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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Objektive aus Rathenow
Die Objektivbaustandorte im thüringischen Jena und im niederschlesischen Görlitz dürften jedem Photofreund hinlänglich bekannt sein. Kaum beachtet wird jedoch, daß es auch im Brandenburgischen eine vergleichbar geschichtsträchtige Objektivbauindustrie gegeben hat.
1. August und Eduard Duncker
Und dabei dürfte das brandenburgische Rathenow sogar der traditionsreichste Standort der optischen Industrie auf dem Territorium des heutigen Deutschlands sein. Neben dem in Leipzig geborenen und später in Wien tätigen Johann Christoph Voigtländer (1732 - 1797) gilt nämlich Johann Heinrich August Duncker (1767 - 1843) als großer Pionier des optischen Handwerks im späten Heiligen Römischen Reich. Freilich gab es dazumal in jeder größeren Stadt einen optischen Handwerksbetrieb, aber August Duncker tat sich mit seiner am 25. August des Jahres 1800 in Rathenow gegründeten Werkstatt aus der Masse der Optiker dadurch hervor, daß er mithilfe der von ihm und seinem Companion Samuel Christoph Wagener entwickelten Vielspindelschleifmaschine die Herstellung optischer Linsen in einer bislang nicht gekannten Weise mechanisieren konnte. Dadurch erhöhte Duncker die Produktivität in diesem Gewerbe derart, daß das Brillenglas nunmehr zum Massenartikel werden konnte. Ein James Hargreaves der Optik beinah. Dieser Schritt lag jedenfalls vollkommen im Zeitgeist des anbrechenden Industriezeitalters an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.
Ein originalgetreuer Nachbau der Duncker'schen Vielspindelschleifmaschine von 1801. Es konnten nun selbsttätig gleich elf Glasrohlinge gleichzeitig geschliffen bzw. poliert werden. Zum schleifen wurde gemahlener Sandstein verwendet, zum polieren zunächst Kieselgur oder Quarz, später das als Polierrot bekannte Eisen(II)oxyd.
Von dieser Vielschleifmaschine der Herren Duncker und Wagener sind diese originalen Konstruktionszeichnungen vom 13. November des Jahres 1800 erhalten geblieben! Neben dem Gesichtspunkt, daß nunmehr elf Rohlinge gleichzeitig von einer einzigen Person bearbeitet werden konnten, spielte für den Erfolg dieser Erfindung auch eine große Rolle, daß dieser Person dabei kein besonderes handwerkliches Geschick mehr abverlangt werden mußte. Im Falle von Duncker zielte das weniger auf die Ausbeutung möglichst billiger ungelernter Arbeitskräfte ab, wie später in den Spinnmühlen der Frühindustrialisierung, sondern eher darauf, daß August Duncker als örtlicher Pfarrer bestrebt war, den zahlreichen Rathenower Waisen und Invaliden ein Auskommen zu verschaffen [Vgl. Aus 17 Mark werden 1212, 125 Jahre deutsche optische Industrie; in: Industrie- und Handelszeitung, Berlin, Nr. 65/1925.].
Wer am Rathenower Bahnhof ankommt, der wird umgehend auf die herausragende Bedeutung Dunckers für die Stadt aufmerksam gemacht.
Weil aber offenbar lange schon in Vergessenheit geraten ist, welcher der tatsächliche Rufnahme Dunckers gewesen ist, werden heute stets alle drei Vornamen verwendet, was historisch falsch ist. Niemand hat Herrn Duncker andauernd mit "Johann Heinrich August" angesprochen. Aus Pressemeldungen der Emil Busch AG zum 100-jährigen Firmenjubiläum im Jahr 1900, also zu einer Zeit, in der noch Menschen lebten, die zumindest Dunckers Sohn und Enkel gekannt haben, geht aber eindeutig hervor, daß Duncker Seniors Rufname August gewesen ist. Da sich aber schon seit der Zwischenkriegszeit die dauernde Nennung aller drei Vornamen durchgesetzt hat, die bei Bedarf einfach zu J.H.A. abgekürzt werden, läßt sich diese falsche Praxis wohl kaum noch nachträglich korrigieren.
2. Die Weltfirma Emil Busch
Emil Busch (1820 - 1888), August Dunckers Enkel, hat diesen Ansatz, die Fertigung von Linsen mit hochproduktiven Maschinen zu beschleunigen, perfektioniert, als er im Jahre 1845 die Firma übernahm. Ziemlich genau über ein Vierteljahrhundert hinweg war die optische Werkstätte zwischenzeitlich von August Dunckers Sohn Eduard Duncker (1797 - 1878) geführt worden, weil sich der Firmengründer nach einer Erkrankung unvermittelt zurückziehen mußte. Zwar war auch Eduard Duncker bemüht gewesen, die Werkstätte zu modernisieren und die Produkte konkurrenzfähig zu halten, aber mit Eintritt des vorzüglich ausgebildeten Emil Busch, dem Sohn von Eduard Dunckers Schwester Janette, wurde das Unternehmen nun noch einmal auf ein ganz anderes Niveau gehoben. So hielt bereits kurze Zeit später die Dampfkraft in der Rathenower Optischen Industrieanstalt Einzug und die Mechanisierung erhielt einen gewaltigen Schub.
Aber Emil Busch konnte die Bedeutung seines Betriebes vor allem auch dadurch mehren, indem er dessen Tätigkeitsfelder auf weitere Bereiche der optischen Instrumente ausdehnte, so zum Beispiel auf Fernrohre, Mikroskope und später auch auf moderne Prismenfeldstecher. Besonders bemerkenswert ist aber, daß nur wenige Jahre nach Veröffentlichung des Daguerreotypie-Verfahrens in Rathenow bereits mit dem Bau von Photoobjektiven und Kameras begonnen wurde. Spätestens ab 1850 bildete der Objektivbau neben den Brillengläsern das wichtigste Standbein des Industriebetriebes. Zunächst wurden einfache Landschaftslinsen (Achromate) gefertigt sowie das Petzval'sche Doppelobjektiv nachgeahmt. Anfänglich wurde bei diesem Typ die Korrektur der chromatischen Abweichung vernachlässigt, da die damaligen Aufnahmematerialien ohnehin nur für blauviolettes Licht empfindlich waren. Es mußte dann allerdings nach dem Einstellen auf der Mattscheibe auf den sogenannten chemischen Fokus umgestellt – also die Bildweite geringfügig verkürzt – werden. In den späten 1850er Jahren gelang es Busch etwa zeitgleich mit Voigtländer den Petzval-Typ zu achromatisieren und damit den Photographen eine große Arbeitserleichterung zu verschaffen. Diese Objektive waren zudem auf die Einführung der farbsensibilisierten Trockenplatten etwa zwei Jahrzehnte später vorbereitet, woraus sich erklärt, daß sie derart lange in Verwendung blieben.
August Duncker stellte seine Schleifmaschinen zunächst auf dem Dachboden seines Pfarrhauses am Kirchplatz in Rathenow auf. Nach Übernahme der Werkstatt durch seinen Sohn Eduard zog diese mehrfach im Ort um, bis sie sich endlich im Jahre 1834 in diesem damals am Stadtrand gelegenen Domizil an der Ecke Berliner Straße/Brandenburger Straße niederließ. Zu jenem Zeitpunkt hatte die Manufaktur kaum 30 Beschäftigte. Zur Rathenower Optischen Industrie-Anstalt (ROIA) gewandelt, und durch dauernde Grundstückszukäufe erweitert, dehnte sich das Unternehmen im Laufe der Jahre jedoch zu einem riesigen Industriekomplex aus (unten). Dadurch ergab sich später eine ungewöhnlich zentrale Lage innerhalb der Rathenower Innenstadt, die der Firma Busch im Frühjahr 1945 noch zum Verhängnis werden sollte.
Diese beiden Aufnahmen des Busch'schen Stammhauses aus fast identischer Perspektive, aber zu völlig unterschiedlichen Epochen, zeigt, daß der Bau in späterer Zeit aufgestockt worden ist – und zwar kurz vor dem Ersten Weltkrieg. [Bild oben vor 1862, Bild unten: 1920er oder 30er Jahre; Archiv Marburg, Aufnahme-Nr. 827.440.]. Weniger aufgrund von Bombenabwürfen, sondern vielmehr deshalb, weil Hitlers Speichellecker Wilhelm Keitel Rathenow zur letzten Festung des Reiches erklärt hatte, um sich nämlich selbst einen Fluchtweg vor den Russen offenzuhalten, war die Innenstadt durch bis zuletzt erbittert geführte Kämpfe fast vollständig zerstört worden. So eben auch dieses Stammhaus und große Teile des sich entlang der Brandenburger Straße hinziehenden Busch'schen Fabrikkomplexes.
Wie rasch die Zeit voranschreitet und wie schnell einstmalige Selbstverständlichkeiten in Vergessenheit geraten, zeigt folgende Beobachtung: Bei einer etwa zweistündigen Umfrage in der Rathenower Innenstadt konnte keiner der Befragten diese Bilder des Busch'schen Stammhauses mehr zuordnen. Wie denn auch? Selbst heutige Rentner sind zu jung, um das Gebäude noch gekannt zu haben. Nur eine weit über 80 jährige Dame auf dem Rathenower Friedhof erinnerte sich, als Kind nach dem Kriege in dessen Ruinen gespielt zu haben. Daß sich aber das Grab dieses weltbekannten Industriellen nur wenige Schritte von uns entfernt befindet, das war auch ihr nicht bewußt. Die Verwirrung um den Standort der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Busch-Fabrik kommt offenbar auch daher, daß auf Höhe der damaligen Berliner Straße 5 heute die Nummer 3 steht. Selbst im Optischen Museum der Stadt Rathenow wußte man sich deshalb keinen Rat...
Oben: Das Grab Emil Buschs und seiner Frau Marie. Links daneben liegt sein Onkel Eduard Duncker.
Unten: Zu einer Zeit, als beispielsweise die optische Anstalt eines Hugo Meyers gerade erst gegründet worden und an die später so bedeutende Firma Schneider Kreuznach noch gar nicht zu denken war, beging die Emil Busch AG bereits ihr hundertstes Firmen-Jubiläum. Meldung im Photographischen Centralblatt Nr. 5/1900, S. 116.
Einen Einblick in die frühen phototechnischen Erzeugnisse der königlich privilegierten Industrie-Anstalt Emil Busch liefert die obige Preisliste vom Februar 1856. Neben den gefaßten Objektiven ("Köpfen") fertigte man auch komplette Kameras - darunter sogar Stereogeräte. Die Objektive waren noch einfache Achromate. Für Portraits wurden offenbar bereits zwei Achromate miteinander kombiniert (Doppelobjektive nach englischem Vorbild). Ihre Brennweite ist jeweils in preußischen Zoll ('') angegeben, das 26,15 mm lang war. Die Objektivöffnung wurde dagegen in Linien (''') gemessen, die 1/12 Zoll betrugen und damit rund 2,18 mm. Das Objektiv Nr. 15 hatte also beispielsweise bei einer Brennweite von 340 mm eine Öffnung von 65,4 mm, also mithin eine Lichtstärke von 1:5,2. Für die Aufnahme mußte selbstverständlich weit abgeblendet werden. Die standardisierte Daguerreotypie-Platte (1/1) war 162 x 216 mm groß, die 1/2 Platte demnach 108 x 162 mm, usw. "Per comptant" bedeutet Barzahlung, "Courant ohne Goldagio" bezieht sich auf den aktuellen Kurswert des preußischen Thalers und die "Embal(l)age" stellen die Verpackungskosten in Silbergroschen dar.
2.1 Das Pantoscop
Als besonders bemerkenswerte Einzelleistung der Firma Emil Busch im Sektor des Photoobjektivbaus muß zunächst das Pantoscop von 1865 hervorgehoben werden, ein "Mittelding zwischen Periskop und Kugelobjektiv" [Eder, Handbuch, Band 1, Teil 4, 1911, S. 102.]. Mit dieser Konstruktion gelang es erstmals, einen Bildwinkel von 100 Grad zu überschreiten. Es war neben dem besagten Harrisons'schen Kugelobjektiv in den 1860er Jahren die einzige Lichtbildlinse, die es gestattete, Gebäude in engen städtischen Milieus in ihrer Gänze aufzunehmen.
Da jedoch die sphärische Aberration und die Koma nicht korrigiert waren, konnten dem Pantoscop (später Pantoskop geschrieben) nur sehr kleine Öffnungen um 1:30 oder 1:40 mitgegeben werden, was in der Architekturphotographie freilich kaum störte, weil hier lange Belichtungszeiten in Kauf genommen werden konnten. Allerdings mußte aufgrund der hohen natürlichen Vignettierung dafür gesorgt werden, daß die Bildränder gegenüber der Mitte reichlich nachbelichtet wurden. Mit diesem völlig orthoskopisch (verzeichnungsfrei) abbildenden Ultra-Weitwinkel begann zudem das Zeitalter der Photogrammetrie (Bildmeßverfahren).
