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Paul Rudolph
Bezwinger des Astigmatismus
Gleich mit zwei großen Unternehmen unserer Mitteldeutschen Photoindustrie ist der Name Dr. Paul Rudolph (1858 bis 1935) verbunden. Aber die Superlative häufen sich ohnehin, wenn von diesem Mann die Rede ist. Die beiden bedeutendsten Objektivtypen der Geschichte gehen auf Paul Rudolph zurück: Der Doppelgauß und das Triplet mit verkitteter Hinterlinse. Und immer wenn es um den in der Optik so wichtigen Begriff des Astigmatismus geht, wird Rudolph im gleichen Atemzug genannt werden. Ganz dem Vorbild Josef Petzvals (1807 bis 1891) folgend, hat Paul Rudolph den Photoobjektivbau auf einer wissenschaftlichen Basis durchgeführt. "Ueber den Astigmatismus photographischer Linsen, dessen Wesen, Wirkung und Beseitigung" ist sein grundlegender Aufsatz zu diesem Sachgebiet betitelt, der in zwei Teilen in den Jahren 1891 und 1893 in Eders Jahrbuch erschien. Mit dem darin beschriebenen "Rudolph'schen Prinzip der anastigmatischen Bildfeldebnung" wurde ein neues Zeitalter in der rechnenden Optik eröffnet.
Paul Rudolph portraitiert vom Görlitzer Stadtphotographen Alfred Jäschke (1886 bis 1953) in den späten 1920er Jahren. Umfangreich publiziert wurde dieses Bild anläßlich Rudolphs 70. Geburtstages. Als Aufnahmeobjektiv diente übrigens sein umstrittener Doppel-Plasmat 4/42 cm (mehr dazu in Abschnitt 3.3.4).
1. Begründer der Abteilung Photo bei Zeiss
Der im Jahre 1858 in der "Porzellan-Stadt" Kahla geborene Paul Rudolph war 1886 von der mittlerweile zur Weltfirma aufgestiegenen Werkstätte des Carl Friedrich Zeiß (1816 bis 1888) als wissenschaftlicher Mitarbeiter angeworben worden. Diese optische Anstalt benötigte nach einem Technologieschub dringend mathematisch begabte Fachkräfte, um die großen technischen Innovationen der letzten Zeit nun auch in neue Produkte ummünzen zu können. So jedenfalls würde man das heute formulieren. Paul Rudolph hatte zuvor in München, Leipzig und schließlich in Jena studiert, wo er 1884 über "Die Eigenschaften der einem Kegelschnitt ein- und umschriebenen regulären Dreiecke" promovierte sowie im selben Jahr auch die Lehrbefähigung erwarb. Anschließend leistete er 1884/85 in Siegen sein Probejahr als Kandidat des höheren Schulamtes ab. 1885 wurde er Institutslehrer in Lauterbach im Harz – eine Stelle, die so schlecht bezahlt wurde, daß er dankbar die Gelegenheit annahm, zunächst nebenbei für das Zeisswerk zu arbeiten.
Ab Januar 1886 war er dann fester Mitarbeiter Ernst Abbes (1840 bis 1905), von dem er in die Methoden der trigonometrischen Berechnungen des Mikroskops eingeführt wurde [Vgl. Rohr, Moritz von: Theorie und Geschichte des photographischen Objektivs, 1899, S. 355f.]. Bei der Aufgabe, die Mikroskopoptik auf die neuen Schott'schen Glasarten umzustellen, muß Paul Rudolph wohl bereits nach kurzer Zeit seine außergewöhnliche Begabung als Optikrechner unter Beweis gestellt haben.
Paul Rudolph (dritter von rechts) mit einigen seiner Kollegen und Mitarbeiter im Jahre 1891. In der Mitte der Glaschemiker Otto Schott. Rechts hinter Rudolph steht sein Rechenassistent Richard Schüttauf, der uns in Abschnitt 1.6 noch einmal begegnen wird. Bezeichnenderweise fehlt der Jubilar, um den es eigentlich ging: Ernst Abbe ließ sich nur sehr ungern photographieren. Bild: Zeiss-Archiv
1.1 Ein erstes Triplet
Es war diese durch die Arbeiten Otto Schotts (1851 bis 1935) geschaffene neuartige Materialbasis, die ab 1886 völlig neue Perspektiven für den Objektivbau eröffnete. Schon Mitte der 1850er Jahre hatten sowohl Seidel als auch Petzval unabhängig voneinander festgestellt, daß ohne ein Aufbrechen der bisherigen Beziehung zwischen der Brechzahl und der Farbzerstreuung der optischen Gläser kaum Durchbrüche im Objektivbau zu erwarten wären [Vgl. ebenda, S. 336.]. Nun, genau 30 Jahre später, standen diese insbesondere in Form hochbrechender Krongläser endlich zur Verfügung. Doch der zu erwartende Durchbruch in Hinblick auf photographische Objektive blieb zunächst aus – trotz der vielfältigen Anstrengungen, die Ende der 1880er Jahre in dieser Richtung von verschiedenen Konstrukteuren unternommen wurden (Mittenzwei, Schroeder, Moser, Miethe, Kaempfer).
So sehr der Mikroskopbau der Jenaer Werkstätte auch zur Weltgeltung verholfen hatte; der stets recht volatile Absatz in diesem Geschäftsfeld mahnte die Leitung des Zeisswerkes, endlich auch andere optische Geschäftsfelder in den Blick zu nehmen. So betrat man in Jena ab 1888 nun selbst das Gebiet der photographischen Objektive und man versuchte, die bei Mikroskopobjektiven mit den neuen Gläsern bereits erzielten Korrektur-Erfolge auch hier zu verwirklichen. Entsprechend erwies sich ein nach Vorschlägen Abbes zunächst entwickeltes Triplet [DE55.313 vom 3. April 1890] als noch stark vom Mikroskopobjektivbau geprägt: Die sphärische (Kurven in a) und vor allem die chromatische Aberration waren gut auskorrigiert, aber zwei in entgegengesetzte Richtungen weit auseinanderlaufende Bildschalen (Kurven in b) sorgten dafür, daß quasi nur die Bildmitte scharf abgebildet wurde [nach Zöllner, Harry: Jena - seit 70 Jahren Zentrum der Fotoobjektiventwicklung, Zum 100. Geburtstag von Dr. Paul Rudolph; in Fotografie 11/1958, S. 395.]. Damit erwies sich das Abbe-Rudolph-Triplet trotz seiner bis in die Apochromasie getriebenen sphäro-chromatischen Korrektur für normale photographische Aufnahmen als weitgehend wertlos, weshalb es von den photographischen Praktikern regelrecht ignoriert wurde. Man scheiterte in Jena gewissermaßen an denselben prinzipiellen Schwierigkeiten bei der Errechnung eines bis in die Randzonen scharf abbildenden Objektives, die auch die zeitgenössischen Kollegen derart belasteten. Für den damals gerade erst 30-jährigen Paul Rudolph muß diese ernüchternde Erfahrung von prägender Wirkung gewesen sein.
Um zu erklären, wie die Darstellung des Ausmaßes des Astigmatismus im Koordinatensystem b) des Abbe-Rudolph-Triplets zustande kommt, sind die optischen Hintergründe dafür oben einmal in (stark vereinfachender) Form gezeigt. Die beiden Hauptstrahlen 1 und 2 fallen mit ihren Bildwinkeln α1 und α2 schräg zur optischen Achse ein, verlaufen durch den Mittelpunkt der Blende und werden anschließend in den bildseitigen Brennpunkten F'1 und F'2 abgebildet. Eine Schar an dünnen Hauptstrahlen formt dann in seiner Gesamtheit die sagittale Bildschale S. Im Gegensatz zur tangentialen Bildschale T, die sich beim Abbe-Rudolph-Triplet nur moderat von der Mattscheibenebene ME entfernt, bricht die sagittale Schale mit zunehmendem Bildwinkel dermaßen aus, daß sie am äußersten Bildrand 6% weiter von der Mattscheibenebene ME entfernt ist als der Achsenbildpunkt F'. Das würde bedeuten, daß bei einem Objektiv mit 100 mm Brennweite der Schärfepunkt am Bildrand 6 mm vor der Schärfeebene in der Bildmitte liegen würde. Es ist verständlich, daß auf diese Weise kein einheitlich scharfes Bild zu erreichen ist. Entweder kann man nur auf die Bildmitte scharfstellen, oder nur auf den Bildrand. Dabei ist die Entfernung D zwischen den beiden Bildschalen der eigentliche Astigmatismus. Denkt man sich nun die Kurven S und T als um die optische Achse rotierend, dann repräsentieren die beiden sich dabei ergebenden Flächen die Form der besagten Bildschalen.
Das im DRP 55.313 vom 3. April 1890 geschützte Abbe-Rudolph-Triplet. Eine der drei angegebenen Ausführungsformen ermöglichte sogar eine apo-chromatische Korrektur. Das änderte freilich nichts daran, daß dieses Objektiv im praktischen Einsatz außerhalb der Bildmitte kaum bessere Resultate lieferte, als die Aplanate und Antiplanete aus den 1860er Jahren. Zu allem Übel kam noch hinzu, daß die fehlende Haltbarkeit eines damals eingesetzten neuartigen Flintglases insbesondere den Triplet-Apochromat bereits nach kurzer Zeit unbrauchbar werden und ihn deshalb rasch in Vergessenheit geraten ließ [Vgl. Rudolph, Paul: Das Planar mit vermindertem secundären Spectrum; in: Photographische Correspondenz, 1902, S. 193.].
1.2 Der Anastigmat
1.2.1 Das Wesen des Zweischalenfehlers
Abbe und Rudolph war nach diesem ersten Mißerfolg klar, daß für den Bau von Photoobjektiven ein gänzlich neuer Ansatz verfolgt werden müsse, der auf eine anastigmatische Bildfeldebnung hinauszulaufen hatte. Anders als beim Mikroskop oder beim Fernrohr verlangen Photoobjektive nämlich nach einem vergleichsweise großen Gesichtswinkel. Schon beim sogenannten Normalobjektiv nimmt dieser Größenordnungen von um die 50 Grad an. Es ist dabei nicht mehr zu vernachlässigen, daß Licht, das das optische System in unterschiedlichen Ebenen schräg durchläuft, in keinem gemeinsamen Brennpunkt vereinigt wird. Vielmehr bilden sich zwei sogenannte Bildschalen – daher auch Zweischalenfehler genannt –, die dazu führen, daß ein Punkt des Aufnahmegegenstandes nicht wieder als ein Punkt, sondern als eine Art Lichtstrich abgebildet wird. Man spricht demzufolge von Punktlosigkeit oder griechisch Astigmatismus.
Oben sind die Hauptschnitte gezeigt, die sich ergeben, wenn man von vorn auf die kreisrunde Fläche einer Linse schaut. Der Tangential- bzw. Meridionalschnitt enthält in seiner Schnittebene stets die optische Achse mit ihrem Durchstoßungspunkt Z. Ein Strahlenbündel kann aber auch in senkrecht dazu liegenden sagittalen bzw. äquatorialen Hauptschnitten ausgerichtet sein, die nie die optische Achse enthalten. Im Gegensatz zu den tangentialen Schnitten, die auch nach der Brechung in der Ebene der optischen Achse verbleiben, wechseln die sagittalen nach jeder Brechung ihre räumliche Lage und bereiten aufgrund ihrer fehlenden Symmetrie zur optischen Achse dem Optikrechner enorme Schwierigkeiten [nach Fincke].
Anhand der Skizze unten läßt sich gut nachvollziehen, wie sich radiale und tangentiale Linien im Objektpunkt P durch die Brechnung an einer Linse in eine sagittal oder auch äquatorial genannte und in eine tangential oder meridional genannte Bildschale aufgliedern. Die eigentliche Ursache für diese Erscheinung liegt darin, daß bei schrägem Lichteinfall die Linse für diese beiden Einfallsebenen einen unterschiedlichen Querschnitt aufweist. [nach Naumann, Das Auge meiner Kamera, 1937.]
Diese Punktlosigkeit ist also wortwörlich zu verstehen. Bei der Abblidung eines seitlich gelegenen Objektpunktes P wird ein tangential bzw. meridional ausgerichtetes Lichtbüschel stärker gebrochen als das senkrecht dazu stehende sagittale bzw. äquatoriale Büschel [Abb. nach Naumann]. Aus dem Objektpunkt P wird dann eine im tangentialen Vereinigungspunkt P't waagerecht stehende Linie, während der weiter entfernte sagittale Vereinigungspunkt P's senkrecht dazu verläuft. Und die Entfernung der beiden strichförmigen Vereinigungen nennt man astigmatische Differenz.
Ein mit diesem Fehler des Astigmatismus behaftetes Objektiv läßt sich also stets entweder nur auf senkrecht oder waagerecht (genauer: tangential und radial) ausgerichtete Bildeinzelheiten scharfstellen. Entweder erscheint nur die Felge eines Rades scharf, oder nur dessen Speichen. Um diesen in der Praxis unerträglichen Übelstand auszumerzen, muß in einem ersten Schritt die sogenannte sagittale mit der meridionalen Bildschale vereinigt werden. Das genügt aber meist noch nicht. Denn nun liegen die Bildunkte aus beiden Strahlenbüscheln zwar auf einer gemeinsamen Ebene, diese ist aber oftmals nach wie vor schalenförmig durchbogen. Deshalb muß eine anastigmatische Korrektur eines optischen Systems eigentlich immer mit einer gleichzeitigen Ebnung des Bildfeldes einhergehen, damit die Brennpunkte in der Bildmitte und am Rand so exakt wie möglich auf der flachen Photoplatte liegen. Das Ergebnis wäre ein nicht mit Punktlosigkeit behaftetes Objektiv – ein Anastigmat.
1.2.2 Paul Rudolphs Neuachromat
Doch wo lag nun der Ansatzpunkt für Paul Rudolph, diesen schwerwiegenden Abbildungsfehler überhaupt in den Griff zu bekommen? Schließlich lag dessen Ursache in der Gestalt der Linsen per se verwurzelt und er war daher – im Gegensatz zu vielen anderen die Bildqualität verschlechternden Aberrationen – auch nicht durch bloßes Abblenden zurückzudrängen:
"Der Astigmatismus verhindert das Zustandekommen scharfer Bilder auch bei ganz kleiner Öffnung. Aufgehoben kann der an einer Fläche entstehende Astigmatismus dadurch werden, daß man das Lichtbüschel an einer entgegengesetzt wirkenden Fläche so brechen läßt, daß die Vereinigungen der Sagittal- und Meridionalstrahlen wieder gleich weit auseinander zu liegen kommen." [Eder, Photographische Objektive; in: Handbuch Photographie, Band I, Teil 4, 1911, S.11.]
Soweit die Theorie. Aber wie genau läßt man eine Fläche "entgegengesetzt wirken"? Und wieso war das in den 50 Jahren nach Josef Petzvals ersten analytisch geschaffenem Photoobjektiv bislang niemandem gelungen? Immerhin hatte dieser für die Geschichte der Photooptik sehr bedeutende Wiener Mathematiker bereits im Jahre 1843 mit der Formulierung seiner Petzval-Bedingung die theoretische Grundlage für die Lösung dieses Problems aufgezeigt. Um die sogenannte Petzval-Summe gegen Null zu bringen und damit das Bildfeld zu ebnen, bedarf es letztlich einer Linsenkombination, bei dem die Quotienten aus Brechzahl und Farbzerstreuung beider Linsen gleiche Werte annehmen [Vgl. Flügge, Das photographische Objektiv; in: Michel: Die wissenschaftliche und angewandte Photographie, Band 1, 1955, S. 170/171.].
Die Schaffung einer diese Bedingung erfüllenden Linsenkombination war aber bislang daran gescheitert, daß jene mit den damals zur Verfügung stehenden optischen Gläsern nicht gleichzeitig achromatisierbar gewesen wäre. Die bisherigen Glassorten boten entweder bei hoher Brechzahl eine entsprechend große Farbzerstreuung (Flintglas), oder wenn die Farbzerstreuung niedrig ausfiel, dann war auch die Brechzahl nur klein (Kronglas). Durch diesen vorgegebenen Zusammenhang zwischen Brechzahl und Dispersion konnte ein Achromat nur dadurch erzielt werden, indem seine Sammellinse aus niedrig brechendem Kronglas und die Zerstreuungslinse aus stark brechendem Flint bestand. Denn damit die Kombination beider Elemente insgesamt noch sammelnde Wirkung zeigte, mußte die Sammellinse gegenüber der Zerstreuungslinse natürlich deutlich stärkere Brechkraft aufweisen. Und damit diese schwächer brechende Zerstreuungslinse dann aber überhaupt noch die von der Sammellinse erzeugte Dispersion in die andere Richtung kompensieren konnte, mußte sie zum Ausgleich bislang stets aus dem viel stärker dispergierenden Flintglas bestehen. Mit dieser Bedingung war aber auch die Brechkraftverteilung im positiv wirkenden Achromat zementiert.
Das bereits im 18. Jhd. genutzte Prinzip der Achromatisierung läßt sich am besten anhand von Prismen erklären. Vergleicht man zwei Prismen aus Flint- und aus Kronglas miteinander, die beide denselben Brechwinkel aufweisen, dann wird durch den etwas höheren Brechungsexponenten des Flintglases das Licht einerseits stärker gebrochen, andererseits aber durch die etwa doppelt so große Dispersion viel stärker in seine Regenbogenfarben aufgefächert (übertrieben dargestellt). Verkleinert man nun den brechenden Winkel des Flintglasprismas auf die Hälfte, dann wird das Licht zwar weniger stark abgelenkt, die Farbzerstreuung ist jetzt aber gleichgroß wie beim Kronglasprima. Läßt man diese beiden Prismen nun gegeneinander arbeiten, dann ist die Kombination achromatisch, das heißt das Flintglasprisma kompensiert die Farbzerstreuung des Kronglasprismas, dessen Brechkraft trotzdem überwiegt. [Abb. nach Naumann, Das Auge meiner Kamera, 1937, S. 36.]
