zeissikonveb.de
Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Paul Rudolph
Bezwinger des Astigmatismus
Gleich mit zwei bedeutenden Unternehmen unserer Mitteldeutschen Photoindustrie ist der Name Dr. Paul Rudolph (1858 bis 1935) verbunden. Aber die Superlative häufen sich ohnehin, wenn von diesem Mann die Rede ist. Immer wenn es um den in der Optik so wichtigen Begriff des Astigmatismus geht, wird Rudolph im gleichen Atemzug genannt werden. Ganz dem Vorbild Josef Petzvals folgend, hat Paul Rudolph den Photoobjektivbau auf einer wissenschaftlichen Basis durchgeführt. "Ueber den Astigmatismus photographischer Linsen, dessen Wesen, Wirkung und Beseitigung" ist sein grundlegender Aufsatz zu diesem Sachgebiet betitelt, der in zwei Teilen in den Jahren 1891 und 1893 in Eders Jahrbuch erschien. Mit dem darin beschriebenen "Rudolph'schen Prinzip der anastigmatischen Bildfeldebnung" wurde ein neues Zeitalter in der rechnenden Optik eröffnet.
Paul Rudolph portraitiert vom Görlitzer Stadtphotographen Alfred Jäschke (1886 bis 1953) in den späten 1920er Jahren. Umfangreich publiziert wurde dieses Bild anläßlich Rudolphs 70. Geburtstages. Als Aufnahmeobjektiv diente übrigens sein Doppelplasmat 4/42 cm.
Ein erstes Triplet
Es war die durch die Arbeiten Otto Schotts geschaffene neuartige Materialbasis, die ab etwa 1886 den Objektivbau beflügelte. Insbesondere die für die Korrektur der Abbildungsfehler dringend benötigten hochbrechenden Krongläser hatten sich bereits in kürzester Zeit bei der Entwicklung von Mikroskop-Objektiven sehr bewährt. Der damals gerade erst 30-jährige Assistent Ernst Abbes regte daraufhin im Jahre 1888 an, diese neuen Korrekturmöglichkeiten durch einen Eintritt des Zeißwerks in das Marktsegment des Photoobjektivbaus weiter auszuschöpfen. Ein zuerst nach Vorschlägen Abbes entwickeltes Triplet [DE55.313 vom 3. April 1890] erwies sich als noch stark vom Mikroskop-Objektivbau geprägt: Die sphärische (Kurven in a) und vor allem die chromatische Aberration waren gut auskorrigiert, aber zwei in entgegengesetzte Richtungen weit auseinanderlaufende Bildschalen (Kurven in b) sorgten dafür, daß quasi nur die Bildmitte scharf abgebildet wurde [nach Zöllner, Harry: Jena - seit 70 Jahren Zentrum der Fotoobjektiventwicklung, Zum 100. Geburtstag von Dr. Paul Rudolph; in Fotografie 11/1958, S. 395.].
Um zu erklären, wie die Darstellung des Ausmaßes des Astigmatismus im Koordinatensystem b) des Abbe-Rudolph-Triplets zustande kommt, sind die optischen Hintergründe dafür oben einmal in (stark vereinfachender) Form gezeigt. Die beiden Hauptstrahlen 1 und 2 fallen mit ihren Bildwinkeln α1 und α2 schräg zur optischen Achse ein, verlaufen durch den Mittelpunkt der Blende und werden anschließend in den bildseitigen Brennpunkten F'1 und F'2 abgebildet. Eine Schar an dünnen Hauptstrahlen formt dann in seiner Gesamtheit die sagittalen Bildschale S. Im Gegensatz zur tangentialen Bildschale, die sich im Beispiel dieses Triplets nur marginal von der Mattscheibenebene ME entfernt, bricht die sagittale Schale mit zunehmendem Bildwinkel dermaßen aus, daß sie am äußersten Bildrand 6% weiter von der Mattscheibenebene ME entfernt ist als der Achsenbildpunkt F'. Das würde bedeuten, daß bei einem Objektiv mit 100 mm Brennweite der Schärfepunkt am Bildrand 6 mm vor der Schärfeebene in der Bildmitte liegen würde. Es ist verständlich, daß auf diese Weise kein einheitlich scharfes Bild zu erreichen ist. Entweder kann man nur auf die Bildmitte scharfstellen, oder nur auf den Bildrand. Dabei ist die Entfernung D zwischen den beiden Bildschalen der eigentliche Astigmatismus. Denkt man sich nun die Kurven S und T als um die optische Achse rotierend, dann repräsentieren die beiden sich dabei ergebenden Flächen die Form der besagten Bildschalen.
Das im DRP 55.313 vom 3. April 1890 geschützte Abbe-Rudolph-Triplet. Eine der drei angegebenen Ausführungsformen ermöglichte sogar eine apo-chromatische Korrektur. Das änderte freilich nichts daran, daß dieses Objektiv im praktischen Einsatz außerhalb der Bildmitte kaum bessere Resultate lieferte, als die Aplanate und Antiplanete aus den 1860er Jahren.
Der Anastigmat
Abbe und Rudolph war nach diesem ersten Mißerfolg klar, daß für den Bau von Photoobjektiven ein gänzlich neuer Ansatz verfolgt werden müsse, der auf eine anastigmatische Bildfeldebnung hinauszulaufen hatte. Anders als beim Mikroskop oder beim Fernrohr verlangen Photoobjektive nämlich nach einem vergleichsweise großen Gesichtswinkel. Schon beim sogenannten Normalobjektiv nimmt dieser Größenordnungen von 50 Grad an. Es ist dabei nicht mehr zu vernachlässigen, daß Licht, das das optische System in unterschiedlichen Ebenen schräg durchläuft, in keinem gemeinsamen Brennpunkt vereinigt wird. Vielmehr bilden sich zwei sogenannte Bildschalen – daher auch Zweischalenfehler genannt –, die dazu führen, daß ein Punkt des Aufnahmegegenstandes nicht wieder als ein Punkt, sondern als eine Art Lichtstrich abgebildet wird. Man spricht demzufolge von Punktlosigkeit oder griechisch Astigmatismus.
Oben sind die Hauptschnitte gezeigt, die sich ergeben, wenn man von vorn auf die kreisrunde Fläche einer Linse schaut. Der Tangential- bzw. Meridionalschnitt enthält in seiner Schnittebene stets die optische Achse mit ihrem Durchstoßungspunkt Z. Ein Strahlenbündel kann aber auch in senkrecht dazu liegenden sagittalen bzw. äquatorialen Hauptschnitten ausgerichtet sein, die nie die optische Achse enthalten. Im Gegensatz zu den tangentialen Schnitten, die auch nach der Brechung in der Ebene der optischen Achse verbleiben, wechseln die sagittalen nach jeder Brechung ihre räumliche Lage und bereiten aufgrund ihrer fehlenden Symmetrie zur optischen Achse dem Optikrechner enorme Schwierigkeiten [nach Fincke].
Anhand der Skizze unten läßt sich gut nachvollziehen, wie sich radiale und tangentiale Linien im Objektpunkt P durch die Brechnung an einer Linse in eine sagittal oder auch äquatorial genannte und in eine tangential oder meridional genannte Bildschale aufgliedern. Die eigentliche Ursache für diese Erscheinung liegt darin, daß bei schrägem Lichteinfall die Linse für diese beiden Einfallsebenen einen unterschiedlichen Querschnitt aufweist. [nach Naumann, Das Auge meiner Kamera, 1937.]
Diese Punktlosigkeit ist also wortwörlich zu verstehen. Bei der Abblidung eines seitlich gelegenen Objektpunktes P wird ein tangential bzw. meridional ausgerichtetes Lichtbüschel stärker gebrochen als das senkrecht dazu stehende sagittale bzw. äquatoriale Büschel [Abb. nach Naumann]. Aus dem Objektpunkt P wird dann eine im tangentialen Vereinigungspunkt P't waagerecht stehende Linie, während der weiter entfernte sagittale Vereinigungspunkt P's senkrecht dazu verläuft. Und die Entfernung der beiden strichförmigen Vereinigungen nennt man astigmatische Differenz.
Ein mit diesem Fehler des Astigmatismus behaftetes Objektiv läßt sich also stets entweder nur auf senkrecht oder waagerecht (genauer: tangential und radial) ausgerichtete Bildeinzelheiten scharfstellen. Entweder erscheint nur die Felge eines Rades scharf, oder nur dessen Speichen. Um diesen in der Praxis unerträglichen Übelstand auszumerzen, muß in einem ersten Schritt die sogenannte sagittale mit der meridionalen Bildschale vereinigt werden. Das genügt aber meist noch nicht. Denn nun liegen die Bildunkte aus beiden Strahlenbüscheln zwar auf einer gemeinsamen Ebene, diese ist aber oftmals nach wie vor schalenförmig durchbogen. Deshalb muß eine anastigmatische Korrektur eines optischen Systems eigentlich immer mit einer gleichzeitigen Ebnung des Bildfeldes einhergehen, damit die Brennpunkte in der Bildmitte und am Rand so exakt wie möglich auf der flachen Photoplatte liegen. Das Ergebnis wäre ein nicht mit Punktlosigkeit behaftetes Objektiv – ein Anastigmat.