Lange Zeit war nicht bekannt, wie Emil Busch, der zwar sowohl eine kaufmännische als auch eine handwerkliche Ausbildung genossen hatte, aber selbstverständlich keine als theoretischer Optiker, zu dieser außergewöhnlich fortschrittlichen Konstruktion gelangt war. Erst als Karl Martin kurz nach seinem Eintritt in die Emil Busch AG (siehe Abschnitt 2.3) die Aufzeichnungen Buschs untersuchte, fand er einen Aufsatz zum Panthoscop, den aber Emil Busch seinerzeit nicht veröffentlichte, um keine Nachahmung durch konkurrierende Firmen zu riskieren. Karl Martin dürfte sich für das Panthoscop als ersten Weitwinkel-Anastigmaten ganz besonders interessiert haben, weil er vor seinem Eintritt in die Busch AG Assistent Emil von Höeghs bei Goerz gewesen war und dabei sicherlich die Errechnung des ähnlich aufgebauten Hypergons miterlebt hat. Karl Martin veröffentlichte seine Entdeckung im untenstehenden Aufsatz in der Photographischen Korrespondenz des Jahres 1903.
2.2 Schnellarbeiter System Busch
Wie viele zeitgenössische Objektivbauanstalten fertigte auch die Emil Busch AG eigene Versionen von Potraitobjektiven nach dem Vorbild des Petzval'schen Schnellarbeiters. Dieses erste auf rein analytischem Wege geschaffene Photoobjektiv zeichnete sich ja durch eine bemerkenswerte sphärische und chromatische Korrektur aus, weshalb für die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts ganz außergewöhnlich hohe Lichtstärken erreichbar waren. Eine Korrektur der Bildfeldwölbung oder gar des Astigmatismus war freilich noch nicht möglich, weshalb der Petzval-Typ nur einen sehr kleinen Bildwinkel auszeichnete. Deswegen wurde dieses Objektiv fast ausschließlich für Kopfaufnahmen im Photoatelier verwendet, wo man aufgrund der vorteilhaften Lichtstärke zu recht kurzen Momentzeiten gelangte – daher ja der Beiname "Schnellarbeiter".
Das Doppelobjektiv der Firma Busch zeichnete sich nach Eder als Besonderheit dadurch aus, daß die vordere und die hintere Linsengruppe durch Zahntrieb einander angenähert oder entfernt werden konnten, wodurch sich die Abbildungscharakteristik den Erfordernissen des Sujets anpassen ließ. Bei Annäherung der beiden Hälften war das Objektiv eher für Gruppenaufnahmen geeignet, bei größtmöglicher Entfernung voneinander dagegen für Einzelportraits. Im letzteren Falle mußte allerdings eine zusätzliche Lochblende eingesteckt werden, um ausreichende Schärfentiefe zu erzielen [Vgl. Eder: Die photographischen Objektive, 1911, S. 95.]. Der Zahntrieb, die Einsteckblende und der nötige Ausschnitt in der äußeren Objektivfassung für den Verschub sind in der obigen Abbildung gut zu erkennen. Unten das "Busch Portrait-Doppel-Objektiv" in der Zeiss Datenblattsammlung. Bis zu einem halben Bildwinkel von etwa 10 Grad ist der Astigmatismus noch unbedeutend und die Bildfeldwölbung beträgt nur wenig mehr als 1 Prozent der Brennweite.
Oben: Der Photograph Franz Stoedtner (1870 - 1946) erlaubt uns etwa zu Anfang des 20. Jahrhunderts einen Blick in die Linsenschleiferei der Emil Busch AG [Bild: Deutsche Fotothek, Datensatz 87115979.].
Unten: Vorher Zerlegen der Glasblöcke in Scheiben auf der Glasschneidemaschine [Deutsche Fotothek, Datensatz 87115857.].
Oben: Prüfung der Maßhaltigkeit der anpolierten Linsen mittels Probeglas [Deutsche Fotothek, Datensatz 87115875.].
Unten: Montage einer Fassung mit Triebeinstellung offensichtlich für ein Projektionsobjektiv. Busch hatte achromatische Doppelobjektive mit Außendurchmesser 52,5 mm (Modell V) und 62,5 mm (Modell W) im Angebot, die dann in eine solche Triebfassung gesteckt wurden. Ähnlich verfuhr man mit dem im Abschnitt 2.7 beschriebenen Neokino [Datensatz 87115969].
Zusammensetzen der Irisblenden für Photoaufnahmesysteme [Stoedtner, Deutsche Fotothek, Datensätze 87115967 und 87115968.].
Oben: Zwischenlagern der hergestellten Photoobjektive [Deutsche Fotothek, Datensatz 87115972].
Unten: Werdegang der einzelnen Linsen eines Objektivs vom Petzval-Typ vom Rohglas bis zum zentrierten Zustand [Deutsche Fotothek, Datensatz 87115961.].
2.3 Karl Martins Omnar-Anastigmat
Das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und die ersten 2...3 Jahre des 20. Jahrhunderts waren zweifellos die spannendste Zeit, die der Objektivbau je erlebt hat. Alles begann damit, daß – ausgelöst durch neue Glassorten – die Möglichkeit ergriffen wurde, Photoobjektive mit auskorrigierter Bildfeldwölbung und stark zurückgedrängtem Astigmatismus zu schaffen: Die sogenannten Anastigmate. Insbesondere zwischen den beiden Firmen Zeiss und Goerz – oder genauer gesagt, zwischen den Herren Paul Rudolph und Emil von Höegh – kam es in der Folgezeit zu einem regelrechten Prioritätsstreit, der in der Fachpresse bis hin zur gegenseitigen Diffamierung ausgetragen wurde. Unterdessen arbeiteten im Hintergrund aber nicht minder talentierte Optikkonstrukteure an ihren eigenen Zugängen zum Thema Anastigmat – so zum Beispiel ein gewisser Herr Kollmorgen in der jungen optischen Anstalt des Hugo Meyer oder eben in der Emil Busch AG ein Karl Martin (1878 - 1945). Beide hatten den Ansatz aufgegriffen, den Paul Rudolph im Jahre 1896 mit seinem Planar gewiesen hatte: den sogenannten Doppelgauß.
Dieser Objektivtyp zeichnete sich dadurch aus, daß zwei durch C.F. Gauß angegebene Achromate, die aus je einer meniskenförmigen Sammel- und einer Zerstreuungslinse aufgebaut waren, symmetrisch zu einer Blende angeordnet wurden. Friedrich Kollmorgen schuf auf dieser Basis seinen Aristostigmat, Karl Martin hingegen den Omnar-Anastigmat. Die Besonderheit lag bei letzterem allerdings darin, daß diese Leistung erreicht wurde, ohne auf die neuen Schott-Gläser zurückgreifen zu müssen. Es waren also weder die neuen Schwerkron-Gläser noch die außergewöhnlich niedrig brechenden Barit-Flinte notwendig. Die Zerstreuungslinse bestand beim Omnar vielmehr aus "gewöhnlichem Leichtflint" mit der Nummer 318 im Schott'schen Glaskatalog (das bis in die heutige Zeit gebräuchliche F5) und die Sammellinse aus "Borosilikat-Kron" mit der Nummer 802 (später BK3) [Vgl. österreichische Patentschrift Nr. 8364 vom 13. September 1901 sowie Glaskatalog Schott von 1906.]. Jene Glassorten wurden mittlerweile standardmäßig verwendet, und daher war auch ihr "Langzeitverhalten" hinreichend bekannt. Dieser Gesichtspunkt sollte im Hinblick auf den ausgesprochen glücklosen Miethe-Anastigmat nicht unterschätzt werden (Hintergrund siehe ebenfalls hier).
Den großen Erfolg Karl Martins, die astigmatische Bildfeldebnung und gleichzeitig die Achromatisierung allein auf Basis dieser sogenannten "normalen Gläser" erreicht und damit gewissermaßen die Petzval-Bedingungen außer Kraft gesetzt zu haben, gab er in dem oben gezeigten Aufsatz in Eders Jahrbuch 1902 der Öffentlichkeit bekannt [Sowie zuvor etwas kürzer in Photographische Korrespondenz, 6/1902, S. 359ff.]. Im Jahr darauf stellte er seinen auf die Öffnung 1:5,5 gebrachten Anastigmaten vor [Jahrbuch für Phot. und Repro., 1903, S. 255f.]. Interessant ist der Verweis auf die Polemik in einer anderen Fachzeitschrift, mit der Paul Rudolph den Neuheitsgedanken Martins in Zweifel zu stellen versuchte.
Es haben sich verständlicherweise seinerzeit heftige Debatten darüber entzündet, ob der Busch-Anastigmat wirklich mit den Spitzenkonstruktionen der anderen Firmen auf derselben Höhe gestanden hat. Die auch in der späteren Literatur noch zu lesende Darstellung, Martin habe bei seinem Omnar Bildfeldwölbung und Astigmatismus beseitigt, wird nicht von jedem geteilt. Fakt ist, daß er seinen Anastigmaten in den folgenden Jahren laufend weiter optimiert hat (siehe dazu auch den Abschnitt 2.6) und zumindest spätere Serien durchaus eine gute Leistung erreicht haben dürften. Weitere Angriffe kamen damals auch aus der Richtung, daß diese vierlinsigen Anastigmate effektiv beträchtlich lichtschwächer wären als die zweilinsigen Doppelanastigmate vom Dagor-Typ. Auch hier sah sich Martin mehrfach, genötigt, dieser Ansicht in der Fachpresse zu widersprechen, wie unten sein Artikel in der Zeitschrift für wissenschaftliche Photographie Heft 5/1905 zeigt.
So hatte Eugen Englisch in der Zeitschrift für wissenschaftliche Photographie, Heft 11/1903 bereits harsch geurteilt: "K. Martin [...] berechnet für einen achtlinsigen Rietzschelanastigmaten den Reflexionsverlust auf 19,4 %; für einen unverkitteten Buschanastigmaten auf 31,1 %. Das sind zwar nur 11,7 % mehr, aber doch das 1½ fache des vorigen Verlustes. Es wird nun behauptet, die Linsen absorbierten mehr, als [es] diesem vergrößertem Reflexionsverlust entspreche. Man wird darüber mit dem Konstrukteur, der sich so viel darauf zu gut tut [gemeint: zu Gute hält], ein anastigmatisches Objektiv ohne das 'stark absorbierende' Schwerkron gebaut zu haben, nicht rechten [gemeint: nicht streiten] dürfen, zumal seine Behauptung durch keinen Versuch gestützt wird."
Doch die Entwicklungsabteilung Martins blieb auf diesem Stand nicht stehen. Bald wurde ein Stigmar-Anastigmat geschaffen, der statt nach dem Vorbild des Aristostigmats eher dem Dagor-Typ folgte. Dabei existieren zwei voneinander abweichende Ausführungen. Zunächst kam der links wiedergegebene Aufbau heraus, welcher "in seiner äußeren Form dem Goerz-Dagor mit losgekittetem positiven Meniskus gleicht" [Vgl. Eder: Die photographischen Objektive, 1911, S. 111.]. Offenbar wurde jedoch nach Ablauf des Dagor-Patentes zum Jahresende 1907 (nach den damals gesetzlich verankerten 15 Jahren) auch dieser positive Meniskus mit den beiden anderen Linsen verkittet, sodaß der typische Zwei-Gruppen-Aufbau des Dagors erreicht wurde.
Vom Dagor unterschied sich dieses Stigmar allerdings auch dadurch, daß es als Satz-Objektiv ausgelegt war. Die Einzelhälften waren daher nur im Prinzip symmetrisch, denn sie hatten unterschiedliche Durchmesser und unterschiedliche Brennweiten. Mit drei verschiedenen Einzelhälften konnte man theoretisch Gesamtobjektive mit sechs verschiedenen Brennweiten kombinieren [Vgl. Naumann, 1937, S. 80]. Derartige Satz-Systeme waren schon zur Zeit der Aplanate weit verbreitet, und die Busch AG hatte sie, wie oben bereits ausgeführt worden war, bereits jahrzehntelang im Angebot gehabt. Im Zeitalter der Anastigmate kamen solche Objektivsätze nun aber erstaunlich rasch außer Mode.
Es hatte sich nämlich gezeigt, daß in sich korrigierte Gesamtsysteme in bezug auf die Bildleistung alles hinter sich ließen, was man bislang gekannt hatte. Das sprach sich schnell herum und war der Grund dafür, weshalb der Konkurrent Goerz in nur drei Jahren ganze 30.000 Stück seines Dagors verkaufen konnte [Vgl. Eder: Ausführliches Handbuch der Photographie, Band I, Teil 1: Geschichte der Photographie, 1932, S. 574f.]. Karl Martins Rechenbüro reagierte daher auf diese Nachfragelage, indem es im Jahre 1908 endlich selbst einen Dagor-Nachbau herausbrachte, der kein Satzanastigmat mehr war und der Leukar genannt wurde (siehe dazu auch Abschnitt 4).
