer 673.861 vom 9. Juli 1932, das die Grundlage für das Sonnar 1,5/5 cm bildete. Bertele war in dieser Zwischenzeit zur Erkenntnis gelangt, daß die Kittfläche in die hintere Gruppe verlegt werden müsse, um den Asymmetriefehler für alle Büschelneigungen befriedigend zu korrigieren. Ihre Krümmung mußte dem Bilde zugekehrt sein und ihr Krümmungsradius durfte nur maximal halb so groß wie die Objektivbrennweite sein. Praktisch bedeutete das einen sehr stark gekrümmten Radius r9, wie dies im Ausführungsbeispiel 1 der unten zu sehenden Patentschrift zum Ausdruck kommt und wie es auch im Serienobjektiv Anwendung fand.
Nicht einmal ein Jahr hat es gebraucht, bis dem Patent für das Sonnar 2/5 cm bereits dasjenige zum Sonnar 1:1,5 nachgeschoben und damit die Lichtstärke beinah verdoppelt werden konnte. Mit den beiden Reichspatenten Nr. 570.983 vom 2. September 1931 und Nr. 673.861 vom 9. Juli 1932 waren die Grundlagen gelegt, den Sprung der Sonnare vom Schmalfilmobjektiv zum lichtstarken Normalobjektiv für Kleinbildkameras meistern zu können (siehe dazu auch Abschnitt 5). Damit hatte die Zeiss Ikon AG in Dresden plötzlich einen enormen Vorsprung was den Übergang hochlichtstarker Anastigmate vom Normal- und Schmalfilm zur Stillbildphotographie im Kleinbildformat betraf.
Das sind die im Reichspatent 673.861 angegebenen Glasarten für das Sonnar 1,5/5 cm. Es ist nicht bekannt, inwieweit das Objektiv in dieser Form wirklich in die Fertigung gelangte. Trotzdem will ich darauf verweisen, daß hier die absolut neueste Glastechnologie zugrunde gelegt wurde. Das Schwerkron SK18 war erst frisch herausgekommen. Es hatte allerdings eine merkliche Gelbfärbung und neigte bei der Herstellung heftig zur Blasenbildung, weshalb es offenbar doch nicht (lang) zum Einsatz kam. Stattdessen wurden die beiden vorderen Sammellinsen aus dem schweren Baritflint BaF10 gefertigt. Dieses BaF10 war wohl zusammen mit Schwerstkron SSK5 erst im November 1930 mit dem Reichspatent 596.513 geschützt worden. Auch das BaF10 und das SSK5 waren gelblich gefärbt und stark mit Bläschen durchsetzt. Das Phosphat-Schwerkron PSK1 in der hintersten Linse hatte in den 20er Jahren noch zu den Sondergläsern gezählt, die nur auf Bestellung in begrenzter Menge geschmolzen wurden. Man sollte diese Patentversion mit der in Abschnitt 5.3 gezeigten Zusammensetzung vergleichen, die nachweislich gefertigt wurde.
Dabei blieb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen, welche Rivalität "hinter den Kulissen" im Zeisskonzern selbst in Bezug auf diese Photoobjektive herrschte. Auf den Sonnaren war zwar Zeiss aufgraviert, doch kaum jemandem war bewußt, daß es sich de facto um Entwicklungen aus dem alten Ernemann-Rechenbüro in Dresden handelte. Indes gibt es genügend Indizien dafür, daß es zwischen beiden Rechenbüros in Dresden und Jena ein gehöriges Maß an Konkurrenz gegeben haben muß. Es läßt sich gut nachvollziehen, daß es das Erscheinen des Sonnares 2/5 cm gewesen sein muß, das für Willy Merté den Ansporn gab, sein Biotar 1:2,0 zu entwickeln. Das heißt auf das diesem Biotar inneliegende Potential zu allerhöchsten Lichtstärken zu verzichten zugunsten eines größeren Bildwinkels und einer ausgefeilten Gesamtkorrektur. Ergebnis war Mertés Biotar 2/4,5 cm für Kleinbildkameras mit Zentralverschluß bis zum Nennformat 3x4 cm auf A8-Rollfilm vom November 1932 sowie das Biotar 2/4 cm (später 2/4¼ cm) für die Contax vom Dezember 1932. Diese beiden Biotare hatten Bildwinkel von etwa 55 Grad, was den Vorteil des (zumindest in Bezug auf die Brechkräfte) symmetrisch aufgebauten Gaußobjektivs gegenüber dem Sonnar aufzeigt, bei dem Bertele schließlich für jedes zusätzliche Grad an Bildwinkel enorme Anstrengungen in Hinsicht auf die Bildfehlerkorrektur aufbringen mußte. Willy Merté und Ernst Wandersleb arbeiteten zudem an asphärisch deformierten Tessaren mit den Lichtstärken 1:1,5 und 1:2,0 als Konkurrenz zum Sonnar (siehe hier Abschnitt 4).
Im Patent 673.861 ist noch eine zweite Ausführungsform des Sonnars 1:1,5 angegeben, die oben bei der Wiedergabe der Patentschrift aus Platzgründen weggelassen wurde, da in der Praxis zunächst nur das Ausführungsbeispiel 1 umgesetzt wurde. In der oben gezeigten Aufstellung aus Willy Mertés Aufsatz von 1943 hat dieser aber genau jenes zweite Patentbeispiel zum Vergleich dem dem Sonnar 1:2,0 gegenübergestellt. Den Achsenschnittbildern sind die durchschnittlichen Bildfehler anhand der typischen Kurven (a) für die sphärische Aberration und die Abweichung von der Sinusbedingung, (b) für den Astigmatismus und die Wölbung und in Kurve (c) für die Verzeichnung gegenübergestellt [nach Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 57.]. Da die Maßstäbe (mit Ausnahme der Verzeichnung) identisch sind, läßt sich sehr gut ein Vergleich zu den Bildfehlerkurven des Biotars und auch des zeitgenössischen Primoplans von Meyer Görlitz ziehen.
3. Die zeitweilige Führungsposition des Sonnar-Aufbaus
Mit dem Erfolg seines Sonnartyps hatte Ludwig Bertele dem Dresdner Optikbüro längerfristig eine große Relevanz innerhalb des Zeiss-Konzernes gesichert. Statt ein paar Dutzend Exemplare, wie zuvor noch beim Ernostar, ließen sich von den Sonnaren nun tausende oder gar zehntausende Stück im Jahr absetzen. Und immer wieder wurden neue Typen für Stillbild- und Kinokameras gefordert. Die Leistungsfähigkeit der Sonnare im praktischen Einsatz war bis Mitte der 1930er Jahre zweifellos allen Konkurrenzerzeugnissen überlegen. So verblüfft es zu sehen, wie die Sonnare in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zum dominierenden Normalobjektiv für Kleinbildkameras wurden und selbst das weltberühmte Tessar in Bezug auf die Stückzahlen hinter sich ließen (obwohl die Tessare schließlich auch an andere Hersteller von Kleinbildkameras geliefert wurden).
Neben dem Vorteil, daß die Sonnare wegen der Drei-Gruppen-Bauweise weniger zum Spiegeln neigten, als viergliedrige Objektive, wiesen sie noch eine weitere wichtige Eigenschaft auf, die sie in der Zwischenkriegszeit gegenüber dem Gaußtyp so hervorstechen lassen sollten. Aufgrund der inneren Brechkraftverteilung zeichnen sich Sonnare durch eine vergleichsweise kurze Schnittweite aus. Das ist dem Umstand zu verdanken, daß der innere, zerstreuend wirkende Teil des Sonnars mit seiner großen Mittendicke meniskenhaft zum Objekt hin gebogen ist. Dadurch sind Sonnare auffallend kurz gebaut bzw. sie rücken nah an die Bildebene heran. Bei Sucherkameras ist diese Eigenschaft sehr vorteilhaft, weil damit die Kombination Kamera-Objektiv so kompakt wie möglich gehalten werden kann. So gab es zwar das Sonnar 2/5 cm für die Contax in einer Ausführung mit versenkter Fassung, doch wirklich notwendig wäre das nicht gewesen. Das Sonnar war auch ohne diese Einrichtung sehr kompakt. Selbst das unten dargestellte, für die damalige Zeit extrem lichtstarke Sonnar 1,5/5 cm fiel kaum größer aus als ein Hühnerei. Durch die fehlende Notwendigkeit eines objektiveigenen Schneckenganges – einer speziellen Eigenheit der Contax-Sucherkameras – waren die Normalobjektive zudem extrem schlank gebaut. So zierliche hochlichtstarke Objektive hat es auch später kaum wieder gegeben. Und seinerzeit war das alles ohnehin gänzlich ohne Konkurrenz.
