Certi

Die Certi

Diese außergewöhnliche Kleinbildkamera könnte auf der Liste der seltensten Kameras des DDR-Photogerätebaus einen der vordersten Plätze belegen. Sie war die letzte ambitionierte Konstruktion des Certo-Kamerawerks in Dresden, bevor es nach der Verstaatlichung Anfang der 70er Jahre zum Lieferanten einfachster Plastikkameras für den Massenbedarf des Einsteigers umgebaut wurde bzw. die Exa für den DDR-Inlandsbedarf weiterfertigen mußte.

Certo Certi

Die Besonderheit bei dieser Certi lag dabei in ihrer Belichtungsvollautomatik. In dieser Hinsicht betrat der kleine Privatbetrieb des Fritz von der Gönna in der DDR der späten 50er Jahre noch einmal völliges Neuland. Während in der Bundesrepublik den Kamerabauanstalten von den Firmen Deckel und Gauthier bereits fertige Bausteine in Form entsprechender Zentralverschlüsse zur Verfügung gestellt wurde (siehe Exkurs auf der Seite zur Prakti), mußte sich der Certo-Chefkonstrukteur Erhard Hempel selbst Gedanken machen, wie er diese Belichtungsvollautomatik realisieren könne. Entsprechend simpel fiel auch seine Lösung aus. Es gab nur eine einzige Verschlußzeit von 1/60 Sekunde und die Blendenöffnung stellte sich passend zu diesem Zeitwert automatisch ein. Um das zu erreichen, wurde die Stellung des Zeigers eines Drehspulmeßgerätes mechanisch abgetastet. Der Ausschlag des Zeigers bestimmte den Grad, bis zur welchem Durchmesser sich die Blende öffnete, wenn man den Auslöser durchdrückte. Lag die Leuchtdichte des Motivs außerhalb des Steuerbereiches, schwenkte eine rote Marke rechts ins Sucherfeld ein. Die Filmempfindlichkeit wurde eingegeben, indem das gesamte Meßwerk um geringe Beträge verschwenkt wurde. Das war alles sehr einfach aufgebaut und müßte an sich relativ zuverlässig funktioniert haben. Es ist von daher nicht ganz schlüssig, wenn für das rasche Verschwinden dieser Kamera vom Markt nun gerade Probleme mit der Zuverlässigkeit angeführt werden. Ganz auszuschließen ist dies freilich nicht.

Certo Certi gif

Es ist auch denkbar, daß diese Kamera mit ihrem schweren Druckgußgehäuse und ihrer massiven Rückwand aus Stahlblech einfach materialmäßig zu aufwendig für eine Großserienfertigung in dieser kleine Firma war. Auch die Zulieferung von Drehspulmeßwerken war sicherlich ein materialmäßiger Begrenzungsfaktor. Dazu kommt der vergleichsweise aufwendige Abgleich solcher Kameras mit Belichtungsautomatik. Diese ambitionierte Auslegung der Certi hätte sich allenfalls dann gelohnt, wenn insbesondere westliche Exportmärkte angepeilt worden wären. Was das betraf, kommen möglicherweise auch patentrechtliche Hinderungsgründe infrage, denn die Abtastung eines Meßwerkzeigers mittels eines Stufenkamms war jedenfalls keine Erfindung des Certo Kamerawerks.

Certo Certi

Interessant ist auch ein Blick in das Innenleben der Certi, weil sich hier offenbart, wie technisch simpel und gleichzeitig konstruktiv geschickt die Belichtungsautomatik dieser Kamera konzipiert war. Auf der oberen Aufnahme sieht man in der Bildmitte den Zeiger des Drehspulmeßwerks mit seiner Rotmarkierung. Das helle Metallteil darüber sorgt dafür, daß der aktuelle Ausschlag des Zeigers arretiert wird, sobald man den Auslöser niederdrückt. Davor befindet sich der schwarze Abtastkamm der Blendensteuerung. Je größer die Leuchtdichte des Motivs ist, um so weiter nach rechts schwenkt der Zeiger aus, um so weniger bewegt sich der Kamm nach unten und um so geringer ist dadurch auch der Betrag, um den die Blende durch den Druck auf den Auslöser geöffnet wird. Bei geringerer Bestrahlung der Selen-Sperrschichtzelle ist auch der Zeigerausschlag nach rechts geringer. Dafür ist nun aber der Weg des Abtastkamms am größten und um so weiter öffnet sich demzufolge auch die Blende. Die Grenze des Steuerbereichs ist erreicht, wenn wie gesagt die rote Leuchtscheibe im Sucher erscheint.