Mit einem solchen, auf den bisher verfügbaren Gläsern aufgebauten Altachromaten waren zwar der Farblängs- und auch der Farbquerfehler gut beherrschbar und mit der Durchbiegung der Kittfläche konnte zudem die sphärische Aberration gemildert werden, doch die oben genannte Forderung der Petzval-Bedingung, wonach das Verhältnis von Brechzahl und Farbzerstreuung in beiden Linsen des Achromaten auf gleiche Werte gebracht werden müsse, war mit diesen bisherigen Gläsern keinesfalls zu erreichen. Bei den sogenannten alten Glassorten war der Quotient aus Brechzahl und Abbe'scher Zahl beim Flintglas annähern doppelt so groß als beim Kronglas. Das war der Grund dafür, weshalb der Pionier des modernen Objektivbaus, Adolph Steinheil (1832 bis 1893), im Jahre 1881 noch scheitern mußte, als er versuchte, die positive Linse in der vorderen Gruppe durch ein hochbrechendes Glas zu ersetzen. Steinheil hatte zwar mit diesem Schritt den richtigen Pfad zur Minderung des Astigmatismus erkannt, doch gelang ihm mit seinem Gruppen-Antiplaneten noch nicht der volle Erfolg, weil mit den damaligen Gläsern keine gleichzeitige Achromatisierung möglich war [Vgl. Eder, Josef Maria: Die photographischen Objektive; in: Ausführliches Handbuch der Photographie, Band I, 4. Teil, 1911, S. 25.].
Der Gruppen-Antiplanet von Adolph Steinheil war im Jahre 1881 der erste Versuch, ein Objektiv mit verminderter astigmatischer Differenz zu schaffen [DRP 16.354], indem er zwei Objektivhälften mit jeweils entgegengesetzten Fehlern in Bezug auf Kugelgestalt, Farbzerstreuung usw. gegenüberstellte. Paul Rudolph konnte zehn Jahre später in seinem Aufsatz über Astigmatismus nachweisen, daß Steinheil diesbezüglich noch keine echte Verbesserung gegenüber seinem Aplanaten erreicht hatte. Steinheil hatte mit seinem Konstruktionsprinzip der gegensätzlich korrigierenden Objektivhälften aber den richtigen Weg gewiesen und Rudolph konnte ihn mithilfe der neuen Glassorten verwirklichen und bis zum Tessar zur Vervollkommnung bringen.
An diesem Gruppen-Antiplaneten werden aber auch noch zwei andere Schwachpunkte erkennbar, die dem modernen massenfabrikatorischen Objektivbau abträglich waren. Die massive vierte Linse machte insbesondere bei längerbrennweitigen Exemplaren das Objektiv sehr schwer und zudem teuer in der Herstellung, weil ein riesiges Stück Rohglas benötigt wurde. Zweitens sorgte der extrem schmale Luftabstand zwischen beiden Objektivgruppen für Probleme. Hier war mit Ach und Krach gerade mal eine Blende unterzubringen. Der Einbau dieses Antiplaneten in einen Zentralverschluß war hingegen kaum möglich. Das war angesichts der neuzeitlichen Kameraentwicklungen sehr hinderlich. Moderne Objektive erkennt man daran, daß sie diese mechanischen Anforderungen erfüllten und mit ihren flachen und dünnen Linsen zudem viel kostengünstiger herstellbar waren.
Diese Situation änderte sich jedoch nachhaltig, als in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre die Materialbasis für die optische Industrie einen gewaltigen Schritt nach vorn machte. Dabei handelte es sich um die Früchte einer Zusammenarbeit des Zeisswerkes mit dem Chemiker Otto Schott, die der Weitsicht Ernst Abbes zu verdanken war. Nach langwierigen, systematisch vorgenommenen Untersuchungen brachte die Schott'sche Glashütte [Bild unten, Zeissarchiv] optische Gläser hervor, die sich in ihren Eigenschaften von den bisherigen Typen eklatant unterschieden und dem Objektivbau damit neue Möglichkeiten eröffneten.
Zum einen waren dies die sogenannten Barium-Schwerkron-Gläser, die wie die bisherigen Krongläser eine geringe Farbzerstreuung aufwiesen und damit einen großen Zahlenwert für die relative Teildispersion v [sprich ny], die aber gleichzeitig Brechungskeoffizienten mitbrachten, wie sie bislang nur von Flintgläsern bekannt waren. Andererseits wurden aber auch Glasarten geschaffen, die mit ihren Eigenschaften zwischen Kron- und Flintgläsern changierten, und daher auch Kron-Flint genannt wurden. Sie wiesen eine Farbzerstreuung auf, die genau an der Grenze zwischen Kron- und Flintgläsern lag; also zu hoch für ein Kronglas, aber sehr niedrig für ein Flintglas. Die Brechzahl bewegte sich jedoch nur im Bereich einfacher Bor-Kron Gläser – also ausgesprochen niedrig für ein Flintglas. Zu Anfang wurden diese Sorten (zum Beispiel die Nummern 381 und 608) im Schott'schen Glaskatalog daher auch als "Kron mit hoher Dispersion" bezeichnet. Ebenfalls in diese Kategorie der gering brechenden aber trotzdem stark dispergierenden Flintgläser fielen auch die neuartigen Barit-Leichtflinte. Und eine ganz eigene Gruppe bildeten die sogenannten Kurz-Flinte, die zusätzlich mit ihren anomalen Verläufen der Dispersion ein Zurückdrängen der chromatischen Fehler über das gesamte sichtbare Spektrum möglich werden ließen. Bei der Kombination einer Sammellinse aus Schwerkron SK1 (n=1,61; ny=56,5) mit beispielsweise einer Zerstreuungslinse aus Kurzflint KzF3 (n=1,524; ny=53,1) ließ sich die Petzvalbedinung auf einmal vollständig erfüllen. Man kann das selbst leicht überprüfen, wenn man die Zahlenwerte in die oben angegebene Beziehung einfügt.
Oben ist einmal der Zusammenhang zwischen Refraktion und Dispersion, wie er in den Werten für den Brechungsindex n und der Maßzahl für die relative Farbzerstreuung v [griechischer Buchstabe "ny"] zum Ausdruck kommt, für verschiedene Glasorten schematisiert dargestellt [Abb. nach Naumann]. Bei gewöhnlichem Kronglas ist die Brechung relativ gering, aber auch die Zerlegung des Lichtes in seine Farben (Abstand von C und F) ist vergleichsweise klein. Bei Schwerkron bleibt diese kleine Dispersion erhalten, obwohl das Licht insgesamt so stark gebrochen wird, wie das bei gewöhnlichem Flintglas der Fall ist. Bei diesem Flint wird allerdings der blaue Strahl viel stärker abgelenkt als der rote, weshalb die Farbzerstreuung demzufolge sehr große Werte annimmt. Die Leichtflint-Gläser hat man nun seltsamerweise gezielt dahingehend getrimmt, daß man die hohe Farbzerstreuung des Flintglases beibehielt, während der Brechungsindex auf das geringe Niveau der Krongläser herabgedrückt wurde. Diese auf den ersten Blick wenig fortschrittlich erscheinende Eigenschaft entsprach freilich genau den Erfordernissen der optischen Industrie.
Auf dieser Materialbasis konnte jetzt ein Achromat gebildet werden, bei dem auf einmal die Sammellinse aus dem höher brechenden und die Zerstreuungslinse aus dem niedriger brechenden Glas bestand. Dieser bisher undenkbare Aufbau ließ die Optiker zur Abgrenzung vom altbekannten Typ bald von einem Neuachromaten sprechen. Der springende Punkt, weshalb dieser völlig neue Möglichkeiten für die Korrekturarbeit eröffnete, lag dabei darin, daß die Kittfläche in einem derartigen Neuachromaten nun eine sammelnde Wirkung aufwies, während sie bei den bisherigen Altachromaten stets zerstreuend gewirkt hatte.
1.2.3 Rudolphs gegensätzlich brechende Nachbarglasflächen
Genau diese Eigenschaft hatte Paul Rudolph als Schlüssel dafür erkannt, erstmals eine vollständige Behebung des problematischen Astigmatismus erreichen zu können. Er stellte dazu einem Altachromaten mit seinem Korrekturpotential für die sphärische Aberration einen solchen Neuachromaten gegenüber. Dieser Konstruktionseinfall ermöglichte es Rudolph, mithilfe einer geschickten Abstimmung der Krümmungsverhältnisse beider Kittsysteme der einen Objektivhälfte genau den entgegengesetzten Astigmatismus der anderen Objektivhälfte aufzuprägen, sodaß sich beide gegenseitig kompensierten. Sehr hilfreich dabei war, daß beide Hälften für sich bereits gut achromatisiert waren, wobei auch hier die Gesamtkorrektur auf beide Hälften verteilt werden konnte.
Für die Lichtstärken 1:4,5; 1:6,3; 1:7,2 und 1:9 war der Protar-Anastigmat fünflinsig aufgebaut. In der vorderen Gruppe G1, die der sphärischen Korrektion diente, bestand die Linse L1 aus "herkömmlichem" Flint mit entsprechend hoher Brechzahl und Linse 2 aus ebenso herkömmlichem Kronglas mit entsprechend niedrigem Brechungsindex. Im hinteren, für die Beseitigung des Astigmatismus verantwortlichen Glied G2 bestanden die Linsen L3 und L5 aus den neuen Barium-Krongläsern mit außergewöhnlich hohem Brechungsindex bei kleiner Farbzerstreuung. Hierbei handelte es sich um das später als Schwerkron SK1 bezeichnete Glas mit der Hauptbrechzahl 1,61 und einem ny-Wert von 56,5. Die darin eingeschlossene Zerstreuungslinse L4 war dagegen aus dem neuartigen niedrig brechendem Flintglas gefertigt, dem damals so genannten Fernrohrflint mit einer Hauptbrechzahl von 1,52 (vermutlich das spätere Kurz-Flint KzF 3 mit einem ny-Wert von 53,1).
Protar-Anastigmate der Lichtstärken 1:12,5 und 1:18 brauchten demgenüber nur vierlinsig ausgeführt werden. Hier war im 2. Glied die Linse L3 aus dem neuen Kurzflint, die Sammellinse L4 dagegen aus schwerem Bariumsilikat-Kron mit der Brechzahl 1,573 [Vgl. Rudolph, Ueber den Astigmatismus photographischer Linsen, Teil 2; in: Eder, Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Band 7/1893, S. 225.].
Den mit diesem Korrekturverfahren erreichten Fortschritt erkennt man an den unten gezeigten Bildfehlerkurven des ersten Zeiss-Anastigmaten, der später, nachdem auch andere Hersteller derlei anastigmatisch auskorrigierte Objektive im Angebot hatten, in Protar umbenannt wurde. Verankert wurde diese bahnbrechende Erfindung im Deutschen Reichspatent Nummer 56.109, das schließlich am 3. April 1890 beim Patentamt angemeldet wurde. Im direkten Vergleich sieht man nun, wie sich im Koordinatensystem b) die Kurven für die meridionale und sagittale Bildschale regelrecht um die Bildebene (≙ y-Achse) "herumschlängeln". Ganz am Bildrand, bei einem halben Bildwinkel von etwas über 25 Grad, fallen beide Schalen sogar wieder mit der Bildebene zusammen. So etwas hatte es bis dahin nicht gegeben!
Anhand der oben im Korrdinatensystem a) wiedergegebenen Kurven erkennt man aber auch, daß mit diesem einfachen Duplet die sphärische Aberration nur bedingt beherrschbar war. Die sogenannten Zonen – die Ausbeulung der Kurven, bevor sie am Rande der Objektivöffnung wieder die Bildebene schneiden – waren gegenüber dem Abbe-Rudolph-Triplet sogar wieder größer geworden. Und das bei bescheidener Lichtstärke, die kaum über das hinausging, was damalige Aplanate und Antiplanete boten. Aus den Kurven des Kugelgestaltsfehlers und der Abweichung von der Sinusbedingung ist ersichtlich, daß für das oben gezeigte Rechenbeispiel eine Lichtstärke von um die 1:8 veranschlagt gewesen ist. Bei größeren Öffnungen gab es Schwierigkeiten, gleichzeitig mit der anastigmatischen auch eine gute sphärische Korrektur umzusetzen.
Oben: Die Restwerte der Bildfeldkrümmung bei den Zeiss-Anastigmaten 1:4,5; 1:6,3; 1:7,2; 1:9; 1:12,5 und 1:18. Bei letzterem wird noch zwischen kurz- und langbrennweitigen Typen unterschieden.
Unten: Desgleichen für die Restbeträge der astigmatischen Differenz - also dem Auseinanderlaufen von sagittaler und tangentialer Bildschale. Zum Vergleich jeweils ein Aplanat. [Nach: Rudolph, Ueber den Astigmatismus photographischer Linsen, Teil 2; in: Eder, Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Band 7/1893, S. 221ff.]
Paul Rudolph hat zwar seinen Protar-Anastigmat bis zu einer Lichtstärke von 1:4,5 bringen können, was nach damaligen Maßstäben für ein Universalobjektiv mit großem Bildwinkel ein sagenhaft großer Wert war. Nach Eder seien diese lichtstarken Serien aber schon nach kurzer Zeit wieder vom Markt genommen worden. Länger gehalten haben sich demnach nur die Serien IIIa und V mit Lichtstärken von 1:9 und 1:18, die als Weitwinkelsysteme mit Bildwinkeln bis über 100 Grad einsetzbar waren. [Vgl. Eder, Josef Maria: Die photographischen Objektive; in: Ausführliches Handbuch der Photographie, Band I, 4. Teil, 1911, S. 130].
Oben: Der teils noch bis in die 1920er Jahre hergestellte Protar-Anastigmat 1:18 für Weitwinkelaufnahmen bis 110 Grad. Bei diesem lichtschwächsten Typ konnte die astigmatische Differenz so stark zurückgedrängt werden, daß diese Leistung auch bei Erscheinen der nachfolgenden Objektivkonstruktionen zunächst nicht zu übertreffen war. Hohe Lichtstärken waren bei extremen Weitwinkelaufnahmen aufgrund der hohen Vignettierung ohnehin nicht gefordert.
Mitteilung Stolzes über die neuen Zeiss-Anastigmate in Josef Maria Eders "Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik" aus dem Jahre 1891 auf Seite 367f.
Ein Zeiss-Anastigmat 1:9/272 mm aus dem Jahre 1893 mit der von Paul Rudolph bevorzugten charakteristischen Blendenteilung, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgegeben wurde. Bild, Igor Tsap, Kiew.
Hier die beiden originalen Aufsätze Rudolphs "Ueber den Astigmatismus photographischer Linsen" oben aus dem Jahre 1891 und unten aus dem Jahre 1893 in Eders Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik.
Beinah wäre Dr. Adolf Miethe (1862 bis 1927) die Ehre zuteil geworden, als Bezwinger des Astigmatisms in die Geschichte einzugehen. Miethe hatte bereits im Jahre 1887 ein Doppelobjektiv berechnet, bei dem der Astigmatismus vollkommen aufgehoben war [Vgl. Eder, Ausführliches Handbuch der Photographie, erster Teil, zweite Hälfte, 1893, S. 91ff]. Er benutzte dazu neuartiges Bariumphosphat-Schwerkron mit der Hauptbrechzahl n = 1,576 und der Abbe'schen Zahl v = 65,2, dem er eine Zerstreuungslinse aus gewöhnlichem Leichtflint gegenüberstellte. Von dieser Berechnung ließ er Probeexemplare durch die Potsdamer Werkstatt von Edmund Hartnack herstellen und führte diese im Oktober 1888 dem Berliner Verein zur Förderung der Photographie vor [Vgl. Eder, Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, 1889, S. 327.]. Zudem veröffentlichte er im Folgejahr einen Aufsatz über seinen Konstruktionserfolg in Eders Jahrbuch [Ebendort, S. 117ff.]. Die exakte Überprüfung dieser Exemplare ergab, daß Miethes Berechnungsansatz zwar grundsätzlich richtig war und er den Astigmatismus tatsächlich zum Verschwinden gebracht hatte, aber es blieb ein gewisser Rest an Krümmung der beiden zusammengelegten Bildschalen. Immerhin war die Bildleistung aber bis zu einem Feldwinkel von 50 Grad bedeutend besser als bei den bisherigen Aplanaten.
Dennoch erreichte dieser Miethe-Anastigmat nie kommerzielle Bedeutung, allerdings aus einem ganz anderen Grund: Als nämlich gerade eine Serienfertigung begonnen werden sollte, mußten Hartnack und die Schott'sche Glasfabrik feststellen, daß das zugrundegelegte Phosphat-Schwerkron nicht langzeitstabil war, weil es bei Luftkontakt rasch verwitterte [Vgl. Eder, Ausführliches Handbuch der Photographie, erster Teil, zweite Hälfte, 1893, S. 92.]. Derartige Gläser können nur eingebettet in Kittgruppen verwendet werden. Damit war der Ansatz gescheitert, anastigmatische Objektive auf Basis dieser extrem niedrig-dispergierenden Sonder-Krongläser aufzubauen. Vielmehr stellte es sich als nötig heraus, hochbrechenden Krongläsern niedrigbrechende und gleichzeitig niedrigdispergierende Flintgläser gegenüberzustellen, um Astigmatismus und Bildfeldwölbung gleichzeitig aufheben zu können – das Korrekturprinzip Rudolphs also.