Diesen Vorteilen standen aber auch einige Nachteile entgegen. Die hier schon mehrfach zu sehenden Querschnitte durch den Linsenaufbau zeigen zwei weitere ganz charakteristische Eigenschaften der Sonnare auf, die ihnen später noch zum Verhängnis werden sollten: Einerseits die teils großen Glaskörper mit ihren massiven Mittendicken, für die stets dicke Platten absolut lauteren Rohglases benötigt wurden, die sehr teuer sind. Andererseits fallen die teils ausgesprochen kleinen Krümmungshalbmesser auf; also die stark kugeligen Linsenoberflächen. Letzteres führte zu einem eklatanten fertigungstechnischen Problem: Je stärker nämlich eine Linsenoberfläche gewölbt ist, um so weniger Linsen können zusammen auf eine Schleifschale gekittet und gemeinsam bearbeitet werden. Die vergleichsweise flachen Linsen beispielsweise der Tessare waren dagegen viel rationeller zu fertigen. Sonnare konnten also schon in dieser Hinsicht niemals "Billigobjektive" sein. Auch das Verkitten der Linsen mit Kanadabalsam und das nachfolgende Zentrieren solcher zwei- und dreiteiliger Kittgruppen war zeitaufwendig und verlangte nach großer Präzision. Auch darin liegt wohl einer der Gründe, weshalb die Sonnare zumindest als Normalobjektive nach dem Zweiten Weltkrieg bei Zeiss Jena rasch an Bedeutung verloren und nur in Form langbrennweitiger Zusatzobjektive interessant blieben.
In den späten 40er Jahren wurde – wohl durch Robert Geißler – ein Sonnar 2/57 mm geschaffen und offensichtlich auch in Dresden Reick produziert, das als Normalobjektiv für die neue Spiegel-Contax vorgesehen war. Letztlich konnte es sich aber nicht gegen das hervorragende Biotar 2/58 mm durchsetzen und ging daher nicht in Serie. Harry Zöllner hatte zuvor in einem Aufsatz den Nachweis über die deutliche Überlegenheit des Biotars erbracht.
Daß Robert Geißler für dieses Sonnar verantwortlich zeichnen könnte, der damit nach 1945 gewissermaßen die Nachfolge Ludwig Berteles bei Zeiss Ikon angetreten hatte, kann man daran ablesen, daß auf seinen Namen Weiterentwicklungen des Sonnartyps zum Patent angemeldet wurden. So die Schutzschrift DD4228 vom 24. November 1951, mit der er durch Verringerung astigmatischer und komatischer Restfehler eine starke Verbesserung der Schärfe außerhalb der Bildmitte erreicht hatte. Wie der in der Patentschrift angegebene Linsenschnitt zeigt, fußte diese Weiterentwicklung auf einer Wiederaufspaltung des Sonnars.
Das hat natürlich auch mit der unangefochtenen Dominanz der Spiegelreflexkamera im ostdeutschen Kamerabau nach 1945 zu tun. Bei diesem Kameratyp war die kurze Schnittweite der Sonnare eher kontraproduktiv, weil ja der Klappspiegel genügend Bewegungsfreiraum braucht. Zwar war bei Zeiss Ikon für deren Syntax/Contax-Projekt ein Normalobjektiv "Sonnar 2/57 mm" entwickelt worden; das ging jedoch nicht in die Serienfertigung. Wie beim Biotar 2/58 mm mußte die Brennweite für die Reflexanwendung etwas verlängert werden. Der Biotartypus ermöglichte aber später durch Einsatz hochbrechender Gläser und durch Meniskenformen in der Frontgruppe einen Übergang zur üblichen Brennweite von 50 mm. Im Gleichzug wurden aber auch die vielversprechenden Korrekturmöglichkeiten des Planar-/Biotartypus immer weiter ausgelotet, die das an die Grenzen angelangte Sonnar bald übertrumpften. Das Biotar Mertés steckt bis heute in allen hochlichtstarken Normalobjektiven.
Später hat Geißler dieses Objektiv sogar zu einer Retrofokuskonstruktion ausgebaut, d.h. er hat durch Vorsetzen eines zerstreuend wirkenden Meniskus die Schnittweite künstlich verlängert, um die Brennweite auf die üblichen 50 mm verkürzen zu können [DD17.867 vom 13. Dezember 1956.]. Die Lichtstärke lag bei 1:1,5!
Diese Entwicklung, daß die Doppelgauß-Abwandlungen zukünftig dem Sonnartypus den Rang ablaufen würden, zeichnete sich jedoch bereits in den 1930er Jahren ab. Für die Leica wurde ab 1936 ein Xenon 1:1,5/5 cm hergestellt, das auf einem Patent von Horace William Lee aus dem Jahre 1930 basierte, der die hintere Sammellinse des Biotartypus zur Bildfehlerkorrektur auf zwei einzelne Elemente aufgespalten hatte. Zur damaligen Zeit war das angesichts der fehlenden Entspiegelungsschichten ein indiskutabler Schritt, da dieses Objektiv mit seinen zehn Glas-Luft-Flächen noch mehr spiegelte als ehedem das Ernostar. Der damalige Vorsprung des Zeisskonzerns lag schließlich in dem Monopol Berteles, die Lichtstärke 1:1,5 mit lediglich sechs Grenzflächen geschafft zu haben. Mit der nach 1945 allgemein zur Verfügung stehenden Entspiegelungstechnologie war ein Großteil dieses Vorsprungs aber infragegestellt worden. Jetzt war ein immer stärkeres Auflösen der Konstruktionen in Gruppen oder sogar Einzellinsen feststellbar. Weg von dicken, stark gewölbten Linsen. Die Normalobjektive 1:1,4 der 60er, 70er Jahre – ja bis heute – zeigen eine verblüffende Ähnlichkeit zum Leitz-Xenon aus dem Jahre 1936.
Zusammenfassend also noch einmal die Frage, was ein Sonnar eigentlich ausmacht. Grundsätzlich handelt es sich um eine vom Triplet abgeleitete Objektivbauform, bei der eine zerstreuend wirkende Komponente durch zwei sammelnd wirkende eingeschlossen wird. Bei der Betrachtung des Versuchsobjektivs V93 eines Tessares 2/50 mm fällt dessen aufwendig verkittetes hinteres Glied auf, das an die lichtstarken Sonnare erinnert. Was aber die Abgrenzung dieser Sonnare von anderen Tripletformen angeht, will ich hier Ludwig Bertele noch einmal selbst zitieren, der im Patent 673.861 seine Erfindung definiert als "Ausführung desjenigen Objektivtypus, das aus zwei in Luft stehenden sammelnden Gliedern und einem zwischen diesen befindlichen zerstreuenden, nach dem Objekt zu durchbogenen meniskenförmigen Glied besteht [...]". Der zentrale Unterschied liegt also in der Formgebung der zerstreuenden Komponente. Bei einfachen Triplets und Tessaren ist diese Zerstreuungslinse bikonkav, während sie beim Sonnar die Form eines Meniskus annimmt – und zwar letztlich unabhängig davon, aus wie vielen einzelnen Linsen dieser zusammengesetzt ist. Daß sich daraus die besondere innere Brechkraftverteilung der Sonnare ergibt, wurde weiter oben bereits angesprochen.
4. Berteles spezielle Positionierung im Zeisskonzern
Bevor hier gleich konkret auf die Entwicklung einzelner Varianten des Sonnars eingegangen wird noch ein Wort zu Ludwig Bertele und der damals sehr eigentümlichen Konstellation innerhalb des Zeisskonzerns. Das ganze Problem kreiste um das Ernemann'sche Optikrechenbüro, welches nach dem Ersten Weltkrieg unter August Klughardt ursprünglich etabliert worden war, um bessere Kino-Projektionsobjektive zu entwickeln. Für Zeiss wurde es kritisch, als die HEAG in der Folgezeit ihre Aktivität immer weiter auf das Gebiet der Photo-Aufnahmeobjektive ausdehnte. Objektive wie das Ernon und das Ernotar wurden als direkte Angriffe auf das Tessar Zeiss Jenas wahrgenommen, nachdem dessen Patentschutz abgelaufen war. Und nun kamen noch die Ernostare eines gerade erst volljährig gewordenen Ludwig Bertele hinzu, die dafür sorgten, daß die bei Zeiss als Reaktion auf den Trend zu lichtstarken Objektiven gedachten Triplet-Abkömmlinge "Biotar III" nach dem Abschluß der Entwicklungsarbeiten und Publizierung in der Fachliteratur umgehend in der Schublade verschwanden. Es ist einfach nicht von der Hand zu weisen, wie sehr die Photosparte Carl Zeiss Jenas Mitte der 1920er Jahre in einen tiefen wettbewerblichen Rückstand geraten war, aus dem man sich nur noch durch Einverleibung der Konkurrenz befreien zu können glaubte. Während es jedoch Zeiss nach der Fusion von 1926/27 plangemäß gelang, die Fertigung an Photoobjektiven in Jena zu monopolisieren (abgesehen von einigen einfachen Typen, die offenbar weiterhin im Werk Reick der ICA gefertigt wurden), geschah mit dem Dresdner Konstruktionsbüro der zerschlagenen HEAG beinah das Gegenteil: Das Zeiss-Ikon-Rechenbüro erreichte in der Folgezeit eine Dominanz im Zeisskonzern, die eine über die reine Unternehmensgeschichte hinaus technikhistorische Bedeutsamkeit erlangt hat. Und die Schlüsselperson dazu war zweifellos Ludwig Bertele.