Die Automatik kann abgeschaltet werden, wenn die Blende manuell vorgegeben werden soll, zum Beispiel beim Blitzen oder bei Aufnahmen mit der B-Einstellung des Verschlusses. Dazu wird die Einstellscheibe der Filmempfindlichkeit so lange versdreht, bis auf der Kameradeckkappe statt DIN-Zahlen Blendenzahlen erscheinen. Nun übernimmt eine mit der Einstellscheibe verbundene Metallzunge die Funktion des Meßwerkzeigers.

Certo Certi

Daß wir diese Certi wiederum im Wesentlichen als ein Geschöpf des Certo-Konstrukteurs Erhard Hempel anzusehen haben, legt eine Patentschrift nahe, die sich eindeutig dieser Kamera zuordnen läßt. Hempel hatte eine Filmtransportsteuerung und eine Doppelbelichtungssperre erdacht, die gänzlich ohne Zahnradgetriebe auskam. Das zugehörige Patent Nr. DD35.290 wurde bereits am 22. August 1959 angemeldet. Das bezeugt, wie lange man im Certo Kamerawerk bereits an einer modernen Kleinbildkamera gearbeitet hat. Immerhin hatte sich die kleine Firma im selben Jahr auf eine staatliche Beteiligung von 30 Prozent eingelassen, um überhaupt an die Kredite zu gelangen, die für Investitionen in solch ein Projekt benötigt wurden.

DD35290 Filmtransport Certi

Auch die wunderbar simpel gelöste Rückwandverriegelung der Certi läßt sich auf Hempel zurückführen. Vom 28. August 1959 hat sich nämlich ein bundesdeutsches Gebrauchsmuster Nr. 1.802.552 erhalten, das deren Funktionsprinzip beschreibt. Sie kommt völlig ohne Kleinteile wie Riegel, Federn, Hülsen usw. sowie ohne die üblichen Schraub- und Nietverbindungen der bis dahin bekannten Lösungen aus. Auch ein Scharnier ist nicht notwendig. Allein die Welle der Rückspulkurbel hält die Rückwand geschlossen, wenn sie in die gelochte Lasche eingeschoben wird. Solcherlei Details weisen die Certi als eine vereinfachte Konstruktion aus, ohne daß das Endprodukt – im Lichte seiner Preisklasse gesehen – billig wirkt. Bei den vielen Einfällen, die Hempel später noch für die Plastik-SL-Kameras beisteuerte, war das leider (aus Kostengründen) nicht mehr der Fall.

DE1802552 Certi Rückwandverriegelung
Certi Rückwand

Zu erwähnen ist noch, daß Hempel zu jenem Zeitpunkt im Sommer 1959 auch bereits zwei Konzepte für eine Belichtungssteuerung ausgearbeitet hatte. Die eine Variante war eine Belichtungshalbautomatik [DBGM Nr. 1.843.908], die andere eine Vollautomatik [DBGM Nr. 1.843.909], die aber mit ihren umschaltbaren Verschlußzeiten wesentlich aufwändiger ausgefallen wäre, als das, was später tatsächlich in der Certi umgesetzt wurde. Das Laborieren an der richtigen Antwort auf diese Problemstellung hat sicherlich für Verzögerungen gesorgt. Die am Ende doch recht simple Lösung, die für die Certi gefunden werden konnte, beruhte ja schließlich darauf, daß ihr Verschluß nur auf eine feste Belichtungszeit festgelegt wurde – sicherlich der größte Kompromiß dieser Kamera, der ihre Verwendbarkeit in der Praxis sehr eng begrenzte.

Die Certi wurde schließlich zur Herbstmesse 1963 herausgebracht. Interessant ist der veranschlagte Preis von "etwas unter 200,- DM", der also kaum höher lag, als bei einer Werra II mit Belichtungsmesser (190,- Mark; aber eben ohne Belichtungsvollautomatik!). Wie man unten sieht, wurde auch kurzzeitig Werbung für diese neuartige Kamera gemacht. So selten jedoch, wie sie heute auftaucht, kann man freilich vermuten, daß sie letztendlich nicht lange gefertigt wurde. Möglicherweise war die Herstellung dieser vollständig aus Metall bestehenden Kamera bei solch einem (vergleichsweise) niedrigen Verkaufspreis nicht rentabel.

Certo Certi Werbung

Marco Kröger


letzte Änderung: 14. September 2022