Den dahingehend bereits im Frühjahr 1889 erreichten Fortschritt erkennt man oben an den Bildfehlerkurven des ersten Zeiss-Anastigmaten, der später, nachdem auch andere Hersteller derlei anastigmatisch auskorrigierte Objektive im Angebot hatten, in Protar umbenannt wurde [DRP Nr. 56.109 vom 3. April 1890]. Im direkten Vergleich sieht man nun, wie sich im Koordinatensystem b) die Kurven für die meridionale und sagittale Bildschale regelrecht um die Bildebene (≙ y-Achse) "herumschlängeln". Ganz am Bildrand, bei einem halben Bildwinkel von etwas über 25 Grad, fallen beide Schalen sogar wieder mit der Bildebene zusammen. So etwas hatte es bis dahin nicht gegeben!
Anhand der oben im Korrdinatensystem a) wiedergegebenen Kurven erkennt man aber auch, daß mit diesem einfachen Duplet die sphärische Aberration nur bedingt beherrschbar war. Die sogenannten Zonen – die Ausbeulung der Kurven, bevor sie am Rande der Objektivöffnung wieder die Bildebene schneiden – waren gegenüber dem Abbe-Rudolph-Triplet sogar wieder größer geworden. Und das bei bescheidener Lichtstärke, die kaum über das hinausging, was damalige Aplanate und Antiplanete boten. Aus den Kurven des Kugelgestaltsfehlers und der Abweichung von der Sinusbedingung ist ersichtlich, daß für das oben gezeigte Rechenbeispiel eine Lichtstärke von um die 1:8 veranschlagt gewesen ist. Bei größeren Öffnungen gab es Schwierigkeiten, gleichzeitig mit der anastigmatischen auch eine gute sphärische Korrektur umzusetzen.
Oben: Die Restwerte der Bildfeldkrümmung bei den Zeiss-Anastigmaten 1:4,5; 1:6,3; 1:7,2; 1:9; 1:12,5 und 1:18. Bei letzterem wird noch zwischen kurz- und langbrennweitigen Typen unterschieden.
Unten: Desgleichen für die Restbeträge der astigmatischen Differenz - also dem Auseinanderlaufen von sagittaler und tangentialer Bildschale. Zum Vergleich jeweils ein Aplanat. [Nach: Rudolph, Ueber den Astigmatismus photographischer Linsen, Teil 2; in: Eder, Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Band 7/1893, S. 221ff.]
Paul Rudolph hat zwar seinen Protar-Anastigmat bis zu einer Lichtstärke von 1:4,5 bringen können, was nach damaligen Maßstäben für ein Universalobjektiv mit großem Bildwinkel ein sagenhaft großer Wert war. Nach Eder seien diese lichtstarken Serien aber schon nach kurzer Zeit wieder vom Markt genommen worden. Länger gehalten haben sich demnach nur die Serien IIIa und V mit Lichtstärken von 1:9 und 1:18, die als Weitwinkelsysteme mit Bildwinkeln bis über 100 Grad einsetzbar waren. [Vgl. Eder, Josef Maria: Die photographischen Objektive; in: Ausführliches Handbuch der Photographie, Band I, 4. Teil, 1911, S. 130].
Oben: Der teils noch bis in die 1920er Jahre hergestellte Protar-Anastigmat 1:18 für Weitwinkelaufnahmen bis 110 Grad. Bei diesem lichtschwächsten Typ konnte die astigmatische Differenz so stark zurückgedrängt werden, daß diese Leistung auch bei Erscheinen der nachfolgenden Objektivkonstruktionen zunächst nicht zu übertreffen war. Hohe Lichtstärken waren bei extremen Weitwinkelaufnahmen aufgrund der hohen Vignettierung ohnehin nicht gefordert.
Unten: Mitteilung Stolzes über die neuen Zeiss-Anastigmate in Josef Maria Eders "Jahrbuch für Photographie und Repruduktionstechnik" aus dem Jahre 1891 auf Seite 367f.
Doch wo lag nun der Ansatzpunkt für Paul Rudolph, diesen schwerwiegenden Abbildungsfehler überhaupt in den Griff zu bekommen? Schließlich lag dessen Ursache in der Gestalt der Linsen per se verwurzelt und er war daher – im Gegensatz zu vielen anderen die Bildqualität verschlechternden Aberrationen – auch nicht durch bloßes Abblenden zurückzudrängen:
"Der Astigmatismus verhindert das Zustandekommen scharfer Bilder auch bei ganz kleiner Öffnung. Aufgehoben kann der an einer Fläche entstehende Astigmatismus dadurch werden, daß man das Lichtbüschel an einer entgegengesetzt wirkenden Fläche so brechen läßt, daß die Vereinigungen der Sagittal- und Meridionalstrahlen wieder gleich weit auseinander zu liegen kommen." [Eder, Photographische Objektive; in: Handbuch Photographie, Band I, Teil 4, 1911, S.11.]
Soweit die Theorie. Aber wie genau läßt man eine Fläche "entgegengesetzt wirken"? Und wieso war das in den 50 Jahren nach Josef Petzvals ersten analytisch geschaffenem Photoobjektiv bislang niemandem gelungen? Immerhin hatte dieser für die Geschichte der Photooptik sehr bedeutende Wiener Mathematiker bereits im Jahre 1843 mit der Formulierung seiner Petzval-Bedingung die theoretische Grundlage für die Lösung dieses Problems aufgezeigt. Um die sogenannte Petzval-Summe gegen Null zu bringen und damit das Bildfeld zu ebnen, bedarf es letztlich einer Linsenkombination, bei dem die Quotienten aus Brechzahl und Farbzerstreuung beider Linsen gleiche Werte annehmen [Vgl. Flügge, Das photographische Objektiv; in: Michel: Die wissenschaftliche und angewandte Photographie, Band 1, 1955, S. 170/171.].
Die Schaffung einer diese Bedingung erfüllenden Linsenkombination war aber bislang daran gescheitert, daß jene mit den damals zur Verfügung stehenden optischen Gläsern nicht gleichzeitig achromatisierbar gewesen wäre. Die bisherigen Glassorten boten entweder bei hoher Brechzahl eine entsprechend große Farbzerstreuung (Flintglas), oder wenn die Farberstreuung niedrig ausfiel, dann war auch die Brechzahl nur klein (Kronglas). Durch diesen vorgegebenen Zusammenhang zwischen Brechzahl und Dispersion konnte ein Achromat nur dadurch erzielt werden, indem seine Sammellinse aus niedrig brechendem Kronglas und die Zerstreuungslinse aus stark brechendem Flint bestand. Denn damit die Kombination beider Elemente insgesamt noch sammelnde Wirkung zeigte, mußte die Sammellinse gegenüber der Zerstreuungslinse natürlich deutlich stärkere Brechkraft aufweisen. Damit diese schwächer brechende Zerstreuungslinse dann aber überhaupt noch die von der Sammellisne erzeugte Dispersion in die andere Richtung kompensieren konnte, mußte sie zum Ausgleich bislang stets aus dem viel stärker dispergierenden Flintglas bestehen. Mit dieser Bedingung war aber auch die Brechkraftverteilung im Achromat zementiert.
Das bereits im 18. Jhd. genutzte Prinzip der Achromatisierung läßt sich am besten anhand von Prismen erklären. Vergleicht man zwei Prismen aus Flint- und aus Kronglas miteinander, die beide denselben Brechwinkel aufweisen, dann wird durch den etwas höheren Brechungsexponenten des Flintglases das Licht einerseits stärker gebrochen, andererseits aber durch die etwa doppelt so große Dispersion viel stärker in seine Regenbogenfarben aufgefächert (übertrieben dargestellt). Verkleinert man nun den brechenden Winkel des Flintglasprismas auf die Hälfte, dann wird das Licht zwar weniger stark abgelenkt, die Farbzerstreuung ist jetzt aber gleichgroß wie beim Kronglasprima. Läßt man diese beiden Prismen nun gegeneinander arbeiten, dann ist die Kombination achromatisch, das heißt das Flintglasprisma kompensiert die Farbzerstreuung des Kronglasprismas, dessen Brechkraft trotzdem überwiegt. [Abb. nach Naumann, Das Auge meiner Kamera, 1937, S. 36.]