Es ergibt sich in der Geschichte immer wieder einmal der Umstand, daß jemand genau in jenem Fach Fuß fassen kann, für das er eine ganz ungewöhnliche Begabung mitbringt bzw. dieselbe nach und nach entwickelt. Dann können Leistungen erreicht werden, die weit über das „Normalmaß“ hinausgehen, und von denen man sich im Nachhinein fragt, wie eine Einzelperson derlei überhaupt schaffen konnte. Ludwig Bertele war ein solches Naturtalent [Bild oben während seiner Ausbildung bei Rodenstock in München]. Von den nicht minder talentierten Konstrukteurs-Kollegen im Zeisskonzern unterschied er sich allerdings in einem entscheidenden Punkt, auf den sein Sohn Erhard Bertele in der Biographie seines Vaters fortwährend hinweist: Die fehlende akademische Herkunft seines Vaters. Dazu sei noch einmal daran erinnert, daß die spätere Weltgeltung des Zeisswerkes nicht einfach vom Himmel gefallen ist, sondern das Ergebnis eines wohlüberlegten Schrittes des braven Mechanikus Carl Zeiß gewesen ist, die optische Ausgestaltung eines Mikroskopes nicht per Zufall zu finden (mithilfe des sogenannten Pröbelns), sondern es nach wissenschaftlichen Methoden errechnen zu lassen. Dazu holte Zeiß in den 1860er Jahren den jungen Ernst Abbe in seine Werkstätte; und letzterer stellte erst einmal eine wissenschaftliche Theorie des Mikroskopes per se auf, bevor er überhaupt an die praktische Arbeit des Berechnens ging. Diese Herangehensweise, daß akademisch gebildete Wissenschaftler und Ingenieure den Grundstock eines Industriebetriebes bilden, wurde damit zum Prinzip bei Zeiss Jena – und letztlich zum Vorbild für andere deutsche Firmen mit Weltgeltung. Nicht verschweigen sollte man jedoch, daß genau dieses Prinzip Fluch und Segen zugleich barg. Deutsche Ingenieure konnten gleichsam Mondraketen schaffen oder aber Vergeltungswaffen; Architekten entwarfen mit ebensolcher Professionalität Konzerthäuser wie Konzentrationslager. Vom Photoobjektiv, mit dem man seine Liebsten beim Familienfest im Bilde festhält, zum Zielgerät, das auf Knopfdruck Dutzende solcher Familien auslöschen hilft, war es nur ein kleiner Schritt. Die Verantwortung des Wissenschaftlers und Ingenieurs darüber, was mit seinen Hervorbringungen angestellt werden kann, ist seit etwa hundert Jahren eine der Grundfragen der modernen Ethik.
Aber Ludwig Bertele gehörte eben gerade nicht dieser Riege des akademisch gebildeten Konstrukteurs an. Professor Abbe hatte noch persönlich Dr. Paul Rudolph mit dem Aufbau der Photoabteilung beauftragt. Er und dessen Nachfolgegeneration, Berteles Zeitgenossen Ernst Wandersleb, Willy Merté und auch Robert Richter waren allesamt promovierte Herren. Ludwig Bertele hingegen muß man den Beschreibungen seines Sohnes nach eher als ursprünglich handwerklich ausgebildeten, sich später autodidaktisch perfektionierenden Fachmann ansehen. Oben habe ich schon angesprochen, welche negative Erfahrungen Bertele mit Dr. August Klughardt gemacht hatte, als jener die erfinderische Leistung seines „angestellten Optikrechners“ Bertele einfach für sich vereinnahmte. Nachdem diese Phase überwunden war, blieb Bertele in Dresden und konnte sich ganz auf seine äußerst erfolgreiche praktische Arbeit konzentrieren. Er verweigerte regelrecht einen Weggang nach Jena. Die Aufgabe der Jenaer „Zentrale“ lag somit allenfalls darin, anhand der Bertele’schen Angaben Variationsrechnungen zur Optimierung des Systems vorzunehmen [Vgl. Bertele, Pionier, 2017, S. 54 und 64], ansonsten beschränkten sich die Kompetenzen der Jenenser eher darauf, die Dresdner Objektive herstellen zu dürfen. So nüchtern muß man die damalige Situation wohl beurteilen.
Dieser ungewöhnliche Umstand – man muß das hier noch einmal deutlich hervorheben – war angesichts der vorherrschenden Hierarchie im Zeisskonzern ein ganz besonderer Ausnahmefall. Wenn man die Geschichte dieses Unternehmens kennt, seinen Habitus innerhalb der Branche und die vorausgegangenen Konzentrationsprozesse zur Ausschaltung der Konkurrenten, was wiederum in einer Unterordnung der neuen Konzerntöchter gegenüber der Jenaer Konzernleitung mündete, dann ist dieser spezielle Aspekt in Bezug auf das Dresdner Optik-Büro durchaus bemerkenswert. Solange man in Jena aber offenbar auf die Leistungen eines Ludwig Berteles, der aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen unter allen Umständen verhindern wollte, ein Rädchen von vielen im Getriebe der Jenaer Konstruktionsabteilung zu werden, derart angewiesen war, billigte man ihm offenbar diesen Sonderstatus zu.
Die fast schon ins Absurde abdriftenden Ausmaße der Rivalität zwischen den beiden konzerneigenen Konstruktionsbüros in Jena und Dresden werden sehr gut anhand dieser beiden lichtstarken Normalobjektive mit den Daten 1:2,0/f = 4 cm ersichtlich. Beide decken sie das Kleinbildformat 24x24 mm ab. Beide wurden im Jahre 1937 konstruiert. Beide wurden in Jena hergestellt. Das Sonnar blieb aber der Zeiss-Ikon-Kamera vorbehalten, während Zeiss Jena für die Belieferung eins konzernfremden Kameraherstellers im hauseigenen Konstruktionsbüro ein Biotar entwickeln ließ. Mehr dazu auch hier.
Diese Situation änderte sich erst mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die Konzernleitung hatte Heinz Küppenbender (1901 - 1989) – einen vollkommen loyalen Gefolgsmann des Regimes – beauftragt, dieses Gefüge aufzubrechen und die optischen Abteilungen des Konzerns auf die Erfordernisse der Rüstungsproduktion umzustellen. Bertele wurde im Februar 1940 offenbar vor die Wahl gestellt, entweder in Dresden eher „niedere“ Aufgaben zu erledigen oder aber in eine vollständig nach Jena verlegte optische Entwicklungsabteilung integriert zu werden [vgl. ebenda, S. 66]. Ersteres kam für Bertele nicht infrage, da er sich ganz dem Errechnen von Objektiven verschrieben hatte, und die zweite Option, sich als beruflich erfolgreicher Nicht-Akademiker im Jenaer „Akademikerclub“ behaupten zu müssen, lehnte er aus den oben schon beschriebenen Gründen ab [Vgl ebenda]. In der Folgezeit finden sich dann in den Quellen einige Sonnar-Entwicklungen, die ihren Ursprung nicht in Dresden zu haben scheinen.
So fallen Sonnartypen auf, bei denen die "Füllung" aus niedrig brechendem Kronglas in der zweiten Gruppe wieder herausgenommen und durch eine dünne Luftlinse ersetzt ist. Oder dieses Kronglas ist nicht mehr vollständig in Verkittungen eingebettet, sondern bei Gleichheit der Radien wurden beide Flächen nur miteinander angesprengt. Und genau diese Charakteristik findet sich dann in einem Patent wieder, das im September 1942 angemeldet worden ist. Doch als Erfinder wurde nicht Ludwig Bertele ausgewiesen, sondern Willy Merté. Das gibt uns ein gewichtiges Indiz dafür, daß die Weiterentwicklung der Sonnare sukzessive vom Jenaer Rechenbüro requiriert wurden, wo seit der rassisch begründeten Verdrängung Ernst Wanderslebs Willy Merté das Sagen hatte.