1.2.4 Petzvals "unbewußte" Anastigmat-Priorität
Zur Abrundung dieses Abschnitts sollte aber die Tatsache nicht unerwähnt bleiben, daß die astigmatische Korrektur auf Basis gegensätzlicher Brechzahlabstufung nach dem Rudolph'schen Prinzip freilich auch unter ausschließlicher Verwendung zweier Altachromate (also ohne die neuen Glasarten) möglich ist, wenn nach dem oben Gesagten einem der beiden Achromate zerstreuende Wirkung gegeben wird. Denn dann kann schließlich die Zerstreuungslinse aus Kronglas bestehen und gegenüber der Sammellinse die höhere Brechkraft besitzen, weil die mit ihr verkittete Sammellinse aus Flintglas trotz ihrer geringeren Brechkraft wegen ihrer großen Farbzerstreuung die Gesamtkombination wieder achromatisch macht. Da jedoch ein solcher negativ wirkender Altachromat dieselbe Brechzahlabstufung wie ein positiver Neuachromat hat, wird bei ihm die Kittfläche zwischen beiden Linsen ebenso sammelnd, weshalb diese genau wie beim positiven Neuachromat zur Kompensation des Astigmatismus verwendet werden kann. Eine derartige Lösung war allerdings lange Zeit nicht in Betracht gezogen worden, weil man sich mit einer solchen stark negativen Komponente im Objektiv nur unnütze zusätzliche Fehler eingeholt hätte – unter anderem ein beträchtliches Maß an Verzeichnung. Erst als ab Anfang des 20. Jahrhunderts in sich korrigierte Teleobjektive in Angriff genommen wurden, bei denen der hintere Systemteil zerstreuend aufgebaut sein mußte, fand dieser Ansatz wieder Beachtung [Vgl. Gronow, Harald Elsner von: Bedeutung des Rudolphschen Anastigmatprinzips für die Teleobjektive, Photographische Korrespondenz, 1928, S.335ff.].
Völlig überrascht wurde die Fachwelt jedoch im Jahre 1906 durch einen Aufsatz Moritz von Rohrs (1868 bis 1940), in dem dieser die Ergebnisse der Sichtung des Nachlasses Josef Petzvals veröffentlichte [Photographische Korrespondenz, 6/1906, S. 266ff]. Hierin beschrieb von Rohr erstmals ein erhalten gebliebenes Versuchsobjektiv, das Petzval selbst geschliffen haben soll und für das sich in der Folgezeit die Bezeichnung Dialyt durchsetzte. Und bei diesem Objektiv war nun die oben angegebene Petzval-Bedingung dadurch fast vollständig erfüllt, daß im hinteren, zerstreuend wirkenden Achromat die Sammellinse aus Flint bestand [Vgl. Gronow, 1928, S. 336.] und daher die Kittfläche eine sammelnde Wirkung besaß, während die beiden Kittflächen in der anderen Systemhälfte zerstreuend wirkten. Genau dies entsprach freilich dem Schutzanspruch des Reichspatentes 56.109. Es darf deshalb hier nicht verschwiegen werden, daß mit dieser Erkenntnis Paul Rudolphs bahnbrechendes Patent zur astigmatischen Bildfeldebnung nachträglich seinen Neuheitswert eingebüßt hatte, weil schlichtweg das hierin geschützte Verfahren bereits zuvor benutzt worden war. Der genaue Wortlaut im § 2 des Reichspatentgesetzes von 1877 lautete: „Eine Erfindung gilt nicht als neu, wenn sie zur Zeit der auf Grund dieses Gesetzes erfolgten Anmeldung in öffentlichen Druckschriften bereits derart beschrieben oder im Inlande bereits so offenkundig benutzt ist, daß danach die Benutzung durch andere Sachverständige möglich erscheint.“ Daß es nicht sogar zu einer nachträglichen Aberkennung gekommen ist, die für Paul Rudolph sehr demütigend gewesen wäre und außerdem sehr ungerecht, weil er nun wirklich nichts von Josef Petzvals Dialyt wissen konnte, war zum Glück ausgeschlossen, da die Schutzdauer des Reichspatentes 56.109 bereits ein Jahr vor Moritz von Rohrs technikhistorischer Entdeckung abgelaufen war. Ganz davon abgesehen war Petzval Bürger der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie.
Allerdings hatte Moritz von Rohr mit seiner Veröffentlichung unwillentlich ein anderes laufendes Patentverfahren hinfällig werden lassen, nämlich dasjenige für Karl Martins Bis-Telar als erstem astigmatisch korrigiertem Teleobjektiv, das nun ebenfalls auf einmal keine Neuerung mehr darstellte. In einem weiteren Aufsatz von Rohrs „Zur Erinnerung an Josef Max Petzval“ in der Zeitschrift für Instrumentenkunde des Jahres 1907 (zum 100. Geburtstag Petzvals) führte er näher aus, daß in diesem Dialyt die sphärische Korrektur in Achsennähe mit geringen Zonen gelungen sowie die Erfüllung der Sinusbedingung über die gesamte Öffnung ausgedehnt, der Astigmatismus für einen Bildwinkel von 26 Grad beseitigt und eine nahezu vollständige Ebnung des Bildfeldes erreicht worden sei. Moritz von Rohr beurteilte den Dyaliten damit als „den ersten, allerdings noch nicht verzeichnungsfreien Anastigmaten“ und als ein „erst in späterer Zeit übertroffenes Meisterstück“. Die historische Tragik liegt nun darin, daß sich Josef Petzval selbst seiner Leistung nie bewußt geworden war und er bis zu seinem Rückzug aus der Öffentlichkeit in seinen schriftlichen Mitteilungen stets bezweifelt hatte, daß die Erfüllung seiner von ihm aufgestellten Bedingung zur anastigmatischen Ebnung des Bildfeldes je erfüllbar wäre.
1.3 Der Satzanastigmat
Trotz dieses bahnbrechenden Erfolgs blieb der Zeiss'sche Anastigmat dazumal nicht lange ohne Konkurrenz. Das war auch nicht anders zu erwarten, nachdem Paul Rudolphs Anastigmat-Patent am 20. Mai 1891 veröffentlicht worden war. Etwa zeitgleich erschien auch sein eingangs bereits angesprochener Aufsatz "Ueber den Astigmatismus photographischer Linsen", in dem er als zentrales Postulat formulierte, der Astigmatismus sei um so geringer, je stärker ins Positive die Differenz der Brechungsexponenten von Crownglas minus Flintglas gelegt wird [in: Eder, Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Band 5/1891, S. 225ff.]. Dieser Erkenntnis stellte er aber auch die Tatsache gegenüber, daß für die gleichzeitige sphärische Korrektur die Brechzahl der Flintglaslinse einen wesentlich größeren Wert als diejenige des Kronglases haben müsse. Aus diesem Widerspruch leitete er die recht forsch formulierte Schlußfolgerung ab, die gleichzeitige Behebung von sphärischer Aberration UND Astigmatismus sei nur in einem unsymmetrisch aufgebauten Objektiv nach seiner Erfindung zu erreichen, nicht jedoch in einem symmetrischen Doublet [Vgl. ebenda, S. 232.].
Es stellt sich nun die Frage, inwieweit es Paul Rudolph bewußt gewesen ist, daß er gerade an diesem Punkt ein großes Einfallstor für die Konkurrenz offengelassen hatte. Es ist jedenfalls bemerkenswert, daß er in den nächsten Jahren genau in dieser, von ihm gerade der Öffentlichkeit gegenüber ausgeschlossenen Richtung selbst forschte, nämlich die anastigmatische Korrektur an einem symmetrischen Doppelobjektiv zu erreichen. Für Paul Rudolph lag das Antriebsmoment jedenfalls darin, seine Erfindung zu einem Satzobjektiv hin umzuarbeiten. Derartige Satzsysteme, bei denen durch das Austauschen mehrerer Vorder- und Hinterglieder verschieden lange Brennweiten erzielt werden konnten, waren zur Zeit der Aplanate weit verbreitet gewesen. Rudolph hatte sich offenbar zur Überzeugung gebracht oder bringen lassen, diese Bauart sei auch in anastigmatischer Korrektur erstrebenswert. Als große Erschwernis ergab sich dabei allerdings, daß als Voraussetzung für die freizügige Austauschbarkeit unterschiedlicher Objektivhälften die sphärische, chromatische und astigmatische Korrektur nicht mehr wie beim Protar auf beide Glieder des Gesamtsystems verteilt werden konnte, sondern die jeweilige Hälfte eines Satzobjektives mußte schon für sich vollständig auskorrigiert sein. Dazu hatte Rudolph zunächst ein dreifach verkittetes Glied geschaffen, das entweder aus einer inneren Sammellinse mit zwei äußeren Zerstreuungslinsen oder einer inneren Zerstreuungslinse mit zwei äußeren Sammellinsen bestand.
Noch während er mit den Ausbau seines anastigmatischen Korrekturprinzips zum Satzobjektiv beschäftigt war, gelang es einer konkurrierenden Firma jedoch, ihm mit derselben Idee patentrechtlich zuvorzukommen. Darin mag der Grund liegen, weshalb von diesen dreigliedrigen Anastigmatlinsen, die Zeiss Jena nur kurzzeitig als Serie VI bzw. VIa ab 1893 in den Handel brachte [Vgl. Eder, Josef Maria: Die photographischen Objektive; in: Ausführliches Handbuch der Photographie, Band I, 4. Teil, 1911, S. 131], es offenbar nur ein schweizerisches Patent Nr. CH6329 vom 15. Februar 1893 bis zur Erteilung geschafft hat. Es scheint zwar noch eine britische Patentanmeldung Nr. 4692 aus dem Jahre 1893 zu geben, doch aus der Unauffindbarkeit einer veröffentlichten Patentschrift läßt sich schließen, daß in diesem Falle offensichtlich nie eine Erteilung erfolgt war.
Der Grund liegt darin, daß sich der gerade erst 27-jährige Emil von Höegh (1865 bis 1915) dasselbe Konstruktionsprinzip bereits zum 20. Dezember 1892 für die Firma Goerz in Schöneberg bei Berlin hat patentrechtlich sichern lassen. Auf der Grundlage dieses Reichspatentes Nr. 74.437 gelang es Goerz, mit dem Dagor den ersten symmetrisch aufgebauten Doppelanastigmaten herauszubringen (Dagor = Doppel-Anastigmat GOeRz). Damit war Emil von Höegh ein ziemlicher Coup gelungen, denn er hatte das durch Paul Rudolph eingeführte Verfahren der gleichzeitigen Behebung von sphärischer Aberration und Astigmatismus auf Basis von gegensätzlich brechenden Nachbarflächen dergestalt abgwandelt, daß ebendiese Korrektur bereits in beiden Einzelhälften des Gesamtobjektivs jeweils vollständig erreicht wurde. Dabei lag sein Ziel freilich eben gerade nicht in der Schaffung von frei austauschbaren Einzelhälften eines Satzobjektives. Vielmehr war sein Dagor explizit als ein in seiner Einheit festgelegtes symmetrisches Doppelobjektiv gedacht, das nie in Form von Einzelhälften auf den Markt gebracht werden sollte. Den Konkurrenten Zeiss brachte von Höegh aber deswegen in Bedrängnis, weil er mit dem Schutzanspruch 2 genau diese Möglichkeit trotzdem für sich abgesichert hatte. Damit war er Rudolphs Patenten zum Satz-Anastigmat, die offenbar nur wenige Tage später angemeldet werden sollten, mit einer eigenen Priorität vorausgekommen und er verbaute damit dem Zeisswerk eine weitere schutzrechtliche Sicherung dieses Erfindungsgedankens.
Emil von Höeghs Doppelanastigmat Dagor, dessen anastigmatische Korrektion auf Rudolphs Grundprinzip der gegensätzlich brechenden Kittflächen basierte. Während Rudolph aber in letzter Zeit stark mit dem Auskorrigieren der einzelnen Objektivhälfte beschäftigt war, wurde er "gegen Ausgang von 1892 durch eine Patentanmeldung des GOERZischen Hauses auf das aus zwei solchen Linsen gebaute symmetrische Objektiv, den Doppelanastigmat, überrascht, das gerade in dieser Doppelform und nicht in den Einzellinsen besonders vollkommen durchgearbeitet war". [Rohr, Moritz von: Die Geschichte des photographischen Objektivs, in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band I, Das photographische Objektiv, Wien, 1932, S12.].
Das Dagor brachte für die erst 1886 gegründete optische Anstalt einen riesigen kommerziellen Erfolg, bei dem man in Jena anfangs nur neidvoll zusehen konnte. Bereits 1894 konnte die Firma Goerz das 20.000. Objektiv fertigstellen, 1900 waren es 60.000, 1903 100.000 und 1908 bereits 200.000. [Vgl. Zum Jubiläum einer Weltfirma, Phot. Korr. 11/1911, S. 586ff.] Ironie der Geschichte: Nachdem das Goerz-Werk Teil der Zeiss Ikon AG geworden war, wurde hier in Berlin die Objektivproduktion eingestellt und nach Jena verlagert. So wurde das Dagor in den späten 1920er Jahren sogar noch zum Zeiss-Objektiv [Vgl. dazu Photographische Korrespondenz, 1/1933, S. 16.].
Wie stark die durch Schott und Rudolph initiierten Neuerungen damals die Konkurrenz in der Objektivbauindustrie beflügelt und in kurzer Zeit zu einer Welle der Innovation getrieben hat, sieht man daran, daß auch die Firma Steinheil nur wenige Wochen später einen nach demselben Prinzip aufgebauten Doppelanastigmat zu patentieren versucht hatte. Doch erst nach langwierigen Streitigkeiten mit Goerz [Vgl. Eder, Die photographischen Objektive, 1911, S. 26.] gelang es Steinheil im November 1893, doch noch ein Patent zu ihrem Orthostigmat anzumelden [DRP Nr. 88.505]. Mit einem Male war die anastigmatische Korrektur zum neuen industriellen Standard geworden und keine etablierte Optikfirma konnte sich mehr erlauben, keinen solcherart vervollkommneten Objektivtyp mehr im Angebot zu haben.
In dieser Gemengelage drohte Carl Zeiss Jena zu einem der vielen Mitbewerber im Markt degradiert zu werden. Paul Rudolph meinte, auf diese Lage dadurch reagieren zu können, indem er den von ihm eingeschlagenen Weg eines Satzobjektives nur noch konsequenter ausbaute. Seine oben angesprochenen dreilinsigen Anastigmat-Hälften der Serie VI bzw. VIa zeigten dafür aber noch zu große Schwächen [Vgl. Rudolph, Paul: Der neue Satz-Anastigmat 1/6,3 der Firma Carl Zeiss; in: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 10/1896, S. 217]. Die große Herausforderung bei der Schaffung von Einzelgliedern eines solchen Satzobjektives lag schließlich darin, daß nicht nur jeweils die Kombinationen verschiedener Objektivhälften miteinander vorgesehen waren, sondern eben auch die Nutzung einer Hälfte für sich allein. Erst auf diese Weise ließ sich die Idee, mit einem Satzsystem einen weiten Brennweitenbereich abzudecken, wirklich erfüllen, weil eine solche Einzelhälfte schließlich in etwa die doppelte Brennweite des Gesamtobjektivs hatte. Dafür mußten diese Hälften aber so ausgelegt sein, daß sie einzeln oder in Kombination miteinander relativ freizügig verwendbar waren, was eine besonders gute Korrektur der Bildfehler erforderte. Insbesondere die sphärische Aberration mußte sehr gut behoben sein, damit die Einzelhälfte allein schon möglichst lichtstark gemacht werden konnte. Denn wenn eine Einzelhälfte in etwa die doppelte Brennweite eines Gesamtsystems aufweist, dann hat sie folglich auch nur etwa dessen halbe Lichtstärke.
Paul Rudolphs neuer Satz-Anastigmat der Serie VII [Britisches Patent Nr. 19.509 vom 13. Oktober 1894] setzte sich daher aus insgesamt elf vollständig sphärisch, chromatisch und anastigmatisch auskorrigierten Objektivhälften mit der ziemlich hohen Lichtstärke 1:12,5 zusammen, die alle einen ungewöhnlich großen Bildwinkel von 85 Grad auszeichneten. Die Kombination von drei in dieser Reihe aufeinanderfolgenden Einzelhälften ergab dann ein Doppelobjektiv der Serie VIIa mit der Lichtstärke 1:7 bzw. 1:7,7. Das Doppelobjektiv war dann auch verzeichungsfrei und zeichnete einen Bildwinkel von etwa 80 Grad aus. Die obige Abbildung zeigt einen derartigen Anastigmat-Satz der Serie VIIa Nr. 8, der aus den Einzelobjektiven der Serie VII Nr. 4 12,5/350 mm und Nr. 3 12,5/285 mm zusammengesetzt ist. Diese Kombination ergab dann ein Objektiv von 179 mm Brennweite und einer Lichtstärke von 1:7. Mit der dritten im Zeiss'schen Katalog empfohlenen Einzelhälfte konnte man den Bereich auf insgesamt sechs Brennweiten erweitern. Ein Hinzufügen einer weiteren Hälfte wurde indes nicht empfohlen.