Mit einem solchen, auf den bisher verfügbaren Gläsern aufgebauten Altachromaten waren zwar der Farblängs- und auch der Farbquerfehler gut beherrschbar und mit der Durchbiegung der Kittfläche konnte zudem die sphärische Aberration gemildert werden, doch die oben genannte Forderung der Petzval-Bedingung, wonach das Verhaltnis von Brechzahl und Farbzerstreuung in beiden Linsen des Achromaten auf gleiche Werte gebracht werden müsse, war mit diesen bisherigen Gläsern keinesfalls zu erreichen. Bei den sogennanten alten Glassorten war der Quotient aus Brechzahl und Abbe'scher Zahl beim Flintglas annähern doppelt so groß als beim Kronglas. Das war der Grund dafür, weshalb der Pionier des modernen Objektivbaus, Adolph Steinheil, im Jahre 1881 noch scheitern mußte, als er versuchte, die positive Linse in der vorderen Gruppe durch ein hochbrechendes Glas zu ersetzen. Steinheil hatte zwar mit diesem Schritt den richtigen Pfad zur Minderung des Astigmatismus erkannt, doch gelang ihm mit seinem Gruppen-Antiplaneten noch nicht der volle Erfolg, weil mit den damaligen Gläsern keine gleichzeitige Achromatisierung möglich war [Vgl. Eder, Josef Maria: Die photographischen Objektive; in: Ausführliches Handbuch der Photographie, Band I, 4. Teil, 1911, S. 25.].
Der Gruppen-Antiplanet von Adolph Steinheil war im Jahre 1881 der erste Versuch, ein Objektiv mit verminderter astigmatischer Differenz zu schaffen [DRP 16.354], indem er zwei Objektivhälften mit jeweils entgegengesetzten Fehlern in Bezug auf Kugelgestalt, Farbzerstreuung usw. gegenüberstellte. Paul Rudolph konnte zehn Jahre später in seinem Aufsatz über Astigmatismus nachweisen, daß Steinheil diesbezüglich noch keine echte Verbesserung gegenüber seinem Aplanaten erreicht hatte. Steinheil hatte mit seinem Konstruktionsprinzip der gegensätzlich korrigierenden Objektivhälften aber den richtigen Weg gewiesen und Rudolph konnte ihn mithilfe der neuen Glassorten verwirklichen und bis zum Tessar zur Vervollkommnung bringen.
An diesem Gruppen-Antiplaneten werden aber auch noch zwei andere Schwachpunkte erkennbar, die dem modernen massenfabrikatorsichen Objektivbau abträglich waren. Die massive vierte Linse machte insbesondere bei längerbrennweitigen Exemplaren das Objektiv sehr schwer und zudem teuer in der Herstellung, weil ein riesiges Stück Rohglas benötigt wurde. Zweitens sorgte der extrem schmale Luftabstand zwischen beiden Objektivgruppen für Probleme. Hier war mit Ach und Krach gerade mal eine Blende unterzubringen. Der Einbau dieses Antiplaneten in einen Zentralverschluß war hingegen kaum möglich. Das war angesichts der neuzeitlichen Kameraentwicklungen sehr hinderlich. Moderne Objektive erkennt man daran, daß sie diese mechanischen Anforderungen erfüllten und mit ihren flachen und dünnen Linsen zudem viel kostengünstiger herstellbar waren.
Diese Situation änderte sich jedoch nachhaltig, als in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre die Materialbasis für die optische Industrie einen gewaltigen Schritt nach vorn machte. Dabei handelte es sich um die Früchte einer Zusammenarbeit des Zeisswerkes mit dem Chemiker Otto Schott, die der Weitsicht Ernst Abbes zu verdanken war. Nach langwierigen, systematisch vorgenommenen Untersuchungen brachte die Schott'sche Glashütte optische Gläser hervor, die sich in ihren Eigenschaften von den bisherigen Typen eklatant unterschieden und dem Objektivbau damit neue Möglichkeiten eröffneten. Zum einen waren dies die sogenannten Schwerkron-Gläser, die wie die bisherigen Krongläser eine geringe Farbzerstreuung aufwiesen und damit einen großen Zahlenwert für die relative Teildispersion v [sprich ny], die aber gleichzeitig Brechungskeoffizienten mitbrachten, wie sie bislang nur von Flintgläsern bekannt waren. Andererseits wurden aber auch Glassorten geschaffen, die mit ihren Eigenschaften zwischen Kron- und Flintgläsern changierten, und daher auch Kron-Flint genannt wurden. Sie wiesen eine Farbzerstreuung auf, die genau an der Grenze zwischen Kron- und Flintgläsern lag; also zu hoch für ein Kronglas, aber sehr niedrig für ein Flintglas. Die Brechzahl bewegte sich jedoch nur im Bereich einfacher Bor-Kron Gläser – also ausgesprochen niedrig für ein Flintglas. Zu Anfang wurden diese Sorten (zum Beispiel die Nummern 381 und 608) im Schott'schen Glaskatalog daher auch als "Kron mit hoher Dispersion" bezeichnet. Ebenfalls in diese Kategorie der gering brechenden aber trotzdem stark dispergierenden Flintgläser fielen auch die neuartigen Barit-Leichtflinte. Und eine ganz eigene Gruppe bildeten die sogenannten Kurz-Flinte, die zusätzlich mit ihren anomalen Verläufen der Dispersion ein Zurückdrängen der chromatischen Fehler über das gesamte sichtbare Spektrum möglich werden ließen. Bei der Kombination einer Sammellinse aus Schwerkron SK1 (n=1,61; ny=56,5) mit einer Zerstreuungslinse aus Kurzflint KzF3 (n=1,524; ny=53,1) ließ sich die Petzvalbedinung auf einmal vollständig erfüllen. Man kann das selbst leicht überprüfen, wenn man die Zahlenwerte in die oben angegebene Beziehung einfügt.
Oben ist einmal der Zusammenhang zwischen Refraktion und Dispersion, wie er in den Werten für den Brechungsindex n und der Maßzahl für die relative Farbzerstreuung v [griechischer Buchstabe "ny"] zum Ausdruck kommt, für verschiedene Glasorten schematisiert dargestellt [Abb. nach Naumann]. Bei gewöhnlichem Kronglas ist die Brechung relativ gering, aber auch die Zerlegung des Lichtes in seine Farben (Abstand von C und F) ist vergleichsweise klein. Bei Schwerkron bleibt diese kleine Dispersion erhalten, obwohl das Licht insgesamt so stark gebrochen wird, wie das bei gewöhnlichem Flintglas der Fall ist. Bei diesem Flint wird allerdings der blaue Strahl viel stärker abgelenkt als der rote, weshalb die Farbzerstreuung demzufolge sehr große Werte annimmt. Die Leichtflint-Gläser hat man nun seltsamerweise gezielt dahingehend getrimmt, daß man die hohe Farbzerstreuung des Flintglases beibehielt, während der Brechungsindex auf das geringe Niveau der Krongläser herabgedrückt wurde. Diese auf den ersten Blick wenig fortschrittlich erscheinende Eigenschaft entsprach freilich genau den Erfordernissen der optischen Industrie.
Auf dieser Materialbasis konnte jetzt ein Achromat gebildet werden, bei dem auf einmal die Sammellinse aus dem höher brechenden und die Zerstreuungslinse aus dem niedriger brechenden Glas bestand. Dieser bisher undenkbare Aufbau ließ die Optiker zur Abgrenzung vom altbekannten Typ bald von einem Neuachromaten sprechen. Der springende Punkt, weshalb dieser völlig neue Möglichkeiten für die Korrekturarbeit eröffnete, lag dabei darin, daß die Kittfläche in einem derartigen Neuachromaten nun eine sammelnde Wirkung aufwies, während sie bei den bisherigen Altachromaten stets zerstreuend gewirkt hatte.
Genau diese Eigenschaft hatte Paul Rudolph als Schlüssel dafür erkannt, erstmals eine vollständige Behebung des problematischen Astigmatismus erreichen zu können. Er stellte dazu einem Altachromaten mit seinem Korrekturpotential für die sphärische Aberration einen solchen Neuachromaten gegenüber. Dieser Konstruktionseinfall ermöglichte es Rudolph, mithilfe einer geschickten Abstimmung der Krümmungsverhältnisse beider Kittsysteme der einen Objektivhälfte genau den entgegengesetzten Astigmatismus der anderen Objektivhälfte aufzuprägen, sodaß sich beide gegenseitig kompensierten. Sehr hilfreich dabei war, daß beide Hälften für sich bereits gut achromatisiert waren, wobei auch hier die Gesamtkorrektur auf beide Hälften verteilt werden konnte.