Jedenfalls läßt sich nun einigermaßen erahnen, welche Hierarchien sich in der Abteilung Photo des Zeisskonzerns zu jener Zeit herausgebildet hatten. Ludwig Bertele wollte daraufhin Zeiss Ikon verlassen und ein Stellenangebot von Steinheil in seiner Heimatstadt München wahrnehmen. Die nach wie vor große Bedeutung Berteles kann man daran ablesen, daß diese Kündigung erst einmal "von ganz oben her" vereitelt wurde und er quasi durch politischen Zwang bei Zeiss Ikon blieb. Erst zum 31. Dezember 1941 gelang es ihm, endlich aus dem Zeisskonzern auszuscheiden und doch noch zu Steinheil zu wechseln [Vgl. ebenda]. Erst nach dem Kriege wird Bertele wieder zum Objektivbau zurückkommen und bei einer Schweizer Firma ganz außergewöhnliche Weitwinkelsysteme schaffen. Auch unter die Pioniere bei der Entwicklung von Retrofokus-Weitwinkelobjektiven ist er zu zählen. Was diese Ära betrifft, verweise ich den interessierten Leser auf die sehr gelungene Biographie seines Sohnes.
5. Die wichtigsten Vertreter des Sonnar-Typus
Obgleich die Entwicklung des Sonnars – wie im Abschnitt 3 bereits gezeigt – schon zuvor eingesetzt hatte, ist der Erfolg dieses Objektivtyps zweifellos mit der neuen Contax-Meßsucherkamera verknüpft. Nach der schleppend anlaufenden Akzeptanz dieser Contax, was schlichtweg mit der bereits sehr dominanten Leica im Zusammenhang stand, wurde der dreigliedrige Sonnartypus ab Mitte der 1930er Jahre sukzessive in Richtung verschiedener Brennweiten ausgebaut. Neben den beiden hochlichtstarken Normalobjektiven 2/5 cm und 1,5/5 cm fallen das langbrennweitige Sonnar 4/13,5 cm sowie die Portraitbrennweite 2/8,5 cm auf, die zusammengenommen sicherlich die fortschrittlichsten Objektive jener Zeit darstellten. Weit ab von der Konkurrenz waren zudem die Tele-Sonnare 2,8/18 cm und 4/30 cm, die von Bertele in der zweiten Hälfte der 30er Jahre geschaffen wurden. Weitgehend unbekannt in der Fachwelt ist zudem, daß das Weitwinkelobjektiv Biogon 2,8/3,5 cm ebenfalls dem Sonnar-Aufbau entsprungen ist.
5.1 Ausgangspunkt: Das Sonnar 1,4/2,5 cm
Die Darstellung in Abschnitt 2 hat gezeigt, daß Ludwig Bertele die Entwicklung der Sonnare begonnen hat, als die Contax noch gar nicht absehbar war. Vielmehr lag der Ausgangspunkt der Sonnare eindeutig in der Anwendung an den 16-mm-Schmalfilmkameras der Zeiss Ikon AG in Form der von der ICA übernommenen Kinamo sowie der neu entwickelten Movikon. Für diesen Einsatzfall wurde ab Februar 1931 ein neues Sonnar 1,4/2,5 cm angeboten, das im Juni 1930 gerechnet worden war. Dieser Umstand ist deshalb erwähnenswert, weil er eine absolute Parallelität zum Jenaer Rechenbüro aufzeigt: Eine der ersten nennenswerten Anwendungen fand Willy Mertés Biotar 1:1,4 als Normalobjektiv für 16-mm-Kameras. Dieses Biotar 1,4/2,5 cm war im März 1928 gerechnet worden und die ersten 93 Stück wurden bereits Ende Mai 1928 fertiggestellt und an Bell & Howell ausgeliefert.
Angesichts dessen muß die Entwicklung des Sonnares 1:1,4 ganz eindeutig als eine Reaktion der Zeiss Ikon AG auf das Jenaer Biotar 1:1,4 angesehen werden. Beim Kinéfilm waren hohe Lichtstärken wirklich ein wichtiges Kaufargument und Zeiss Ikon mußte konkurrenzfähig bleiben. Es sagt viel über das Verhältnis zwischen Dresden und Jena aus, daß man bei Zeiss Ikon auf eine eigene Objektivausstattung setzte, statt das Biotar zu übernehmen. Zeugnis von den dahinterstehenden Entwicklungsarbeiten legt das unten gezeigte Versuchsobjektiv V1930 Nr. 7 vom 12. Juni 1930 ab. Mit großer Gewißheit bildete es die Grundlage für das anschließend in Serie gefertigte Sonnar 1,4/2,5 cm, dessen Rechnungsabschluß dann auf den 18. Juni 1930 datiert.
Beim unten gezeigten Serienobjektiv dieses Sonnars 1,4/2,5 cm ist der Bildwinkel auf die nötigen 30 Grad vergrößert. Bemerkenswert an diesen beiden 2,5-cm-Objektiven ist, daß die sphärische Aberration erst ab einer Einfallshöhe oberhalb 15 mm auszubrechen beginnt. Das heißt, blendet man das Sonnar auf etwa 1:2,8 ab, wird man eine sehr hohe Abbildungsleistung erwarten können. Sehr gut wird hier auch wieder deutlich, wie der ursprüngliche Luftzwischenraum des Ernostars durch ein gering brechendes Kronglas ausgefüllt wird. Die beiden vorderen Sammellinsen sind aus Schwerkron SK10, danach folgt das sehr niedrig dispergierende Fluor-Kron FK3 als "Lückenfüller" und sodann die dritte Linse des Kittgliedes aus Schwerflint SF4, gefolgt von einer einzeln stehenden Sammellinse aus Schwerflint 2. Die beiden chromatisch gegensätzlich wirkenden Kittflächen sorgen wiederum für eine gleichzeitige chromatische und sphärochromatische Korrektur.
Dieses Sonnar 1,4/2,5 cm basiert damit erkennbar auf dem im August des Vorjahres angemeldeten Reichspatent Nr. 530.843 mit der einzeln stehenden Sammellinse als Abschluß des Systems. Angesichts des weniger als 30 Grad betragenden diagonalen Bildwinkels spielten schräg einfallende Büschel noch eine untergeordnete Rolle. Die beim Versuchsobjektiv für die gelbe Spektrallinie d und die blaue Linie G' aufgetragenen Kurven für die sphärische Aberration weisen dagegen eine sehr gute Korrektur des Gaußfehlers aus. Das war wichtig, weil die mit diesem Sonnar ausgestattete Kinamo für das im Jahre 1928 herausgebrachte Kodacolor-Verfahren vorgesehen war – dem ersten, auch für den Amateur zugänglichen Farbfilmverfahren. Hierbei waren sphärochromatische Fehler besonders störend, denn es handelte es sich um ein sogenanntes Linsenraster-Verfahren nach dem System Keller-Dorian, das mit additiver Farbmischung arbeitete, bei dem ein vor das Objektiv gesetztes Filter mit roten grünen und blauen Streifen benutzt wurde, dessen Muster präzise in der Schicht abgebildet werden mußte. Das strenge Filter schluckte außerdem viel Licht. Da auch die Agfa im Jahre 1932 ein ähnliches Verfahren für den 16-mm-Schmalfilm herausbrachte, wird klar, weshalb es damals so eine enorme Konjunktur speziell bei hochlichtstarken Objektiven für den 16-mm-Film gegeben hat!
Mit dem Katalog von 1932 wurde der noch auf die ICA zurückgehenden Kinamo die völlig neu konstruierte Movikon 16 zur Seite gestellt, die technische Merkmale wie einen gekuppelten Entfernungsmesser und eine verstellbare Sektorenblende zu bieten hatte [Bild: Kurt Ingham]. Für diese Kamera wurde das Sonnar 1,4/2,5 cm als Normalobjektiv noch einmal neu gerechnet. Der Rechnungsabschluß datierte auf den 10. Dezember 1931. Von diesem optimierten Objektiv wurden bis zum Sommer 1939 immerhin 7200 Stück hergestellt, was angesichts der Tatsache, daß das Sonnar allein den Zeiss-Ikon-Kameras vorbehalten war, eine ganz beachtliche Zahl darstellt. Vom Biotar 1,4/2,5 cm waren es zwischen 1928 und 1939 nur etwa 1250 Stück gewesen.
5.2 Das Sonnar 2/5 cm
Mit diesem Schmalfilm-Objektiv ist also der Übergang vom Ernostar-Typ zum dreigliedrigen Sonnar auf das Jahr 1930 eindeutig festgelegt. Doch auch ein weiteres Versuchsobjektiv V1930 Nr. 6 vom 11. Juni 1930 für ein Sonnar 1,4/5 cm hat noch nichts mit der Kleinbildphotographie zu tun. Die doppelt so lange Brennweite war ebenfalls für den 16-mm-Schmalfilm geschaffen worden, wie anhand des unter 20 Grad liegenden diagonalen Bildwinkels deutlich wird.
Für ein Normalobjektiv des Formates 24x36 mm mußte jedoch ein Wert von etwa 45 Grad erzielt werden. Wie schon im Abschnitt 2 anhand der originalen Patentschriften gezeigt wurde, stand dieser Vergrößerung des Bildwinkels entgegen, daß bei der dabei entstehende Büschelneigung das Bild Richtung der Ränder durch die asymmetrischen Zerstreuungsfiguren unzumutbar verdorben wurde. Die beiden folgenden Auszüge aus der Zeiss-Datenblattsammlung geben uns nun einen Eindruck davon, wie Bertele im Jahre 1931 aus dem Grundpatent von 1929 sein für das Kleinbildformat geeignetes Sonnar 2/5 cm herausentwickelt hat.