2.4 Das Busch Bis-Telar
Angespornt durch seinen Erfolg mit dem Omnar-Anastigmaten versuchte sich Karl Martin als nächstes mit der Berechnung eines astigmatisch korrigierten Teleobjektivs. Seine diesbezüglichen Überlegungen hat er in einem kleinen Aufsatz folgendermaßen beschrieben:
"Ich stellte mir [...] die Aufgabe, ein Teleobjektiv speziell für Handkameras zu konstruieren, und zwar so, daß es sich bequem in die üblichen Verschlüsse montieren läßt. [...] Die Umkehrung des Satzes, daß man – um den natürlichen Eindruck zu erhalten – eine Aufnahme stets aus einer Entfernung betrachten soll, die gleich der Brennweite des Aufnahmeobjektives ist, ergab eine Brennweite von etwa 25 cm (die sogen. deutliche Sehweite) für ein Objektiv für 9x12 Platte, die ja für Handkameras hauptsächlich in Frage kommt. Der Auszug einer 9x12 Handkamera beträgt im Mittel 15 cm; damit waren die Bedingungen für die Berechnung eines entsprechenden Teleobjektives gegeben" [Martin, Karl: Busch-Bis-Telar F:9, ein neues Teleobjektiv; in: Eder (Hrsg.): Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, 1906, S. 88].
Die von ihm erkannten Grundbedingungen lagen also darin, trotz eines Abstandes des Objektivs von der Bildebene von etwa 15 cm eine fast 10 cm längere Brennweite zu erreichen, was nur durch eine Verkürzung der Schnittweite um denselben Betrag zu erreichen war. Das hatten andere Optikfirmen zuvor auch schon erreicht. Die besondere Eigentümlichkeit der Bis-Telare lag nach Josef M. Eder aber darin, daß es Karl Martin durch Einsatz einer sehr kurzbrennweitigen positiven Frontgruppe gelungen war, ein außergewöhnlich kompaktes Teleobjektiv zu schaffen, das kaum größer ausfiel als das normalbrennweitige Objektiv der Kamera [Vgl. Eder: Die photographischen Objektive, 1911, S. 178/179.]. Diese Vorgabe hatte sich Martin selbst auferlegt, da gerade die Objektivstandarte von Handkameras keine schweren Objektive verkrafte [Vgl. Martin, Bis-Telar, 1906. S. 88].
Die große Neuerung Karl Martins in Bezug auf den Teletyp lag seinerzeit darin, daß er die bislang übliche veränderliche Distanz der vorderen zur hinteren Objektivhälfte zum Zwecke einer stufenlosen Änderung der Brennweite zugunsten einer genau festgelegten Brennweite ad acta legte. Damit konnte er den Typus des Teleobjektives auf ein völlig neues Niveau heben, was erstmals zu seiner nennenswerten Verbreitung beim Anwender führte. Doch das was Karl Martin anstrebte, nämlich die auf den Fassungen aufgravierte ("D.R.P.a.") und in einer weiteren Veröffentlichung [Vgl. Jahrbuch f. Photographie, 1908, S. 46ff.] angekündigte Patentierung des Bis-Telars, kam nie zustande. Das lag wohl daran, weil Moritz von Rohr zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Nachlaß Josef Petzvals sichtete und herausfand, daß Petzval bereits ein Teleobjektiv konstruiert hatte, das nach dessen Tode als Dialyt bezeichnet wurde und bei dem Petzval eine astigmatische Bildfeldebnung erreicht hatte, ohne daß dies ihm selbst je bewußt geworden war [Vgl. u.a. Rohr, Moritz von: Die optischen Systeme aus J. Petzvals Nachlaß; in: Photographische Korrespondenz, 1906, S. 269ff.]. Näheres siehe hier.
Das Patent zum Bis-Telar wurde im Deutschen Reich zwar zum 13. April 1905 angemeldet, doch nie erteilt. Im August 1905 folgten aber eine englische und eine französische Anmeldung, die noch im selben Jahr erteilt wurden. Aus ihnen geht hervor, daß Martin neben einer photographischen Anwendung auch noch eine als Objektiv für Feldstecher im Sinne hatte, da hier die verkürzte Schnittweite nicht nur einen gedrungeneren Bau ermöglichte, sondern durch die schmaleren Austrittsbüschel auch die Verkleinerung des nachfolgenden Prismensystems. Die Firma Busch war der bedeutendste Fernglashersteller seiner Zeit, was ihr während der Aufrüstung und im Weltkrieg zu einer enorme Blüte verhalf.
Da also die Firma Busch im Deutschen Reiche keinen prinzipiellen Patentschutz erlangen konnte, zogen die Konkurrenzfirmen mit ähnlichen Konstruktionen rasch nach. Die durch Moritz von Rohr veröffentlichte Dialyt-Hinterlassenschaft Petzvals hatte trotz der Vereitelung der Patentierung gleichzeitig einen positiven Effekt, da sie Karl Martin erkennen ließ, daß seinem Bis-Telar noch ein deutliches Potential zur Steigerung der Lichtstärke innewohnte [Vgl. Martin, Karl: Teleobjektive mit unveränderlicher Brennweite; in: Zeitschrift für wissenschaftliche Photographie, 1908, S. 406ff.]. So gelang es ihm bereits nach kurzer Zeit, die Lichtstärke seines Bis-Telars von 1:9 auf 1:7 anzuheben, ohne daß etwas von der kompakten Bauform des Objektives verloren ging. Trotz der nun fast doppelt so großen Lichtstärke konnten gegenüber dem alten Typ beim Bis-Telar 1:7 sowohl die sphärischen Fehlerreste als auch der Astigmatismus deutlich verkleinert werden (siehe unten).
Das von f/9 auf f/7 gesteigerte Bis-Telar wurde dann im Jahr 1909 auf den Markt gebracht, wie diese Besprechung erkennen läßt. [Vgl. Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, 1909, S. 193/194].
Oben wurde gesagt, daß mit dem Bis-Telar 1:7 eine deutliche Steigerung sowohl der sphärischen, wie der der astigmatischen Korrektur erreicht wurde. Keine nennenswerte Verbesserung war jedoch für die Verzeichnung möglich, die über den vollen Bildwinkel von etwa 30 Grad hinweg bei beiden Typen geschlagene 10 Prozent betrug. Weitgehend verzeichnungsfreie echte Teleobjektive wurden erst in der Zwischenkriegszeit Realität. Das Bis-Telar 1:7 wurde mit seiner damals auf dem Niveau der Aplanate liegenden Lichtstärke gern für Portrait-Zwecke eingesetzt, wo die Verzeichnung eine untergeordnete Rolle spielte.
2.5 Die Schlüsselperson Karl Martin
Karl Martin ist heute ein vergessener Objektivkonstrukteur. Und das obwohl er auf Augenhöhe mit seinen Zeitgenossen Paul Rudolph, Hans Harting und Emil von Höegh als Wegbereiter des Anastigmaten angesehen werden muß. Weil aber Martin in der Busch AG nicht nur Optikkonstrukteur gewesen ist, sondern bald auch eine leitende Position einnahm, wurde die Erinnerung an seine Person nach 1945 regelrecht gemieden, sodaß auch seine wissenschaftlichen Leistungen weitgehend in Vergessenheit geraten sind.
Karl Martin wurde am 28. Juli 1878 in Berlin geboren und gelangte nach seiner Schulzeit in die Optische Anstalt C.P. Goerz, wo er zunächst zum Feinmechaniker ausgebildet wurde, dann aber offenbar so viel Talent zum Optikrechnen an den Tag legte, daß er 1895 von Emil von Höegh in dessen Rechenbüro geholt wurde [Vgl. Manns, Martin: Karl Martin und Paul Seeland, Die letzten Vorstände der Emil Busch AG, Rathenow, 2011, S. 2.]. Goerz ermöglichte Karl Martin 1897 ein zweijähriges Studium, anschließend kehrte er wieder zu Goerz zurück, um dann aber zum 1. Juli 1901 zur konkurrierenden Emil Busch AG zu wechseln. Diese Firma, die neben Voigtländer als Begründerin des modernen Photoobjektivbaus zu gelten hat, war damals in einen tiefen wettbewerblichen Rückstand geraten. Durch die enormen Fortschritte, die mit astigmatisch korrigierten Objektiven in den letzten zehn Jahren erreicht worden waren, rutschten die bisherigen Aplanate und sogar die Petzval-Typen langsam zum billigen Ramsch ab. Karl Martin kam nun die Aufgabe zu, der Busch AG zu einem Technologiesprung zu verhelfen und die Photosparte dieser Firma wieder konkurrenzfähig werden zu lassen.
Typische Busch-Objektive aus der Zeit um 1900: Porträt-Aplanat f/6 und Porträt-Doppel-Objektiv f/3 – diese Objektivbauarten hatten sich in den Photoateliers bewährt, aber von den modernen Anastigmaten waren sie weit entfernt.
Unten: Beim Amateur hatte die Firma Busch lange Zeit großen Erfolg mit ihren preisgünstigen Objektivsätzen gehabt. Der periskopische Satz "Vademecum" erlaubte mit seinen sieben Linsen insgesamt 29 verschiedene Kombinationen, war aber aufgrund völlig fehlender chromatischer Korrektur und den deshalb nötigen zwei zusätzlichen Korrekturlinsen schwierig zu handhaben. Der große Aplanatsatz Modell E sowie der Aplanatsatz Modell B "Unicum" mit seinem Zentralverschluß waren zwar demgegenüber unproblematisch, weil chemischer und optischer Fokus zusammengelegt wurden, mit zunehmender Verbreitung der Rollfilmkameras fiel der Käuferkreis jedoch rasch weg.
Die Firma Goerz wird diese Talentabwanderung zunächst nicht recht ernst genommen haben, vertraute man doch auf den umfassenden Patentschutz ihres Dagors und seiner Weiterentwicklungen. Um so tiefer dürfte dann aber die Erschütterung über den Geniestreich Karl Martins gewesen sein, einen Anastigmaten entwickelt zu haben, der nicht vom Schott'schen Monopol auf die neuen Schwerkron- und Leichtflint-Gläser abhängig war. Und das vor allem vor dem Hintergrund, daß die Werbeabteilung der Busch AG genau diesen Umstand und die daraus resultierenden günstigen Preise des Omnar-Anastigmaten auch gehörig zu vermarkten wußte. Auch das Pantoskop-Ultraweitwinkel hat er in dieser Zeit neu berechnet. Für Karl Martin begann nun, kaum daß er in die Busch AG eingetreten war, mit gerade einmal Mitte 20 eine Zeit des beispielslosen Aufstiegs. Ein anstehender Generationswechsel in der Betriebsleitung sorgte dafür, daß er zunächst im September 1903 Zeichnungsvollmacht erhielt ("Prokura") und damit einen Fuß in die Busch'sche Führungsetage setzen konnte. Nur anderthalb Jahre später, mit Beginn des Geschäftsjahres 1905/06, wurde Karl Martin dann neben Hermann Thiele vom Aufsichtsrat der Emil Busch AG zum Direktor der Gesellschaft ernannt [Vgl. Geschäftsbericht der Emil Busch AG des Geschäftsjahres 1904/05 vom Juli 1905.]. Und da in den folgenden Jahren bis zum Ersten Weltkrieg die konjunkturelle Schwächephase des Jahrhundertbeginns überwunden werden konnte, fällt die Betriebsführerschaft Thieles und Martins zunächst in eine Phase der wirtschaftlichen Blüte, die beiden mit Sicherheit auch großen persönlichen Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung gebracht hat. Vor diesem Hintergrund möchte ich nur nebenbei anmerken, daß angesichts dieses Beispiels die Frustration eines Paul Rudolphs verständlich wird, der sich als führender Objektivkonstrukteur der Welt bei Zeiss mit einem Jahresgehalt von 6000 Reichsmark zufriedengeben mußte, während der 20 Jahre jüngere Martin binnen kürzester Frist so hoch aufgestiegen war. Die Firma Carl Zeiss Jena hat sich mit dem knausrigen Umgang gegenüber ihrem Ausnahmetalent Rudolph letztlich kein Ruhmesblatt geleistet.