Für die Lichtstärken 1:4,5; 1:6,3; 1:7,2 und 1:9 war der Protar-Anastigmat fünflinsig aufgebaut. In der vorderen Gruppe G1, die der sphärischen Korrektion diente, bestand die Linse L1 aus "herkömmlichem" Flint mit entsprechend hoher Brechzahl und Linse 2 aus ebenso herkömmlichem Kronglas mit entsprechend niedrigem Brechungsindex. Im hinteren, für die Beseitigung des Astigmatismus verantwortlichen Glied G2 bestanden die Linsen L3 und L5 aus den neuen Barium-Krongläsern mit außergewöhnlich hohem Brechungsindex bei kleiner Farbzerstreuung. Hierbei handelte es sich um das später als Schwerkron SK1 bezeichnete Glas mit der Hauptbrechzahl 1,61 und einem ny-Wert von 56,5. Die darin eingeschlossene Zerstreuungslinse L4 war dagegen aus dem neuartigen niedrig brechendem Flintglas gefertigt, dem damals so genannten Fernrohrflint mit einer Hauptbrechzahl von 1,52 (vermutlich das spätere Kurz-Flint KzF 3 mit einem ny-Wert von 53,1).
Protar-Anastigmate der Lichtstärken 1:12,5 und 1:18 brauchten demgenüber nur vierlinsig ausgeführt werden. Hier war im 2. Glied die Linse L3 aus dem neuen Kurzflint, die Sammellinse L4 dagegen aus schwerem Bariumsilikat-Kron mit der Brechzahl 1,573 [Vgl. Rudolph, Ueber den Astigmatismus photographischer Linsen, Teil 2; in: Eder, Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Band 7/1893, S. 225.].
Beinah wäre Dr. Adolph Miethe die Ehre zuteil geworden, als Bezwinger des Astigmatimus in die Geschichte einzugehen. Miethe hatte bereits im Jahre 1887 ein Doppelobjektiv berechnet, bei dem der Astigmatismus vollkommen aufgehoben war [Vgl. Eder, Ausführliches Handbuch der Photographie, erster Teil, zweite Hälfte, 1893, S. 91ff]. Er benutzte dazu neuartiges Bariumphosphat-Schwerkron mit der Hauptbrechzahl n = 1,576 und der Abbe'schen Zahl v = 65,2, dem er eine Zerstreuungslinse aus gewöhnlichem Leichtflint gegenüberstellte. Von dieser Berechnung ließ er Probeexemplare durch die Potsdamer Werkstatt von Edmund Hartnack herstellen und führte diese im Oktober 1888 dem Berliner Verein zur Förderung der Photographie vor [Vgl. Eder, Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, 1889, S. 327]. Zudem veröffentlichte er im Folgejahr einen Aufsatz über seinen Konstruktionserfolg in Eders Jahrbuch [Ebendort, S. 117ff.]. Die exakte Überprüfung dieser Exemplare ergab, daß Miethes Berechnungsansatz zwar grundsätzlich richtig war und er den Astigmatismus tatsächlich zum Verschwinden gebracht hatte, aber es blieb ein gewisser Rest an Krümmung der beiden zusammengelegten Bildschalen. Immerhin war die Bildleistung aber bis zu einem Feldwinkel von 50 Grad bedeutend besser als bei den bisherigen Aplanaten. Dennoch erreichte dieser Miethe-Anastigmat nie kommerzielle Bedeutung, allerdings aus einem ganz anderen Grund: Als nämlich gerade eine Serienfertigung begonnen werden sollte, mußten Hartnack und die Schott'sche Glasfabrik feststellen, daß das zugrundegelegte Phosphat-Schwerkron nicht langzeitstabil war, weil es bei Luftkontakt rasch verwitterte [Vgl. Eder, Ausführliches Handbuch der Photographie, erster Teil, zweite Hälfte, 1893, S. 92]. Derartige Gläser können nur eingebettet in Kittgruppen verwendet werden. Damit war der Ansatz gescheitert, anastigmatische Objektive auf Basis dieser extrem niedrig-dispergierenden Sonder-Krongläser aufzubauen. Vielmehr stellte es sich als nötig heraus, hochbrechenden Krongläsern niedrigbrechende und gleichzeitig niedrigdispergierende Flintgläser gegenüberzustellen, um Astigmatismus und Bildfeldwölbung gleichzeitig aufheben zu können – das Korrekturprinzip Rudolphs also.
Der Satzanastigmat
Trotz dieses bahnbrechenden Erfolge blieb der Zeiss'sche Anastigmat dazumal nicht lange ohne Konkurrenz. Das war auch nicht anders zu erwarten, nachdem Paul Rudolphs Anastigmat-Patent am 20. Mai 1891 veröffentlicht worden war. Etwa zeitgleich erschien auch sein eingangs bereits angesprochener Aufsatz "Ueber den Astigmatismus photographischer Linsen", in dem er als zentrales Postulat formulierte, der Astigmatismus sei um so geringer, je stärker ins Positive die Differenz der Brechungsexponenten von Crownglas minus Flintglas gelegt wird [in: Eder, Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Band 5/1891, S. 225ff.]. Dieser Erkenntnis stellte er aber auch die Tatsache gegenüber, daß für die gleichzeitige sphärische Korrektur die Brechzahl der Flintglaslinse einen wesentlich größeren Wert als diejenige des Kronglases haben müsse. Aus diesem Widerspruch leitete er die recht forsch formulierte Schlußfolgerung ab, die gleichzeitige Behebung von sphärischer Aberration UND Astigmatismus sei nur in einem unsymmetrisch aufgebauten Objektiv nach seiner Erfindung zu erreichen, nicht jedoch in einem symmetrischen Doublet [Vgl. ebenda, S. 232.].
Es stellt sich nun die Frage, inwieweit es Paul Rudolph bewußt gewesen ist, daß er gerade an diesem Punkt ein großes Einfallstor für die Konkurrenz offengelassen hatte. Es ist jedenfalls bemerkenswert, daß er in den nächsten Jahren genau in dieser, von ihm gerade der Öffentlichkeit gegenüber ausgeschlossenen Richtung selbst forschte, nämlich die anastigmatische Korrektur an einem symmetrischen Doppelobjektiv zu erreichen. Für Paul Rudolph lag das Antriebsmoment jedenfalls darin, seine Erfindung zu einem Satzobjektiv hin umzuarbeiten. Derartige Satzysteme, bei denen durch das Austauschen mehrerer Vorder- und Hinterglieder verschieden lange Brennweiten erzielt werden konnten, waren zur Zeit der Aplanate weit verbreitet gewesen. Rudolph hatte sich offenbar zur Überzeugung gebracht oder bringen lassen, diese Bauart sei auch in anastigmatischer Korrektur erstrebenswert. Als große Erschwernis ergab sich dabei allerdings, daß als Voraussetzung für die freizügige Austauschbarkeit unterschiedlicher Objektivhälften die sphärische, chromatische und anastigmatische Korrektur nicht mehr wie beim Protar auf beide Glieder des Gesamtsystems verteilt werden konnte, sondern die jeweilige Hälfte eines Satzobjektives mußte schon für sich vollständig auskorrigiert sein. Dazu hatte Rudolph zunächst ein dreifach verkittetes Glied geschaffen, das entweder aus einer inneren Sammellinse mit zwei äußeren Zerstreuungslinsen oder einer inneren Zerstreuungslinse mit zwei äußeren Sammellinsen bestand.
Noch während er mit den Ausbau seines anastigmatischen Korrekturprinzips zum Satzobjektiv beschäftigt war, gelang es einer konkurrierenden Firma jedoch, ihm mit derselben Idee patentrechtlich zuvorzukommen. Darin mag der Grund liegen, weshalb von diesen dreigliedrigen Anastigmatlinsen, die Zeiss Jena nur kurzzeitig als Serie VI bzw. VIa ab 1893 in den Handel brachte [Vgl. Eder, Josef Maria: Die photographischen Objektive; in: Ausführliches Handbuch der Photographie, Band I, 4. Teil, 1911, S. 131], es offenbar nur ein schweizerisches Patent Nr. CH6329 vom 15. Februar 1893 bis zur Erteilung geschafft hat. Es scheint zwar noch eine britische Patentanmeldung Nr. 4692 aus dem Jahre 1983 zu geben, doch aus der Unauffinbarkeit einer veröffentlichten Patentschrift läßt sich schließen, daß in diesem Falle offensichtlich nie eine Erteilung erfolgt war.