Anhand des obigen Auszuges aus Rudolphs Aufsatz zu seinem neuen Satz-Anastigmaten in Eders Jahrbuch 1896 wird deutlich, wie komplex das ganze Prinzip des Satzobjektives leicht geriet. Brauchte ein Berufsphotograph wirklich all diese Abstufungen? Oder kaufte der sich nicht lieber zu einem vorhandenen Normalobjektiv noch ein ausgesprochenes Weitwinkel und ein lichtstarkes Portraitobjektiv in Form von Einzelsystemen? Für den wachsenden Kreis der Amateure war dieser Ansatz ohnehin wenig interessant und geriet außerdem viel zu teuer. Die größte Lichtstärke von 1:6,3 erreichte man obendrein nur dann, wenn man sich eine der Einzelhälften gleich zweimal kaufte und die beiden identischen Hälften zum Doppelobjektiv kombinierte. Damit wurde es ganz besonders teuer, wenn man das bekommen wollte, was doch eigentlich im Vordergrund hätte stehen sollen: Das lichtstarke Normalobjektiv nämlich. Angesichts des großen Wachstumsmarktes der Platten- und Rollfilmkameras mit fest eingebautem Objektiv tat sich diesbezüglich an der Wende zum 20. Jahrhundert gerade ein großes Absatzpotential auf und es zeigte sich rasch, daß Paul Rudolph mit seinem Satzobjektiv in die falsche Richtung abgebogen war. Er hatte damit den Mitbewerbern ein Einfallstor offen gelassen, durch das nun bald nicht nur das erwähnte Dagor auf den Markt drängen konnte, sondern viele andere Fabrikate an Doppelanastigmaten auch, die letztlich auf dem Rudolph'schen Prinzip der anastigmatischen Korrektur aufbauten.
Während sich Moritz von Rohr in dem oben bereits zitierten Aufsatz wundert, weshalb Zeiss nicht patentrechtlich gegen Goerz und Consorten vorging, will ich eine mögliche Antwort wagen: Fast alle diese Doppelanastigmate kamen nicht ohne die neuen Jenaer Schwerkrone aus, und auf diese hatte der Zeisskonzern mit seinem Glaswerk ein Monopol, weshalb er auch an jedem Konkurrenzerzeugnis stets kräftig mitverdiente. Diese geradezu absurde Firmenpolitik führte Harry Zöllner in seiner eingangs zitierten Gedenkschrift anläßlich Paul Rudolphs 100. Geburtstages gar zu der Fehlannahme, das anastigmatische Korrekturprinzip Rudolphs sei damals gar nicht patentiert worden, um seine bahnbrechende Idee der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen.
1.4 Das Planar
Paul Rudolph hatte also in den letzten Jahren zwei Erfahrungen machen müssen: Kurz nachdem er mit seinem asymmetrisch gebauten Anastigmaten auf den Markt gekommen war, hatten Konkurrenzfirmen große Erfolge ausgerechnet mit symmetrisch aufgebauten sogenannten Doppelanastigmaten. Und während er zweitens sein Augenmerk auf freizügig kombinierbare Einzelhälften gelegt hatte, die nur unter Kompromissen korrigiert werden konnten, waren diese konkurrierenden Doppelobjektive als Gesamtsystem zu einer hohen Leistungsfähigkeit hin optimiert worden. Paul Rudolph reagierte auf diese Erfahrung, indem er nun ebenso einen solchen Doppelanastigmaten erarbeitete. Und die Möglichkeit, sich wieder von den Mitbewerbern abzusetzen, hatte er darin ausgemacht, das Niveau der sphärischen Korrektur deutlich zu steigern, um damit die Lichtstärke auf ein bei Anastigmaten bislang nicht gekanntes Maß anheben zu können.
Paul Rudolph in etwa zu der Zeit, als er am Planar zu arbeiten begann.
Wieso waren nun in der Frühzeit der neuen Anastigmate besonders die symmetrisch aufgebauten Typen so erfolgreich? Das lag daran, daß symmetrische Doppelobjektive nach dem Vorbild einer Steinheil'schen Entwicklung bereits seit den 1860er Jahren sehr gut bekannt waren und als sogenannter Aplanat eine sehr weite Verbreitung gefunden hatten. Diese Aplanate beruhten auf Achromaten, wie sie Joseph von Fraunhofer oder Joseph Johann von Littrow schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts angegeben hatten und die von Steinheil und seinen Zeitgenossen paarig zu einer Mittelblende gegeneinander gestellt wurden. Der Vorteil der dabei erzielten symmetrischen Bauart lag darin, daß dadurch die Abweichung von der Sinusbedingung, die Koma sowie die Verzeichnung weitgehend von selbst verschwanden. Astigmatismus und Wölbung hatten sich auf diese Weise hingegen nicht beheben lassen. Das Dagor von Goerz, der Orthostigmat von Steinheil, die Collinerea von Voigtländer und etliche andere Typen jener Zeit kann man nun gewissermaßen als mithilfe der neuen Gläser auf Beseitigung des Astigmatismus getrimmte Aplanate begreifen.
Der Ansatz, den Paul Rudolph für sein Planar wählte, wich von den oben genannten Doppelobjektiven nun dahingehend ab, daß er seinen Blick auf einen anderen Typ des Achromaten lenkte. Statt auf die bisher verwendeten Achromate Fraunhofers oder Littrows, griff er auf ein von Carl Friedrich Gauß angegebenes Fernrohrobjektiv zurück, das die Beseitigung der sphärischen Aberration für wenigstens zwei Farben in Aussicht stellte. Damit wurde es möglich, die Auswirkungen der sogenannten Sphärochromasie (auch Gaußfehler benannt) in den Griff zu bekommen. Bisher war eine weitere Vergrößerung der Lichtstärke der bekannten Doppelobjektive stets dadurch vereitelt worden, weil die sphärische Aberration nicht gleichmäßig für alle infrage kommenden Lichtfarben behoben werden konnte. Paul Rudolph hatte nun erkannt, daß mit der Verwendung zweier Gauß-Achromate der Kugelgestaltsfehler über einen weiten Spektralbereich hinweg austariert werden konnte.
Diese Kurven zeigen einen Vergleich der sphärischen Zonen des neuen Planars 1:3,8 mit einem theoretisch gedachten, auf dieselbe Öffnung gerechneten Aplanat. Die gestrichelte Kurve entspricht gelbem Licht der D-Linie, die ausgezogene violettem Licht der Spektrallinie G' – also in etwa dem sichtbaren und dem sogenannten chemischen Fokus. Ein Vergleich der Längen der unter den Koordinatensystemen gezeichneten gestrichelten Linien gibt eine Vorstellung darüber, wie stark beim Planar die sphärischen Zonen verkleinert werden konnten [aus: Rohr, Moritz von: Ueber das Planar; in: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 12/1898, S. 70ff].
Mit dem oben wiedergegebenen Vergleich zwischen dem bisherigen Aplanat-Typ (links) und dem neuen Planar (rechts) lassen sich nun Paul Rudolphs Fortschritte in Bezug auf den Öffnungsfehler sehr gut verdeutlichen. Erst einmal fallen generell die viel flacheren Kurven beim Planar auf, die Zeugnis über die deutlich verringerten sphärischen Zonen ablegen. Das ist stets eine Grundvoraussetzung für das Anheben der Lichtstärke, wenn nicht gerade ein ausgesprochenes Weichzeichnerobjektiv gewünscht wird. Zweitens wird sichtbar, wie das Ausbrechen der sphärischen Aberration über das Spektrum hinweg – die oben bereits angesprochene Sphärochromasie also – auf ein bisher nicht gekanntes Kleinstmaß zurückgedrängt werden konnte. Die Kurven für violettes und gelbes Licht liegen beim Planar sehr eng beieinander. Drittens wurde beim Planar durch den sehr flachen Verlauf der Kurven für den Kugelgestaltsfehler auch die Neigung der bisherigen Aplanate zur sogenannten Blendendifferenz eliminiert: Beim Abblenden verlagerte sich nun nicht mehr der Ort der schärfsten Abbildung entlang der optischen Achse und die Schärfe mußte beim Wechsel der Blendenzahl nicht mehr nachkorrigiert werden. Diese drei Eigenschaften zusammengenommen müssen in Anbetracht der für damalige Verhältnisse geradezu sagenhaft hohen Lichtstärke des Planars als immenser Fortschritt betrachtet werden.
Das im Reichspatent Nr. 92.313 vom 14. November 1896 geschützte Planar wäre aber nicht ohne ein zuvor am 17. März 1896 angemeldetes Patent Nr. 88.889 denkbar gewesen, mit dem sich Paul Rudolph seine Erfindung der hyperchromatischen Zerstreuungslinse schützen ließ. Die Triebkraft hierfür lag in der Erkenntnis, daß die guten Voraussetzungen des Gaußtyps im Hinblick auf die Farbfehlerbeseitigung infrage gestellt wurden durch die im photographischen Bereich nötige anastigmatische Korrektur. Rudolph war nämlich im Zuge der sphärischen und anastigmatischen Korrekturarbeit zu einer Formgebung der zerstreuenden Innenlinsen des Doppelgauß gelangt, für die wiederum nicht die richtigen Glassorten zur Verfügung standen, um gleichzeitig die chromatische Korrektur des Gesamtobjektivs zu erreichen. Dieses Hindernis brachte ihn letztlich auf die Idee, zwei Linsen durch Verkitten miteinander zu kombinieren, die zwar einen annähernd identischen Brechungsindex aufwiesen, aber gleichzeitig erheblich voneinander abweichende Farbzerstreuungen. Hinsichtlich der Brechkraft verhielt sich dieses Kittglied damit genau so wie eine Einzellinse. Seine beiden äußeren Radien r1 und r3 konnten daher ganz nach der Notwendigkeit festgelegt werden, wie es die sphärische und anastigmatische Korrektur verlangten. Das Ausmaß der für die chromatische Korrektur nötigen Farbzerstreuung ließ sich nun jedoch in weiten Grenzen einfach mithilfe der Durchbiegung des gemeinsamen Kitt-Radius r2 steuern. Mit diesem Konstruktionseinfall war es späterhin sogar möglich geworden, das Planar als ausgesprochenes Reproduktionsobjektiv bis hin zu einer apochromatischen Korrektur zu züchten; das heißt Farbmaßstabs- und Farbortsfehler über das gesamte sichtbare Spektrum hinweg auf ein bisher nicht erreichtes Kleinstmaß zu reduzieren. Der Kollege Rudolphs aus der Zeiss'schen Fernrohrabteilung Albert König (1871 - 1946) drückte das Phänomen folgendermaßen aus:
"In dem besonderen Falle, daß die Linsen der Kombination verkittet sind und für eine Farbe den gleichen Brechungsindex wie die einfache Linse haben, kann man mit der Kombination die chromatische Abweichung ändern, ohne daß sich die sphärischen Aberrationen für diese Farbe ändern; dagegen ändern sich die […] chromatischen Variationen der sphärischen Aberration. Hat eine solche Kombination ein kleineres v als die einfache Linse aus dem Glase, das unter den Gläsern mit diesem Brechungsindex das kleinste v hat, d. h. ist mit der Kombination eine stärkere chromatische Wirkung erreicht worden, als [es] mit der einfachen Linse aus gleichbrechendem Glase möglich war, so nennt man sie eine hyperchromatische Linse." [König, Albert: Die Theorie der chromatischen Aberrationen; in: Zeiss Jena (Hrsg.): Die Bilderzeugung in Optischen Instrumenten, 1904, Seite 349f.]
Dieses ab August 1897 [Vgl. Rohr, Moritz von: Ueber das Planar; in: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 12/1898, S. 70.] serienmäßig hergestellte Planar mit Lichtstärken bis 1:3,6 geriet jedoch letztlich zu aufwendig und zu teuer in der Herstellung, um zu einem echten Universalobjektiv zu werden. Außerdem neigte es als Vertreter des Doppelgaußobjektivs im Alltag zu schwer beherrschbaren Überstrahlungen. Immerhin konnten im ungünstigsten Fall seine acht Glas-Luft-Flächen nicht weniger als 28 Spiegelbilder von im Bilde vorkommenden Lichtquellen auf die Schicht werfen [Vgl. Naumann, Helmut; Das Auge meiner Kamera, 2. Auflage, 1951, S. 55]. Dieser vielversprechende Objektivtyp, für den Rudolph den Grundstein gelegt hatte, konnte daher erst nach den Weiterentwicklungen u. a. durch Merté und Tronnier zu jenem Erfolg gebracht werden, der ihn bis heute zu einem der wertvollsten Konstruktionen im Bereich der gesamten Photooptik macht.
Im Grunde genommen hatte Rudolph mit dem Planar 1:3,6 alle bisherigen Probleme gelöst: Trotz der fast drei mal so großen Einfallshöhe der Strahlen konnte die sphärische Aberration in der Größenordnung des beim Abbe-Rudolph-Triplet von 1888 erreichten Maßes begrenzt werden. Gleichzeitig war der Astigmatismus nun aber so gut korrigiert wie beim Protar. Doch der hohe Preis und die große Streulichtanfälligkeit verhinderten, daß sich das Planar bereits zur damaligen Zeit zum Universalobjektiv entwickeln konnte [Abb. nach Zöllner, 1958].
1.5 Über das Unar zum Tessar
1.5.1 Das Unar als massiver Fehlschlag
Um das Zeisswerk konkurrenzfähig zu halten, mußte Rudolph ein deutlich einfacher aufgebautes, preiswerter herstellbares und dennoch hochwertiges Universalobjektiv schaffen. Schließlich hatte die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch einen drastischen Umschwung in der Phototechnik mit sich gebracht. Im Gleichzug mit verkleinerten Aufnahmeformaten waren die Photokameras kleiner und leichter geworden und empfindlichere Aufnahmematerialien entbanden zunehmend von der Nutzung des Stativs. Das Schlagwort der Zeit lautete deshalb Handapparat. Zum ersten Male fingen auch breitere Bevölkerungskreise an, zum Beispiel auf Reisen oder Ausflüge eine Photokamera mitzunehmen und spontan von als lohnenswert erkannten Motiven Schnappschüsse anzufertigen. Für diese Aufnahmen aus der Hand waren nicht nur lichtstarke Objektive gefragt, sondern durch die kurzen Brennweiten waren sie auch erstmals praktikabel einsetzbar geworden.
So erlebte das erst kurze Zeit zuvor herausgebrachte Taylor'sche Triplet gleich eine große Konjunktur, da es diese Anforderungen sehr gut erfüllte. Und im Jahre 1900 kam Voigtländer mit dem vielversprechenden, von Hans Harting errechneten Heliar 1:4,5 auf den Markt, mit dem der Triplet-Typ umgehend auf ein sehr hohes qualitatives Niveau gehoben werden konnte. Für den Ruf Rudolphs als herausragendsten Objektivschöpfer seiner Zeit spricht nun, daß er dieser Herausforderung mit wissenschaftlicher Grundlagenforschung begegnete, um ein konkurrenzfähiges Erzeugnis zu schaffen.
Er griff die Erfahrungen aus seinem Planar-Objektiv auf, wo er die sphärische und chromatische Korrektion ausschließlich durch getrennt stehende Einzelelemente erreicht hatte, ging nun aber wieder völlig von dessen symmetrischem Aufbau ab [Vgl. Schüttauf, Richard: Neue Objectiv-Constructionen der Firma Carl Zeiss in Jena; in: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, 1901, S. 408.]. Gut ist oben zu sehen, wie der hintere Systemteil des Unars dem Grundtyp des Gauß-Achromaten entspricht; allerdings unter unter Verzicht auf Rudolphs hyperchromatische Kittfläche. Diesen hinteren Gaußtyp-Achromaten kombinierte er nun mit einem Fraunhofer-Achromat in der vorderen Systemhälfte. Die gleichzeitige Hebung der sphärischen und der astigmatischen Fehler erfolgte wie zehn Jahre zuvor beim Protar durch gegensätzlich brechende Nachbar-Glasflächen in beiden Systemteilen. Doch hatte er dies bei seinem Protar noch mit Hilfe von gegeneinandergestellten positiven und negativen Kittflächen durchgeführt, so wies er nun mit seinem Unar nach, daß dasselbe Ziel auch mit gegensätzlich brechenden Luftlinsen erreicht werden konnte. Die viel harschere Brechzahldifferenz zwischen Glas und Luft zeigte natürlich eine viel größere Wirkung als bei zwei miteinander verkitteten Linsen, weshalb höhere Lichtstärken erreichbar waren. Diese zentrale Neuerung wurde im Deutschen Reichspatent Nr. 134.408 vom 3. November 1899 geschützt. Gut ist zu sehen, wie Rudolph den Großteil des Textes der Patentschrift dazu nutzt, seine Erfindung gegenüber dem Stand der Technik abzugrenzen und mit dieser modernen Art der Anmeldung deren Erfolg sicherzustellen.
Der obige Nachtrag zum Zeiss-Katalog vom April 1900 belegt, daß dieses Unar umgehend und offensichtlich mit großer Eile in sechs verschiedenen Brennweiten auf den Markt gebracht worden ist. Später kamen noch die Brennweiten 375 mm für das Format 18x24 cm und 460 mm für das Format 21x16 cm hinzu. Hervorzuheben sind die kurzbrennweitigen, lichtstarken Versionen in einer halbversenkten Spezialfassung mit Schneckengang, die speziell für Schlitzverschlußkameras zugeschnitten waren, wie sie von der Firma Curt Bentzin in Görlitz fabriziert wurden.
Doch von einer Firma Bentzin war nach außen hin gar keine Rede, sondern von einer "Aktiengesellschaft Camerawerk-Palmos, Jena", wie die obige Annonce aus dem Jahre 1901 belegt. Auch in dem unten wiedergegebenen Aufsatz Rudolphs zum neuen Unar [aus: Photographische Mitteilungen, Band 37, S. 333ff, 1900.] spricht er von dem "Film Palmos 6x9 des Jenaer Camera-Werkes", der erst seit ganz kurzer Zeit existiere.