Aber ach! Dort wo Licht ist, da sind bekanntlich auch Schatten. Schon im Ersten Weltkrieg sollte sich zeigen, daß der Wohlstand der Firma Busch nicht aus heiterem Himmel fiel, sondern nicht zuletzt durch die Bedeutung als Rüstungslieferant gesichert wurde. Die Busch AG nutzte die Rüstungsgewinne, um angrenzende Grundstücke für Betriebserweiterung nach dem Kriege aufzukaufen [Vergleiche Geschäftsberichte der Jahre 16/17 und 17/18.]. Nachdem sich die Firma nach Umstellung auf Friedensproduktion und Überwindung der Inflationszeit – Busch hatte im Geschäftsjahr 1923/24 buchmäßig fast 211 Billarden (!) Mark Überschuß erwirtschaftet – konsolidiert hatte, erfolgte Mitte der 1920er Jahre wieder ein Umbau der Betriebsleitung. Paul Seeland kam 1925 als Direktor hinzu und löste den erkrankten und 1927 verstorbenen Hermann Thiele ab. Nach den desaströsen Geschäftsjahren 1930 bis 32 kann man im Geschäftsbericht für 1933 vom 26. Mai 1934 lesen:
"Das Berichtsjahr stand im Zeichen des Durchbruchs der von Adolf Hitler angebahnten geistigen Entwicklung, die den Klassenkampfgedanken und den Gruppen-Egoismus beseitigte und das Gemeinwohl und den Wert des Persönlichkeits- und Leistungsgedankens wieder voranstellte".
In der Folgezeit wird die Emil Busch AG von Seeland und Martin zum nationalsozialistischen Musterbetrieb umgebaut und aus dem Optikrechner und Technischen Direktor Karl Martin wird der "NS-Betriebsführer" Karl Martin. Inwieweit Karl Martin tatsächlich überzeugter Nationalsozialist gewesen ist, kann hier nicht beurteilt werden. Aber tief verstrickt in die NS-Rüstungsfertigung und mitverantwortlich für die Ausbeutung und Vernichtung von Zwangsarbeitern in den werkseigenen Lagern der Busch AG, begeht Karl Martin kurz vor der Eroberung Rathenows durch die Rote Armee am 27. April 1945 Selbstmord.
Trotz seiner enormen Einspannung als Konstrukteur und gleichzeitig als Prokurist bzw. Technischer Direktor der Busch AG schaffte es Karl Martin, sich außergewöhnlich oft mit Fachartikeln zu allen möglichen Themengebieten der Photographie zu Wort zu melden. Da uns hier natürlich hauptsächlich der Objektivbau interessiert, seien zwei Beiträge zur Zonenfehlerkorrektion aus den Jahren 1904 und 1905 wiedergegeben, die in der Zeitschrift für wissenschaftliche Photographie erschienen waren. Sie geben auch einen Einblick, wie Martin seinerzeit an der weiteren Optimierung seines Omnar-Anastigmaten gearbeitet hat.
2.6 Busch-Perscheid-Objektiv
Doch keine Actio ohne Reactio. Keine Bewegung ohne Gegenbewegung. In den Naturwissenschaften nicht, und in den Künsten schon gar nicht. Hatten die Objektivhersteller sich in den letzten zwei Jahrzehnten gegenseitig zu übertrumpfen versucht, indem sie Objektive mit immer höher getriebener Schärfeleistung herausbrachten, so regte sich in Kreisen einiger Berufsphotographen zunehmend Ablehnung gegen diesen Wettlauf um größtmögliche Schärfe.
Überhaupt diese Berufsphotographen. Es ist hier und an anderer Stelle oft davon die Rede gewesen, welchen enormen Aufschwung die Verbreitung der Amateurphotographie seit etwa den 1890er Jahren für die gesamte Photoindustrie mit sich gebracht hat. Für die Berufsphotographen war diese Zeit jedoch alles andere als erbaulich. Sie wurden getrieben ausgerechnet vom Durchschnittsbürger, der sich jetzt einfach eine Rollfilmkamera kaufte und drauf los knipste – und dabei manchmal Photographien zustande brachte, in denen wiederum Andere einen künstlerischen Wert erkannten und sie deshalb in Ausstellungen präsentierten. Die Berufsphotographen waren hingegen in den letzten 25 Jahren zu bloßen Bildnis-Lieferanten geworden, die bis in die Geschmacklosigkeit abgeglittene Massenware abzuliefern hatten, weil sich nunmehr jeder Proletarier ein Bild von seinem Antlitz gönnen wollte. So drastisch jedenfalls äußerte sich Hermann Scheidemantel in Bezug auf den Berufsphotografen Nicola Perscheid in seinem Aufsatz "Berufs-Fotografie und Kunst" [Deutsche Kunst und Dekoration, 1903/04, S. 189ff.]. Denn dieser Perscheid sei nun einer der ersten gewesen, der seit mehr als zehn Jahren danach strebte, wieder das Künstlerische in die Berufsphotographie zurückzubringen; weg von steifen Posen, weg von falscher Milieu-Überladung hin zur Person an sich und der Heraushebung ihrer charakteristischen Erscheinung.
So zumindest lautete die Einschätzung der Arbeiten Perscheids, nachdem dieser Deutschland im Jahre 1903 auf der "Ersten internationalen Ausstellung für künstlerische Bildnisphotographie" vertreten hatte. Nicola Perscheid stieg daraufhin zu einem der bekanntesten Portraitphotographen Deutschlands auf. Es ließen sich auch viele prominente Persönlichkeiten von ihm portraitieren, was den Bekanntheitsgrad des Künstlers weiter steigerte. In der Folgezeit wurde er als ein "Reformator der Bildnisphotographie" angesehen, dessen Ansprüche als Künstler sich auch in phototechnischen Neuerungen niederschlugen:
"Perscheid ging von der Beobachtung aus, daß die übliche Linse mit der übertriebenen Schärfe der Zeichnung in der Einstellungsebene und der ebenso übertriebenen Verschwommenheit der vor- und rückwärts liegenden Teile eine der Hauptschwierigkeiten für den Photographen darstellte. Er erkannte, daß eine von diesen Fehlern befreite Linse dem Photographen gestatten werde, sein ganzes Augenmerk ungeteilt dem Studium der Persönlichkeit des zu Photo- graphierenden, der Lichtführung, der Bildwirkung zu widmen. So entstanden Werke von künstlerischer Qualität, die dennoch sich von subjektiver Willkür völlig freihalten." [Grolman, Wilhelm von: Nicola Perscheid zum 50 jährigen Berufs-Jubiläum, Deutsche Kunst und Dekoration, 11/1929, S. 101.].
Die ganzen Anstrengungen der letzten Jahre, die gesamte Strahlenvereinigung möglichst nahe an einer senkrecht zur optischen Achse stehenden Ebene zu konzentrieren, wurde also nun auf einmal als "Fehler" eines Objektives bezeichnet. Das muß den damaligen Konstrukteuren zunächst als blanker Hohn vorgekommen sein. Doch für die Photokünstler war eben genau dieser harsche Übergang von viel zu großer Strichschärfe in der Einstellebene zum steilen Abgleiten in die völlige Unschärfe gleich kurz vor und kurz hinter dieser Ebene ein großes Ärgernis. Ihre Versuche jedoch, diesem Umstand durch Einlegen feiner Gitter in das Objektiv oder durch Erschütterung der Kamera während der Aufnahme etc. zu begegnen, waren gescheitert [Vgl. Harting, Hans: Zur Theorie des Nicola Perscheid-Objektivs, Photographische Korrespondenz, 1/1926, S. 23ff.].
In diesem Trend der Gegenbewegung hatte man in der Emil Busch AG offenbar eine Marktlücke erkannt. Es kann nicht mehr genau nachvollzogen werden, von welcher Seite die Initiative zum Bau eines solchen Objektives ausging. Es scheint aber plausibel, daß der aufgrund seines aufwendigen Lebensstiles mit ständiger Geldknappheit kämpfende Perscheid mit der Idee an die Busch AG herantrat. Er wurde später am Umsatz beteiligt und die Lizenzgebühren wurden auch an seine Witwe weiter gezahlt, nachdem Perscheid 1930 verstorben war [Vgl. Manns, Foto- und Fimtechnik aus Rathenow, 2011, S. 14f.]. Nicola Perscheid und seine Mitarbeiter waren jedoch nur insofern an der Entwicklung dieses Objektives beteiligt, als sie die gewünschte Wirkung des Weichzeichners aus künstlerischer Sicht formulierten [Vgl. Harting, Perscheid-Objektiv, 1926, S. 24.]. Dem Objektivrechenbüro der Emil Busch AG oblag nun die Aufgabe, das Wesen des gewünschten Ausmaßes an Unschärfe in eine mathematisch exakte Definition zu überführen und daraus eine geeignete Objektivbauform abzuleiten.
Und da die gefundene Objektivbauform, die im Prinzip aus zwei gegeneinandergestellten Achromaten nach dem Vorbild des Steinheil'schen Aplanaten bestand, keine Neuerung an sich mehr darstellen konnte, bezieht sich das auf jedem Perscheid-Objektiv aufgravierte Reichspatent Nr. 372.059 vom 20. August 1920 allein auf das Wirkprinzip dieses Weichzeichners. Und das lag in der nüchternen Erkenntnis, daß das Zerstreuungsscheibchen der sphärischen Abweichung zwischen 0,25 und 0,5 Prozent der Brennweite liegen sollte. Das genügte aber noch nicht, denn einen derartigen Kugelgestaltsfehler zeigen viele Objektive, ohne für den Verwendungszweck als künstlerischer Weichzeichner geeignet zu sein. Zusätzlich wurde daher ein Verhältnis der sphärochromatischen Schnittweitendifferenzen zwischen dem sogenannten chemischen und dem optischen Fokus im Bereich zwischen zwei und vier festgelegt, denn "dann erfolgt der Abfall von der Ebene größter Schärfe nach vorn und hinten so langsam, daß eine scheinbare Vergrößerung der Tiefenzeichnung erreicht wird, wie sie Perscheid für notwendig und hinreichend hielt" [Harting, Perscheid-Objektiv, 1926, S. 25.].
Die Aufgabe des Busch'schen Objektivrechenbüros lag nun darin, diesen speziellen Aplanaten in den Brennweiten zwischen 30 und 48 cm für die Formate 9x12 bis 18x24 cm auf die respektable Lichtstärke von 1:4,5 zu bringen. Für die längste Brennweite von 60 cm betrug sie immerhin noch 1:5,5. Diese langen Brennweiten erforderten Linsen mit sehr großen Durchmessern, womit die recht voluminösen Objektive nur an großen Atelierkameras sinnvoll einzusetzen waren. Allein der simple Aufbau als Aplanat sorgte dafür, daß sowohl das Gewicht der Perscheid-Objektive als auch ihr Preis im tragbaren Rahmen blieben.
Für Außenaufnahmen mit Handkameras wurde zudem ein Typ mit den Daten 4,9/21 cm geschaffen, der noch im größten Compurverschluß unterzubringen war [Vgl. ebenda.]. Außerdem gab es einen Typ 6/16,5 cm [Bild: 岡田祐二], der möglichweise für das 6x9-Format gedacht war. Für diese kurzbrennweitigen Varianten ist man offenbar vom Aplanat- zum Triplet-Typ gewechselt. Der kommerzielle Erfolg dieser ausgewiesenen Spezialobjektive scheint sich aber trotzdem in Maßen gehalten zu haben. Spätestens mit Erwerb der Aktienmehrheit über die Busch AG durch die Carl Zeiss Stiftung im Jahre 1929 wurde die Fertigung dieses Weichzeichners wieder eingestellt.
2.7 Busch Neokino
Neben dem Geschäftsfeld der photographischen Aufnahmeobjektive hatte die Emil Busch AG auch eine große Bedeutung auf dem Gebiet der Wiedergabe-Optiken, und hier vor allem bei Systemen für die Bild-Projektion. Letztere erlebten eine große Konjunktur, als in der Zeit des Ersten Weltkrieges die Kinematographie weite Verbreitung fand – und zwar zunächst hauptsächlich als wichtiges Propagandamittel (Stichwort: "UFA"). Die Abschottung von Frankreich als dem Mutterland der Kinematographie sorgte zudem dafür, daß im Deutschen Reich die Herstellung von Filmmaterial sowie der Aufnahme- und Wiedergabegeräte einen großen Aufschwung erlebte. Nach anfänglichen teils großen Qualitätsproblemen entwickelten sich deutsche Erzeugnisse in diesem Bereich rasch zu den international führenden. Maßgeblich verknüpft mit dem Bau dieser Kino-Projektionssysteme bei Busch ist August Klughardt (1887 - 1970), der in der Zeit des ersten Weltkrieges in Rathenow tätig war und anschließend nach Dresden zu Ernemann ging (wohin er den blutjungen Ludwig Bertele "mitbrachte").