Der Grund liegt darin, daß sich der gerade erst 27-jährige Emil von Höegh dasselbe Konstruktionsprinzip bereits zum 20. Dezember 1892 für die Firma Goerz in Schöneberg bei Berlin hat patentrechtlich sichern lassen. Auf der Grundlage dieses Reichspatentes Nr. 74.437 gelang es Goerz, mit dem Dagor den ersten symmetrisch aufgebauten Doppelanastigmaten herauszubringen (Dagor = Doppel-Anastigmat GOeRz). Damit war Emil von Höegh ein ziemlicher Coup gelungen, denn er hatte das durch Paul Rudolph eingeführte Verfahren der gleichzeitigen Behebung von sphärischer Aberration und Astigmatismus auf Basis von gegensätzlich brechenden Nachbarflächen dergestalt abgwandelt, daß ebendiese Korrektur bereits in beiden Einzelhälften des Gesamtobjektivs jeweils vollständig erreicht wurde. Dabei lag sein Ziel freilich eben gerade nicht in der Schaffung von frei austauschbaren Einzelhälften eines Satzobjektives. Vielmehr war sein Dagor explizit als ein in seiner Einheit festgelegtes symmetrisches Doppelobjektiv gedacht, das nie in Form von Einzelhälften auf den Markt gebracht werden sollte. Den Konkurrenten Zeiss brachte von Höegh aber deswegen in Bedrängnis, weil er mit dem Schutzanspruch 2 genau diese Möglichkeit trotzdem für sich abgesichert hatte. Damit war er Rudolphs Patenten zum Satz-Anastigmat, die offenbar nur wenige Tage später angemeldet werden sollten, mit einer eigenen Priorität vorausgekommen und er verbaute damit dem Zeisswerk eine weitere schutzrechtliche Sicherung dieses Erfindungsgedankens
Emil von Höeghs Doppelanastigmat Dagor, dessen anastigmatische Korrektion auf Rudolphs Grundprinzip der gegensätzlich brechenden Kittflächen basierte. Während Rudolph aber in letzter Zeit stark mit dem Auskorrigieren der einzelnen Objektivhälfte beschäftigt war, wurde er "gegen Ausgang von 1892 durch eine Patentanmeldung des GOERZischen Hauses auf das aus zwei solchen Linsen gebaute symmetrische Objektiv, den Doppelanastigmat, überrascht, das gerade in dieser Doppelform und nicht in den Einzellinsen besonders vollkommen durchgearbeitet war". [Rohr, Moritz von: Die Geschichte des photographischen Objektivs, in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band I, Das photographische Objektiv, Wien, 1932, S12.] Nachdem das Goerz-Werk Teil der Zeiss Ikon AG geworden war, wurde hier in Berlin die Objektivproduktion eingestellt und nach Jena verlagert. So wurde das Dagor in den 1920er Jahren sogar noch zum Zeiss-Objektiv.
Wie stark die durch Schott und Rudolph initiierten Neuerungen damals die Konkurrenz in der Objektivbauindustrie beflügelt und in kurzer Zeit zu einer Welle der Innovation getrieben hat, sieht man daran, daß auch die Firma Steinheil nur wenige Wochen später einen nach demselben Prinzip aufgebauten Doppelanastigmat zu patentieren versucht hatte. Doch erst nach langwierigen Streitigkeiten mit Goerz [Vgl. Eder, Die photographischen Objektive, 1911, S. 26.] gelang es Steinheil im November 1893, doch noch ein Patent zu ihrem Orthostigmat anzumelden [DRP Nr. 88.505]. Mit einem Male war anastigmatische Korrektur zum neuen industriellen Standard geworden und keine etablierte Optikfirma konnte sich mehr erlauben, keinen solcherart vervollkommneten Objektivtyp mehr im Angebot zu haben.
In dieser Gemengelage drohte Carl Zeiss Jena zu einem der vielen Mitbewerber im Markt degradiert zu werden. Paul Rudolph meinte, auf diese Lage dadurch reagieren zu können, indem er den von ihm eingeschlagegen Weg eines Satzobjektives nur noch konsequenter ausbaute. Seine oben angesprochenen dreilinsigen Anastigmat-Hälften der Serie VI bzw. VIa zeigten dafür aber noch zu große Schwächen [Vgl. Rudolph, Paul: Der neue Satz-Anastigmat 1/6,3 der Firma Carl Zeiss; in: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 10/1896, S. 217]. Die große Herausforderung bei der Schaffung von Einzelgliedern eines solchen Satzobjektives lag schließlich darin, daß nicht nur jeweils die Kombinationen verschiedener Objektivhälften miteinander vorgesehen waren, sondern eben auch die Nutzung einer Hälfte für sich allein. Erst auf diese Weise ließ sich die Idee, mit einem Satzsystem einen weiten Brennweitenbereich abzudecken, wirklich erfüllen, weil eine solche Einzelhälfte schließlich in etwa die doppelte Brennweite des Gesamtobjektivs hatte. Dafür mußten diese Hälften aber so ausgelegt sein, daß sie einzeln oder in Kombination miteinander relativ freizügüg verwendbar waren, was eine besonders gute Korrektur der Bildfehler erforderte. Insbesondere die sphärische Aberration mußte sehr gut behoben sein, damit die Einzelhälfte allein schon möglichst lichtstark gemacht werden konnte. Denn wenn eine Einzelhälfte in etwa die doppelte Brennweite eines Gesamtsystems aufweist, dann hat sie folglich auch nur etwa dessen halbe Lichtstärke.
Paul Rudolphs neuer Satz-Anastigmat der Serie VII [Britisches Patent Nr. 19.509 vom 13. Oktober 1894] setzte sich daher aus insgesamt elf vollständig sphärisch, chromatisch und anastigmatisch auskorrigierten Objektivhälften mit der ziemlich hohen Lichtstärke 1:12,5 zusammen, die alle einen ungewöhnlich großen Bildwinkel von 85 Grad auszeichneten. Die Kombination von drei in dieser Reihe aufeinanderfolgenden Einzelhälften ergab dann ein Doppelobjektiv der Serie VIIa mit der Lichtstärke 1:7 bzw. 1:7,7. Das Doppelobjektiv war dann auch verzeichungsfrei und zeichnete einen Bildwinkel von etwa 80 Grad aus. Die obige Abbildung zeigt einen derartigen Anastigmat-Satz der Serie VIIa Nr. 8, der aus den Einzelobjektiven der Serie VII Nr. 4 12,5/350 mm und Nr. 3 12,5/285 mm zusammengesetzt ist. Diese Kombination ergab dann ein Objektiv von 179 mm Brennweite und einer Lichtstärke von 1:7. Mit der dritten im Zeiss'schen Katalog empfohlenen Einzelhälfte konnte man den Bereich auf insgesamt sechs Brennweiten erweitern. Ein Hinzufügen einer weiteren Hälfte wurde indes nicht empfohlen.
Anhand des obigen Auszuges aus Rudolphs Aufsatz zu seinem neuen Satz-Anastigmaten in Eders Jahrbuch 1896 wird deutlich, wie komplex das ganze Prinzip des Satzobjektives leicht geriet. Brauchte ein Berufsphotograph wirklich all diese Abstufungen, oder kaufte der sich nicht lieber zu einem vorhandenen Normalobjektiv noch ein ausgeprochenes Weitwinkel und ein lichtstarkes Portraitobjektiv in Form von Einzelsystemen? Für den wachsenden Kreis der Amateure war dieser Ansatz ohnehin wenig interessant und geriet außerdem viel zu teuer. Die größte Lichtstärke von 1:6,3 erreichte man obendrein nur dann, wenn man sich eine der Einzelhälften gleich zweimal kaufte und die beiden identischen Hälften zum Doppelobjektiv kombinierte. Damit wurde es ganz besonders teuer, wenn man das bekommen wollte, was doch eigentlich im Vordergrund hätte stehen sollen: Das lichtstarke Normalobjektiv nämlich. Angesichts des großen Wachstumsmarktes der Platten- und Rollfilmkameras mit fest eingebautem Objektiv tat sich diebezüglich an der Wende zum 20. Jahrhundert gerade ein großes Absatzpotential auf und es zeigte sich rasch, daß Paul Rudolph mit seinem Satzobjektiv in die falsche Richtung abgebogen war. Er hatte damit den Mitbewerbern ein Einfallstor offen gelassen, durch das nun bald nicht nur das erwähnte Dagor auf den Markt drängen konnte, sondern viele andere Fabrikate an Doppelanastigmaten auch, die letztlich auf dem Rudolph'schen Prinzip der anastigmatischen Korrektur aufbauten.
Während sich Moritz von Rohr in dem oben bereits zitierten Aufsatz wundert, weshalb Zeiss nicht patentrechtlich gegen Goerz und Consorten vorging, will ich eine mögliche Antwort wagen: Fast alle diese Doppelanastigmate kamen nicht ohne die neuen Jenaer Schwerkrone aus, und auf diese hatte der Zeisskonzern mit seinem Glaswerk ein Monopol, weshalb er auch an jedem Konkurrenzerzeugnis stets kräftig mitverdiente. Diese geradezu absurde Firmenpolitik führte Harry Zöllner in seiner eingangs zitierten Gedenkschrift anläßlich Paul Rudolphs 100. Geburtages gar zu der Fehlannahme, das anastigmatische Korrekturprinzip Rudolphs sei damals gar nicht patentiert worden, um seine bahnbrechende Idee der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen.