Die obige Rechnung Nr. 956 vom 3. August 1931 zeigt noch bildseitig die einzeln stehende Sammellinse aus seinem Patent 530.840. Betrachtet man die a-Kurven, so erkennt man nicht nur einen merklichen sphärischen Zonenfehler, sondern obendrein ein massives Ausbrechen der Werte für die Sinusbedingung (gestrichelte Kurve). Aus dieser einfachen, Ende des 19. Jahrhunderts durch Moritz von Rohr eingeführten Form der Darstellung läßt sich in begrenztem Umfange herauslesen, daß, wenn die Kurven für den Kugelgestaltsfehler und die Sinusbedingungen derart voneinander entfernt liegen, das Objektiv an komatischen Fehlerresten krankt ["Koinzidenz-Theorem", vgl. dazu auch: Staeble, Franz: Über den Zusammenhang von Koma und Sinusbedingung bei sphärisch nicht korrigierten Systemen; in: Zeitschrift für Instrumentenkunde, 1907, S. 241–249.].
Das oben zu sehende Datenblatt der Rechnung für ein Sonnar 2/5 cm vom 30. Oktober 1931 zeigt uns nun, welches Mittel Bertele zur Milderung dieser Komaerscheinungen in den dazwischenliegenden Wochen gefunden hatte: Mit der Einführung einer weiteren Kittfläche in der bildseitigen Sammellinse nämlich. Diese Kittfläche mußte sammelnd wirken und ihre Wölbung mußte der Blende zugekehrt sein, was durch Einsatz des neuartigen, niedrigdispergierenden Baritflints BaF10 in der Sammellinse des Kittgliedes gelang. Deutlich ist oben zu sehen, wie tatsächlich die Kurve für die Sinusbedingung (gestrichelt) der Kurve für den Kugelgestaltsfehler (ausgezogen) angenähert worden ist. Außerdem erreichte jetzt der Bildwinkel den nötigen Wert und die Verzeichnung ist noch einmal reduziert worden. Dieser Schritt manifestiert den großen Durchbruch des Sonnar-Typs als Normalobjektiv, wie er im Reichspatent 570.983 vom September 1931 verankert ist.
Die tatsächliche Serienfertigung des Sonnares 2/5 cm begann dann mit der Rechnung vom 8. April 1932, wie sie in der oben gezeigten Form unter der Kartennummer 953 in der Zeiss-Datenblattsammlung enthalten ist. Bildfeldwölbung und Astigmatismus wurden noch einmal reduziert. Doch lediglich etwa 1500 Stück wurden von dieser Version produziert. Denn bereits ein Jahr später zum 4. April 1933 wurde sie von einem Nachfolger abgelöst. Aber auch von dieser Version wurden nur etwa 1600 Stück hergestellt, weil die Rechnung schon zum Ende des Jahres, am 1. Dezember 1933, erneut überarbeitet wurde.
Dieses Sonnar 2/5 cm aus dem Jahre 1936 basiert auf der Rechnung von 1933. Es wurde nachträglich mit Vergütungsschichten belegt. Trotz der ohnehin sehr kompakten Bauweise wurde die Optik in eine versenkbare Fassung montiert.
Diese Rechnung vom 1. Dezember 1933 wurde dann "zum großen Renner". Bis zum Anfang des Krieges wurden von diesem Sonnar 2/5cm große Stückzahlen produziert und zwar in für damalige Verhältnisse außergewöhnlich großen Umfängen von mehreren tausend Stück je Produktionslos, was auf einen guten Absatz im Bunde mit der Contax schließen läßt. Auf diese Weise erreichten die Produktionsziffern zwischen Dezember 1933 und Dezember 1942 ziemlich exakt 75.000 Stück. Nach dem Kriege dürften es noch einmal etwa 25.000 gewesen sein, wobei man das nicht genau sagen kann, da die Quellenüberlieferung diesbezüglich lückenhaft ist. Wie dem auch sei: Mit diesen etwa 100.000 Stück ist das Sonnar 2/5 cm eines der ersten hochlichtstarken Universalobjektive, das in Massenfabrikation ausgestoßen wurde. Eine große Bestätigung für den Konstruktionsansatz eines Ludwig Bertele!
Wenn es am Sonnar 2/5 cm etwas zu bemängeln gab, dann waren das die ziemlich hohen Beträge der Verzeichnung. Vom 9. Januar 1938 liegt ein Reichspatent Nr. 700.699 vor, bei dem Bertele durch dreifaches Verkitten der bildseitigen Komponente diesen Fehler zu beseitigen suchte. Serienwirksamkeit errichte diese Verbesserung jedoch nicht.
Nach heutigen Maßstäben ist das Sonnar 2/50 mm bei allen größeren Öffnungen ausgesprochen weich. Selbst bei Blende 4 (unten) ist die Schärfe noch ziemlich "duftig". Doch Anfang der 30er Jahre war das angesichts der damaligen Filmempfindlichkeiten (um die 10...12 DIN) trotzdem ein großer Fortschritt, da auch bei schlechterem Lichte noch Momentbelichtungszeiten erreicht wurden. Damit waren Aufnahmen möglich, auf die bis dahin schlichtweg verzichtet werden mußte.
An diesem Sonnar 2/50 mm kann man übrigens gut ablesen, daß es bis ca. Frühjahr 1951 offenbar noch zur Stützung der Kiewer Contax-Produktion fabriziert wurde und danach die hergestellten Stückzahlen geradezu einbrechen – Restbestände wiederum hauptsächlich für Kinokameras. Anzumerken ist, daß das Jenaer Sonnar 2/50 weder kurz vor dem Kriege, noch danach neu berechnet wurde; es blieb bei der Rechnung vom Dezember 1933.
5.3 Das Sonnar 1,5/5 cm
Mit den guten sphärischen, chromatischen und sphärochromatischen Korrekturmöglichkeiten, die seinem Sonnar-Typ innelagen, hatte Ludwig Bertele das Potential für noch höher getriebene Öffnungsverhältnisse geschaffen. Die Sonnare 1,5/5 cm sorgten Anfang der 1930er Jahre für Aufsehen und trugen dazu bei, daß die eigentlich als überkonstruiert angesehene Contax (I) doch noch einen gewissen Markterfolg erreichen konnte. Bis heute beeindruckt die unglaublich kompakte Bauweise in einer überaus filigranen Fassung.
Höhere Lichtstärken bedeuteten aber auch, daß die Büscheldurchmesser für schräg einfallendes Licht noch größer wurden und damit auch der Asymmetriefehler weiter anwuchs. Zur Erinnerung: Sphärisch geschliffene Linsen haben in Richtung Linsenrand eine stärkere Krümmung der Oberfläche, weshalb deren Brechkraft nach außen hin größer wird und deshalb das hier hindurchtretende Licht einen Bildpunkt erzeugt, der näher an der Linse liegt gegenüber einem dünnen Lichtstrahl, der nur durch die Mitte der Linse geschickt wird. Das führt dazu, daß bei großen Linsendurchmessern ein scharfer Bildkern immer stärker durch einen diffusen Schimmer überlagert wird, der von diesen "sphärischen Zonen" erzeugt wird. Bei starken Büschelneigungen ist dieser diffuse Schimmer jedoch zusätzlich asymmetrisch ausgeformt, weil die Zerstreuungsfigur in der vom Hauptstrahl abgewandten Richtung kometenhaft zerstäubt wirkt. Mit Lichtstärken über 1:2,0 hinaus wurde die Koma ein eigenes, vom Kugelgestaltsfehler immer weiter abgelöstes Problem für den Objektivrechner und Ludwig Bertele hatte eine wahre Meisterschaft erlangt, diesem Mißstand Abhilfe zu leisten.
Um diesem Asymmetriefehler zu begegnen, hatte Bertele mit seinem Patent 673.861 vom 9. Juli 1932 eine weitere Kittfläche im bildseitigen Glied eingeführt, die ihre extrem konvexe Krümmung Richtung Bild kehrte. Wie oben zu sehen, erzielte er damit eine sehr schlanke Kurve für die sphärische Aberration, bei der Mittelpunktstrahlen wie Randstrahlen gleichermaßen auf der Bildebene zu liegen kamen. Die Kurve für die Abbe'sche Sinusbedingung folgt diesem Verlauf annähernd Deckungsgleich, was – wie bereits mehrfach erwähnt – auf eine gute Beherrschung der Queraberrationen hindeutet.