Mit immer größer werdenden Lichtspielhäusern und entsprechend großflächigen Leinwänden wuchsen die Ansprüche an die Bildhelligkeit enorm. Statt linsenbasierten Kondensoren wurden in den Lampenhäusern der Projektoren nun sphärisch bzw. elliptisch geformte Spiegelsysteme ("Busch Neo-Spiegel") eingesetzt, um möglichst große Lichtmengen durch das kleine Bildfenster zu zwingen. Auch die Projektionsobjektive mußten mit diesen erhöhten Anforderungen schritthalten. Neben Ernemann in Dresden ("Kinostigmat") und Meyer in Görlitz ("Kinon-Superior") nahm das Busch Neokino eine führende Position ein [Bild: 林小龙, Indonesien]. Diese Objektive waren fast ausnahmslos als Petzval-Typ aufgebaut. Der Grund lag in den sehr guten sphärischen und chromatischen Korrekturmöglichkeiten dieser Objektivkonstruktion. Mit nur vier Linsen war damit eine Lichtstärke bis 1:1,5 möglich. Die fehlende anastigmatische Bildfeldebnung spielte aufgrund der sehr engen Bildwinkel dagegen keine Rolle. Und die lediglich sechs Glas-Luft-Grenzflächen brachten vergleichsweise geringe Spiegelverluste mit sich.
Bei Kino-Projektionsobjektiven, die aufgrund der unterschiedlichen Projektionsentfernungen in sehr vielen Brennweitenabstufungen verfügbar sein mußten, wurde damals üblicherweise nicht die Lichtstärke, sondern der Nenndurchmesser angegeben. Dieser korrespondierte wiederum mit dem Durchmesser der Objektivaufnahme im Projektorkopf. Üblich waren in der Zwischenkriegszeit Durchmesser von 42,5; 52,5 und 62,5 mm. Bei noch größeren Durchmessern (ab etwa 80 mm) waren die Objektive meist mit einer sogenannten "abgesetzten Fassung" versehen, bei der die filmseitigen Linsen einen kleineren Durchmesser hatten als die schirmseitigen. Die Dominanz der Petzvalkonstuktion für die Kinoprojektion endete ziemlich abrupt, als Mitte der 50er Jahre die Breitwandverfahren Einzug hielten, die den Projektionsobjektiven deutlich größere Bildwinkelleistungen abverlangten und daher den Einsatz von Anastigmaten notwendig machten (siehe weiter unten: "Visionar")
2.8 Glaukar und Glyptar
Kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert ereignete sich eine weitere Revolution auf dem Gebiet der Photo-Aufnahmeobjektive, die sogar die gerade erst aufgekommenen Doppelanastigmate rasch wieder veralten ließ. Der Grund lag darin, daß sich jetzt kleinere Rollfilm- und Platten-Formate durchsetzten, die nach kurzbrennweitigen Objektiven verlangten. Auf die Spitze getrieben wurde diese Entwicklung kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit dem raschen Aufstieg der Kinematographie. Nicht nur war das Aufnahmeformat mit 18x24 mm ganz besonders klein, sondern es waren sehr hohe Lichtstärken gefragt, weil die Kinoaufnahmekamera mit ihrer schnellen Bildwechselzahl nur Belichtungszeiten von etwa 1/40 Sekunde zuließ. Was heute lang anmutet war angesichts der geringen Filmempfindlichkeiten damals ausgesprochen kurz. Also wurden möglichst lichtstarke Objektive verlangt. Die Busch AG kam dieser Nachfrage mit dem Dreilinser Glaukar nach.
Eigentlich war dieses Glaukar als Projektionsobjektiv geschaffen worden, um eine Alternative zu den bisher dominierenden Petzval-Typen zu schaffen. Das Verlangen nach großen Lichtstärken sorgte jedoch dafür, daß Busch dieses in der Projektion bereits bewährte Glaukar auch als Aufnahme-Objektiv herausbrachte [Vgl. Deutscher Kamera-Almanach, Band 18, S. 214f.]. Die große Lichtstärke von 1:3,1 machte es neben der Kinokamera auch für die Spiegelreflexkamera interessant, weil man hier ein helles Mattscheibenbild sehr schätzte. Später wurden Glaukare zudem zur Standard-Bestückung für die kompakten 16-mm-Schmalfilmkameras der Firma Siemens. Beim ersten Modell A war es noch ein Glaukar 3,5/20 mm, beim Modell B wurde die Lichtstärke auf 1:2,8 angehoben. Die günstigen Bedingungen des kleinen 16-mm-Filmbildchens mit seinem begrenzten Auflösungsvermögen erlaubte dies. Für universelle Aufnahmezwecke entschied sich Busch später, das Glaukar auch in den Lichtstärken 1:4,5 und 1:6,3 herauszubringen, womit es sehr preiswert und damit amateurgerecht geriet und zudem auch einen größeren Bildwinkel bieten konnten [Vgl. ebenda.]. Die Geschichte des Glaukars ähnelt insgesamt frappierend derjenigen des Zeitgenossens Trioplan von Meyer in Görlitz.
Ein weiterer Schritt zu einem hochwertigen Universalobjektiv konnte nach dem Ersten Weltkrieg erfolgen mit der Übernahme des asymmetrischen Tessartyps. Die Grundpatente zu diesem Triplet mit verkitteter Hinterlinse waren ausgelaufen und so bauten viele Objektivhersteller diesen sehr gut auskorrigierbaren Anastigmaten nach. Bei Busch wurde dieser Objektivtyp als Glyptar bezeichnet.
Obgleich der Zeisskonzern ab 1929 die Aktienmehrheit über die Emil Busch AG innehatte, behielt die Firma (anders als in den Fällen Goerz und Ernemann) ihr Photo-Rechenbüro, wobei in der Folgezeit allerdings eine auffällige Konzentration auf Projektionsobjektive für Schmal- und Normalfilm sowie Aufnahmeobjektive für den Schmalfilm 8 und 16 mm zu verzeichnen ist. Neben dem Vario-Glaukar (siehe Abschnitt 2.9) sticht noch eine Erfindung für den damals recht neuen 8-mm-Schmalfilm heraus. Verankert ist diese im Reichs-Gebrauchsmuster 1.405.484 vom 23. Juni 1936. Es ging darum, für dieses Amateur-Format ein deutlich lichtstärkeres Normalobjektiv als das bisherige Glaukar 2,5/1,3 cm zu schaffen und gleichzeitig die Brennweite zu verkürzen. Denn bei einer Bildgröße von 3,4 x 4,8 mm und also einer Diagonale von 6 mm sind 13 mm Brennweite äußerst lang. Aufgrund der Mitteilung in der Zeiss-Datenblattsammlung wissen wir, daß dieses Objektiv die Daten 1,9/9.56 mm gehabt hätte – also mit einer Brennweite deutlich unter 10 mm eine für den 8-mm-Schmalfilm sehr günstigen Wert.
Dabei ergibt sich aber folgendes Problem: Bei Filmkameras muß zwischen Objektiv und Filmlaufbahn stets eine Sektorenblende untergebracht werden, die den Lichtpfad verschließt während der Film bewegt wird. Diese Einrichtung verlangt nach ausreichend großem Einbauraum hinter dem Objektiv. Bei nach dem Triplet-Typ aufgebauten Objektiven liegt die hintere Hauptebene nahe an der hinteren Sammellinse, sodaß die Schnittweite fast so groß ist wie die Brennweite. Doch eine weitere Erhöhung der Lichtstärke erlaubt der einfache Tripletaufbau nicht. Biotar-Typen haben dagegen wegen den weit vorn liegenden Hauptebene eine sehr kurze Schnittweite, was keine kurzen Brennweiten an der Schmalfilmkamera zuläßt. Daher wurde mit dem obigen Gebrauchsmuster bei Busch das Triplet mit einer zusätzlichen Linse versehen, um die Lichtstärke anzuheben aber gleichzeitig die lange Schnittweite von 90 Prozent der Brennweite weiterhin zu gewährleisteten. Um den Astigmatismus nicht ausbrechen zu lassen, wurde für diese aplanatische Zusatzlinse ein Kittglied aus dem neuen hochbrechenden Schwerkron SK16 und dem neue extrem niedrig brechenden Doppel-Leichtflint LLF6 gebildet. Das vorangestellte Triplet war das bewährte Glaukar aus SK3, SF2 und SK14. Wie oben zu sehen ist, war der Astigmatismus jedoch immer noch gewaltig und die Kurve für den Kugelgestaltsfehler läßt selbst für das gering auflösende 8-mm-Filmbildchen eine zu flaue Kontrastwiedergabe vorausahnen. In Serie ging dieses Objektiv daher nicht.
Beim Glaukar 1:2,0 handelt es sich um ein verkittetes Triplet aus fünf Linsen. Über den genauen Aufbau ist jedoch nichts bekannt. Mit diesem Typ endete die Objektiventwicklung bei Busch im Bereich der Photo-Aufnahmeoptiken in den späten 1920er Jahren. Nur Projektionsoptik und Objektive für Schmalfilmkameras blieben in Rathenow.
2.9 Vario-Objektive von Busch
2.9.1 Vario-Projektionsoptiken
Busch in Rathenow muß als einer der zentralen Pioniere bei der Entwicklung von variofocalen Objektiven gesehen werden. In dieser Firma hat man sich seit Anfang der 30er Jahre intensiv mit brennweitenveränderlichen Objektiven befaßt. Der Antrieb dafür kam ursprünglich aus dem Geschäftsfeld der Kino-Projektionsobjektive, in dem die Firma Busch stark vertreten war. Hier gab es das Problem, bei gegebenen Raumverhältnissen in einem Lichtspieltheater das Filmbild in genau der richtigen Größe auf der Leinwand abzubilden, wozu der Hersteller derartiger Projektionsobjektive ein Arsenal an fein abgestuften Brennweiten vorhalten mußte. Akut wurde das Problem jedoch mit Einführung des Tonfilmes, als in einer Übergangszeit das alte Stummfilmformat und das neue, durch die Lichttonspur verkleinerte Tonfilmformat im Wechsel vorgeführt werden mußten. Als Lösung entwickelte die Firma Busch mit dem Vario-Neokino 2/70-140 mm ein brennweitenveränderliches Projektionsobjektiv, dessen Grundprinzip im Reichspatent Nr. 590.881 vom 12. März 1931 geschützt wurde. Am 19. Mai 1931 folgte das Reichspatent Nr. 597.354, das einen expliziten optischen Aufbau für ein variofokales Projektionsobjektiv schützt, ohne daß genau bekannt ist, inwieweit die Objektive Vario-Neokino und Poly-Neokino genau diesem Aufbau folgen.
Bild: Michael Dümmel
Letztlich konnten diese variofokalen Projektionsobjektive keine weite Verbreitung erlangen, denn obwohl dem Vario-Neokino auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1937 eine Goldmedaille verliehen wurde [Vgl. ROW, Taschenbuch Filmwiedergabeoptik, 1968, S. 8.] genügte den Filmvorführern die Leistung in der Praxis nicht, weshalb es wenig eingesetzt wurde. Ein derartiges Objektiv war seiner Zeit einfach noch zu weit voraus. In den 1960er Jahren war zwar bei ROW dieser Ansatz eines Vario-Projektionsobjektives noch einmal wiederaufgegriffen worden [Vgl. DD36.945 vom 25. Juni 1964, Alfred Lehr], wurde aber letztlich aus qualitativen Gründen heraus nicht praktisch verwirklicht.
In der Firma Zeiss Jena wurde eine umfangreiche Sammlung von Datenblättern geführt, in der alle datenmäßig verfügbaren Objektive des Weltmarktes enthalten waren. Hier hat man auch das Objektiv nach den Angaben im Patent 597.354 nachgerechnet. Die Bildleistung ist geradezu katastrophal - auch für die geringeren Maßstäbe, die an ein Projektionsobjektiv angelegt werden. Zwar ist die sphärische Aberration bis zu einer Einfallshöhe von etwa 30 mm hervorragend korrigiert, läuft oberhalb eines Öffnungsverhältnisses von etwa 1:3,5 dann aber auf und davon in einem Maße wie man es selten sieht. Die Kurve für die Erfüllung der Sinusbedingung (gestrichelt) bricht schon zuvor aus, wodurch die Maßstabsbedingung des Öffnungsfehlers nicht erfüllt wird. Das Objektiv ist einfach massiv überöffnet. Die b-Kurven bescheinigen diesem Objektiv darüber hinaus eine geradezu sagenhafte Bildfeldwölbung und obendrein noch gehörigen Astigmatismus, sodaß kaum mehr als die Bildmitte scharf abgebildet worden wäre. Das war besonders fatal im Hinblick auf den Tonfilm, denn das Unterbringen der Tonspur hatte ja zur Folge, daß das kleiner gewordene Bildformat nicht nur stärker vergrößert werden mußte, sondern daß es auch noch seitlich versetzt lag, weshalb jetzt die Bildmitte nicht mehr exakt mit der optischen Achse des Projektionsobjektives zusammenfiel. Damit wurden Unschärfen durch das gewölbte Bildfeld schlecht korrigierter Objektive sogar einseitig verstärkt. Es hatte schon seinen Grund, weshalb Anfang der 1930er viele Kino-Projektionssysteme noch einmal neu berechnet wurden. Für ein gut auskorrigiertes Objektiv spielt der leichte seitliche Versatz keine große Rolle. Auch die Werte für die Verzeichnung ist in den Endbrennweiten indiskutabel groß.
