Meyer-Zoom

Ein Varioobjektiv aus Görlitz

Das "Meyer-Optik 3,5-4,8/35-70"

Seit den späten 70er Jahren wurde bei Pentacon dem internationalen Trend zu begegnen versucht, daß sich zunehmend Standardzooms zur Erstbestückung der Reflexkamera durchsetzten. Doch die Entwicklung wurde so lange verschleppt, bis es zu spät war...

Meyer-Optik 3,5-4,8/35-70

Bild: Jörg Kannwischer

Wirft man einen Blick darauf, welche wesentlichen Entwicklungen der Photomarkt in der Bundesrepublik im gehobenen Amateursektor ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre genommen hat, dann fallen zwei grundlegende Tendenzen auf: Einmal die Ablösung der mechanisch gesteuerten Spiegelreflexkamera mit integrierter Nachführmessung ("Belichtungshalbautomatik") durch Modelle mit Zeit- oder Blendenautomatik einerseits und die Propagierung und zunehmende Verbreitung von Varioobjektiven ("Zooms") auf der anderen Seite. In der zeitgenössischen Literatur taucht dabei ständig das Argument auf, wieviele Einzelbrennweiten ein solches Zoom doch ersetzen würde. Und trotz der mannigfaltigen Nachteile dieser frühen Zoomobjektive entwickelte sich dieser Marktbereich in den Folgejahren sehr vehement. Dazu trug auch bei, daß in den 80er Jahren qualitativ hochwertige Farbnegativ- und Umkehrfilme mit einer Empfindlichkeit von 27 DIN/400 ASA herausgebracht wurden, mit denen die bescheidene Lichtstärke von Zoomobjektiven zu einem gewissen Teil wieder kompensiert werden konnte. Zudem gesellten sich neben den (oft recht teuren) Originalherstellern auch Fremdanbieter, die mit einer raschen Modellfolge und den großen Absatzzahlen das Marktsegment der Zooms unaufhaltsam vorantrieben. Die anfangs oft recht abenteuerlich konstruierten und qualitativ zweifelhaften Objektive wurden jedoch durch neue Berechnungsmethoden und neue Fertigungsverfahren immer weiter optimiert. Größe und Gewicht konnten sukzessive gesenkt werden, während sich gleichzeitig die Handhabung und die Abbildungsqualität sehr verbesserten. Dazu kamen ständig steigende Zoomfaktoren, wodurch die Objektive immer größere Brennweitenbereiche überdeckten und bald auch in den extremen Weitwinkel- und Telebereich vorstießen. Was das Zoomobjektiv betrifft, wurde also während der 1980er Jahre ein unglaublicher Fortschritt erzielt, der diesen Objektivtyp überhaupt erst salonfähig machte. Selbst "ernste" Photographen kamen nun um ein Zoom bald nicht mehr herum.


Vor diesem Hintergrund konnte es sich zu jener Zeit kein großer Kamerahersteller des Weltmarktes mehr leisten, das Segment der Zooms gänzlich außen vor zu lassen. Der VEB Pentacon Dresden tat aber letztlich genau dies. Dabei war der Dresdner Kamerabau damals wirklich noch ernstzunehmend groß. Im letzten Jahr seiner vollen Selbständigkeit produzierte das Kombinat Pentacon 1984 nicht weniger als 450.000 Spiegelreflexkameras [Vgl. Jehmlich, Pentacon, 2009, S. 177], von denen sage und schreibe 77 Prozent in das Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet exportiert wurden [Vgl. ebenda, S. 206]. Ein Standardzoom zur Erstbestückung, das international gesehen das bislang übliche Normalobjektiv abzulösen begann, fehlte freilich. Seit den späten 1970er Jahren kooperierte man daher mit japanischen Objektivbaufirmen, um das eigene Sortiment wenigstens mit derartigen Zoomobjektiven aus Fremdproduktion vervollständigen zu können.