Das Planar
Paul Rudolph hatte also in den letzten Jahren zwei Erfahrungen machen müssen: Kurz nachdem er mit seinem asymmetrisch gebauten Anastigmaten auf den Markt gekommen war, hatten Konkurrenzfirmen große Erfolge ausgerechnet mit symmetrisch gebauten Doppelobjektiven. Und während er zweitens sein Augenmerk auf freizügig kombinierbare Einzelhälften gelegt hatte, waren diese konkurrierenden Doppelanastigmate als Gesamtsysteme optimiert worden. Paul Rudolph reagierte auf diese Erfahrung, indem er nun ebenso einen solchen Doppelanastigmaten erarbeitete. Und die Möglichkeit, sich wieder deutlich von den Mitbewerbern abzusetzen, hatte er darin ausgemacht, das Niveau der Lichtstärke auf ein bislang nicht gekanntes Maß anzuheben.
Wieso waren nun zunächst derartige Doppelanastigmate so erfolgreich? Das lag daran, daß symmetrische Doppelobjektive nach dem Vorbild einer Steinheil'schen Entwicklung bereits seit den 1860er Jahren sehr gut beherrscht wurden und als sogenannter Aplanat eine sehr weite Verbreitung gefunden hatten. Sie beruhten auf zwei symmetrisch zu einer Mittelblende gegeneinander gestellten Achromaten, wie sie Joseph von Fraunhofer oder Joseph Johann von Littrow Anfang des 19. Jahrhunderts angegeben hatten. Der Vorteil dieser symmetrischen Bauart lag dabei darin, daß einerseits beide Hälften bereits auf Farbfehler korrigiert waren, und andererseits durch die symmetrische Anordnung außerdem die Abweichung von der Sinusbedingung, die Koma und die Verzeichnung von selbst weitgehend verschwanden. Astigmatismus und Wölbung hatten sich hingegen auf diese Weise nicht beheben lassen. Das Dagor von Goerz, der Orthostigmat von Steinheil, die Collinerea von Voigtländer und etliche andere kann man nun gewissermaßen als mithilfe der neuen Gläser auf Beseitigung des Astigmatismus getrimmte Aplanate begreifen.
Der Ansatz, den Paul Rudolph für sein Planar wählte, wich von den oben genannten Doppelobjektiven nun dahingehend ab, daß er auf einen anderen Typ des Achromaten zurückgriff, nämlich auf ein von Carl Friedrich Gauß angegebenes Fernrohrobjektiv, das die Beseitigung der sphärischen Aberration für wenigstens zwei Farben in Aussicht stellte. Damit wurde es möglich, die Auswirkungen der sogenannten Sphärochromasie (auch Gaußfehler benannt) in den Griff zu bekommen. Bisher war eine weitere Vergrößerung der Lichtstärke der bekannten Doppelobjektive stets dadurch vereitelt worden, weil die sphärische Aberration nicht gleichmäßig für alle infrage kommenden Lichtfarben behoben werden konnte. Paul Rudolph hatte nun erkannt, daß mit der Verwendung zweier Gauß-Achromate der Kugelgestaltsfehler über einen weiten Spektralbereich hinweg austariert werden konnte.
Diese Kurven zeigen einen Vergleich der sphärischen Zonen des neuen Planars 1:3,8 mit einem theoretisch gedachten, auf dieselbe Öffnung gerechneten Aplanats. Die gestrichelte Kurve entspricht gelbem Licht der D-Linie, die ausgezogene violettem Licht der Spektrallinie G' - also in etwa dem sichtbaren und dem sogenannten chemischen Fokus. Ein Vergleich der gestrichelten Linien unten gibt eine Vorstellung darüber, wie stark beim Planar die sphärischen Zonen verringert werden konnten [aus: Rohr, Moritz von: Ueber das Planar; in: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 12/1898, S. 70ff].
Mit dem oben wiedergegebenen Vergleich zwischen dem bisherigen Aplanat-Typ (links) und dem neuen Planar (rechts) lassen sich nun Paul Rudolphs Fortschritte in Bezug auf den Öffnungsfehler sehr gut verdeutlichen. Erst einmal fallen generell die viel flacheren Kurven beim Planar auf, die Zeugnis über die deutlich verringerten sphärischen Zonen ablegen. Das ist stets eine Grundvoraussetzung für das Anheben der Lichtstärke, wenn nicht gerade ein ausgesprochenes Weichzeichnerobjektiv gewünscht wird. Zweitens wird sichtbar, wie das Ausbrechen der sphärischen Aberration über das Spektrum hinweg – die oben bereits angesprochene Sphärochromasie also – auf ein bisher nicht gekanntes Kleinstmaß zurückgedrängt werden konnte. Die Kurven für violettes und gelbes Licht liegen beim Planar sehr eng beieinander. Drittens wurde beim Planar durch den sehr flachen Verlauf der Kurven für den Kugelgestaltsfehler auch die Neigung der bisherigen Aplanate zur sogenannten Blendendifferenz eliminiert: Beim Abblenden verlagerte sich nun nicht mehr der Ort der schärfsten Abbildung entlang der optischen Achse und die Schärfe mußte beim Wechsel der Blendenzahl nicht mehr nachkorrigiert werden. Diese drei Eigenschaften zusammengenommen müssen in Anbetracht der für damalige Verhältnisse geradezu sagenhaft hohen Lichtstärke des Planars als immenser Fortschritt betrachtet werden.
Das im Reichspatent Nr. 92.313 vom 14. November 1896 geschützte Planar wäre aber nicht ohne ein zuvor am 17. März 1896 angemeldetes Patent Nr. 88.889 denkbar gewesen, mit dem sich Paul Rudolph seine Erfindung der hyperchromatischen Zerstreuungslinse schützen ließ. Die Triebkraft hierfür lag in der Erkenntnis, daß die guten Voraussetzungen des Gaußtyps im Hinblick auf die Farbfehlerbeseitigung infrage gestellt wurden durch die im photographischen Bereich nötige anastigmatische Korrektur. Rudolph war nämlich im Zuge der sphärischen und anastigmatischen Korrekturarbeit zu einer Formgebung der zerstreuenden Innenlinsen des Doppelgauß gelangt, für die wiederum nicht die richtigen Glassorten zur Verfügung standen, um gleichzeitig die chromatische Korrektur des Gesamtobjektivs zu erreichen. Dieses Hindernis brachte ihn letztlich auf die Idee, zwei Linsen durch Verkitten miteinander zu kombinieren, die zwar einen annähernd identischen Brechungsindex aufwiesen, aber gleichzeitig erheblich voneinander abweichende Farbzerstreuungen. Hinsichtlich der Brechkraft verhielt sich dieses Kittglied damit genau so wie eine Einzellinse. Seine beiden äußeren Radien r1 und r3 konnten daher ganz nach der Notwendigkeit festgelegt werden, wie es die sphärische und anastigmatische Korrektur verlangten. Das Ausmaß der für die chromatische Korrektur nötigen Farbzerstreuung ließ sich nun jedoch in weiten Grenzen einfach mithilfe der Durchbiegung des gemeinsamen Kitt-Radius r2 steuern. Mit diesem Konstruktionseinfall war es späterhin sogar möglich geworden, das Planar als ausgesprochenes Reproduktionsobjektiv bis hin zu einer apochromatischen Korrektur zu züchten; das heißt Farbmaßstabs- und Farbortsfehler über das gesamte sichtbare Spektrum hinweg auf ein bisher nicht erreichtes Kleinstmaß zu reduzieren.
Dieses ab August 1897 [Vgl. Rohr, Moritz von: Ueber das Planar; in: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 12/1898, S. 70.] serienmäßig hergestellte Planar mit Lichtstärken bis 1:3,6 geriet jedoch letztlich zu aufwendig und zu teuer in der Herstellung, um zu einem echten Universalobjektiv zu werden. Außerdem neigte es als Vertreter des Doppelgaußobjektivs im Alltag zu schwer beherrschbaren Überstrahlungen. Immerhin konnten im ungünstigsten Fall seine acht Glas-Luft-Flächen nicht weniger als 28 Spiegelbilder von im Bilde vorkommenden Lichtquellen auf die Schicht werfen [Vgl. Naumann, Helmut; Das Auge meiner Kamera, 2. Auflage, 1951, S. 55]. Dieser vielversprechende Objektivtyp, für den Rudolph den Grundstein gelegt hatte, konnte daher erst nach den Weiterentwicklungen u. a. durch Merté und Tronnier zu jenem Erfolg gebracht werden, der ihn bis heute zu einem der wertvollsten Konstruktionen im Bereich der gesamten Photooptik macht.
Im Grunde genommen hatte Rudolph mit dem Planar 1:3,6 alle bisherigen Probleme gelöst: Trotz der fast drei mal so großen Einfallshöhe der Strahlen konnte die sphärische Aberration in der Größenordnung des beim Abbe-Rudolph-Triplet von 1888 erreichten Maßes begrenzt werden. Gleichzeitig war der Astigmatismus nun aber so gut korrigiert wie beim Protar. Doch der hohe Preis und die große Streulichtanfälligkeit verhinderten, daß sich das Planar bereits zur damaligen Zeit zum Universalobjektiv entwickeln konnte [Abb. nach Zöllner, 1958].