Unten zum Vergleich die Leistung eines damals zeitgemäßen Projektionsobjektives: des Zeiss Kipronar von Robert Richter (DRP Nr. 544.429 vom 8. April 1930). Der Öffnungsfehler ist makellos auskorrigiert für das volle Öffnungsverhältnis von 1:1,9 (Achtung: anderer Maßstab. Hier für 100 mm Brennweite, oben für 198,44 mm), die Kurve für die Sinusbedingung fast durchweg deckungsgleich, die geringe Bildfeldwölbung ist frei von Astigmatismus und die Verzeichnung überschreitet kaum mehr als ein Prozent. Da es Richter zudem gelungen war, beide Hälften des Petzval-Typs zu verkitten, arbeitete das Kipronar obendrein noch sehr kontrastreich. Bemerkenswert dabei ist, daß Richter dazu mit den billigen Gläsern K7 und F2 ausgekommen war.
Einen eindeutigen Hinweis auf die Urheberschaft Helmut Naumanns für diese Vario-Projektionsobjektive liefert das US-Patent Nr. 1.988.390 vom 8. September 1933, weil damals in den USA der Erfinder bereits namentlich benannt werden mußte. Dieses US-Patent ist die amerikanische Version des deutschen vom März 1931, beinhaltet aber völlig andere Abbildungen, was darauf schließen läßt, daß 1933 die Entwicklung des Objektives schon weiter fortgeschritten war. Es könnte sich auch um das Poly-Neokino mit dem Brennweitenbereich 8-13 cm handeln.
2.9.2 Das Busch Vario-Glaukar
Untrennbar mit dem Namen Busch verbunden ist auch das ohne Übertreibung als Meilenstein der Objektivbaukunst zu bezeichnende Vario-Glaukar 2,8/25-80 mm für die Siemens FII 16 mm-Schmalfilkamera. Es handelt sich nämlich um eines der ersten Zoomobjektive der Welt. In Deutschland jedenfalls war es das erste vollständig ausgebildete, als Gesamtsystem konzipierte und dabei noch pankratische Varioobjektiv, d. h. die Bildebene wanderte beim Verstellen der Brennweite nicht aus. Der konkurrierende Transfokator von Astro Berlin war dagegen ein brennweitenloser Vorsatz mit veränderlichem Abbildungsmaßstab, der nur vor das fest eingebaute Objektiv der Siemens-Schmalfilmkameras Typ A oder B gesetzt werden konnte.
Bild: Marcel Wieditz
Deutlich ambitionierter war es dagegen, ein variofokales Aufnahmeobjektiv als Gesamtsystem zu schaffen, das zudem ein größeres Verstellintervall der Brennweite abdecken und gleichzeitig pankratisch arbeiten sollte. Dazu war ein anderer Aufbau als beim Vario-Neokino nötig. Beim Vario-Glaukar 2,8/25-80 mm, das bereits im Jahre 1933 von Dr.-Ingenieur Helmut Naumann (1903 - 1985) als erstes Muster präsentiert wurde [Vgl. Manns, Foto- und Filmtechnik aus Rathenow, 2011, S. 16.], war das optische System dazu in drei Gruppen aufgeteilt, von denen zwei beweglich gelagert wurden. Die positiv wirkende Frontgruppe entwarf ein reelles Bild, das allerdings noch vor seinem Zustandekommen von dem negativ wirkenden Mittelglied aufgenommen wurde. Das dadurch entstehende virtuelle Bild wurde dann je nach Stellung des Mittelgliedes vergrößert, gleich groß oder verkleinert von dem aus vier einzelnstehenden Linsen aufgebauten Grundobjektiv auf der Schicht abgebildet [Vgl. Naumann, Das Auge meiner Kamera, 2. Auflage, 1951, S. 120/121]. Auf der Abbildung unten sind die stark von linearen Bewegungen abweichenden Kurven sichtbar, mit denen die beiden Glieder beim Brennweitenwechsel jeweils verschoben werden. Linear ist nur die zusätzliche Verstellung der Vordergruppe zum Zwecke der Entfernungseinstellung. Die Herstellung einer derartigen Fassung war für die technologischen Bedingungen der 30er Jahre eine große Herausforderung.
Auf dem Linsenschnittbild unten ist noch einmal dargestellt, welche Positionen die beiden Gruppen im vorderen und mittleren Systemteil einnehmen. Deutlich ist erkennbar, daß die Frontgruppe obendrein eine Umkehrbewegung vollziehen muß, weil sie in der kürzesten wie in der längsten Brennweite die hintere Position einnimmt. Das verkomplizierte den mechanischen Aufbau des Objektives immens. Für die Konstruktion der Fassung war der Busch-Oberingenieur Richard Hohnhold zuständig [Vgl. Manns, Foto- und Filmtechnik aus Rathenow, 2011, S. 16.].
Auch beim Vario-Glaukar kann man davon ausgehen, daß Helmut Naumann der Errechner gewesen sein dürfte. In seinem 1937 erstmalig erschienen Standardwerk "Das Auge meiner Kamera", das im Jahre 1951 in einer aktualisierten Auflage noch einmal in den Druck gelangte, verschweigt er seine Urheberschaft zwar bescheiden, obgleich er das Objektiv auffällig kenntnisreich zu beschreiben weiß. Naumann hat nach dem Kriege erst für Voigtländer und ab Mitte der 50er Jahre für Rodenstock gearbeitet. Als zweite Person, die mit diesem Objektiv eng verbunden ist, läßt sich Johannes Flügge (1902 - 1971) ausmachen, der damals offenbar das Photo-Rechenbüro in Rathenow geleitet hat. Unten ist er mit dem Vario-Glaukar zu sehen.
Das Vario-Glaukar wurde 1937 auf der Weltausstellung offenbar ebenfalls mit einem "Grand Prix" ausgezeichnet [Vgl. Manns, Foto- und Filmtechnik aus Rathenow, 2011, S. 16.]. Ab 1938 ging es in die Serienfertigung, doch die Stückzahlen blieben sehr gering. So wurden in den Jahren 1938/39 offenbar nur 44 Stück fabriziert. Insgesamt sollen es etwa 200 gewesen sein [Vgl. ebenda.]. Dieser Umstand wird nicht zuletzt auch mit der außerordentlich schwierig herstellbaren Fassung zusammenhängen.
3. Julius Laack Söhne
Bei aller Dominanz der Emil Busch AG war diese längst nicht der einzige Hersteller optischer Produkte in Rathenow geblieben. Eine nennenswerte Bedeutung auf dem Spezialgebiet der Photoobjektive erreichte allerdings nur die Firma des Julius Laack (1844 - 1904). Die optische Werkstätte scheint bereits 1883 gegründet worden zu sein; photographische Objektive wurden jedoch erst seit etwa 1900 hergestellt. Zu jenem bedeutenden Hersteller von Photoaufnahmeobjektiven der mittleren Preisklasse wurde die in Julius Laack Söhne umbenannte Firma gar erst nach dem Tode des Gründers und nachdem seine Söhne Karl Laack (1875 - 1952) und Ernst Laack (1879 - 1933) die Leitung übernommen hatten [Vgl. Manns, Foto- und Filmtechnik aus Rathenow, 2011, S. 39f.].
Das rasche Wachstum des Unternehmens machte noch vor dem Ersten Weltkrieg einen Umzug in größere Räumlichkeiten in der Jägerstraße (heute Goethestraße) 74 nötig. In den 1920er Jahren wurde zudem ein repräsentatives Fabrik- und Geschäftsgebäude in der Curlandstraße 60 errichtet. Während die erstgenannte Fabrikationsstätte im "Endkampf" um Rathenow vollkommen zerstört wurde, steht letztere wie ein Déjà-vu aus einem längst vergangenen Industriezeitalter mit ihrer sehr gelungenen ästhetischen Anmutung wie eh und je an ihrem Platz.
Zwischen diesen beiden Aufnahmen liegt beinah ein Jahrhundert. Oben ist das Fabrik-, Geschäfts- und Wohngebäude der Firma Julius Laack Söhne in der Curlandstraße 60 kurz nach seiner Errichtung im Jahre 1928 zu sehen, unten im August 2023. Erstaunlich, daß es bis ins Detail hinein noch heute äußerlich kaum verändert erhalten geblieben ist. Nicht einmal die aus "kapitalistischer Epoche" stammende Firmeninschrift wurde zu DDR-Zeiten abgeschlagen.
Beim Eintritt in das Geschäftsfeld der Photoobjektive hat man bei Laack wohl mit einfachen Periskopen und Aplanaten sowie den damals obligatorischen Atelier-Schnellarbeitern (also Petzval-Typen) angefangen, auf all denen längst keine Schutzrechte mehr vorhanden waren. Mit dem Doppelanastigmaten Dialytar hatte man aber bald auch ein zeitgemäßes Photoobjektiv im Programm, das ähnlich wie der Meyer'sche Aristostigmat eine Form des Doppelgauß-Objektivs darstellte. Mit Aufkommen der Amateurphotographie wurde dieser viergliedrige Typ in recht hohen Stückzahlen als wohlfeiles Einbauobjektiv für Laufboden- und Faltkameras hergestellt. Als Weitwinkel-Dialytar mit stärker meniskenhaft durchbogenen Linsen war es zudem mit erweitertem Bildwinkel erhältlich. Noch 1931 wurde dieses Dialytar auf die Lichtstärke 1:3,5 gebracht [Vgl. Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, 1931, S. 70.].
In den 1920er und 30er Jahren wurde unter der Bezeichnung Dialytar Serie T ein Universalobjektiv mit Lichtstärken zwischen 1:6,3 und 1:2,7 fabriziert, bei dem es sich aber nicht mehr um einen klassischen Doppelanastigmaten handelte, sondern um einen Nachbau des Zeiss'schen Tessars. Dieses Dialytar T wurde in den 30er Jahren sogar als Normalobjektiv sowie als langbrennweitiges Wechselobjektiv 3,5/9 cm für die Leica herausgebracht. Das Dialytar Serie P war hingegen ein Dreilinser. Dieser wurde später in das heute noch bekannteste Objektiv der Firma Laack umbenannt, in das Pololyt.
Ein anderer Anastigmat wurde unter der Bezeichnung Polyxentar vertrieben. Vor dem Ersten Weltkrieg handelte es sich dabei um einen Doppelanastigmaten nach dem Vorbild des Goerz'schen Dagors [Vgl. Jahrbuch für Phot. und Rep., 1910, S. 271.]. Schließlich war der Grund-Patentschutz für das Dagor bereits zum Jahresende 1907 ausgelaufen. Speziell für Reproduktionszwecke wurde sogar ein Repro-Polyxentar 1:9 geschaffen. Dieses Modell hatte einen deutlich vom Dagor-Typ abweichenden Aufbau.
Der Markenname Polyxentar wurde dann aber in den 30er Jahren noch einmal völlig neu besetzt, als die Firma ein aufwendiges Doppelgaußobjektiv ähnlich dem damaligen Biotar oder Xenon entwickelt hatte. Das neue sechslinsige Polyxentar war mit einer Lichtstärke bis 1:1,3 als Normalobjektiv für Schmalfilmkameras gedacht, wo es einen Bildwinkel von etwa 36 Grad abdeckte. Für dieses wohl aufwendigste Photoobjektiv, das bei Laack jemals gefertigt wurde, konnte im September 1934 unter der Nummer 665.520 sogar ein Patentschutz erzielt werden.
Die untenstehende Durchrechnung dieses außergewöhnlich lichtstarken Polyxentars 1:1,3 läßt eine ziemlich schlanke Kurve für die sphärische Aberration und die Abweichung von der Sinusbedingung erkennen. Von einer vollständigen Korrektur der Bildfeldwölbung und des Astigmatismus konnte hingegen kaum eine Rede sein – auch nach damaligen Maßstäben nicht. Man vertraute wohl darauf, daß die dadurch hervorgerufenen Randunschärfen im sehr begrenzten Auflösungsvermögen insbesondere des 8-mm-Schmalfilmes untergehen würden [nach Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 67.].