Daß das Kombinat Pentacon aber auch ein eigenes Zoomobjektiv benötige, um für Praktica L- und B-Serie eine moderne Alternative für die Standardbestückung zu bieten, das wurde bereits frühzeitig erkannt. Erste Entwicklungsarbeiten dazu lassen sich auf das Jahr 1976 zurückverfolgen [Vgl. Prenzel, Das erste Zoomobjektiv von Meyer Görlitz; in: Photodeal 4/2020, S. 24ff]. Doch die sich letztlich auf anderthalb Jahrzehnte (!) hinziehende Entstehungsgeschichte dieses Görlitzer Standardzooms geriet zum regelrechten Paradebeispiel für die grundlegenden Defizite der DDR-Planwirtschaft. Eine erste Phase bis 1984, an deren Ende zumindest ein in Görlitz selbständig entwickelter Prototyp für ein solches Standardzoom 35-70 mm vorlag, könnte noch unter der Rubrik "aller Anfang ist schwer" eingeordnet werden. Dazu muß man sich folgende Startbedingungen in jener Ära vergegenwärtigen: Erstens waren Zooms damals generell noch Neuland, das von allen Optikfirmen intensive Forschung verlangte. Zweitens waren aber Lösungswege für bestimmte prinzipielle Problemstellungen bereits durch Patentschutz einzelner Firmen gesichert und daher für Konkurrenten verbaut. Die Patentliteratur zu Zoomobjektiven aus den 70er und 80er Jahren ist schier unüberschaubar. Ein Plagiieren von konstruktiven Lösungswegen mit den entsprechenden Lizenzklagen als Folge hätte jedoch die DDR-Photoindustrie rasch in eine Katastrophe führen können. Schließlich waren die Produkte des VEB Pentacon ja nicht allein für den abgeschotteten RGW-Verband vorgesehen, sondern mußten stets dezidiert für den Export konditioniert sein. Seit dem unaufhaltsamen Aufstieg der Japanischen Photoindustrie während der 1960er Jahre müssen daher alle Patentanmeldungen des VEB Pentacon – zum Beispiel in Bezug auf die neue Praktica L-Reihe – stets unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, daß für den DDR-Kamera- und Objektivbau unbedingt eine Produktentwicklung frei von ausländischen Lizenznahmen gesichert werden mußte. Schließlich wäre das gesamte "Geschäftsmodell" des Devisenbeschaffers Photoindustrie geplatzt, wenn für jedes Objektiv Lizenzgebühren hätten abgetreten werden müssen. Dieser Aspekt ist bislang zu wenig beachtet worden, wenn es um die Frage geht, weshalb manche Produkte so spät oder letztlich sogar überhaupt nicht produziert wurden.


Als eigentlicher Hemmschuh für das Projekt Zoomobjektiv erwies sich dann jedoch die Eingliederung des VEB Pentacon in das Kombinat Carl Zeiss JENA zum 1. Januar 1985, die gewissermaßen dessen zweite Phase markiert. Besonders negativ wirkte sich dabei aus, daß nicht das bisherige Kombinat Pentacon in seiner Gesamtheit eingegliedert wurde, sondern die Einzelbetriebe des zuvor zerschlagenen Kombinates. Aus dem oben bereits genannten Aufsatz von Wolf-Dieter Prenzel, der an der Entwicklung dieses Zoomobjektives beteiligt gewesen ist, kann man herauslesen, daß zur Realisierung des Vorhabens Investitionen veranschlagt wurden, die auf einen Deviseneinsatz im Umfang von etwa 24 Millionen Westmark hinausliefen, dieser Betrag dann aber etwa hälftig zwischen dem VEB Pentacon und dem VEB Feinoptisches Werk gesplittet werden mußte, damit in Dresden damit das Projekt Praktica BX21 DX fertiggestellt werden konnte [Vgl. ebenda, S. 26]. Zusätzlich wurde der für Görlitz zugebilligte Anteil an Investitionsmittel auch noch auf die Jahre 1990 bis 1992 gestreckt, weshalb die noch für 1989 angepeilte Vorserienproduktion und der anschließende Serienanlauf für 1990 illusorisch wurden.