Mit diesem Jenaer Camera-Werk hatte es folgende Bewandtnis: Um sich ein zweites Standbein aufzubauen, hatte sich Paul Rudolph bei Freunden und Verwandten verschuldet, um diese bekannte Görlitzer Kamerabauanstalt des Curt Bentzin regelrecht zu übernehmen. In einem Anflug an Selbstüberschätzung hatte er zudem mit einem Mitstreiter eine Rollfilmkamera mit Schlitzverschluß konstruiert, die den bewährten Plattenkameras zur Seite gestellt werden und neue Marktpotentiale im Amateursektor erobern sollte. Es ist unübersehbar, wie in der Folgezeit Rudolphs Palmos-Kameras und die von Rudolph konstruierten Zeiss'schen Unare in einer ziemlich umfangreichen Reklameaktion miteinander verknüpft und ziemlich aggressiv beworben wurden. Doch die qualitative Unzulänglichkeit sowohl des neuen Objektivs, als auch der zugehörigen Kameras, führten in eine ökonomische Katastrophe, die für den weiteren Lebensweg Paul Rudolphs einen nachhaltigen Einfluß haben sollte. Darauf wird gleich im folgenden Abschnitt ausführlich eingegangen.
Für das Unar wurde während seiner kurzen Existenzzeit auffallend intensiv geworben. Und das nicht nur in der Fachliteratur. Selbst in der Satire-Zeitschrift "Lustige Blätter" wurden Annoncen geschaltet (November 1901). Auffällig dabei ist die stete Verknüpfung mit den Palmos-Kameras, wobei der potentielle Kunde im Unklaren darüber gelassen wird, ob diese Kameras nun ein Produkt von Zeiss Jena oder einer Palmos AG sind (siehe folgenden Abschnitt).
Dieses überstürzte Inverkehrbringen des Unars sowie die begleitende massive Werbekampagne zeugen davon, daß sich Paul Rudolph sicher gewesen war, mit seiner Neuentwicklung den großen Durchbruch geschafft zu haben. Man kann es als Zeugnis für das Temperament dieses Mannes hernehmen, daß sich in Bezug auf das Unar auch sein Arbeitgeber in ein ungewöhnlich impulsives Agieren hineinziehen ließ. Denn nach neuesten Erkenntnissen muß man wohl das Urteil fällen, daß dieses Objektiv ohne die notwendige intensive praktische Erprobung auf den Markt gebracht worden war. Zwar war der Erfolg des Unars zweifellos an die Palmos-Kameras gekoppelt. Das lag daran, daß seine Lichtstärke von 1:4,5 zu groß war, um es in den damals verfügbaren Zentralverschlüssen unterzubringen. Deshalb wurden unbedingt Kameras mit Schlitzverschluß benötigt. Doch war längst nicht nur der Mißerfolg insbesondere der Film-Palmos der Grund dafür, weshalb auch das Unar scheiterte. Bislang schwieg sich die Literatur weitgehend darüber aus, welcher Art die eklatante Schwäche des Unars gewesen ist, die es in der Praxis wenig brauchbar machte.
Erst ein Blick in die Quellenüberlieferung zeigt uns, wie es damals wirklich abgelaufen ist. Zunächst läßt uns die Zeiss-Datenblattsammlung auf den Karten Nr. 16 und 18 wissen, daß auch Unare 1:6,3 entwickelt worden waren. Die Linsendurchmesser dieser Typen wären klein genug gewesen, um ohne spezielle Schlitzverschlußkameras auszukommen. Als Jahr läßt sich mit Mühe 1902 erahnen. Wichtig ist nun aber die darunter abgebildete Eintragung Willy Mertés im Inhaltsverzeichnis zur Datenblattsammlung. Darin stehen die beiden entscheidenden Sätze, die uns unmißverständlich die Ursache für den Mißerfolg des Unares liefern:
"Die hintere Luftlinse des Unars wurde durch eine sammelnde Kittfläche ersetzt, um störende Reflexionen auszuschalten. Diese Entwicklung mündete in die Konstruktion des Tessars."
Ganz eindeutig handelt es sich bei dem Ausdruck "Beck Air-lens" um eine Übertragungsfehler, der mit dem zuvor aufgeführten Objektiv von C.H. Beck in Zusammenhang gebracht werden muß. Gemeint ist natürlich "back" bzw. "rear". Jedenfalls wissen wir nun aus berufenem Munde, daß das Unar durch störende Spiegelungen in der Praxis weitgehend unbrauchbar war. Kein Wunder bei acht Flächen und insbesondere den stark meniskenförmigen bildseitigen Linsen, die sich das Licht wie Hohlspiegel gegenseitig zugeworfen haben müssen. Offensichtlich wurde man sich dieses Problems aber erst bewußt, nachdem die entsprechenden Kamera-Objektiv-Kombinationen bereits an die Kundschaft ausgeliefert worden waren. Entsprechend hat man auch späterhin bei Zeiss weitgehend den Mantel des Schweigens über diesen Fauxpas gelegt.
Diese Reklame wurde während des Jahres 1901 geschaltet und zeigt eine Momentaufnahme aus einer kurzen Zeitspanne, in der das Unar als neue Spitzenkonstruktion präsentiert wurde.
1.5.2 Das Tessar überwindet den Rückschlag
Doch Paul Rudolph wäre nicht als das Genie in die Geschichte eingegangen, über den es hier so viel zu berichten gibt, wenn ihm nicht sogleich ein Ausweg aus dieser Kalamität eingefallen wäre. In dem zweiten Satz der oben zitierten Quelle kommt bereits zum Ausdruck, was wohl als eine der glücklichsten Wendungen der Geschichte der Photo-Optik beurteilt werden muß. So wenig er die Qualität der Kameras beeinflussen konnte, so sehr versuchte er nun, die offensichtlichen Mängel seines Unars auszumerzen. Mit einer erneuten wissenschaftlichen Grundlagenarbeit verbannte er das problematische hintere Glied des Unars mit seinen zwei einzeln stehenden Menisken und ersetzte es durch einen Achromaten aus zwei miteinander verkitteten Bi-Linsen. Damit verknüpfte er grundlegende Konstruktionsprinzipien, die er in den letzten dreizehn Jahren sukzessive erarbeitet hatte.
Indem er die Luftlinse und die einzeln stehenden Menisken im bildseitigen Systemteil durch einen Achromaten mit sammelnder Kittfläche ersetzte, hatte Paul Rudolph bei seinem Tessar nun die Korrektionsgedanken des Unars mit denjenigen des Protars in hervorragender Weise zusammengeführt. Dieser Durchbruch wurde im Deutschen Reichspatent Nr. 142.294 vom 25. April 1902 festgehalten. Wie in der direkten Gegenüberstellung des neuen Tessars mit dem Unar zu erkennen ist, lagen beide Objektive in der Fehlerberichtigung fast auf demselben Niveau [nach Zöllner, 1958].
Auf der dezidiert dem Tessar gewidmeten Seite verweise ich aber noch auf eine andere Perspektive, die man in Bezug auf diesen ziemlich raschen Umbau des Unars zum Tessar einnehmen kann. Die erneute Einbindung der dem Protar zugrundeliegenden Konstruktionsprinzipen lassen sich auch mit den Vergütungen in Zusammenhang bringen, die Paul Rudolph aus Lizenzeinnahmen vertraglich zugesichert waren. Sie könnten für ihn einen weiteren Anreiz ergeben haben, die Aufbesserung seiner Einkünfte durch eine fortgesetzte Nutzung der Korrekturmittel seines Anastigmat-Patentes von 1890 für die Zukunft sicherzustellen.
Doch diese zwei Fliegen mit derselben Klappe zu schlagen, das blieb Paul Rudolph verwehrt, wie er wohl bereits nach kurzer Zeit feststellen mußte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit argumentierte man bei Zeiss, daß mit dem Tessar-Patent eine eigenständige Entwicklung erfolgt sei. Wie groß die Verärgerung darüber war, können wir heute noch an dem Indiz ermessen, daß Paul Rudolph selbst in den Jahren 1902 und 1903 nur noch die Ausführungsformen des Tessares 1:6,3 und der Apo-Tessare durchgerechnet, anschließend die Arbeiten jedoch auffallend abrupt eingestellt hat. Als Zeitpunkt dafür läßt sich die Erteilung des Tessar-Patentes im Juli 1903 vermuten. Sämtliche weitere Tessarformen, wie das als "Adlerauge der Kamera" weltberühmt gewordene Tessar 1:4,5 und das für damalige Verhältnisse außergewöhnlich lichtstarke Tessar 1:3,5, waren in Wahrheit Schöpfungen von Rudolphs Assistenten Ernst Wandersleb. Seit etwa 1915 wurde die Optimierung des Tessares dann hauptsächlich von Willy Merté besorgt.
Mit dem weitgehend konkurrenzlosen Tessar hat Zeiss viel Geld verdient. Erst durch den Ablauf der Patente kam nach dem Ersten Weltkrieg erstmals echte Konkurrenz durch die Nachbauten dieses Objektivtyps vonseiten anderer Objektivbauanstalten auf, weshalb man in Jena in den 1920er Jahren intensiv zu werben begann.
1.6 Rudolphs Krise bei Zeiss
Es ist einfach kaum zu übersehen, wie sehr Paul Rudolph in den späten 1890er Jahren danach strebte, einen besseren Anteil an dem kommerziellen Erfolg für sich zu sichern, den das Zeisswerks mit seinen Hervorbringungen erzielte. Nachdem er aber offenbar eingesehen hatte, daß kaum noch Aussicht auf eine größere Beteiligung am Gewinn des Zeisswerks mit seinen Photoobjektiven bestand, versuchte er nun, sich einen Nebenverdienst dadurch zu sichern, indem er privat die zu den neuen Unar-Objektiven passenden Kameras liefern wollte. Er verhandelte dazu ab 1899 mit dem Görlitzer Kamerafabrikant Curt Bentzin (1862 bis 1932), der sich einen Namen mit seinen Schlitzverschlußkameras gemacht hatte. Dessen Unternehmen sollte für 100.000 Reichsmark übernommen und in Jena eine "Aktiengesellschaft Camerawerk Palmos" gegründet werden, während der Betrieb in Görlitz als Filiale erhalten bleiben sollte:
„Der Gesellschaftsvertrag wurde am 26. März 1900 unterzeichnet. Rudolph brachte 51,6 Prozent des Aktienkapitals auf und interessierte den Verwandten- und Bekanntenkreis für die Gesellschaft, der sich im Vertrauen darauf, daß die Optische Werkstätte [gemeint ist das Zeisswerk, MK] hinter dieser Gesellschaft stand, finanziell beteiligte. Aber die erwarteten Erfolge sollten sich nicht einstellen, und dem Unternehmen drohte der Konkurs. Die Gründe lagen in der unbefriedigenden Ausführung der Erzeugnisse und den damit verbundenen Reklamationen sowie in der unzureichenden Konstruktion der Kameras. [...] Um den Konkurs zu vermeiden, übernahm die Optische Werkstätte 1901 das Werk. Aber die geschilderten Grundmängel zwangen schließlich dazu, das ganze Unternehmen unter erheblichen Verlusten zu liquidieren. Die Optische Werkstätte erlitt dabei einen Verlust von schätzungsweise 300.000 Mark. Der für das Camerawerk bei Löbstedt errichtete Neubau wurde später verkauft“ [nach: Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss 1846 – 1905, 1996, S. 208.].
Ankündigung der Film-Palmos 6x9 im Jahre 1900 in der Fachpresse [Photographische Rundschau, Band 14, 1900, S. 252.]. Für ein Amateurgerät sehr happige 215,- Reichsmark kostete das Gerät, wobei man vermuten muß, daß Rudolph sein Unar bei Zeiss für 100 Mark pro Stück einkaufte.
Oben die Gründungs-Anzeige für die Zweigniederlassung der Palmos-Camerawerk AG (vormals Curt Bentzin) vom 10. Dezember 1900 veröffentlicht in der Berliner Börsenzeitung vom 17. Dezember, die uns etliche interessante Details liefert. Gründer der Aktiengesellschaft waren neben Rudolph sein Rechen-Assistent Richard Schüttauf (1861-1926), der Werkführer Oswald Näther, der eine ganz besondere Rolle spielte, der seit seiner Jugend bei Zeiss tätige Meister in der Fasserei Fritz Müller (1847-1919) und ein weiterer Werkführer. Zu Aufsichtsratsvorsitzenden hatte Paul Rudolph ganz offensichtlich seine Verwandtschaft aus seinem Heimatort Kahla und dem thüringischen Saalfeld gemacht, die ihm beträchtliche Summen geliehen haben müssen.
Von diesem Ausflug Rudolphs in den Kamerabau zeugt ein britisches Patent Nr. 20.932 vom 20. November 1900, das er zusammen mit seinem Kollegen Oswald Näther angemeldet hatte. Aus der Beschreibung geht hervor, daß ihre Rollfilmkamera einen mit dem Filmtransport gekuppeltem Schlitzverschluß aufwies. Ein beim Spannen des Verschlusses mitgenommenes Hilfsrollo verhinderte eine versehentliche Belichtung (gedeckter Aufzug).
Man brauchte für die Unare 1:4,5 unbedingt einen Schlitzverschluß, da sie derart große Linsendurchmesser aufwiesen, daß sie nicht in die damals verfügbaren Zentralverschlüsse paßten. Speziell bei der Rollfilmkamera, die wohl die Hauptlast der Reklamationen ausmachte (und nicht unbedingt Bentzins bewährte Plattenkameras), war man zudem auf einen gedeckten Aufzug angewiesen, weil ja ansonsten der nächste Filmabschnitt beim gleichzeitigen Weitertransport verschleiert worden wäre. Die aufwendige Form mit einem Hilfsrollo war nötig, da Näther und Rudolph fatalerweise keine übliche Schlitzweitenverstellung zur Reulierung der Verschlußzeit vorgesehen hatten, wie sie bei den Schlitzverschlüssen der Firma Bentzin selbstverständlich waren, sondern das Rollo lief immer mit einer konstanten Schlitzweite über das Bildfebster (auch beim Spannvorgang) und es konnte für die Belichtung in fünf Stufen abgebremst werden, sodaß der Schlitz entsprechend langsamer über das Bildfenster lief. Das war eine geradezu fahrlässige Konstruktionsweise, die einfach scheitern mußte. Es wurde bei Zeiss in den folgenden Monaten offenbar versucht, die Kamera doch noch auf die übliche Schlitzweitenverstellung und einen gedeckten Aufzug ohne Hilfsverschluß umzubauen, doch dieses Vorhaben wurde am Ende abgebrochen.
Von diesem Versuch der nachträglichen Ertüchtigung zeugen ein britisches Patent Nr. 16.601 vom 19. August 1901 sowie ein gleichlautendes US-amerikanisches mit der Nummer 708.727 vom 13. Dezember 1901, die beide nur noch Näther als Erfinder nannten. Jetzt hatte der Schlitzverschluß drei Wellen und eine veränderbare Schlitzbreite für verschiedene Verschlußzeiten. Weil sich nun beide Rollos beim Spannvorgang überdeckten, konnte der bisherige Hilfsvorhang wegfallen. Doch damit war der Aufbau des Verschlusses wesentlich komplizierter geworden als zuvor und war noch schwerer beherrschbar. Von Prototypen abgesehen scheint es daher keine nennenswerte Serienproduktion dieser verbesserten Film-Palmos gegeben zu haben.
Die Reklame oben vom Juni 1901 wurde noch von einem eigenständigen Camerawerk Palmos AG geschaltet.
Im Januar 1902 waren die Palmos-Kameras dann bereits integraler Bestandteil der Zeiss-Werbung geworden. Nach der Liquidation des Rudolph'schen Palmos-Werkes versuchte nun Zeiss unter dem eigenen Dach, die Kameras zu ertüchtigen. Man muss sich das wohl auch so vorstellen, daß Zeiss irgendwie die bereits produzierten Unar-Objektive in den Handel zu bringen versuchte.
Palmos-Plattenkameras wurden bis zur Gründung der Ica-AG im Jahre 1909 auch weiterhin gebaut und auch erheblich weiterentwickelt, aber im Vergleich zu den Erzeugnissen von Firmen wie Voigtländer, Ernemann, Mentor usw. blieb deren Markterfolg eher bescheiden.
Das ganze Debakel um das Unar und die Palmos-Kameras wird noch einmal an diesem Ausschnitt aus dem Zeiss-Katalog von 1904 deutlich: Trotz mehrfachen Anläufen, eine verbesserte Film-Palmos auf den Markt zu bringen, mußte dieses Vorhaben aufgegeben werden. Statt der Palmos-Filmkamera bot man nun eine Manos-Filmkamera feil. Statt schwer beherrschbarer Schlitzverschlüsse und gekuppeltem Filmtransport wurde nun auf Zentralverschlüsse gesetzt. Und statt diese Kameras selbst zu bauen, kaufte sie Zeiss von einem Fremdhersteller ein. Das Problem dabei war aber, daß dieses Unar 1:4,5 nicht in die Zentralverschlüsse paßte, weshalb dieser Typ extra mit einer auf 1:6,3 reduzierten Lichtstärke herausgebracht werden mußte [Vgl. Jahrbuch Phot. und Rep. 1902 S. 345 sowie 1903 S. 323.]. Hinter diesen Restriktionen der damaligen Zentralverschlüsse verbirgt sich auch der Grund, weshalb das nachfolgende Tessar zunächst nur mit der Lichtstärke 1:6,3 vorgesehen war. Erst stark verbesserte Konstruktionen, wie Alfred Gauthiers Koilos oder Christian Bruhns Compound, erlaubten größere Blendendurchmesser und damit lichtstärkere Objektive.