Interessant ist, daß offenbar auch die Entwicklung des Sonnares 1:1,5 seinen Anfang mit einem Normalobjektiv für den 16-mm-Film genommen hat. Genau läßt es sich aber nicht sagen, da oben kein Konstruktionsdatum angegeben ist und das Objektiv nie in die Fertigung gelangte. Das sollte nicht verwundern, denn bei einer derartig kurzen Brennweite eines Sonnares, das ja konstruktionsbedingt ohnehin schon eine sehr kurze Schnittweite aufweist, hätte ein Normalobjektiv mit 1,5 cm an keine Schmalfilmkamera gepaßt, da nicht genügend Raum für den Umlaufverschluß verblieben wäre.
Überliefert ist dagegen ein Zeiss-Datenblatt mit der niedrigeren Nummer 1064, das ein Sonnar 1,5/5 cm mit dem Rechnungsdatum 20. November 1934 zeigt. Man erkennt die schlanken Kurven für den Kugelgestaltsfehler über das Spektrum hinweg sowie die ihr sehr gut angenäherte Kurve für die Einhaltung der Sinusbedingung, aus der sich mittelbar auf eine gelungene Korrektur der Koma schließen läßt. Nur die Verzeichnung war mit fast 4 Prozent ziemlich stark ausgeprägt.
Ausgerechnet die dicke, mit starken Krümmungen versehene Linse Nummer sechs bestand aus dem teuren Schwerstkron SSK5. Schwerkron SK5 und Schwerflint SF3 waren schon viele Jahre im Glaskatalog der Firma Schott enthalten, doch das Baritflint BaF10, das Fluor-Kron FK5 und das Kron-Flint KF5 waren erst im Laufe der Zwischenkriegszeit entwickelt worden.
Beim Sonnar 1,5/5 cm lassen sich vom Mai, Juli und August 1932 mehrere Versuchsobjektive nachweisen. Der wirkliche Durchbruch kam aber erst, nachdem mit dem Patent Nr. 673.861 vom Juli 1932 in der hinteren Gruppe Schwerstkron-Glas eingesetzt wurde. Von einem ersten Serienobjektiv mit Rechnung vom 10. Oktober 1932 wurden zunächst nur etwa 155 Stück gefertigt. Sie wurde rasch von einer Version abgelöst, die auf den 8. Dezember 1932 datiert (reichlich 6000 Stück). Eine wirkliche Großserienfertigung kam dann mit der nächsten Überarbeitung vom 15. April 1935 (Seriennummern über 1.800.000) in Gang, von der innerhalb von drei Jahren immerhin etwa 26.000 Stück gefertigt wurden! Eine letzte Neurechnung vor dem Kriege liegt vom 15. August 1939 vor (Seriennummern über 2.600.000), bei der es sich unter Umständen nur um eine Kombinationsrechnung größeren Ausmaßes handelte, denn es fällt auf, daß die ersten Objektive dieser Version nur zwei Wochen später in die Endfertigung gingen, was eine größere Neurechnung weitgehend ausschließt. Es ist denkbar, daß das bisherige Baritflint BaF10 durch das neu entwickelte BaF11 ersetzt wurde, das mit seinem ny-Wert von 48,4 nur noch knapp unterhalb der Grenze zu den Krongläsern lag und gewissermaßen das vorwegnahm, was dann nach 1945 mit den Lathan-Flintgläsern fortgesetzt wurde. Von dieser Rechnung wurden während des Krieges immerhin noch über 10.000 Stück gefertigt.
Im Französischen Patent Nr. 837.616 vom 6. Mai 1938 ist eigentlich ein Sonnar 1:1,5 geschützt, dessen Leistung mit einer zusätzlichen bildseitigen Sammellinse verbessert wurde (siehe unten). Um seine Neuerung vom bisherigen Stand abzugrenzen, hat Bertele aber in diesem Patent auch das Serienobjektiv des Sonnares 1,5/5 cm beigefügt. Willy Merté hat diese druckschriftliche Veröffentlichung genutzt, um das damals in den 30er Jahren gefertigte Sonnar 1,5/5 cm in seinen Aufsatz "Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929" aufzunehmen. Man sollte diese Bildfehlerkurven mit den im Abschnitt 2 gezeigten aus der Patentschrift 673.861 vom Juli 1932 vergleichen.
Unten: das eigentlich in diesem Patent geschützte Sonnar 1:1,5 mit einer zusätzlichen bildseitigen Sammellinse. das Objektiv wurde nicht verwirklicht. Ein am 13. Juli 1937 angemeldetes deutsche Patent ist nie erteilt worden.
Die Herstellung des Sonnares 1,5/50 mm lief zwar in der DDR nominell noch bis Beginn der 60er Jahre weiter, allerdings wurden nur sehr kleine Serien gebaut, die Kinoaufnahmekameras sowie für einen Flugsimulator eingesetzt wurden. Es blieb bei der Rechnung von 1939.
Ludwig Bertele hat auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin kontinuierlich an seinen Sonnaren gearbeitet und sie immer weiter verbessert. Er nutzte dabei sowohl die Vorteile neuer Glasarten wie den Lanthan-Kronen, als auch die neuen Möglichkeiten, die nun die standardmäßig verwendete Linsenentspiegelung bot, indem er die Kittglieder zum Teil wieder auflöste. Der ganz große Erfolg stellte sich jedoch mit normalbrennweitigen Sonnaren nicht mehr ein, weil es in der Zeit um 1950 parallel einen massiven Schub im Bereich der Doppelgaußobjektive gegeben hat. Die neuen Glasarten machten es möglich, die bei diesem Gaußobjektiv bisher schwierig in Einklang miteinander zu bringende astigmatische Fehlerberichtigung mit der Komakorrektur zur verknüpfen – also das zu erreichen, was Ludwig Bertele für den Tripletaufbau schon zwei Jahrzehnte zuvor in einem bis dato nicht gekannten Maße geschafft hatte.
Zu jener Zeit, als die Sonnare entstanden, photographierte man Siemenssterne, Gitterstrukturen oder sogenannte Kreismiren, um die Wiedergabequalität photographischer Objektive zu prüfen. Anschließend wurden diese auf geringempfindlichen Schichten abgebildeten Figuren visuell dahingehend geprüft, welche Strukturen gerade noch aufgelöst wurden. Je nach Funktionsprinzip der o.g. Prüfmittel ließ sich dann eine Maßzahl für das maximale Auflösungsvermögen finden. Nach dem II. Weltkrieg setzte sich aber ein deutlich objektiveres Verfahren durch, bei dem das Vermögen eines Objektives, den Kontrast verschiedener Prüfgitter wiederzugeben, optoelektronisch gemessen wurde. Die typischen Kurven dieser "Modulationsübertragungsfunktion" zeigen also den Verlust an Kontrastwiedergabe durch das verwendete Objektiv gemessen über dessen Bildfeld hinweg auf. Unterschiedliche Prüffrequenzen (hier beispielsweise 10; 20 und 40 Perioden je Millimeter) lassen zudem Rückschlüsse darauf zu, wie gut ein Objektiv grobe und feine Strukturen wiedergeben kann, was dann in der Praxis mit deutlich faßbareren Begriffen wie Brillanz oder Schärfe in Verbindung gebracht werden kann. Allgemein gilt aber: Die Bewertung solcher Kontrastübertragungskurven ist ein schwieriges Metier und die in ihnen verborgene Aussagekraft ist vom Laien kaum herauszuinterpretieren. Hier im Falle der Sonnare 2/5 cm (oben) und 1,5/5 cm (unten) ist dies freilich etwas leichter, weil die Kurven bei voller Öffnung so haarsträubend tief verlaufen, wie man es bei neuzeitlichen Objektiven nicht zu Gesicht bekäme. Daraus erklärt sich sowohl die allgemeine Kraftlosigkeit der Abbildung wie auch die "matschige" Wiedergabe feiner Bildeinzelheiten, wenn diese urtümlichen Sonnare bei weiten Blendenöffnungen eingesetzt werden. Interessant ist aber, daß die Leistung im mittleren Bildfeld beim Abblenden rasch zunimmt und die Kurven schon bei Blende 4 einen Verlauf annehmen, wie man ihn auch von Zoomobjektiven der Mittelklasse kennt. Also durchaus brauchbar. Verblüffenderweise ist das Sonnar 1:1,5 abgeblendet stets geringfügig besser als das Sonnar 1:2,0 bei gleicher Blende. [nach: Barringer, Hennig, Scott: How good are the prewar Zeiss lenses; in: Zeiss Historica, Nr. 2/2003, S. 18...22.]
Als dieser Prospekt im Februar 1951 gedruckt wurde, befanden sich die Sonnare 1,5/50 und 2/50 mm noch für die Contax in Produktion. Kurze Zeit später war damit Schluß. Ein paar hundert Stück wurden noch für Kinoaufnahmen hergestellt, aber von der Contax-Meßsucherkamera hatte man sich im Laufe des Jahres 1951 verabschiedet.