Man muß sich nun vergegenwärtigen, welcher immense Aufwand während dieser zweiten Phase bereits in die Entwicklung dieses Görlitzer Zooms gesteckt worden war. Das lag daran, daß ein Varioobjektiv längst nicht nur Klippen in Bezug auf die optische Berechnung bedeutete, sondern derartige Objektive prinzipbedingt ganz spezielle interne Verstellmechaniken erforderten, die den Herstellern immense Probleme bereiteten. Die dafür notwendigen mechanischen Komponenten verkomplizierten die Fertigung eines solchen Objektives in solch einer drastischen Weise, daß insbesondere für eine großtechnische Umsetzung der Produktion völlig neue Technologien erarbeitet werden mußten und diese nur mit dem modernsten Maschinenpark beherrschbar war.


Bei genauerer Betrachtung läßt sich schlußfolgern, daß genau diese mechanischen Herausforderungen den hauptsächlichen Knackpunkt bildeten, der den Zoomobjektivbau in der DDR derart hemmen sollte. Deutlich wird das am Beispiel des Jenaer Vario-Pancolars 2,7-3,5/35-70 mm, dessen optische Entwicklung bereits 1983 abgeschlossen worden war, das allerdings erst ab 1987 in Saalfeld in die Fertigung gelangte. Dabei waren dessen hergestellten Stückzahlen derart gering, daß es im Vergleich zum Volumen der jährlich produzierten Kameras im Promillebereich rangierte. Eine Alternative zum Normalobjektiv als Standardbestückung für die Praktica war damit jedenfalls nicht aufzuziehen. Zu groß waren die Schwierigkeiten beim Herstellen der kurvengesteuerten Rohrstutzen und ihrer Montage und Justage im Verbund mit dem optischen System.

Pentacon Prakticar 35-70mm Prototyp

Versuchsmuster des Görlitzer Varioobjektivs 3,5-4,8/35-70 mm. Deutlich ist am äußeren Erscheinungsbild  die Herkunft der Fassung aus Saalfeld zu erkennen. Photos von Marc-Alexander Heckert.

Pentacon 35-70mm Prototyp

Vor diesem Hintergrund ist das oben gezeigte Musterobjektiv des späteren Görlitzer Standardzooms interessant, da es in eine Fassung eingebaut ist, die eine verblüffende Ähnlichkeit zu derjenigen des besagten Zeiss Vario-Pancolars aufweist. Das liegt daran, daß angesichts der nicht mehr zu übersehenden Entwicklungen auf dem Weltmarkt ab Anfang 1986 endlich ernsthaft die Umsetzung einer DDR-eigenen Zoomobjektivproduktion in Angriff genommen wurde und dabei die Entwicklungsleitung nunmehr vom VEB Carl Zeiss JENA in Anspruch genommen wurde. Das hatte zur Folge, daß die bisherigen Görlitzer Konstruktionsarbeiten vollständig ad acta gelegt wurden [Vgl. ebenda].

Meyer Görlitz Zoom Schnittzeichnung
Vario-Pancolar Schnittzeichnung

Dieser Umstand wird auch durch einen Vergleich der Linsenschnitte des Görlitzer Zooms (oben) mit demjenigen des Vario-Pancolars von Zeiss Jena (darunter) deutlich. Unverkennbar ist der Grundaufbau identisch. Als wesentlicher Unterschied fällt lediglich ins Auge, daß die hintere Planplatte des Vario-Pancolar, die gleichsam zur Abdichtung des optischen Systems gegenüber Staub dient und zusätzlich die Konstanthaltung der Bildebene unterstützt, beim lichtschwächeren Meyer-Objektiv fortgelassen wurde. Damit ist das "Meyer-Optik 35-70 mm" als Ausführungsform des Vario-Pancolar-Patentes DD235.122 anzusehen, das von Utz Schneider, Volker Tautz und Karin Holota am 1. März 1985 angemeldet wurde.