Die großen Fortschritte bei Laack in Bezug auf das Niveau der Photoobjektive, die während der 1930er Jahre zu verzeichnen gewesen sind, waren offenbar der zunehmenden Mitarbeit Martin Laacks (1912 - 1994) zu verdanken, dem Sohn Karl Laacks. Dieser scheint eine Ausbildung als Optikrechner genossen zu haben. Nachdem die Familie Laack nach dem Kriege nach Speyer gezogen war, betätigte sich Martin Laack wieder als Konstrukteur. Etliche der Aufnahme- und Projektionsobjektive der Firma Wilhelm Will in Wetzlar waren Konstruktionen Martin Laacks [Vgl. Manns, Foto- und Filmtechnik aus Rathenow, 2011, S. 40.].
Schon seit Beginn des Objektivbaus bei Laack hatten neben Aufnahmeobjektiven auch Objektive für Film- und Diaprojektion zum Portfolio dieses Herstellers gehört. In der Zwischenkriegszeit brachte nun zunächst die neue Kino- und Schmalfilm-Technik einen großen Aufschwung für dieses Geschäftsfeld. Das preiswerte, lichtstarke, vom Petzval-Typ abgeleitete Heleston mit Öffnungen zwischen 1:1,6 und 1:2,3 wurde zur Grundausstattung vieler Schmalfilmprojektoren jener Zeit.
Seit Mitte der 30er Jahre sorgten dann die neuen Farbfilme, die zunächst ausschließlich Diapositive ergaben, für eine sehr große Nachfrage an Bildwerfern, da die briefmarkengroßen Farbbilder projiziert werden mußten, um sie einem größeren Zuschauerkreis zeigen zu können. Sehr große Verbreitung fand daher der Projektions-Anastigmat Fineston mit Lichtstärken von 1:2,5; 1:2,8 und 1:3,5. Besonders das oben zu sehende dreilinsige Fineston 3,5/7,5 cm erzielte einen guten Absatz, da es mit seiner kurzen Brennweite prädestiniert war für die vielen einfachen "Wohnstuben-Projektoren" der Photoamateure. Nicht unerwähnt bleiben sollten zudem die preiswerten Vergrößerungsobjektive der Firma Laack Söhne, wie das hochwertige Texon und das einfachere Definon. Denn es darf nicht vergessen werden, daß sich die Kleinbildphotographie nur in dem Maße verbreiten konnte, wie sich die avisierten Neueinsteiger auch ein einfaches Vergrößerungsgerät leisten konnten, wenn jene die Bilder weiterhin im heimischen Küchen- oder Badezimmerlabor selbst entwickeln wollten.
Mit einer Serie an Schmalfilmobjektiven in Einstellfassung (siehe Abbildung oben), mannigfaltigen Einbau-, Normal- und Wechselobjektiven für Kleinbild- und Mittelformatkameras sowie den oben bereits erwähnten Projektionsobjektiven vom professionellen Kino bis zum Heimbildwerfer, hatte sich die Firma Julius Laack Söhne bis zum Ende der 1930er Jahre eine feste Position im deutschen und internationalen Photogewerbe erarbeitet, was für einen derartigen Familienbetrieb eine ganz außergewöhnliche Leistung gewesen ist. Doch der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sollte all dies nun ganz schnell wieder zunichte machen.
4. VEB Rathenower Optische Werke (ROW)
Denn während die Emil Busch AG sowie der ebenso in Rathenow ansässige optische Großbetrieb Nitsche und Günther zwar durch teils immense Verluste der Gebäudesubstanz in Mitleidenschaft gezogen und anschließend enteignet worden waren, wurden diese ab 1948 im neuen VEB Rathenower Optische Werke ROW zusammengeführt und setzten damit die Optik-Tradition in Rathenow fort. Die Firma Laack hingegen wurde vollständig durch die Besatzungsmacht demontiert, was faktisch einer Auflösung gleichkam. Die Inhaber sollen sich stark für die NS-Rüstungsfertigung engagiert haben und bei Kriegsende tief in das System der Zwangsarbeit verstrickt gewesen sein. Gleich im August 1945 wurde daher der Betrieb ausgeräumt und der Maschinenpark in die Sowjetunion verbracht [Vgl. Manns, Rathenower Grabstätten, 2017, S. 87.]. Weil es Karl Laack in der Folgezeit nicht gelang, neue Maschinen zu beschaffen, mußte er im August 1948 Konkurs anmelden [Vgl. Manns, Foto- und Filmtechnik aus Rathenow, 2011, S. 40.]. Die Familie Laack flüchtete daraufhin mehrheitlich in die westlichen Besatzungszonen. Einen Teil der Fertigungsunterlagen nahmen sie mit, um sich ein neues Standbein aufzubauen, ein anderer Teil mußte in Rathenow zurückgelassen werden und gelangte zum neuen VEB ROW, unter dessen Ägide einige Laack'sche Objektivtypen bald wieder gefertigt wurden.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb bei ehemaligen Laack-Objektiven in der Zeit um 1950 gleichzeitig das Markenzeichen ROW eingraviert ist. Als beispielsweise Ende der 1940er Jahre im Altissa-Kamerawerk Dresden die Fertigung der Kleinbildkamera Altix wieder anlief, wurden zunächst Restbestände eines speziell für diese Kamera geschaffenen Laack Tegonar 3,5/3,5 verwendet. Als diese aufgebraucht waren, lief die Fertigung dieses Objektivs unter der Ägide des VEB ROW wieder an, wobei es zunächst als Tegonar 3,5/3,5 cm "System Laack" bezeichnet wurde. Einige Zeit später wird der Markenname Laack dann völlig abgelegt und das Tegonar für die Altix nur noch als Produkt des VEB Rathenower Optische Werke vertrieben. Entspiegelungsschichten (rotes V) werden eingeführt und die Fassung von verchromtem Messing auf Aluminium umgestellt.
Eine ähnliche Geschichte ließe sich zum Pololyt 3,5/75 mm für die Zweiäugige Spiegelreflex "Reflekta" erzählen. Auch dieser Dreilinser ging noch auf eine Vorkriegskonstruktion von Laack zurück. Durch den großen Erfolg dieser einfach gehaltenen Zweiäugigen Reflexkamera hat auch das viel für sie eingesetzte Laack Pololyt eine weite Verbreitung gefunden. Nach Aufbrauchen der alten Lagerbestände folgten ab Anfang der 1950er Jahre neu produzierte Objektivpaare, die durch Entspiegelungsschichten aufgewertet wurden. Im direkten Vergleich zum Zeiss Triotar oder dem Meyer Trioplan 3,5/75 mm waren das ROW Pololyt und das Ludwig Meritar die schwächsten der für diese Kamera erhältlichen Objektivausstattungen. Allerdings war die Kamera mit diesen beiden Triplets auch etwas preiswerter. Für die "Weltaflex" wurde dann das veraltete Pololyt aufgegeben und stattdessen bei ROW das verbesserte Rectan 3,5/75 mm neu geschaffen. Möglicherweise wurde es aber auch einfach nur umbenannt.
Wie weiter oben bereits zu sehen, gehörten schon seit der Zwischenkriegszeit auch Vergrößerungsobjektive zum Portfolio des ROW-Vorgängers Laack. Dieses Geschäftsfeld wurde in den 1950er Jahren erfolgreich fortgesetzt. Das unten gezeigte ROW Orthan 4,5/55 wurde damals in großen Stückzahlen ausgestoßen und gehörte zur standardmäßigen Ausstattung einfacher Vergrößerungsgeräte wie dem Adjutar vom VEB Aspecta. Es handelte sich offenbar um das alte Laack Definon 4,5/55, das noch kurze Zeit unter dem bisherigen Namen gefertigt worden war und später ohne technische Änderung einfach nur umbenannt wurde. Der billige Dreilinser war in seiner Leistung aber mittlerweile derart fragwürdig, daß sich Fachbuchautoren wie Roger Rössing dazu hingerissen fühlten, öffentlich die Frage zu stellen, wie es sein kann, daß die Negative mit immer aufwendigeren Kameraobjektiven belichtet würden, die Vergrößerungen dann aber mit mangelhaften Billigobjektiven angefertigt würden. Tatsächlich verschwanden diese einfachen Vergrößerungsobjektive dann in der zweiten Hälfte der 50er Jahre schlagartig aus dem Angebot.
Für das Großformat fertigte der VEB ROW Rathenow noch einige Zeit ein Leukar nach dem "System Busch". Dabei handelte es sich um einen ganz klassischen Doppelanastigmaten nach dem Vorbild des Goerz'schen Dagors. Diese streng symmetrischen Objektive waren lange Zeit noch beliebt, weil sie nur aus zwei Gruppen bestanden und daher sehr brillant arbeiteten. Dieses Nachkriegsobjektiv ist zudem noch vergütet. Freilich waren solcherlei Doppelobjektive bereits nach dem Ersten Weltkrieg schon nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Sie ließen sich aber vergleichsweise billig aus mittlerweile standardisierten Gläsern herstellen. Das läßt sich auch am Verzicht auf eine Irisblende zu Gunsten einer einfachen Revolverblende ablesen. Das sich daraus ergebende urtümliche Aussehen läßt auf den ersten Blick nicht erahnen, daß es sich um ein Exemplar aus den 1950er Jahren handelt.
Da aktuell auch die Großformat-Photographie wieder eine Renaissance erlebt, und sogar alte Verfahren wie das das nasse Kollodium oder gar die Daguerre'sche Platte wieder hervorgeholt werden, sind auch solche alten Objektivkonstruktionen wieder interessant geworden. Sie weisen nämlich eine ganz eigentümliche, mit Worten nicht zu beschreibende Abbildungscharakteristik auf. Das Aufnahmeformat sollte bei Verwendung dieser Typen aber wenigstens 13x18 cm betragen, damit diese Wirkung auch zur Geltung gelangen kann.
Das Leukar ist ein klassicher Doppelanastigmat nach dem Vorbild des Goerz`schen Dagors, also streng symmetrisch aufgebaut aus zwei Hälften, die jeweils für sich schon gut auskorrigiert sind. Astigmatismus und Verzeichnung sind gering, aber die deutlichen sphärischen Zonen lassen nur mäßige Lichtstärken zu. Ansonsten bekommt man rasch ein Weichzeichnerobjektiv. Beschränkte man sich in der Lichtstärke, hatte man allerdings ein sehr kontrastreich arbeitendes Objektiv mit nur vier gegen Luft gestellten Glasflächen.
Oben ein "originaler" Leukar-Anastigmat von der Emil Busch A.G. Dieser Doppelanastigmat, der als eine Modernisierung des älteren Stigmars unter Verzicht auf dessen Auslegung als Satzobjektiv angesehen werden kann, war wohl erst im Jahr 1909 auf den Markt gebracht worden, wie die unten gezeigte Meldung in Eders Jahrbuch suggeriert. [Vgl. Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, 1909, S. 194].
4.1 ROW-Filmwiedergabeoptik
4.1.1 Das Cinerectim
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg spielte die Herstellung von Projektionsobjektiven für das Lichtspielwesen im Portfolio des Rathenower Objektivbaus weiterhin eine große Rolle. Die in den 30er Jahren sehr erfolgreiche Neokino-Reihe wurde fortgesetzt mit modernisierten Variationen des altbekannten Petzval-Typs, die unter dem Namen Cinerectim vertrieben wurden. Der Fassungsdurchmesser wurde nun einheitlich auf eine Große von 62,5 mm gebracht, die in der DDR nun ein Einheitsmaß bildete und auch bei den weit verbreiteten Tonkoffermaschinen des Typs TK35 verwendet wurde.
Es sollte aber nicht verschwiegen werden, daß diese altbewährten Objektivtypen im Laufe der 1950er Jahre an ihre Grenzen kamen. Durch das Aufkommen des Breitwandfilms wuchsen die Anforderungen enorm, was die Konstruktion neuer, vom Gaußtyp abgeleiteter Projektionssysteme nach sich zog, die wirklich astigmatisch korrigiert werden konnten und daher einen größeren Bildwinkel erreichten, sodaß die Bedeutung des Cinerectims in den 1960er Jahren zurückging.