5.4 Das Sonnar 2/8,5 cm
Mit der Contax war das so eine Sache. In Dresden hatte man sich viel Mühe gegeben, eine Kleinbildkamera herauszubringen, die nicht als reines Plagiat der Leica wirkte. Und trotz mancher Vorteile der Contax, die immerhin ein Spritzgusschassis hatte, während die Leica noch lange Zeit eine Blechkonstruktion war, tat man sich zunächst schwer damit, Wetzlar das Wasser zu reichen. Das änderte sich, als sich die Leistungsfähigkeit der Contax-Objektive herumsprach. Zu diesen hochklassigen Objektiven gehörte auch ein Sonnar 2/8,5 cm als lichtstarke Ergänzung zum Triotar 4/8,5 cm, das schon seit 1931 geliefert wurde. Mit diesem Portraitobjektiv, das als Reaktion auf das Hektor 1,9/7,3 cm von Leitz gesehen werden kann, gelang es Zeiss bzw. Zeiss Ikon, seine Führungsposition im Bau von Kleinbildobjektiven weiter auszubauen.
Die Rechnung Sonnars 2/8,5 cm wurde am 24. April 1933 abgeschlossen. Interessant ist, daß die bildseitige Komponente zwar wie beim Sonnar 2/5 cm als zweiteiliges Kittglied ausgelegt wurde, aber mit der stark Richtung Bild erhabenen Kittfläche wie beim Sonnar 1,5/5 cm.
Bei den Sonnaren aus den 30er Jahren fasziniert heute die schwere Messingfassung, die erst vernickelt und lackiert, später aber dick verchromt wurde.
Zum 16. Januar 1939 war das Sonnar 2/8,5 cm neu berechnet worden. Der Aufbau war nun siebenlinsig und folgte demjenigen des Sonnares 1,5/5 cm. Auf dieser Basis wurde es nach dem Kriege am 13. Mai 1947 noch einmal auf aktuelle Gläser umgestellt. Bei Carl Zeiss in Jena wurde es nach Gründung der DDR aber nur noch in geringen Stückzahlen gefertigt – überwiegend in einer sogenannten Kinoeinstellfassung, also für kinematographische Zwecke. Nach Verlagerung der Contax-Fertigung in die Sowjetunion und einer stabilen "Selbstversorgung" mit eigenen Objektiven aus Krasnogorsk, spielten Objektive für Meßsucherkameras in der DDR zahlenmäßig kaum noch eine Rolle. Leider wurde dieses Sonnar 2/85 mm nicht für die Spiegelreflexkamera übernommen. Auch beim Sonnar 4/135 geschah das erst spät im Jahre 1957 (mehr darüber hier).
Ganz anders in Westdeutschland: Für die aufwendige Contarex Spiegelreflexkamera wurde das Sonnar 2/85 mm weiterhin geliefert – es wäre also prinzipiell durchaus für die Reflexanwendung geeignet gewesen. Doch in der DDR ging man rasch von diesen sehr aufwendig zu fertigenden Objektiven ab. Die kleinen Krümmungshalbmesser und die aufwendigen Verkittungen standen einer preisgünstigen Massenfertigung entgegen. Es soll aber nicht verschwiegen werden, daß in der Sowjetunion diese Sonnare noch jahrzehntelang in erstaunlich großen Stückzahlen ausgestoßen wurden.
Das Sonnar 2/85 mm wurde in der Sowjetunion als Jupiter-9 weitergeführt. Ende der 80er Jahre gab es nachweislich gar eine Mehrschichtvergütung. Da sowohl die im Winter 1946/47 in Jena abgebauten Anlagen zur Glasherstellung, als auch die Bearbeitungsmaschinen für die Linsen und die Fassungen in Krasnogorsk eingesetzt wurden, waren sie weitgehend identisch mit den Jenaer Objektiven. Die mit 40,71mm bezifferte Schnittweite ist lang genug für jede Kleinbildspiegelreflexkamera [nach Jakowlew, 1970].
Oben: Eine Aufnahme mit dem Sonnar 2/85 mm an der Contarex. Im Gegensatz zu den Normalobjektiven ist bei dieser Brennweite die Verzeichnung quasi Null.
Unten: Dasselbe Objektiv bei völlig geöffneter Blende.
Die Sonnare 2/85 und 4/135 mm aus Jena mit Contax-Bajonett kurz vor ihrer Einstellung. Das 135er tauchte erst Jahre später wieder für die Spiegelreflexkamera im Katalog Zeiss Jenas auf.
5.5 Das Sonnar als Teleobjektiv
5.5.1 Das Sonnar 4/13,5 cm
Während Bertele daran arbeitete, den Bildwinkel des Sonnares anzuheben, ohne daß die Leistung zu den Rändern hin ins Bodenlose abrutschte, kam der Wunsch auf, den Sonnartyp noch in eine andere Richtung hin auszubauen. Bei Leitz bot man mit dem Elmar bzw. Hektor 4,5/13,5 cm ein langbrennweitiges Objektiv für die Leica an, das dem Triplettyp angehörte und daher eine grotesk lange Fassung benötigte. Mit seinem Potential für eine kurze Schnittweite war diese Aufgabe geradezu ideal mit einem Sonnar-Aufbau zu lösen. Bertele griff dabei auf die einfachste Ausführung des Sonnars nach seinem Grundpatent 530.843 von 1929 zurück. Die erste serienmäßig gefertigte Rechnung stammt vom 8. Oktober 1931.
Schaut man auf das obige Datenblatt, dann ist man verblüfft: Kein Schwer- oder gar Schwerstkron ist nötig, kein Baritflint oder ähnliche "exotische" Gläser. Die beiden vorderen Sammellinsen bestehen aus schlichtem Bor-Kron BK7 – einem der am billigsten in großen Massen herstellbaren Krongläser überhaupt. Dabei hat es aber entscheidende Vorzüge, wenn man keine besonders großen Brechungsindizes benötigt: Es spaltet das Licht nur wenig in seine Grundfarben auf, weshalb die chromatische Korrektur erleichtert wird. Seit den 1890er Jahren war es aufgrund seiner hohen Transparenz zum Standardmaterial für Prismen geworden und wegen der geringen Wärmeausdehnung wurde es auch oft als Unterlage für Spiegel genutzt. Nur das darauffolgende Flintglas F9 war erst relativ neu im Glaskatalog.
Das Resultat sind kaum feststellbare sphärische Zonen und ein praktisch völlig planes Bildfeld. Auch die Verzeichnung ist aufgrund des begrenzten Bildwinkels mit einem Grad noch sehr gering. Es verblüfft einfach, wie hier aus der einfachsten Ausführungsform des Sonnartyps ein Höchstmaß an Bildleistung bei einem sehr moderaten Materialeinsatz erzielt worden ist. Dabei fiel das Sonnar 4/13,5 kompakt und schlank aus – schwer war es nur wegen der damals üblichen verchromten Messingfassung. Doch es erübrigt sich, an dieser Stelle ausführlicher über dieses Objektiv zu schwärmen: Es hat schon seinen Grund, weshalb das 13,5er Sonnar zu den am längsten gebauten Objektiven der Geschichte zu zählen ist.
5.5.2 Das Olympia-Sonnar 2,8/18 cm
Es käme dem Versuch gleich, Objektive nach Olympia zu tragen, wenn an dieser Stelle allzu viele Worte über dieses wohl legendärste aller Sonnare fallen gelassen würden. Auch hier haben wir es mit einem Aufbau nach dem Sonnar-Grundpatent von 1929 zu tun – und zwar in der Ausführungsform 2 mit zwei chromatisch gegensätzlich wirkenden Kittflächen im mittleren Glied. Das Datenblatt unten zeigt uns, daß das ursprünglich als "Tele-Sonnar" bezeichnete Objektiv auf eine Rechnung vom 27. November 1935 zurückgeht.
Das niedrig dispergierende Schwerkron SK16 war eine der wenigen Neuentwicklungen dieser Zeit (Edwin Berger). Ein solcher Glaseinsatz war nötig, um mit einer derart langen Brennweite das kleine Format mit hoher Schärfe auszuzeichnen, was wiederum geringe sphärische Zonen voraussetzte und die Beherrschung der chromatischen Fehler. Musterobjektive wurden auf der Winterolympiade 1936 in Garmisch ausprobiert. Die Serienfertigung dieses gewaltigen Objektives begann dann mit einer Rechnung vom 16. Februar 1936 und Photographen wie Kino-Kameramänner nutzten es intensiv auf der nachfolgenden Sommerolympiade, was den bis heute gebräuchlichen Namen dieses Objektives erklärt.
5.5.3 Das Sonnar 4/30 cm
Die letzte große Neuentwicklung, die mit dem Namen Ludwig Bertele und dem Rechenbüro in Dresden gleichermaßen verbunden ist, das war das große "Fernsonnar" 4/30 cm. Das Objektiv geht auf eine Rechnung Nr. 1244 vom 21. April 1937 zurück. Die Frontlinse bestand aus dem neuen, chemisch sehr widerstandsfähigen Schwerkron SK18 (Edwin Berger, 1931). Interessant ist, daß Bertele den einfachen Sonnar-Aufbau aus dem Patent 530.843 mit der bildseitig konvexen Kittfläche nach Patent 673.861 kombinierte. Außergewöhnlich war zudem, daß der Ort der Blende weit hinter das optische System verlagert wurde.