Mit den oben bereits angesprochenen Schwierigkeiten, die man in Saalfeld bei der Herstellung der Fassung für das Vario-Pancolar hatte, wurde jedoch rasch klar, daß im Gegensatz zu seiner optischen Konstruktion das Zeissobjektiv keinesfalls als Vorbild für den mechanischen Aufbau eines Görlitzer Pendants dienen konnte. Bei einer ernsthaften Einführung als Standardbestückung für Praktica-Kameras hätten nämlich vom Görlitzer Zoom in kurzer Zeit Stückzahlen im sechsstelligen Bereich produziert werden müssen. Die aufwendige Vollmetall-Ausführung und die komplizierte Justage des Vario-Pancolars ließen in Saalfeld hingegen nur eine Fertigung in Kleinmengen zu, weshalb es praktisch niemals in den Geschäften der DDR anzutreffen war.


Eine der Durchsicht der Patentliteratur läßt nun erkennen, wie seit Frühjahr 1986 intensiv an der Umsetzung einer rationellen mechanischen Konstruktion für das zu schaffende Zoomobjektiv gearbeitet wurde, damit insbesondere die diesbezüglichen "Flaschenhälse"  im Montageprozeß zu überwinden wären. Eine erste Patentanmeldungen Wolf-Dieter Prenzels mit der Nummer DD247.295 vom 31. März 1986 beschäftigt sich dabei noch mit einer grundlegenden mechanischen Lösung, um die Drehbewegung eines Einstellringes in lineare oder nichtlineare "Hubbewegungen" umwandeln zu können – essentielle Basis eines jeden Zoomobjektivs. Weitere Schutzrechtanmeldungen belegen, daß man anschließend überhaupt erst einmal Grundlagen für das Justieren und Einmessen eines solchen Objektives schaffen mußte. Die Patentschrift Nr. DD268.066 vom 22. Dezember 1987 beschreibt ein Verfahren zur Begrenzung der axialen Bildauswanderung, die für uns deshalb noch von besonderem Interesse ist, weil sie meiner Auffassung nach eine Alternative zum im VEB Carl Zeiss Jena praktizierten Justierverfahren beschreibt. Jene war offenbar unter Mitwirkung Karin Holotas erarbeitet worden, die als Co-Patentinhaberin des Vario-Pancolars 2,7-3,5/35-70 mm bekannt ist. Dabei umgeht die Görlitzer Lösung die einzelnen "Annäherungsschritte" an eine ideale Justierung, wie sie beim Jenaer Verfahren offenbar notwendig waren. In diesen Justageprozessen liegt demnach einer der zentralen Knackpunkte für eine massenfabrikatorischen Fertigung eines Zoomobjektivs mit möglichst geringem Personalaufwand. Einen dazu fast deckungsgleichen Inhalt weist daher auch die Patentschrift Nr. DD270.385 vom 25. März 1988 auf. Neben Prenzel werden auch die Herren Brunkel, Herrig und Glier als Erfinder benannt. Ferner scheinen auch die Patente Nr. DD285.308 und DD291.153 vom Juni und Dezember 1989 in Bezug auf dieses Görlitzer Standardzoom erarbeitet worden zu sein, die Gerätschaften und Verfahren zur Justage und Prüfung beschreiben.