Das Tessar
Um das Zeisswerk konkurrenzfähig zu halten, mußte Rudolph ein deutlich einfacher aufgebautes, preiswerter herstellbares und dennoch hochwertiges Universalobjektiv schaffen. Immerhin waren Anastigmate, wie das bereits angesprochene Dagor, ungemein erfolgreich und im Jahre 1900 kam Voigtländer mit dem vielversprechenden, von Hans Harting errechneten Heliar auf den Markt. Für den Ruf Rudolphs als herausragendsten Objektivschöpfer seiner Zeit spricht nun, daß er dieser Herausforderung mit wissenschaftlicher Grundlagenforschung begegnete. Hatte er bei seinem Protar die anastigmatische Bildfeldebnung mit Hilfe von gegeneinandergestellten positiven und negativen Kittflächen durchgeführt, so wies er nun mit seinem Unar [DRP Nr. 134.408 vom 3. November 1899] nach, daß dasselbe Ziel auch mit gegensätzlich brechenden Luftlinsen erreicht werden konnte.
Wie in der direkten Gegenüberstellung mit dem kurz darauf entwickelten Tessar zu erkennen ist, liegen beide Objektive in der Fehlerberichtigung quasi auf demselben Niveau [nach Zöllner, 1958]. Die Literatur gibt keinen deutlichen Aufschluß darüber, weshalb Rudolph dieses Unar trotzdem bereits nach kurzer Zeit zugunsten des Tessars [DRP Nr. 142.294 vom 25. April 1902] aufgegeben hat. Die Gründe könnten in einer zu großen Streulichtanfälligkeit des Achtflächners gelegen haben. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß letztlich rein fertigungstechnische Schwierigkeiten den Serienbau vereitelt haben, weil sich beispielsweise der bildseitige dünne Meniskus als zentrierempfindlich entpuppt haben mag. Mit dem Tessar hatte Rudolph nun jedenfalls den Korrektionsgedanken des Unars mit demjenigen des Protars in hervorragender Weise zusammengeführt.
Auf der Seite zum Tessar habe ich versucht, noch eine alternative Erklärung dafür herauszuarbeiten, weshalb Paul Rudolph sein Unar bereits nach kurzer Zeit wieder aufgegeben und dieses anschließend quasi mit dem Protar "fusioniert" hat. Immerhin gibt es Anzeichen dafür, daß für diesen Schritt nicht nur rein optische Beweggründe ausschlaggebend gewesen sind, sondern Rudolph damit möglicherweise eine angemessene Vergütung seiner Konstruktionsarbeit erzwingen wollte. Denn diese Geldbeträge waren schließlich explizit an jenen Erfindungsgegenstand geknüpft, der dem Protar innelag.
Wie hier ausführlich gezeigt werden konnte, ist das Tessar ohne Zweifel ein Ergebnis langwieriger Entwicklungsarbeiten Paul Rudolphs. Es sollte aber auch nicht unerwähnt bleiben, daß das später sehr erfolgreiche Tessar 1:4,5 und das für damalige Verhältnisse außergewöhnlich lichtstarke Tessar 1:3,5 in Wahrheit von Rudolphs Assistenten Ernst Wandersleb geschaffen wurden.
Unten: Reklame für das Tessar aus dem Jahre 1924. Durch den Ablauf der Patente spürte Zeiss nun nach dem Ersten Weltkrieg erstmals echte Konkurrenz durch die Nachbauten dieses Objektivtyps vonseiten anderer Objektivbauanstalten.
Rudolphs Krise bei Zeiss
Es ist einfach kaum zu übersehen, wie sehr Paul Rudolph seit den späten 1890er Jahren versuchte, einen besseren Anteil an dem kommerziellen Erfolg für sich zu sichern, den das Zeisswerks mit seinen Hervorbringungen erzielte. So wie er zehn Jahre zuvor den Photobjektivbau bei Zeiss initiiert hatte, so versuchte er nun, das Unternehmen auf den Sektor des Kamerabaus zu führen und damit den Absatz der Objektive auszuweiten. Er verhandelte dazu ab 1899 mit dem Görlitzer Kamerafabrikant Curt Bentzin, der sich einen Namen mit seinen Schlitzverschlußkameras gemacht hatte. Dessen Unternehmen sollte für 100.000 Reichsmark übernommen und in Jena eine "Palmos Camerawerke AG" gegründet werden, während der Betrieb in Görlitz als Filiale erhalten bleiben sollte:
„Der Gesellschaftsvertrag wurde am 26. März 1900 unterzeichnet. Rudolph brachte 51,6 Prozent des Aktienkapitals auf und interessierte den Verwandten- und Bekanntenkreis für die Gesellschaft, der sich im Vertrauen darauf, daß die Optische Werkstätte [gemeint ist das Zeisswerk, MK] hinter dieser Gesellschaft stand, finanziell beteiligte. Aber die erwarteten Erfolge sollten sich nicht einstellen, und dem Unternehmen drohte der Konkurs. Die Gründe lagen in der unbefriedigenden Ausführung der Erzeugnisse und den damit verbundenen Reklamationen sowie in der unzureichenden Konstruktion der Kameras. [...] Um den Konkurs zu vermeiden, übernahm die Optische Werkstätte 1901 das Werk. Aber die geschilderten Grundmängel zwangen schließlich dazu, das ganze Unternehmen unter erheblichen Verlusten zu liquidieren. Die Optische Werkstätte erlitt dabei einen Verlust von schätzungsweise 300.000 Mark.“ [Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss 1846 – 1905, 1996, S. 208].
Von diesem Ausflug Rudolphs in den Kamerabau zeugt ein britisches Patent Nr. 20.932 vom 20. November 1900, das er zusammen mit Oswald Näther angemeldet hatte. Aus der Beschreibung geht hervor, daß beide an einer Rollfilmkamera mit gekuppeltem Schlitzverschluß arbeiteten. Es folgte noch ein britisches Patent Nr. 16.601 vom 19. August 1901 und ein US-amerikanisches Nr. 708.727 vom 13. Dezember 1901, die beide nur noch Näther als Erfinder nannten, aber letztlich in dieselbe Kerbe einer entsprechenden Schlitzverschlußkamera schlugen.
Die Reklame oben vom Juni 1901 wurde noch für ein eigenständiges Camerawerk Palmos AG erstellt, im Januar 1902 waren dann die Palmos-Kameras bereits Bestandteil der Zeiss-Werbung geworden, die mit dem ähnlich kurzlebigen Spitzenobjektiv "Unar" versehen werden sollten.
Wohl ab diesem Zeitpunkt war das Verhältnis des Zeisswerks zu Paul Rudolph endgültig zerrüttet. Darüber konnte auch der Erfolg seines Tessares nicht mehr hinwegtäuschen. Im Gegenteil: Seit dem Jahre 1897 lag er mit der Werksleitung hinsichtlich der Vergütung seiner Arbeit in Zwietracht. Trotz eines auf den ersten Blick günstigen Anstellungsvertrages, den er noch mit Ernst Abbe am 6. Juni 1889 ausgehandelt hatte, fühlte sich Rudolph übervorteilt:
" 'Dr. Rudolph stellt seine ganze Arbeitskraft der Werkstätte Carl Zeiss zur Verfügung und übernimmt im Besonderen die Leitung sämtlicher rechnerischer Arbeiten, die die Construction optischer Systeme bezwecken. [...]
Alle aus den im Interesse der Werkstätte übernommenen Arbeiten entspringenden, geschäftlich verwertbaren Resultate stellt Dr. Rudolph der Firma zur Verfügung. Er behält sich aber das Recht vor, die sich bei seiner Thätigkeit ergebenden Resultate theoretischer Natur unter seinen Namen veröffentlichen zu können'
Die Firma Zeiss 'gewährt Dr. Rudolph eine von Seiten der Firma unkünbare Anstellung'. Für die Zeit zwischen 1. Oktober 1889 und 1. Januar 1900 wurde ein Gehalt von 4.000 Mark, dann bis zum 1. Oktober 1900 von 5.000 Mark und danach ein jährliches Gehalt von 6.000 Mark vereinbart. Der Pension sollten ab dem 1. Oktober 1889 3.000 Mark und danach 5.000 Mark zugrunde liegen. 'Außerdem gesteht die Firma Zeiss dem Dr. Rudolph 1/3 des Bruttogewinns zu, der durch Verkauf von Patentlizenzen des Photographischen Objektivs, welches Dr. Rudolph zum Frühjahr 1889 erfunden hat (Anastigmat), sich ergeben wird. [...] Schließlich verpflichtet sich Dr. Rudolph seiner Seits bei einem Weggang aus dieser Stellung, den er nach einer 1/2 jährigen Kündigungsfrist bewirken kann, zu der Bedingung, daß er innerhalb der nach tatsächlicher Auflösung des Contracts liegenden Frist von 10 Jahren für keine andere optische Werkstätte irgendwie thätig sein wird, welche auf einem der Fabrikationsgebiete der Firma Zeiss mit dieser in Concurrenz steht.' " [zitiert nach: Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss 1846 – 1905, 1996, S. 249f.]