Dieses ausgesprochen hochwertige Teleobjektiv, das in Bezug auf seine Fehlerkorrektur den Konkurrenten um mehrere Jahrzehnte voraus war, ging zunächst mit einer Rechnung 1244Z vom August 1938 in eine Kleinserienfertigung. Größere Stückzahlen wurden aber erst mit einer auf den April 1940 zurückgehenden Rechnung in den 1950er Jahren erzielt. Zusammen mit dem Sonnar 2,8/180 mm war das Sonnar 4/300 mm einer der großen Spitzenerzeugnisse des VEB Zeiss Jena, das noch unmittelbar auf die schöpferische Leistung Ludwig Berteles zurückgeführt werden kann.
Viele dieser Tele-Sonnare Berteles wurden in der DDR weiter gefertigt und auch weiterentwickelt, wie zum Beispiel im Falle des Sonnares 3,5/135 mm. Das weltbekannte Sonnar 2,8/180 mm wurde für das Mittelformat 6x6 cm ertüchtigt und damit ein weiteres, sehr bemerkenswertes Anwendungsgebiet geschaffen. Aber auch neue "echte Sonnare" wurden geschaffen, namentlich das Cardinar 2,8/85 mm für die Pentina. Diesen Begriff "echtes Sonnar" betone ich hier deshalb so, weil nach 1945 ein deutlicher Trend zu verzeichnen ist, die strenge Drei-Gruppen-Bauweise zu verlassen und die Kittgruppen an unterschiedlichen Stellen wieder aufzulösen. Beim Cardinar 4/100 mm von Erich Fincke aus dem Jahre 1958 zeigt beispielsweise die charakteristische mittlere Kittgruppe einen deutlichen Luftspalt. International gesehen wird diese Entwicklung anschließend so weit getrieben, daß man sich durch Weglassen der sonnartypischen "Fülllinsen" wieder deutlich dem ursprünglichen Ernostar-Typus annähert. So erkennt man in unzähligen längerbrennweitigen Objektiven des Kleinbildes und Mittelformates aus Japan bei genauer Betrachtung den Ernostar-Aufbau. Es ist also nicht immer aus der Gravur ablesbar, daß man in Wahrheit auf einem Weg wandelt, den uns vor mehr als 100 Jahren ein Ludwig Bertele gewiesen hat...
Ein eindrückliches Beispiel für die Neubelebung des klassischen Ernostar-Aufbaus liefert unter anderem das Nikkor-P 2,8/180 mm aus den 1970er Jahren. Gut zu erkennen ist die weit nach vorn verlegte hintere Hauptebene H', von der ab sich die Brennweite bemißt. Sie befindet sich noch 8,5 mm VOR dem vordersten Linsenscheitel! Damit erfüllt das Ernostar die Bedingungen, die an Teleobjektive gestellt werden. Die Baulänge der Optik ist mit 112 mm recht kurz, der Luftraum hinter der letzten Linse beträgt nur ⅓ der Nennbrennweite.
Auch die Firma Leitz hatte für ihr Elmarit-R 2,8/180 mm auf einen solchen Ernostar-Aufbau zurückgegriffen. Darunter ist zum Vergleich einmal maßstabsgetreu das Elmar-R 4/180 mm gezeigt, das als Teleobjektiv im engeren Sinne ausgelegt wurde, also dessen bildseitiges Glied zerstreuende Wirkung hat. Dabei wird die mit dieser Bauweise noch einmal deutlich kürzere Baulänge gut sichtbar.
5.6 Das Sonnar als Weitwinkelobjektiv
Zum Abschluß dieser Ausführungen zum Sonnar soll noch ein Entwicklungspfad erwähnt sein, den Bertele Mitte der 30er Jahre in Angriff genommen hatte: Eine noch stärkere Aufweitung des Bildwinkels, ohne zugleich auf die große Lichtstärke verzichten zu wollen. Angesichts dessen, was in diesem Aufsatz stets aufs Neue über die Schwierigkeiten gesagt wurde, wenn ein großer Bildwinkel zugleich mit großer Objektivöffnung verbunden werden soll, kann man in etwa ermessen, wenn statt 45 oder 50 Grad nun gleich 60 Grad erreicht werden sollten. Die Erkenntnis, daß diese Komakorrektur nur dann für alle Büschelneigungen zugleich durchführbar ist, wenn sich die dafür nötige Kittfläche im dritten Glied untergebracht wird, muß Bertele so viel Kraftanstrengung abverlangt haben, daß er sie in seinem unten gezeigten Reichspatent Nr. 652.062 vom 17. Juni 1934 gleich zweimal gleichlautend reingeschrieben hat.
Neben der schwierigen Komakorrektur hatte aber Bertele aber noch ein zweites Problem zu lösen: Ein weitgeöffnetes Weitwinkelobjektiv neigt in den Bildecken zur Vignettierung, weil sich die Pupille zu einem sogenannten Kreiszweieck verengt (Katzenauge), wenn der optische Aufbau sehr langgestreckt ist. Hier sei nochmal auf die Rolle seines zuvor angemeldeten Zusatzpatentes Nr. 581.742 für das nie gefertigte "Linsenraster-Sonnar" hingewiesen, das im Abschnitt 2.3 erwähnte wurde. Das markante Merkmal der großen, dicken Rücklinse fällt sofort auf, wenn man ein solches Biogon 2,8/3,5 cm einmal in den Händen hält.
Oben sieht man das Datenblatt für ein Vorserienobjektiv mit Rechnungsdatum vom 9. August 1934, das die Lichtstärke 1:2,5 aufwies, wie es in der Patentschrift vorgesehen war. Die zweite Gruppe ist noch als dreiteiliges Kittglied ausgelegt. Die sphärische Korrektur ist angesichts der kurzen Brennweite völlig ausreichend. Aber der Astigmatismus! Ab 25 Grad halber Bildwinkel laufen die beiden Bildschalen in getrennte Richtungen auf und davon. Das muß wohl zwangsläufig Randunschärfen nach sich gezogen haben. Und der Astigmatismus hat nun einmal die unschöne Eigenschaft, daß er auch durch abblenden nicht zum Verschwinden gebracht werden kann.
Man kann heute nur noch erahnen, wie sich Ludwig Bertele mit der Korrektur dieses Objektives abgeplagt haben muß. Ein Jahr später zum 18. November 1935 war das Sonnar 2,8/3,5 cm entstanden, das bereits den Linsenaufbau des späteren Serienobjektives zeigt (Achtung, im Internet kursieren viele falsche Linsenschnittbilder zu diesem Objektiv!). Gut ist zu erkennen, wie Bertele den Zweischalenfehler in den Griff bekommen hat. Das Bildfeld ist wunderbar flach und beiden Kurven liegen quasi deckungsgleich übereinander. Das eigentliche Rechnungsabschlußdatum dieses nun als Biogon 2,8/3,5 cm bezeichneten Objektives war dann der 16. März 1936. Gleich zum Ende desselben Monats gingen die ersten 46 Stück in die Endfertigung. Frisch mit der neuen Contax II und Contax III dürften auch die ersten Biogone in die Fachgeschäfte gelangt sein. Abermals hatte die Zeiss Ikon AG ein Objektiv im Angebot, das der Konkurrenz weit vorausgeeilt war.
Außergewöhnlich erscheint bei diesem Biogon 2,8/3,5 cm die Glaszusammensetzung mit den beiden hochbrechenden Flintgläsern in der zweiten Kittgruppe und den beiden gering dispergierenden Krongläsern in der dritten Kittgruppe. Die Komakorrektur erfolgt also an einem Glied, bei dem geringe Dispersionsunterschiede großen Brechzahlunterschieden gegenübergestellt sind.
Doch die Glasarten aus dem nur noch schwer entzifferbaren Datenblatt scheinen zu stimmen. Auch das oben gezeigte Versuchsobjektiv für ein Biogon 2,8/3,5 cm vom 19. 9. 1941 weißt eine fast identische Glaszusammensetzung auf. Nur der dicke bildseitige Meniskus ist hier aus zwei Linsen zusammengesetzt. Wohl ist die Verzeichnung deutlich abgemildert, aber die sphärischen Zonen haben wieder zugenommen und der Astigmatismus auch. Diese Objektiv ging nicht in Serie. Dafür nahm Bertele wenige Wochen später seinen Abschied von Dresden und ging zurück in seine Heimatstadt München, wo er bis zum Kriegsende für die Firma Steinheil arbeitete und unter anderem Sehrohre berechnete.
Marco Kröger M.A.
letzte Änderung: 14. Oktober 2024
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