Zu diesem Zeitpunkt, als das Abenteuer mit dem Palmos-Kamerawerk im Bankrott endete und Paul Rudolph statt einen Gewinn einzufahren mit 30.000 Mark Verlust gerade stehen mußte [Vgl. Walter, Zeiss 1905-1945, S. 44.], war das Verhältnis des Zeisswerks zu Paul Rudolph jedoch längst zerrüttet. Darüber konnte auch der Erfolg seines Tessares nicht mehr hinwegtäuschen. Im Gegenteil: Seit dem Jahre 1897 lag er mit der Werksleitung hinsichtlich der Vergütung seiner Arbeit in Zwietracht [Vgl. Hofmann, Christian: Rudolph, Paul; in: Neue Deutsche Biographie 22, 2005.]. Trotz eines auf den ersten Blick günstigen Anstellungsvertrages, den er noch mit Ernst Abbe am 6. Juni 1889 ausgehandelt hatte, fühlte sich Rudolph übervorteilt:
" 'Dr. Rudolph stellt seine ganze Arbeitskraft der Werkstätte Carl Zeiss zur Verfügung und übernimmt im Besonderen die Leitung sämtlicher rechnerischer Arbeiten, die die Construction optischer Systeme bezwecken. [...]
Alle aus den im Interesse der Werkstätte übernommenen Arbeiten entspringenden, geschäftlich verwertbaren Resultate stellt Dr. Rudolph der Firma zur Verfügung. Er behält sich aber das Recht vor, die sich bei seiner Thätigkeit ergebenden Resultate theoretischer Natur unter seinen Namen veröffentlichen zu können'
Die Firma Zeiss 'gewährt Dr. Rudolph eine von Seiten der Firma unkündbare Anstellung'. Für die Zeit zwischen 1. Oktober 1889 und 1. Januar 1900 wurde ein Gehalt von 4.000 Mark, dann bis zum 1. Oktober 1900 von 5.000 Mark und danach ein jährliches Gehalt von 6.000 Mark vereinbart. Der Pension sollten ab dem 1. Oktober 1889 3.000 Mark und danach 5.000 Mark zugrunde liegen. 'Außerdem gesteht die Firma Zeiss dem Dr. Rudolph 1/3 des Bruttogewinns zu, der durch Verkauf von Patentlizenzen des Photographischen Objektivs, welches Dr. Rudolph zum Frühjahr 1889 erfunden hat (Anastigmat), sich ergeben wird. [...] Schließlich verpflichtet sich Dr. Rudolph seiner Seits bei einem Weggang aus dieser Stellung, den er nach einer 1/2 jährigen Kündigungsfrist bewirken kann, zu der Bedingung, daß er innerhalb der nach tatsächlicher Auflösung des Contracts liegenden Frist von 10 Jahren für keine andere optische Werkstätte irgendwie thätig sein wird, welche auf einem der Fabrikationsgebiete der Firma Zeiss mit dieser in Concurrenz steht.' " [zitiert nach: Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss 1846 – 1905, 1996, S. 249f.]
Einen ziemlichen Knebelvertrag hatte Paul Rudolph da unterzeichnet; ein goldener Käfig, in dem er da steckte. Dies scheint ihm bewußt geworden zu sein, nachdem sein Planar-Objektiv auf den Markt gebracht worden war. Eine zentrale Bedeutung für die sich in den kommenden Jahren entwickelnde Beziehung Rudolphs zu seinem Arbeitgeber hatten nämlich offensichtlich die in diesem Vertrag zugesicherten zusätzlichen Einnahmen aus dem Verkauf von Lizenzgebühren. Diese beschränkten sich aber, wie aus seinem Anstellungsvertrag oben klar hervorgeht, allein auf den Anastigmat-Typus von 1889/90! Ernst Abbe, der Anfang der 1890er Jahre – zu einer Zeit also, in der der deutsche Konjunkturmotor nicht immer ganz rund lief – ein übermäßiges Wachstum der Belegschaft vermeiden wollte, hatte bezüglich des neuen Geschäftsfeldes der Photoobjektive auf eine großzügige Vergabe von Fertigungslizenzen an in- und ausländische Objektivbauanstalten gesetzt (siehe untenstehende Reklame aus dem Jahre 1892).
Im Geschäftsjahr 1891/92 stellten diese Lizenznehmer immerhin Objektive im Wert von fast 129.000 Mark her, was im folgenden Geschäftsjahr bereits auf über 278.000 Mark gesteigert werden konnte. Im Geschäftsjahr 1900/01, also dem letzten bevor das Tessar zu Buche schlug, setzten Unternehmen, die auf Basis von Zeiss-Lizenzen fertigten, bereits Objektive im Wert von 763.000 Mark um. Sie fertigten in dieser Zeitspanne 6100 Objektive, während Zeiss selbst mit 7000 Stück kaum mehr hervorgebracht hatte [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss 1846 – 1905, 1996, S. 206/207.]. Innerhalb von 16 Jahren (also bis 1906) habe "die Werkstätte im Verein mit ihren Lizenznehmern [...] über 200 000 Anastigmate [gemeint sind hier Protar-Anastigmate] nach allen Teilen der Welt geliefert" [Auerbach, Felix: Das Zeisswerk und die Carl-Zeiss-Stifftung in Jena, 1907, S. 52.]. Auch wenn Rudolph nicht pro Stück, sondern pro Lizenzvergabe der unterschiedlichen Varianten am Gewinn beteiligt worden sein wird, dürfte sich aus dieser Vertragsklausel dennoch eine nicht zu vernachlässigende Summe ergeben haben.
Ein in Lizenz von Bausch & Lomb in Rochester hergestellter Zeiss-Anastigmat. Bild: Pedro Alanis.
Je dominanter nun aber die neuen Objektivtypen ins Blickfeld traten, um so unbedeutender geriet zugleich der Anteil der vom Anastigmat abgeleiteten Objektive. Denn richtig einträglich wurde der Objektivbau bei Zeiss Jena erst mit den teuren Reproduktions-Planaren, die von der reprographischen Industrie gekauft wurden und natürlich mit dem Tessar, das Zeiss Jena bis zum ersten Weltkrieg selbst zu zehntausenden fabrizierte und für das die Werkstätte wiederum umfangreich Fertigungslizenzen an ausländische Firmen vergab. Wäre Paul Rudolph im Besitz seiner eigenen Erfindungen gewesen, so wäre er binnen kurzer Zeit zum Millionär geworden. Dazu hätte er aber an irgendeinem Punkt vorher kündigen und anschließend ein Jahrzehnt lang am Hungertuch nagen müssen, bevor er seine Konstruktionstätigkeit hätte anderswo wieder aufnehmen können. Eine ausweglose Lage also, zumal ihn auch sein Arbeitgeber nicht los wurde, da dieser Rudolph schließlich eine unkündbare Stellung vertraglich zugesichert hatte. Aus dieser für beide Seiten mißlichen Lage heraus ergaben sich nun leider Jahre der weitgehenden schöpferischen Untätigkeit Rudolphs.
Das wird deutlich, wenn man Einblick in die US-amerikanischen Patente dieser Zeit nimmt. Diese weisen nämlich die Besonderheit auf, daß in ihnen der Erfinder namentlich genannt werden mußte, während dies im Deutschen Reich erst seit Mai 1936 der Fall war. Man kann anhand der US-Patente also eindeutig nachvollziehen, wer genau wirklich was beigetragen hat. Eine diesbezügliche Recherche ergibt nun im wesentlichen zwei Erkenntnisse: Erstens wurden zwischen dem Erscheinen des Tessars und Rudolphs Weggang 1910 außer dem Magnar keine weiteren Erfindungen geschützt, die noch zu realen Zeiss-Produkten geführt hätten. Dabei benennt ein erstes Schutzrecht zu einem Teleobjektiv mit der Nr. US873.898 vom 2. März 1906 Paul Rudolph und Ernst Wandersleb noch gleichermaßen als Erfinder. Aber das eigentliche, dem Magnar letztlich zugrundeliegende Patent Nr. US943.105 vom 13. August 1909 (Deutsches Reich Nr. 227.112 vom 1. September 1908), weist dann nur noch Wandersleb als Erfinder aus.
Noch bezeichnender ist freilich der Umstand, daß die letzten Patente Rudolphs für das Zeisswerk tatsächlich nur noch ein Laborieren an seinem Anastigmaten aus den 1890er Jahren erkennen lassen. In der Zeiss-Datenblattsammlungen finden sich etliche Eintragungen unter dem Stichwort "Neue Protarlinse"; so die obige Rechnung vom 1. Februar 1907, die auch wirklich umgesetzt wurde. Man hatte wohl im Deutschen Reich zum 30. Juni 1906 ein Patent auf dieses neue Protar angemeldet, aber offenbar nie erteilt bekommen. Lediglich in den US-Patentschriften Nr. US895.045 vom 12. Juli 1907 findet sich jene Verbesserung seines Protars und unter der Nr. US1.021.337 vom 4. Oktober 1910 eine Verbesserung seines Anastigmat-Satzes. Unten ist dieses wohl letzte Patent Paul Rudolphs für das Zeisswerk wiedergegeben. Die Nummer 532.389 bezieht sich auf die US-Version des Patentes für den Satz-Anastigmat aus dem Jahre 1894. Kurzum: Noch deutlicher konnte meiner Ansicht nach ein Chefkonstrukteur seinem Arbeitgeber nicht begreiflich machen, daß er ohne direkte finanzielle Beteiligung nicht mehr gewillt ist, noch irgendeine ökonomisch verwertbare Erfindung zur Verfügung zu stellen.
Es muß an dieser Stelle noch auf eine andere Auseinandersetzung mit der Geschäftsleitung des Zeisswerkes hingewiesen werden, an der Paul Rudolph eine erheblichen Anteil hatte. Im Geschäftsjahr 1902/03 geriet die Firma in eine wirtschaftliche Schieflage, die zur Folge hatte, daß Teile der Arbeiter in Kurzarbeit gehen mußten. Das sorgte für Aufruhr in der Belegschaft. Während sich die Riege der Arbeiter längst organisiert hatte, um ihre Interessen zu vertreten, bildete sich nun auch ein Beamten-Ausschuß (man bezeichnete damals höhere Angestellte in einem Unternehmen noch als Beamte). Als nun nach Jahren des sukzessiven Aufstiegs bei Zeiss erstmals eine ernsthafte Stagnation eintrat, kam insbesondere in der höheren Angestelltenschaft Sorge um den Bestand der Pensionszahlungen auf. Im November 1903 gründeten die 15 wissenschaftlichen Mitarbeiter der optischen Werkstätte eine eigene Vereinigung und Rudolph übernahm den Vorsitz [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss 1846 – 1905, 1996, S. 261.]. Im Januar 1904 richtete sich dieser Vereinsvorstand der wissenschaftlichen Mitarbeiter und der Beamten-Ausschuß mit einem Schreiben an die Geschäftsleitung:
"Wir wiederholen deshalb hier den Wunsch, daß sich Wege möchten finden lassen, um die Sicherheit der künftigen Altersversorgung, anstatt wie jetzt auf das künftige Gedeihen der Stiftung, auf ihr Gegenwärtiges zu gründen, auf dasjenige Gedeihen, zu dem allein die künftigen Pensionäre sicher [beizutragen] imstande sind." [nach: Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss 1846 – 1905, 1996, S. 292.]
Aus Sicht der Zeiss-Geschäftsführung muß sich wohl der Eindruck ergeben haben, daß es hauptsächlich dieser Vereinsvorstand Paul Rudolph gewesen ist, der die Angestelltenschaft in Sorge um die Sicherheit der Pensionen versetzte, um sie mit diesem Thema gegen ihren Arbeitgeber aufzubringen. Ein langsam auf die 50 zusteuernder Paul Rudolph, der sich doch offenbar schon seit Jahren den Kopf darüber zerbrach, wie er noch vor Vollendung des 65. Lebensjahres aus der optischen Werkstätte ausscheiden könne, ohne seinen Anspruch auf diese Pensionszahlungen einzubüßen. Vor diesem Hintergrund ist interessant, daß bereits im Sommer 1903 unter den Beamten als erste Forderung aufkam, dieses Pensionsalter von 65 auf 60 Jahre abzusenken [Vgl. Ebd. S. 259.]. Nun, im Frühjahr 1904, sollten die eingezahlten Pensionsfonds vom Stiftungsvermögen "in angemessener Höhe" abgesondert und separat verwaltet werden, was jedoch von Ernst Abbe schroff zurückgewiesen wurde [Vgl. Ebd. S. 294.]. Man kann nur vermuten, daß unter der Belegschaft bewußt das Gerücht gestreut wurde, Zeiss stünde kurz vor dem Bankrott. Mit Beginn der Hochkonjunktur in den letzten zehn Jahren vor dem Ersten Weltkrieg verlief diese Debatte allerdings rasch im Sande.
Den Auslöser für den endgültigen Bruch Paul Rudolphs mit Zeiss dürfte wohl die Gründung der Ica AG zum 7. Oktober 1909 geliefert haben. Mit dem Bankrott von Rudolphs Palmos AG zum 21. Dezember 1901 [Vgl. Walter, Zeiss 1905-1945, S. 44.] hatte der Bau der Palmos-Geräte ja nicht aufgehört; er wurde nur nach Jena ins Stammwerk verlagert und fand nun unter der Ägide des Zeisswerkes statt. Man muß wohl vermuten – auch wenn bisher keine Belege dafür auffindbar sind –, daß Paul Rudolph weiterhin anteilsmäßig vom Verkauf der beliebten Schlitzverluß-Plattenkameras mit ihrem charakteristischen Spreizenmechanismus profitiert hat. Mit der Übernahme insbesondere der beiden Betriebe Hüttig und Wünsche mit ihren großen Kapazitäten wurde der Kamerabau in Jena eingestellt und ganz und gar nach Dresden verlagert. Damit war das zehn Jahre zuvor von Paul Rudolph mit viel Aufwand initiierte Ansinnen, wenigstens mit den Kameras zusätzliches Geld zu verdienen, wenn es schon mit den Objektiven nicht mehr möglich ist, ebenfalls zu einem jähen Ende gekommen. Noch ehe ein weiteres Jahr verging, hatte der enttäuschte Rudolph dann aus diesen vollendeten Tatsachen seine Konsequenzen gezogen.
Der 46-jährige Paul Rudolph im Januar 1905 anlässlich der Verleihung der Progress Medal der Photographic Society of Great Britain abgebildet in deren Fachblatt The Photographic Journal vom März des Jahres. Ich denke, es bedarf keiner besonderen Betonung, was es zu Zeiten einer wachsenden Feindschaft zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Kaiserreich bedeutete, wenn einem deutschen Wissenschaftler eine derartige Auszeichnung zuteil wurde. Paul Rudolph verkörperte nun nach dem Erscheinen des Tessares die absolute Spitze unter den Konstrukteuren photographischer Objektive der Welt. Dabei dürften freilich nur ganz wenige eine Ahnung davon gehabt haben, daß zwischen ihm und seinem Arbeitgeber längst das Tischtuch zerschnitten war und daß dies die Ursache dafür bildete, weshalb es um Dr. Rudolph schon bald sehr still werden sollte.
2. Das verlorene Jahrzehnt des Dr. Paul Rudolph
Paul Rudolph war wohl irgendwann zur Einsicht gelangt, daß nur ein radikaler Schnitt die seit Jahren verfahrene Situation mit seinem Arbeitgeber auflösen könne. Nach einem vergleichenden Schiedsverfahren [Vgl. Hofmann, Christian: Rudolph, Paul; in: Neue Deutsche Biographie 22, 2005.], bei dem es sicherlich um seinen Anspruch auf die erarbeiteten Pensionsansprüche ging, konnte sich Paul Rudolph endlich zum 1. Oktober des Jahres 1910 von Zeiss lösen [Vgl. Photographische Chronik Nr. 75 vom 14. September 1910, S. 461.]. Erst im darauffolgenden Frühjahr, zum 1. April 1911, wurde die Leitung der Abteilung Photo an Ernst Wandersleb übergeben. Diese mehrmonatige Vakanz ist in so fern nicht ganz uninteressant, weil man sie als ein Anzeichen dafür deuten könnte, die Zeiss-Führung habe eine Weile überlegt, Moritz von Rohr mit dieser Aufgabe zu betrauen, der schließlich im selben Jahr mit seinem Biotar 1:1,8 wieder im Felde der Photooptik tätig geworden war.
Der gerade einmal knapp über 50-jährige Pensionär Paul Rudolph hingegen verließ Jena – offiziell aus "gesundheitlichen Gründen" und wegen "Arbeitsüberlastung" – und zog sich in vollkommene ländliche Abgeschiedenheit zurück; und zwar auf das Rittergut Grün bei Lengenfeld im Vogtland, das er offenbar noch im selben Jahr erworben hatte. Hier hatte sein Vorgänger als Rittergutsbesitzter Alfred Troll in den Jahren 1909/1910 an der etwas abgelegen Straße nach Abhorn ein stattliches Neues Herrenhaus errichten lassen und Rudolph war nun der erste, der es bewohnte. Unten sieht man den Gebäudekomplex im Jahre 1916 von der Talseite aus.