4.1.2 Das Visionar
Mit der Einführung der oben schon angesprochenen anamorphotischen Breitwandverfahren reichte die Bildleistung der bisherigen Kino-Projektionsobjektive nicht mehr aus. Immerhin wurde das Bild in der Breite auf das Doppelte auseinandergezogen – und mit ihm auch alle Unschärfen um denselben Betrag vergrößert. Außerdem war das Cinemascope-Bild mit 18,1 x 21.2 mm etwa 20 Prozent größer als das bisherige Tonfilmformat 15,2 x 20,9 mm [Vgl. Tiedeken, Neue Kinoprojektionsobjektive; in: Bild & Ton Heft 3/1960, S. 78ff.]. Selbst für das sogenannte Kasch-Verfahren, bei dem das Breitwandbild ohne Anamorphoten durch einfachen Höhenbeschnitt erzielt wurde, waren die bisherigen, auf dem Petzval-Typ beruhenden Objektive wie das Zeiss Kipronar oder das ROW Cinerectim ungeeignet, da die mangelhafte Bildfeldebnung die Herstellung in kurzen Brennweiten vereitelte. Bei Zeiss Jena war zwar im März 1953 ein fünflinsiges, vom Gaußtyp abgeleitetes Prokinar entwickelt worden [DD12.428, Rudolf Wanke, Harry Zöllner], aber auch dieses genügten den Anforderungen des Breitwandbildes aufgrund komatischer Restfehler nicht [Vgl. ebenda, S. 79]. Daher wurde bei Zeiss Jena unter Robert Tiedeken Hochleistungs-Projektionsobjektive vom Typ Visionar entwickelt [DD22.291 vom 29. Oktober 1958, zusammen mit Harald Maenz und Rudolf Wanke] und anschließend offenbar in Rathenow gefertigt. Zu jener Zeit begann der VEB ROW durch Eingliederung in das Kombinat Carl Zeiss JENA seine Eigenständigkeit einzubüßen. Deshalb erfolgte die Herstellung dieses Visionars offenbar mit der Eingliederung zu Zeiss ab 1966 in Rathenow. Zuvor und wieder ab etwa 1979 ist die Herstellung bei Zeiss Werk Saalfeld nachweisbar.
Das Patent verrät, daß dem Visionar eine Gaußtypvariante mit sechs einzelnstehenden Linsen zugrundegelegt wurde, die alle aus schweren Kron- und Flintgläsern bestanden. Dadurch war neben der Verbesserung der Bildleistung zumindest bei den kürzeren Brennweiten auch eine Anhebung der Lichtstärke auf 1:1,6 möglich, wodurch der Lichtverlust durch den Dehnungsfaktor des Anamorphoten zu einem Gutteil bereits wieder ausgeglichen wurde. Die fehlenden Kittschichten machten das Visionar zudem vollkommen resistent gegenüber Wärmeschäden.
Oben ist noch einmal die Bildleistung des neuen Visionars derjenigen des erst wenige Jahre zuvor entwickelten Prokinars sowie des traditionellen Petzval-Abkömmlings Kipronar gegenübergestellt; und zwar jeweils in den Bildecken [nach Tiedeken, Kinoprojektionsobjektive 1960, S. 78ff.]. Deutlich sichtbar ist die Leistungssteigerung gegenüber dem Prokinar. Noch viel eindrucksvoller ist aber der völlige Bildzerfall beim Kipronar. Die eklatanten Verzerrungen bis zur Unkenntlichkeit der ursprünglichen Strukturen sind ein beredtes Beispiel für die Auswirkungen des Astigmatismus. In den Bildmitten sind die Unterschiede zwischen den drei Objektiven dagegen deutlich geringer wahrnehmbar.
Auf der Prospektseite zum Visionar oben ist noch einmal der Zusammenhang zwischen den Brennweiten der Projektionsobjektive in bezug auf eine einheitliche Schirmbildhöhe bei den drei damals gebräuchlichen Bildformaten erläutert. Daß diesbezüglich im damals noch gesamtdeutschen Normenausschuß ein gewisser Grad der Vereinheitlichungen beschlossen werden konnte, war namentlich den theoretischen Vorarbeiten Dr. Tiedekens zu verdanken. Das kommt auch noch einmal unten im Auzug aus den ROW Taschenbuch für Filmwiedergabeoptik zum Ausdruck.
4.1.3 Rectimascop und Ciomascop
Obwohl der VEB ROW mit seinem Quasi-Monopol auf die Herstellung von Brillengläsern in der DDR stark ausgelastet war, wurde hier seit den späten 1950er Jahren ein Großteil der Kino-Optik konzentriert. In Rathenow existierte eine über Jahrzehnte erworbene Kompetenz in diesem Bereich, die auch das Feld der Beleuchtungsoptik betraf. Lichtwurfsystem und Projektionsobjektiv sind beide Teil derseloben Einheit und müssen eng aufeinander abgestimmt sein. So wurden in Rathenow zunächst der Kaltlichtspiegel Intercinex für Kohlebogenlampen entwickelt. Im Zuge der Einführung der modernen Xenon-Gasentladungslampen für Kinoprojektoren wurde in den 60er Jahren der Kaltlichtspiegel vom Typ Xenoflex entwickelt.
Als seit dem Ende der 1950er Jahre die DEFA immer öfter eigene Breitwandfilme mit dem zum Cinemascope kompatiblen anamorphotischen Verfahren Totalivision zu drehen, wurde es plötzlich zu einem drängenden Problem, die DDR-Kinos mit entsprechenden Entzerrungsoptiken auszustatten. Zwar hatte der VEB Zeiss Jena im Jahre 1956 einen Prismen-Anamorphot Prokimaskop entwickelt, aber mit diesem aufwendigen Gerät konnten nur ausgewählte Lichtspielhäuser ausgerüstet werden, in denen ausländische Produktionen liefen. DDR-Filme mußten jedoch überall im Lande vorführbar sein. Aus der Patentüberlieferung des VEB ROW läßt sich nachvollziehen, daß in den späten 50er Jahren unter Alfred Lehr ein anamorphotischer Vorsatz entwickelt wurde, der statt mit Prismen mit zylindrisch geschliffenen Linsen arbeitete. Dieser Zylinderlinsenanamorphot wurde Rectimascop genannt.
Ein solcher Zylinderlinsen-Anamorphoten ist im Prinzip um ein Weitwinkelvorsatz in Form eines umgekehrten Galilei'schen Fernrohres, dessen spreizende Wirkung sich aber durch den zylindrischen Schliff der Linsen nur auf eine Richtung erstreckt. Bei der Projektion ist dies die horizontale Richtung. Denn beim Cinemascope-Verfahren handelte es sich ja um eine analoge Kompression, bei der das Bild bei der Aufnahme um den Faktor 2 gestaucht wurde und daher bei der Projektion wieder um denselben Wert entzerrt werden muß. Im senkrechten Schnitt wirkten diese Zylinderlinsen dagegen wie eine Planplatte. Das Rectimascop erlaubte dabei gegenüber dem Prokimaskop von Zeiss eine viel kompaktere Bauweise, wenn auch mit dem Nachteil, daß für den horizontalen und den vertikalen Bildschnitt zwei getrennte Scharfstellvorgänge notwendig wurden. Außerdem erforderte der zylindrische Schliff der Linsen, der oben im Schnittmodell gut zu erkennen ist, nach einer sorgfältigen Fertigung.
Neben diesem Totalvisions-Verfahren gab es noch eine weitere Methode zur Erzielung eines Breitwand-Effektes: das weiter oben schon angesprochene Kasch-Verfahren, bei dem das Bild unverzerrt aufgenommen wurde aber spätestens bei der Projektion in der Höhe beschnitten und entsprechend weitwinklig projiziert werden mußte. Das Problem für die Arbeitspraxis des Filmvorführers lag nun darin, daß bald beide Filmformate im dauernden Wechsel zueinander vorkamen. Um angesichts dessen ein ständiges Austauschen des Grundobjektivs zu ersparen, wurde das Ciomascop 64/1,2x entwickelt, das bei Cinemascope-Filmen noch zusätzlich zwischen Projektionsobjektiv und Rectimascop geschaltet wurde und die Brennweite des ersteren um den Faktor 1,2 verlängerte. Für Kasch-Filme wurde die Kombination Ciomascop/Rectimascop einfach gemeinsam aus dem Strahlengang geschwenkt und das kurzbrennweitige Grundobjektiv allein verwendet.
Mit dem DDR-Patent 36.945 hatte sich Alfred Lehr 1964 auch einen variofokalen Vorsatz mit einem Faktor 0,8 bis 1,4 schützen lassen, der aber nicht in Produktion ging.
4.1.4 Dioluxim und Neoluxim
In der DDR wurde ab Anfang der 1960er Jahre die Gerätebasis für ein eigenes 70-mm-Breitwandkino geschaffen. Die technischen Standards lehnten sich zwar am sowjetischen Vorbild an (70-mm-Film auch für die Aufnahme), Kernstück war aber mit der DEFA-70 Reflex eine eigene Studiokamera und mit dem Pyrcon UP 700 ein Hochleistungs-Universalprojektor mit Sechs-Kanal-Magnettonwiedergabe.
Dem VEB ROW kam nun die Aufgabe zu, für dieses neue Aufnahmeformat ein entsprechendes Projektionssystem zu entwickeln. Dazu wurde ein neues siebenlinsiges Projektionsobjektiv unter der Bezeichnung Dioluxim geschaffen sowie einen brennweitenlosen Vorsatz namens Neoluxim, der die Brennweite des Grundobjektivs um den Faktor 1,27 verkürzte. Der Hintergrund lag darin, daß die bessere Bildleistung des großen 70-mm-Filmbildes nur dann sinnvoll ausgenutzt werden konnte, wenn die Projektion mit möglichst kurzer Brennweite auf eine stark gekrümmte Bildwand erfolge. Daraus ergab sich ein überwältigender Bildeindruck. Als optimal wurden dazu Brennweiten um die 80 mm erkannt. Die Kombination eines Dioluxims mit 100 oder 109 mm Brennweite mit dem Neoluxim-Vorsatz ergab nun ein Gesamtsystem mit optimalen 77 oder 84 mm Brennweite. Dabei bildete das Gesamtsystem im Prinzip ein Retrofokus-Weitwinkelobjektiv. Dieser Aufwand war aus meheren Gründen notwendig: Einmal mußte die hintere Eintrittsöffnung der Projektionsoptik vom Durchmesser her groß genug sein, um die gesamten das Bildfenster durchsetzenden Strahlen zu erfassen. Auch war die für die Retrofokus-Bauweise typische Schnittweitenverlängerung aus baulichen Gründen am Projektor notwendig. Drittens ergab sich bei der Projektion eines flachen Filmbildes auf eine gekrümmte Leinwand eine entsprechende Verzeichnung an den Bildrändern. Diese konnte dadurch gemildert werden, daß der Kombination Dioluxim und Neouxim eine Verzeichnung im gegensätzlichen Ausmaß mitgegeben wurde [Vgl. ROW, Taschenbuch Filmwiedergabeoptik, 1968, S. 64.].
Um sich besser auf die gegebenen räumlichen Verhältnisse in bestehenden Lichtspieltheatern anpassen zu können, wurden später noch ein Dioluxim mit 119 mm Brennweite hinzugefügt sowie drei verschiedene Neoluxim-Vorsätze mit den Verkürzungsdivisoren 1,298; 1,54 und 2,0 geschaffen. Möglichweise wurde diese feinere Abstufung auch deshalb gewählt, um die mit dem Universalprojektor Pyrcon UP 700 mögliche abwechselnde 70- und 35-mm-Filmprojektion mit demselben Grundobjektiv vornehmen zu können.
4.1.5 Diarectim
Bis bis in die 60er Jahre kamen zudem auch viele Objektive für die Dia- und Epiprojektion aus Rathenow, so wie das unten gezeigte Diarectim 2,8/150 zum Beispiel. Der lichtstarke Dreilinser fand im Mittelformat-Bildwerfer Prokyon der Leipziger Firma Heinrich Malinski Anwendung. Später spezialisierte sich der VEB Feinoptisches Werk Görlitz auf dieses Gebiet der Projektionsobjektive für Diaprojektoren.
4.2 Das Mikrophot
Abschließend möchte ich noch ein Spezialgebiet erwähnen, in dem es dem VEB ROW gelungen ist, in herausragender Weise Photographie und Mikroskopie miteinander zu verknüpfen. Dazu hatte dieser Betrieb sich eine besondere Expertise im Bereich der Kameramikroskope erarbeitet. Als Höhepunkt dieser Entwicklungsarbeiten läßt sich das Mikrophot 16 B-Z anführen, das auf der Frühjahrsmesse 1959 vorgestellt wurde [Vgl. Fotografie 5/1959, S. 197].
Bei diesem Gerät wurde die Mikrokamera nicht mehr irgendwo als Zusatzgerät angeflanscht, sondern war integraler Bestandteil des Mikroskops. Dazu war eine Aufnahme von Kassetten für 35-mm-Meterware direkt im Mikroskopständer vorgesehen. Bei Betätigen des im Mikroskop eingebauten Belichtungs-Verschlusses wurde zugleich der Strahlengang von visueller Beobachtung auf photographische Aufnahme umgeschaltet. Dieses kompromißlose Gerät, das offenbar im DDR-Patent Nr. 31.351 geschützt ist, wurde von Hans-Günter Scheplitz und Alfred Lehr geschaffen. Zuvor war bereits der im Mikrophot verwendete Mikroskoptubus mit binokularem Einblick durch das Patent Nr. DD29.950 geschützt worden.
Marco Kröger
letzte Änderung: 7. Oktober 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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