DD268.066 Justage Zoom

Diese charkteristische Form dieser Patentüberlieferung läßt also erahnen, welche Schwierigkeiten überwunden werden mußten, um den Herstellerbetrieb erst einmal in die Lage zu versetzen, ein solches Zoomobjektiv überhaupt herstellen zu können. Angesichts der Tatsache, daß die optische Berechnung des Zoomobjektivs also lange bereits vorlag, wird die Verzögerung in Hinblick auf die Entwicklung der Objektivfassung um so deutlicher. Daß diesbezüglich bis in die Wendezeit hinein Grundlagenpatente angemeldet wurden, zeigt, wie umfassend man Neuland betrat und wie weit andererseits der Rückstand gegenüber der international verfügbaren Fertigungs- und Prüftechnologie angewachsen war. Man sah sich Ende der 80er Jahre offenbar in einer derart ausweglosen Lage, daß ab 1988 Verbindungen zu der Japanischen Firma Sigma aufgenommen wurden, um auf diesem Wege an den unabdinglich notwendigen hochpräzisen Maschinenpark für die Optik- und Mechanikfertigung einschließlich der Prüfgeräte für die Justage und Qualitätsüberprüfung zu gelangen. Eine solche Vorgehensweise war deshalb heikel, weil die dafür notwendigen computergesteuerten Metallbearbeitungsmaschinen prinzipiell auch für die Rüstungsproduktion eingesetzt werden konnten und daher auf den westlichen Embargolisten standen. Offensichtlich muß man sich die Kooperation mit Sigma so vorstellen, daß sie ähnlich wie im Fall der Motorenproduktion für Volkswagen in Karl-Marx-Stadt darauf hinausgelaufen wäre, mit japanischen Maschinen eine Teile-Produktion für Sigma aufzuziehen und gleichzeitig damit auch den DDR-Eigenbedarf abzudecken. Über die genauen Hintergründe und die tatsächlich erreichten Vereinbarungen ist allerdings wenig bekannt, was unter anderem auch daran liegt, daß die Grundlagen für eine Kooperation im Zuge der Auflösung der DDR ab Herbst 1989 rasch hinfällig wurden. Letzte Gespräche mit Sigma vom Sommer 1990 endeten daher ergebnislos.


Im Umfeld der bevorstehenden Wirtschafts- und Währungsunion mit der Bundesrepublik Deutschland vom Juli 1990 schließt sich daher gewissermaßen eine dritte Phase für das Görlitzer Standardzoom an. Zum selben Zeitpunkt war das Feinoptische Werk in Görlitz in eine GmbH umgewandelt worden. Unterstützt durch die Treuhandgesellschaft wurde nun in dem personell bereits stark dezimierten Werk an einer Überarbeitung des Zoomobjektivs gearbeitet, um endlich eine Serienfertigung aufnehmen zu können. Hilfreich war dabei, daß bei der Fertigung der optischen und vor allem mechanischen Einzelteile endlich auf spezialisierte Zulieferfirmen in der Bundesrepublik zurückgegriffen werden konnte [Vgl. ebenda, S.27.]. Die äußere Erscheinung des Meyer 3,5-4,8/35-70 wurde nun durch kostengünstig herstellbare Kunsttoff-Spritzteile dominiert. Doch auch eine von der Treuhand zugesicherte Subventionierung bei Anlaufen einer Serienfertigung half nichts: Im Sommer 1991 wurde "Meyer-Optik" endgültig liquidiert. Zweihundert Stück eines Serienobjektivs existieren heute nur deshalb, weil bereits vorhandene Teile später von einer Nachfolgefirma komplettiert worden sind.

Als Fazit muß man also konstatieren, daß es trotz aller Konzeptionspapiere, Klausurberatungen und "langfristigen Entwicklungskonzeptionen (LEKO)" während der gesamten 1980er Jahre nicht gelungen war, der DDR-Photoindustrie ein einfaches Zoomobjektiv als Minimalausstattung zur Verfügung zu stellen. Die Frage danach, wem dafür letztlich die Schuld zuzuweisen ist, interessiert heute allenfalls noch Historiker. Und vor allem haben sich damals die Kunden auf den avisierten NSW-Märkten nicht für die dahinterstehenden Gründe interessiert. Die kauften mittlerweile, insbesondere als ab 1985 die neuen Autofokus-Spiegelreflekameras aufkamen, ihren Photoapparat längst mit einer serienmäßigen Zoomausstattung. Binnen weniger Jahre hatte sich das Normalobjektiv von der Standardbestückung der Kamera zu einer Art Zusatzobjektiv entwickelt, das allenfalls im Nachhinein gekauft wurde, um beispielsweise bei schlechten Lichtverhältnissen photographieren zu können.