Hier im Tal der Göltzsch gab es damals weder Gasleitung noch elektrischen Strom. Allein die Bahnstrecke Zwickau - Falkenstein tangierte das Dorf Grün und das Gut seit den 1870er Jahren. Die benachbarte Stadt Lengenfeld hingegen war durch die Textilindustrie zu einem bemerkenswerten Wohlstand gelangt, was man noch heute an ihrem Gebäudebestand erkennen kann. Dutzende Spinnereien, Webereien, Gardinen- und Wirkwarenfabriken, Bleichereien und Färbereien sowie sogenannte Karbonisieranstalten befanden sich in der gesamten Umgebung. Doch von der optischen Industrie war Rudolph nun vollständig abgeschnitten. Wie zu erwarten, verweigerte ihm das Zeisswerk im Jahre 1913 die Erlaubnis, für das konkurrierende Voigtländerwerk arbeiten arbeiten zu dürfen [Vgl. Hofmann, Christian: Rudolph, Paul; in: Neue Deutsche Biographie 22, 2005.]. Es ist daher anzunehmen, daß sich Rudolph in den folgenden Jahren tatsächlich ganz und gar als Gutsverwalter betätigt hat und seinen alten Beruf vollständig an den Nagel hängte.
Das änderte sich jedoch unvermittelt, als er während des Ersten Weltkrieges zur Zivilarbeit bei Zeiss dienstverpflichtet wird [Vgl. Rudolph: Die neuen Plasmat-Objektive; in Photographische Rundschau, Band 57, Nr. 18, 1920, S. 273ff.]. Da sich rasch herausgestellt hatte, daß das Deutsche Reich, was die Produktion an Rüstungsgütern anging, gegenüber den Entente-Mächten weit zurücklag, ergriff die mittlerweile weitgehend diktatorisch regierende Heeresleitung Ende des Jahres 1916 mit dem "Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst" die Maßnahme, mit einer Arbeitspflicht das verbliebene Arbeitskräftepotential zu mobilisieren. Alle noch nicht zum Kriegsdienst eingezogenen Männer zwischen dem 17. und dem 60. Lebensjahr wurden zur Arbeit in der Rüstungsindustrie zwangsverpflichtet. Die bittere Ironie für Paul Rudolph lag darin, daß diese Dienstpflicht erst zum 12. November 1918 wieder abgeschafft wurde – zwei Tage vor seinem 60. Geburtstag.
Auf diese Weise wurde Rudolph plötzlich wieder mit seinem alten Arbeitgeber in Verbindung gebracht. Seine Aufgabe bestand darin, "ein lichtstarkes Teleobjektiv für Ballonaufnahmen zu konstruieren" [Ebd.], also für die Luftaufklärung. Diese Entwicklung ist als Fernobjektiv 6/25 cm in der Zeiss-Sammlung auf Karte 436 nachweisbar. Nachdem er diese Aufgabe "nach Jahresfrist" erledigt hatte, habe er wieder "neuen Gefallen an der produktiven Tätigkeit in der Photooptik gefunden" und sich selbst die Aufgabe gestellt "jene Lücke unter den photographischen den photographischen Objektiven auszufüllen, die darin bestand, daß die symmetrischen Satzobjektive nicht über die Öffnung von 1:6,3 hinausgingen". Paul Rudolph wird nach seiner siebenjährigen Absence aber auch die neuen Möglichkeiten erkannt haben, die sich durch frisch eingeführte, verbesserte Glasarten ergaben. So fällt auf, daß der lichtstarke Satz-Anastigmat, den er seit dem Jahresbeginn 1918 entwickelte, und den er später Plasmat nannte, mit dem neuartigen Schwerkron SK10 in der einzeln stehenden Sammellinse und mit dem neuen Schwerstkron SSK2 in der verkitteten Sammellinse arbeitete. Zeiss fertigte zwar Probeexemplare dieses Objektivs, die dessen hervorragende sphärochromatische Korrektur belegten [Vgl. Paul Rudolph✝; in: Fotografische Rundschau und Mitteilungen, 7/1935, S. Xf.]. Die Wiederaufnahme einer Zusammenarbeit mit Zeiss scheiterte jedoch bald aus Gründen, auf die im Folgenden gleich noch weiter eingegangen werden soll.
Bei diesem Blick auf die Göltzsch von einer der vielen Brücken sieht man sofort ein, weshalb das Tal "Grün" genannt wird. Man fragt sich aber auch unweigerlich, was wohl der bedeutendste Objektivkonstrukteur seiner Epoche zwölf Jahre lang hier gemacht hat.
Dieser erneute Bruch mit Paul Rudolph hätte sich beinah als schwerer taktischer Fehler des Zeisswerkes herausstellen können, denn erstens neigte sich mittlerweile das zehnjährige Beschäftigungsverbot Rudolphs langsam dem Ende entgegen und zweitens war es diesem Mann vergönnt, mit über 60 Lebensjahren nun auf wunderbare Weise noch einmal seine vollen Fähigkeiten als herausragender Objektivkonstrukteur zurückzuerlangen.
3. Neuanfang im fortgeschrittenen Alter
Vielleicht hätte man bei Zeiss anders reagiert, wenn man geahnt hätte, daß sich tatsächlich die Optische Anstalt Hugo Meyer in Görlitz als Lizenznehmer für den neuen Plasmaten bereitfinden würde [Vgl. Paul Rudolph✝; in: Fotografische Rundschau und Mitteilungen, 7/1935, S. Xf.]. Doch damit nicht genug. Im Laufe des Jahres 1922 sollte sich das Leben des Dr. Paul Rudolph noch einmal radikal ändern. Nach ziemlich genau zwölf Jahren in Grün veräußerte er Gut und Herrenhaus an einen Max Otto, um anschließend nach Görlitz in die unmittelbare Nähe der dortigen Objektivbauanstalt zu ziehen [Vgl. ebenda, S. XI.].
Man kann nur spekulieren, inwieweit ihn wirtschaftliche Not dazu trieb. Doch wenn man annimmt, daß Paul Rudolph ab 1911 tatsächlich die in seinem Arbeitsvertrag festgelegten 5000 Reichsmark Jahrespension erhielt, dann entsprach diese Summe kaufkraftbereinigt und umgerechnet auf unsere heutige Zeit zunächst etwa 30.000 bis 35.000 Euro Jahreseinkommen [Vgl. Deutsche Bundesbank (Hrsg.): Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, 2023.]. Das wären immerhin etwa 2500 bis 3000 Euro im Monat. Doch diese wirtschaftlich als sicher erscheinende Lage geriet mit dem faktischen Ende der Goldbindung der Reichsmark im Zuge des Kriegsausbruchs 1914 nun Zug um Zug ins kippen. Infolge der dadurch ausgelösten Kriegsinflation war bis 1920 der Wert der Papiermark auf etwa 1/10 des Vorkriegsniveaus abgesunken. Das führte dazu, daß noch weit vor dem Einsetzen der eigentlichen Hyperinflation, die jeder aus dem Geschichtsunterricht kennt, Bargeldvermögen und eben auch Pensionsgelder bereits weitgehend wertlos geworden waren.
Paul Rudolph wird während des Krieges also in einen sukzessiven Verlust seiner Lebensgrundlage geraten sein. Selbst als freier Objektivkonstrukteur, der von seinem Landsitz aus lizenzfähige Objektive berechnet und nebenbei vielleicht eine kleine Landwirtschaft betreibt, ließ sich nun offensichtlich nicht mehr auskömmlich leben. Dabei sollte sich die Lage, nachdem sie sich 1920 zunächst stabilisiert zu haben schien, in den folgenden Monaten noch in einem ungeahntem Maße weiter verschärfen. Im Oktober 1921 ging die Reichsmark auf einen Wert von einem Hundertstel gegenüber 1914 zurück, ein Jahr später war es nur noch ein Tausendstel, im Oktober 1923 wurde die Marke von einem Hundertmillionstel überschritten, um dann bis zur Einführung der Rentenmark im November 1923 auf ein Billiardstel abzustürzen. Wer in dieser Zeit nicht abhängig beschäftigt war mit einer wöchentlichen oder am besten täglichen Auszahlung des Arbeitslohnes, der geriet in höchste wirtschaftliche Not. Vor diesem Hintergrund wird sich Paul Rudolph im Jahre 1922 wohl genötigt gesehen haben, nach Groß-Biesnitz bei Görlitz umzuziehen, um dort mit 64 Jahren als angestellter Optikrechner noch einmal ganz von vorne anzufangen. Hier ist er ab 1923 mit Wohnhaft Promenadenstraße nachweisbar. In den folgenden zehn Jahren wird er seinem neuen Arbeitgeber zu einem gewaltigen Technologieschub verhelfen und Meyer-Optik scheute sich im Gegenzug nicht, intensiv mit dem Namen Rudolphs zu werben. Schließlich war ein immenser Zugewinn an Prestige damit verbunden, daß der gerade einmal im Jahr des Erscheinens des Planars eröffnete Görlitzer Betrieb nun den ehemaligen Gründer der Abteilung Photo des alles überragenden Zeisswerks für sich gewonnen hatte.
3.1 Der Ursprung des Plasmat-Typs bei Zeiss
Im Abschnitt 2 wurde bereits angesprochen, daß eine Dienstverpflichtung zu Zeiss in der zweiten Hälfte des Weltkrieges der Ausgangspunkt für Paul Rudolph gewesen war, wieder als Objektivkonstrukteur tätig zu werden. Und tatsächlich läßt sich in der Zeiss-Datenblattsammlung, die Willy Merté über Jahrzehnte hinweg geführt und kurz vor seinem Tode auf den neusten Stand gebracht hat, für das Frühjahr 1918 ein konkretes Anzeichen für das Wirken Paul Rudolphs für Jena nachweisen.
Hier findet sich auf der Karteikarte 454 ein Versuchsobjektiv Nr. 3 vom 27. März 1918. Ohne Zweifel ist der spätere Plasmat-Aufbau erkennbar. Auf einer Dublette der Karteikarte ist er als "Satzlinse 1:4,5 F = 15 cm bezeichnet". Im Inhaltsverzeichnis, wo die Neuentwicklung noch als ein namenloses Satz-Objektiv aufgeführt ist, hat Merté bei seiner Bearbeitung nach dem Zweiten Weltkrieg in Klammern die Bezeichnung "Doppel-Plasmat" ergänzt.
Einen Beleg dafür, daß bei Zeiss Jena tatsächlich (wie in der Literatur angegeben) noch über das ganze Jahr 1918 hinweg an diesem neuen Objektivtyp gearbeitet worden ist und auch mehrere Musterobjektive gefertigt wurden, gibt uns das oben wiedergegebene Datenblatt Nr. 515 für den Versuch Nr. 15 vom 6. Dezember 1918. Im Inhaltsverzeichnis führt Merté die Daten 1:7/100 mm an. Der Bildwinkel des Doppelobjektivs war nun auf mehr als 60 Grad gesteigert. Zwar lassen die a-Kurven eine ziemliche bescheidene Korrektur des Öffnungsfehlers erkennen, doch zugleich wird das hohe Maß an Milderung der von der Lichtwellenlänge abhängigen Varianz der Bildfehler ersichtlich. Die Kurven für die verschiedenen Farben würden übereinander liegen, wenn sie eine gemeinsame y-Achse hätten. Trotz dieser Widersprüchlichkeit lag diesem Prototypen damit ein großes Potential inne.
3.2 Patentanmeldung unter eigenem Namen
Doch Paul Rudolph schien aus der Vergangenheit gelernt zu haben. Noch einmal würde es ihm nicht passieren, daß er die Verwertungsrechte an seinen Erfindungen an seinen Arbeitgeber abtritt, dieser damit Millionen verdient, während er selbst lediglich mit den Krumen des großen Kuchens abgespeist wird. Aus dieser Überlegung heraus muß ihm die Idee gekommen sein, seine vielversprechende Neukonstruktion im Frühjahr 1918 unter eigenem Namen zum Patent anzumelden, um sie dann dem Zeisswerk zur Ausführung auf Lizenz anzubieten. Darauf jedoch ging man bei Zeiss nicht ein, was wie gesagt die Zusammenarbeit nach kurzer Zeit erneut beendete. Auf den ersten Blick scheint nun der taktische Fehler auf Seiten Paul Rudolphs gelegen zu haben, der offenbar zu hoch gepokert und sich dadurch um eine baldige Besserung seiner wirtschaftlichen Lage gebracht hatte.
Doch bei genauerer Betrachtung drängt sich noch eine ganz andere Blickweise auf die damaligen Vorgänge auf. Es stellt sich doch die interessante Frage, ob Paul Rudolph diese kurzzeitige Kooperation mit Zeiss lediglich dazu genutzt hat, um das seiner neuen Erfindung inneliegende Potential zu verifizieren. Bis sich in den 1960er Jahren allgemein die Optimierung optischer Systeme mit Hilfe digitaler Rechenanlagen etabliert hat, ließ sich die tatsächliche Brauchbarkeit eines theoretisch erdachten Objektivs quasi nur anhand von Musterobjektiven feststellen. Und dann mußten vielleicht vier oder fünf solcher jeweils leicht angepaßten Muster hergestellt und geprüft werden, um wenigstens zu einer einzigen produktionsfähigen Rechnung zu gelangen. Unter Umständen mußte der Ansatz aber auch ganz und gar aufgegeben werden. Um so unabdinglicher war es damals für Paul Rudolph, sein neues Satzobjektiv einmal praktisch ausführen zu lassen, bevor er es zum Patent anmelden konnte. Und angesichts der späteren Ereignisse ist die Interpretation nicht ganz abwegig, daß Rudolph dazu die Versuchsabteilung seines früheren Arbeitgebers taktisch geschickt ausgenutzt hat.
Denn Fakt ist, das Paul Rudolph seine Neuentwicklung bereits am 15. März 1918 zum Patent anmeldete, also zu einer Zeit, als in Jena gerade die Versuchsfertigungen liefen. Es ist nicht auszuschließen, daß er dies ohne Wissen der Zeiss-Photoabteilung tat und man hier erst davon erfuhr, als das Reichspatent Nr. 310.615 Ende Juli 1920 veröffentlicht wurde.
Schließlich fällt auf, daß man bei Zeiss noch einmal eine Karteikarte für dieses Objektiv angelegt hat, nachdem das Reichspatent Nr. 310.615 veröffentlicht worden war. Und zwar mit dem Hinweis, daß man es mit der Darstellung auf Karteikarte 454 vergleichen solle.
Mit der Erteilung seines Plasmat-Patentes konnte sich Paul Rudolph auf die Suche nach einem Lizenznehmer begeben. Erst zum Jahresende 1920 fand er mit den Firmen Hugo Meyer in Görlitz und Emil Suter in Basel zwei Fabrikanten, die sein neues Objektiv ins Fertigungsprogramm aufnahmen [Vgl. Rudolph, Der Plasmat auf dem Photomarkt, Phot. Chronik, 1923, S. 270.]. Das oben gezeigte Autograph Rudolphs vom 6. Dezember 1919 legt jedoch nahe, daß entsprechende Verhandlumgen bereits zum Ende jenes Jahres in Gang gekommen sein müssen. Denn man darf wohl getrost davon ausgehen, daß die oben erwähnte Probeausführung, für die diese Skizze angefertigt worden ist, nicht mehr bei Zeiss Jena erfolgt ist, sondern in Görlitz. Auch hier gilt: Paul Rudolph konnte auf seinem Gut Grün Objektive berechnen wie er wollte – am Ende war er aber auf eine optische Werkstätte angewiesen, die für ihn die Musterfertigung und Prüfung übernahm.
Daß Plasmat-Typen auch von der Schweizer Firma Suter hergestellt wurden, ist wenig bekannt. Offenbar spielten sie im Fertigungsprogramm dieser Firma keine nennenswerte Rolle.
Mit der Verwirklichung eines nach seinen Ansichten wohl perfekten Satzobjektives, an dem er schließlich seit den 1890er Jahren so intensiv gearbeitet hat, meinte er wohl, seinen Lebensunterhalt durch die Lizenzeinnahmen in ausreichendem Maße aufbessern zu können. Die oben in der Patentschrift genannten Schutzrechte, die er dabei umgangen und regelrecht ausgehebelt hatte, beziehen sich auf einen Doppelgaußtyp seines alten Konkurrenten Emil von Höegh sowie eines als Euryplan bekannt gewordenen Doppelobjektivs von Ernst Arbeit, das Meyer Optik seit einigen Jahren als Satzobjektiv fertigte und das Arbeit im Jahre 1911 noch einmal verbessert hatte. Den hier zu sehenden Grundaufbau folgten auch Rudolphs Plasmate.
Dadurch daß die Firma Hugo Meyer & Co. bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Potsdamer Optische Anstalt Schulze & Billerbeck aufgekauft hatte, war man offenbar auch an die Fertigungslizenz von Ernst Arbeits Satz-Anastigmat Euryplan gelangt, den man in Görlitz schon seit Jahren fabrizierte. An den Grundaufbau des Euryplans lehnten sich Rudolphs Plasmate an, er hatte dieselben jedoch mithilfe der neuen hochbrechenden Schwerstkron-Gläser auf ein neues Niveau bringen können.
3.3 Paul Rudolph als Objektivkonstrukteur für Meyer
3.3.1 Der lichtstarke Doppel-Plasmat
Obwohl im Reichspatent 310.615 nur von einer größten Öffnung von 1:4,5 die Rede war, steckte in dieser Erfindung noch ein Hauch an Potential Richtung höherer Lichtstärke, wenn auf die genannte Möglichkeit verzichtet wurde, mehrere Einzelhälften von unterschiedlichen Brennweiten miteinander zu kombinieren und stattdessen das Objektiv ausschließlich aus zwei identischen Hälften zusammengesetzt würde. Wie aus dem Autograph Rudolphs unten hervorgeht, war er auf diese Weise zu einem für damalige Begriffe außerordentlich lichtstarken Doppel-Plasmat 1:4 gelangt. Natürlich konnte der Anwender nach wie vor die in sich bereits auskorrigierte Einzelhälfte mit der Lichtstärke 1:8 verwenden. Da man für gewöhnlich die Rücklinse mit Vorderblende vorzieht, mußte also nur noch die vordere Hälfte aus dem Verschluß geschraubt werden, was auch bei einem fest verbauten Zentralverschluß problemlos möglich war. Die Kamera mußte dann nur noch über einen doppelten Balgenauszug verfügen. Wie man sieht, hatte beim Doppel-Plasmat 18 cm die Einzellinse praxisgerechte 31 cm Brennweite.