Einen ziemlichen Knebelvertrag hatte Paul Rudolph da unterzeichnet; ein goldener Käfig, in dem er da steckte. Dies scheint ihm bewußt geworden zu sein, nachdem sein Planar-Objektiv auf den Markt gebracht worden war. Eine zentrale Bedeutung für die sich in den kommenden Jahren entwickelnde Beziehung Rudolphs zu seinem Arbeitgeber hatten nämlich offensichtlich die in diesem Vertrag zugesicherten zusätzlichen Einnahmen aus dem Verkauf von Lizenzgebühren. Diese beschränkten sich aber, wie aus seinem Anstellungsvertrag oben klar hervorgeht, allein auf den Anastigmat-Typus von 1889/90! Ernst Abbe, der Anfang der 1890er Jahre – zu einer Zeit also, in der der deutsche Konjunkturmotor nicht immer ganz rund lief – ein übermäßiges Wachstum der Belegschaft vermeiden wollte, setzte daher bezüglich des neuen Geschäftsfeldes der Photoobjektive auf eine großzügige Vergabe von Fertigungslizenzen an in- und ausländische Objektivbauanstalten (siehe untenstehende Reklame aus dem Jahre 1892). Im Geschäftsjahr 1891/92 stellten diese Lizenznehmer immerhin Objektive im Wert von fast 129.000 Mark her, was im folgenden Geschäftsjahr bereits auf über 278.000 Mark gesteigert werden konnte. Im Geschäftsjahr 1900/01, also dem letzten bevor das Tessar zu Buche schlug, setzten Unternehmen, die auf Basis von Zeiss-Lizenzen fertigten, bereits Objektive im Wert von 763.000 Mark um. Sie fertigten in dieser Zeitspanne 6100 Objektive, während Zeiss selbst mit 7000 Stück kaum mehr hervorgebracht hatte. [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss 1846 – 1905, 1996, S. 206/207.]
Je dominanter nun also die neuen Objektivtypen ins Blickfeld traten, um so unbedeutender geriet der Anteil der vom Anastigmat abgeleiteten Objektive. Denn richtig einträglich wurde der Objektivbau bei Zeiss Jena erst mit den Reproduktions-Planaren, die von der reprographischen Industrie gekauft wurden und natürlich mit dem Tessar, das Zeiss Jena bis zum ersten Weltkrieg selbst zu zehntausenden fabrizierte und für das die Werkstätte obendrein noch umfangreich Fertigungslizenzen an ausländische Firmen vergab. Wäre Paul Rudolph im Besitz seiner eigenen Erfindungen gewesen, so wäre er binnen kurzer Zeit zum Millionär geworden. Dazu hätte er aber an irgendeinem Punkt vorher kündigen und anschließend ein Jahrzehnt lang am Hungertuch nagen müssen, bevor er seine Konstruktionstätigkeit hätte anderswo wieder aufnehmen können. Eine ausweglose Lage also, zumal ihn auch sein Arbeitgeber nicht los wurde, da dieser Rudolph schließlich eine unkünbare Stellung vertraglich zugesichert hatte. Aus dieser mißlichen Lage heraus ergaben sich nun leider Jahre der weitgehenden schöpferischen Untätigkeit Rudolphs.
Das kann man heute deshalb mit Gewißheit sagen, weil es mittlerweile durch die Digitalisierung der Archive möglich geworden ist, auch Einblick in die US-amerikanischen Patente zu nehmen. Diese weisen die Besonderheit auf, daß in ihnen der Erfinder namentlich genannt werden muß. Man kann anhand der US-Patente also eindeutig nachvollziehen, wer genau wirklich was beigetragen hat. Eine diesbezügliche Recherche ergibt nun im wesentlichen zwei Erkenntnisse: Erstens wurden zwischen dem Erscheinen des Tessars und Rudolphs Weggang 1911 außer dem Magnar keine weiteren Erfindungen geschützt, die noch zu realen Zeiss-Produkten geführt hätten. Dabei benennt ein erstes Schutzrecht zu einem Teleobjektiv mit der Nr. US873.898 vom 2. März 1906 Paul Rudolph und Ernst Wandersleb noch gleichermaßen als Erfinder. Aber das eigentliche, dem Magnar letztlich zugrundeliegende Patent Nr. US943.105 vom 13. August 1909, weist dann nur noch Wandersleb als Erfinder aus.
Von einer viel bezeichnenderen Aussagekraft ist freilich der Umstand, daß die letzten Patente Rudolphs für das Zeisswerk tatsächlich nur noch ein Laborieren an seinem Anastigmaten aus den 1890er Jahren erkennen lassen; namentlich die Nr. US895.045 vom 12. Juli 1907 als eine eine Verbesserung seines Protars und die Nr. US1.021.337 vom 4. Oktober 1910 als eine Verbesserung seines Anastigmat-Satzes. Noch deutlicher konnte meiner Ansicht nach ein Chefkonstrukteur seinem Arbeitgeber nicht begreiflich machen, daß er ohne direkte finanzielle Beteiligung nicht mehr gewillt ist, noch irgendeine ökonomisch verwertbare Erfindung zur Verfügung zu stellen.
Neuanfang im fortgeschrittenen Alter
Nach einem vergleichenden Schiedsverfahren im Jahre 1910 konnte sich Paul Rudolph im folgenden Jahr endlich von Zeiss lösen [Vgl. Hofmann, Christian: Rudolph, Paul; in: Neue Deutsche Biographie 22, 2005.] und sich offenbar mit einer Abfindung auf das ehemalige Rittergut Grün im Tal der Göltzsch bei Lengenfeld im Vogtland zurückziehen. Wie zu erwarten, verweigerte das Zeisswerk im Jahre 1913, daß Rudolph für das konkurrierende Voigtländerwerk arbeiten durfte [Vgl. ebenda.]. Tatsächlich dauerte es bis zum Jahr 1920, daß Paul Rudolph mit über 60 Lebensjahren wieder als Objektivkonstrukteur arbeiten konnte. Er verlegte nun sogar noch einmal seinen Wohnsitz nach Großbiesnitz bei Görlitz [Angabe in den Patentschriften dieser Zeit], um in den Dienst der Optischen Werkstätte Hugo Meyer einzutreten. Man kann nur spekulieren, inwieweit ihn wirtschaftliche Not zu diesem Schritt trieb. Hier in Görlitz brachte er seinen während des Krieges entwickelten Plasmat-Typus ein, der dazu gedacht war, der niederschlesischen Objektivbauanstalt zu einem gewaltigen Technologieschub zu verhelfen.
Aber trotz der Tatsache, daß Rudolph diesen hoch auskorrigierbaren Plasmat-Anastigmaten ständig weiterentwickelte, stellte sich kein dem Tessar oder Biotar vergleichbarer wirtschaftlicher Erfolg ein. Die 20er Jahre waren aus heutigem Wissensstand heraus betrachtet eine Sattelzeit für den Objektivbau, in der sich zwar schon neue technische Entwicklungspfade abzeichneten, aber wo noch nicht genau klar war, wohin genau sich diese bewegen werden. Erst nach 1930 kristallisierte sich langsam heraus, daß die Kinematographie und die aufkommende Kleinbildphotographie nach Objektiven verlangten, die eine kompromißlose Abbildungsleistung bei einer bis an die Grenzen des Möglichen getriebenen Lichtstärke erforderten. Die Kino- und Kleinbildplasmate, die Rudolph noch bis wenige Jahre vor seinem Tode errechnet hatte, waren dabei ihrer Zeit zum Teil weit voraus und gerieten dadurch was Aufwand und Preis anbelangte alles andere als marktgerecht. Und so wie Wandersleb und Merté damals sogleich die Position besetzten, die Rudolph nach seinem Weggang aus Jena offengelassen hatte, so waren es in Görlitz nun Paul Schäfter und Stefan Roeschlein, die in seine Fußstapfen traten und die Meyer'sche Objektivbauanstalt erfolgreich in ebenjenes Zeitalter führten, das ich oben beschrieben habe.
Diesen vier Herren beispielsweise gelang dabei etwas, das Paul Rudolph in diesem Ausmaß nie wirklich vergönnt gewesen ist: Ihre Objektivberechnungen wurden genau in der von ihnen geschaffenen Konfiguration zum Teil jahrzehntelang (Biotar, Primoplan) mit großem ökonomischen Erfolg hergestellt. Was diese wirtschaftliche Verwertung betrifft, hat es den Anschein, als habe Paul Rudolph dabei zeitlebens nicht die glücklichste Hand gehabt.
Marco Kröger
letzte Änderung: 31. Oktober 2022
Yves Strobelt, Zwickau
zeissikonveb@web.de
Wir bitten, von Reparaturanfragen abzusehen!