Zu diesem Veränderungsprozeß, der sich während der 1980er Jahre auf den Westmärkten vollzog, muß bemerkt werden, daß man in der DDR mit einem Standardzoom des Brennweitenbereichs 35-70 mm der internationalen Entwicklung bereits um beinah ein Jahrzehnt hinterherhinkte. Zoomobjektive mit diesen Daten waren seit Mitte der 1980er Jahre schon billige Kaufhaus- oder Katalogware geworden, wie das oben gezeigte "Prakticar Auto-Zoom 3,5-4,8/35-70", das von der Japanischen Firma Cosina unter verschiedenen Bezeichnungen für mannigfaltige Kameraanschlüsse in riesigen Mengen und zu billigsten Preisen ausgestoßen wurde. Vor diesem Hintergrund zeigt sich überdeutlich, wie sehr die DDR-Photoindustrie Ende der 80er Jahre ihre Konkurrenzfähigkeit eingebüßt hatte, wenn solch eine Standardware in Görlitz nun noch einmal mit riesigem Aufwand "neu erfunden" werden mußte.


Dementsprechend aussichtslos waren daher auch die Startbedingungen, als der Görlitzer Objektivhersteller im Sommer 1990 privatisiert wurde. Ein auf 300,- D-Mark festgesetzter Verkaufspreis für das "Meyer-Optik 35-70 mm" war für die infragekommende Kundschaft völlig unattraktiv. Mit der Praktica BMS oder der BX20s vergleichbare konkurrierende Manuellfokus-Spiegelreflexkameras, die Anfang der 90er Jahre ohnehin bereits zu den Auslaufmodellen zählten, waren zu Preisen zwischen etwa 300,- und 450,- D-Mark zu haben – und zwar inklusive einem einfachen Zoom 35-70 mm...

Exkurs: Lage auf dem "Weltmarkt"

Weil vielleicht heute nicht mehr jeder einordnen kann, wie die Wettbewerbssituation im Bereich der Standardzooms Ende der 80er Jahre überhaupt ausgesehen hat, unten mal eine Marktübersicht für die alte Bundesrepublik aus einem Sonderheft der Stifung Warentest mit Redaktionsschluß November 1988. Neben dem Qualitätsurteil ist auch der damalige Ladenpreis interessant, um Vergleiche zu ziehen. Was als erstes auffällt: Standardzooms mit einem Brennweitenbereich von 35-70 mm sind schon gar nicht mehr berücksichtigt. Diese waren in der Käufergunst quasi durch Typen mit der Anfangsbrennweite 28 mm verdrängt worden. Zweitens ist auch diese Marktübersicht nur eine kurze Momentaufnahme, denn diese ganzen manuell fokussierbaren Zooms gerieten durch die sich rasch verbreitenden Autofokuskameras recht bald zum Nischenprodukt. Entsprechend verfielen daher in der Folgezeit auch die Preise. Und drittens sieht man, daß sich Hersteller wie Cosina ihre Absatzzahlen sicherten, indem sie ihre Objektive für andere Marken umlabelten. So stammt das Exakta MC 4/28-70, das Voigtländer Dynarex und sicherlich auch das Revue-Zoom von Cosina. Auch hinter Hanimex, Vivitar und Soligor verbargen sich Japanische Hersteller aus der "dritten Reihe".

Marktübersicht Standardzooms
Marktübersicht Standardzooms
Marktübersicht Standardzooms

In Anbetracht dieser Marktlage muß man leider zu dem Schluß kommen, daß weil der DDR-Objektivbau bereits die Entwicklung eines für Massenfabrikation geeigneten, einfachen Standardzooms 35-70 mm verschleppt hatte er erst recht keine Antwort auf diese Nachfolgegeneration an Standardzooms bieten konnte. Wie sollte vor diesem Hintergrund nur eine gerade erst privatisierte Feinoptik Görlitz GmbH am Markt bestehen? Als Todesstoß erwies sich schließlich die Einstellung der Praktica-Produktion im November 1990, denn damit war die einzig halbwegs sichere Absatzchance für Görlitzer Objektive weggebrochen. Als dann die Praktica-Fertigung aus vorhandenen Teilen im Jahre 1992 doch noch wiederaufgenommen wurde, war der Faden nach Görlitz freilich längst gerissen.

Marco Kröger


letzte Änderung 6. September 2022