Nebenbei bemerkt: Diese Autographen Rudolphs (es ist tatsächlich seine Handschrift!) waren Anfang der 20er Jahre in den Werbeschriften der Firma Hugo Meyer enthalten. Formulierungen wie "Der erste Beweis" deuten darauf hin, daß es hinter den Kulissen offenbar Auseinandersetzungen mit Zeiss Jena gab. Diese Konstruktionsskizzen, die mir alle als nachträglich erstellt und auf das Jahr 1919 datiert zu sein scheinen, obwohl die Entwicklungen bereits im Jahr zuvor stattgefunden hatten, sollten wohl bekräftigen, daß Rudolph diese Objektive erst entwickelte, nachdem er sich von Zeiss losgelöst und Fühlung zu anderen Herstellern aufgenommen hatte.
Auf dem obigen Datenblatt aus der ursprünglich von Moritz von Rohr begonnenen und von Willy Mertè fortgeführten Zeiss-Kartei zu den datenmäßig verfügbaren Photoobjektiven des Weltmarktes ist unter der Nummer 538 auch der Doppel-Plasmat 1:4/15 cm hinterlegt. Durch die mehrfachen Kopiervorgänge sind zwar viele Details verloren gegangen, doch sind die a- und b- Kurven deutlich erkennbar. Links ist die Einzelllinse gezeigt, rechts das Doppelobjektiv. In beiden Fällen verblüfft die kaum noch zu verbessernde anastigmatische Bildfeldebnung (b-Kurven). Andererseits fallen die ziemlich stark ausgebeulten Kurven für die sphärische Abweichung (a-Kurven) ins Auge, die deutliche Restfehler erkennen lassen (vom Fachmann "Zonen" genannt) mit Werten bis zu 2% der Brennweite. Diese wirr erscheinenden vielen b-Kurven beim Doppelobjektiv dokumentieren zugleich eine ganz spezielle Eigenschaft dieses Doppel-Plasmats: Paul Rudolph, der Ende des 19. Jahrhunderts mit seinem Planar erstmals den Ansatz einer sphärochromatischen Korrektur in den Photoobjektivbau eingeführt hatte, konnte diese Eigenschaft bei seinen Plasmaten weiter ausbauen. Die nah beieinander liegenden Kurven für verschiedene Wellenlängen zeigen uns, daß diese verbleibenden, durchaus merklichen Reste des Kugelgestaltsfehlers für alle Linsenzonen und über das sichtbare Spektrum hinweg ein sehr gleichmäßiges Ausmaß aufweisen. Darin lag für Rudolph der neuartiger Ansatz bei seinem eines außerordentlich lichtstarken Anastigmaten und die Betonung dieser Eigenschaft zog teils heftige Kontroversen nach sich, auf die im Folgenden noch näher eingegangen werden wird.
Doch wieso war jetzt das, was mehr als 20 Jahre zuvor allenfalls in der Reprographie von belang war, jetzt auf einmal so bedeutsam geworden? Das lag daran, daß während des Ersten Weltkrieges die Sensibilisierung lichtempfindlicher Schichten einen großen Fortschritt erfuhr. Statt orthochromatischer Schichten, die nur bis in den Gelbgrünbereich empfindlich waren, konnten nun fabrikmäßig panchromatische Filme und Platten angeboten werden, die das gesamte sichtbare Spektrum bis hinein ins tiefe Rot abdeckten. Das brachte neue Herausforderungen insbesondere für solche Objektive, von denen Höchstleistungen abverlangt wurden. Die Brennweiten und die Schnittweiten durften auch im langwelligen Bereich nicht übermäßig ausbrechen, wenn man eine für alle Beleuchtungsarten und Filterungen gleichsam verläßliche Charakteristik des Objektives erzielen wollte. Und Rudolphs Satz- und Doppel-Plasmate waren die ersten serienmäßig hergestellten Sphäro-Achromate, die für die allgemeine Photographie ausgelegt waren.
3.3.2 Der Satz-Plasmat
Dieser Doppel-Plasmat 1:4 war also das erste praktisch verwertbare Produkt, das der neue Konstrukteur der niederschlesischen Objektivbauanstalt eingebracht hat. Wir müssen uns diesbezüglich vor Augen führen, daß die Lichtstärke 1:4,0 für das Jahr 1920 Zeit tatsächlich ausgesprochen hoch war – zumindest im Hinblick die damals noch dominierenden Plattenapparate. Doch das eigentliche Ziel hatte für Rudolph ja darin gelegen, diese hochkorrigierten Einzelhälften in Form von unterschiedlichen Brennweiten herauszubringen, um damit wiederum durch beliebige Kombination der Einzelhälften Doppelobjektive mit verschiedenen Brennweiten und Bildwinkeln zusammenstellen zu können. Das gelang ihm mit dem Satz-Plasmat, für den er zusätzlich zur Plasmat-Linse 1:8 noch eine Plasmat-Linse 1:11 geschaffen hatte, deren Brennweite etwa 30 Prozent länger war. Je nachdem, welche der Einzellinse benutzt wurde, und ob sie in den vorderen Teil des Zentralverschlusses eingeschraubt wurde, oder den hinteren, ergaben sich fünf verschiedene Kombinationen mit unterschiedlichen Öffnungsverhältnissen. Wurden beide Teile gemeinsam in den Verschluß geschraubt, dann lag die Lichtstärke bei einem für Satz-Objektive außergewöhnlich hohen Wert von 1:4,5. Immerhin hatte Paul Rudolph damit das Lichtstärke-Niveau des Tessars 1:4,5 erreicht. Vom "lichtstärksten Satz-Anastigmat" und vom "einzig lichtstarken Satz-Objektiv" war nun in den Werbeschriften etwas vollmundig zu lesen.
Das Problem lag freilich darin, daß Anfang der 1920er Jahre Satzobjektive schon nicht mehr unbedingt dem entsprachen, was auf dem Photo-Markt in größeren Stückzahlen abgesetzt werden konnte, auch wenn Rudolph derartige Objektiv-Sätze in seiner Plasmat-Patentschrift als "das umworbene Ziel des Konstrukteurs und der Wunsch des Photographen" bezeichnet. Hatte die optische Industrie in den letzten Jahren intensiv den perfekt in sich korrigierten Einzel-Anastigmaten als Mittel der Wahl propagiert, so mußte die Werbung dem Käufer nun wieder das schon etwas angestaubte Satz-Objektiv schmackhaft machen.
Als Ergänzung zum bereits im Abschnitt 3.2 Gesagten hier noch eine weitere Karteikarte Nummer 946 zum Meyer Satz-Plasmat 1:4,5/10 cm. Man kann daraus ablesen, wie gut Astigmatismus und Wölbung für Vorderhälfte (V) und Hinterhälfte (H) und damit auch für das Gesamtobjektiv korrigiert waren. Verblüffend auch, daß die Verzeichnung für die Einzelhälften weit unter einem Prozent lag und sogar beim (hemi-) symmetrischen Doppelobjektiv wieder etwas größer wurde. Ganz erheblich dagegen ist das Ausmaß der sphärischen Aberration des Doppelobjektivs, das weit über dem Wert beispielsweise des zeitgenössischen Tessars 1:4,5 gelegen hat, sodaß dieser Plasmat damals nicht als besonders guter Scharfzeichner empfunden worden ist. Mehr dazu im Abschnitt 3.3.4.
Die oben wiedergegebene Tabelle zeigt, daß Rudolph im Gegensatz zu früheren Objektivsätzen jetzt zumindest exakt auf die Aufnahmeformate zugeschnittene Systeme geschaffen hatte, die mit nur zwei Einzelhälften auskamen. Die fünf möglichen Kombinationen ergaben dabei drei verschiedene Brennweiten (allerdings mit fünf möglichen Lichtstärken). Die Abstufung von beispielsweise 15; 22 und 32 cm Brennweite für das 9x12-Format war durchaus weit genug gespreizt, damit die Anschaffung eines solchen Objektivsatzes für den Anwender überhaupt einen nachvollziehbaren Sinn ergab. Da jedoch der Weitwinkelbereich fehlte, wurde der Plasmat-Satz oft zusammen mit einem Aristostigmat verkauft, der wie die Satzlinsen des Plasmats, durch Schraubbajonett leicht in den Compurverschluß eingesetzt werden konnte. Schaut man jedoch auf den Preis eines solchen 9x12-Satzes von 190,- Reichsmark, dann sieht man, wie exorbitant teuer diese Objektivausrüstung seinerzeit gewesen ist. Sie kam daher von vornherein nur für wenige ambitionierte Photographen infrage.
3.3.2 Alternativen zum Tessar?
Für die mittlerweile in großen Stückzahlen vertriebenen Rollfilmkameras war ein solches Satzobjektiv natürlich völlig ungeeignet, weil bei ihnen die Linsen prinzipbedingt nicht ausgewechselt werden konnten. Außerdem kam dazu, daß auch für solche in Massenfabrikation hergestellte Kameras mittlerweile eine hochwertige Objektivausstattung verlangt wurde und diese Objektive mußten daher darauf getrimmt sein, daß sie in großen Stückzahlen möglichst preiswert herstellbar wären. Im Grunde genommen brauchte ein Objektivhersteller ein Erzeugnis vom Niveau eines Tessars oder Heliars, um im Wachstumsmarkt der hochwertigen Rollfilmkameras eine Rolle zu spielen.
Man kann schon sehr ins Spekulieren geraten, inwieweit Paul Rudolph eine erneute Zusammenarbeit mit Zeiss wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen hat, wenn man die obige Konstruktion aus dem Reichspatent Nr. 331.844 anschaut, die er bereits zum 7. Mai 1918 zum Schutze angemeldet hatte. Er bezeichnet es als Doppelobjektiv; man könnte es aber auch als Triplet einordnen. Jedenfalls beschreibt er dieses Objektiv als eine Synthese zwischen den Protaren, mit ihren großen geebneten Bildwinkeln und den Tessaren mit ihrem Potential zu hohen Öffnungsverhältnissen.
Mit dem Reichspatent Nr. 331.807 vom 18. Dezember 1918 hatte Rudolph dieses Triplet weiter ausgebaut und auf eine Lichtstärke 1:5 getrieben. Aus der Schutzschrift geht hervor, daß er den obigen Ansatz zu einem Satzobjektiv erweitert hatte. Die vordere und hintere Hälfte waren für sich ausreichend chromatisch und astigmatisch korrigiert, um als Einzellinsen nutzbar zu sein. Dabei hatte die vordere Hälfte die 1½-fache, die hintere die 2¼-fache Brennweite des Gesamtobjektivs. Doch damit hatte er sich wieder von dem entfernt, was für die hochwertige Bestückung einer Rollfilmkamera geeignet gewesen wäre. Diese beiden Entwicklungen stellten daher nur Zwischenstufen zur Verbesserung des Plasmats dar.
3.3.4 Paul Rudolph im Kreuzfeuer
Anhand der Bildfehlerkurven wurde oben bereits gezeigt, daß die Besonderheit der Plasmat-Konstruktion nicht gerade in einer besonders weit getriebenen Korrektur der sphärischen Aberration gelegen hat, sondern darin, daß das Ausmaß dieser sphärischen Restfehler über das gesamte sichtbare Spektrum hinweg gleich groß gemacht worden war. Im Angesicht der in den letzten Jahren immer weiter verbesserten Farbsensibilisierung der Aufnahmematerialien bis hin zu panchromatischen Schichten war ein derartiger Gesichtspunkt prinzipiell sehr fortschrittlich. Leider waren jedoch begriffe wie Gaußfehler oder Sphärochromasie und die dahinterstehenden theoretischen Überlegungen nur den wenigsten Laien und photographischen Praktikern vermittelbar. Dies hatte schon bald nach Erscheinen des Plasmats zu verschiedensten Mißverständnissen geführt, die durch Rudolphs Art der öffentlichen Äußerung zu seiner Neuschöpfung eher noch verstärkt wurden. Die Fachleute dagegen, die selbstverständlich etwas mit dem Begriff der Sphärochromasie anzufangen wußten, lehnten Rudolphs Thesen zur besonderen plastischen Bildwiedergabe seines Plasmaten fast einheitlich ab. Um es vorweg zu nehmen: Dieser Umstand hat ihm seinerzeit viel Hohn und Spott eingebracht. Man hat fast den Eindruck, der plötzlich aus dem Ruhestand in sein Fachgebiet zurückgekehrte Rudolph wurde von seiner Zunft bewußt aufs Korn genommen. Neid und Eifersucht seitens seiner Kollegen scheinen dabei eine gewisse Rolle gespielt zu haben und das wenig diplomatische Auftreten dieses genialen Mannes bei seinen Repliken hat dann wohl noch sein Übriges dazu beigetragen.
Ausgangspunkt war ein Vortrag, den Paul Rudolph am 12. Mai 1920 in Stuttgart anlässlich der vom 2. bis 15. Mai stattfindenden "Deutschen photographischen Ausstellung" zum Thema "Neue Gesichtspunkte für Anastigmate" gehalten hatte und der dann Ende September 1920 in der oben gezeigten Form im Heft 18 der "Photographischen Rundschau" erschien. Man erkennt sehr gut, wie sich Rudolph auf diese Weise nach exakt zehn Jahren Rückzug wieder in der Photobranche zurückmeldete. Zum selben Zeitpunkt brachte Meyer Görlitz den neuen Doppel-Plasmat 1:4 und 1:5,5 auf den Markt, was im selben Heft mit der unten gezeigten Annonce angekündigt wurde.
Diese etwas auftrumpfenden, mit Superlativen ausgeschmückten Annoncen und Werbebroschüren der Firma Meyer mit Aussagen wie "das einzige, lichtstarke Satz-Objektiv" oder "lichtstärkster Satz-Anastigmat" brachten im Herbst 1920 Aufruhr in die Branche. Der jüngeren Generation an Fachphotographen oder Photohändlern war vielleicht gar nicht mehr bewußt, wer dieser Paul Rudolph eigentlich sein soll – zumal seine letzte große Entwicklung bereits 18 Jahre zurücklag. Auf die Spitze brachte aber dieses Abstellen auf die besondere sphärochromatische Korrektur beim Doppel-Plasmaten, mit der er eine "bisher nicht erreichte Tiefenschärfe" proklamierte. Dahinter verbarg sich die im obigen Aufsatz aufgestellte These Rudolphs, "daß die Tiefe der Schärfe eines Objektivs von dem sphärischen Korrektionszustand für die verschiedenen Farben abhängig ist und daß dasjenige Objektiv die erreichbar beste Tiefenschärfe gibt, welches für alle Farben des Spektrums sphärisch gleich gut korrigiert ist." In den Fachzeitschriften wurde Rudolph ferner mit einer Aussage aus einer Plasmat-Reklame zitiert:
„Das Raumbild des Meyer-Plasmaten gibt eine erhöhte Plastik, d.h. es wird die Körperlichkeit besonders überzeugend vermittelt und eine malerische Luftperspektive erreicht.“
Von Kollegen wie dem Goerz-Konstruktionschef Walter Zschokke wurden derartige Aussagen bald scharf angegriffen. Rudolph hatte mit Begriffen wie "Raumbild", "Plastik", "Körperlichkeit", "Luftperspektive" und vor allem dem Adjektiv "malerisch" seinen Kritikern viel Angriffsfläche geliefert, denn diese standen weit außerhalb des Vokabulars, dessen sich rechnende Optiker üblicherweise für die Charakterisierung ihrer Konstruktionen bedienen. Dieser Versuch Rudolphs, mit beinah poetischer Ausdrucksweise den besonderen Bildeindruck zu umschreiben, den seine Neukonstruktion seiner Meinung nach auszeichnete, hatte er sich weit vom wissenschaftlichen belegbaren entfernt. Hinzu kamen als eine Provokation seiner potentiellen Kritiker interpretierbare Sätze wie:
„Dritten läßt sich der Fortschritt nicht so leicht demonstrieren, wie seinerzeit die Errungenschaft des Anastigmaten. Wer keine Raumbilder kritisch betrachten kann, weiß nichts von Luftperspektive oder Plastik. Für den ist die Neuerung gegenstandslos [...].“
Seine Kollegen wie Zschokke mußten sich angesichts dieser Wortwahl als Dritte – also Laien – abqualifiziert sehen, die von der Sache eh nichts verstünden. Damit war die Debatte von Anfang an ziemlich vergiftet.
Alfred Hay hatte im Gegensatz zu Walter Zschokke wenigstens erst einmal ein Exemplar des Doppel-Plasmats auf der optischen Bank geprüft, bevor er sich dazu äußerte. Die hervorragende sphärochromatische Korrektur über das Spektrum hinweg konnte er bestätigen, die sich aus diesem Umstand ergebende besondere Plastik des Plasmaten verbuchte allerdings auch er unter der Kategorie der psychologischen Wahrnehmung. Die Debatte wurde nun in den folgenden Monaten über fast alle damals verfügbare Fachzeitschriften hinweg ausgeweitet.
Mit dem obigen Aufsatz in der Photographischen Rundschau von 1921 versuchte Rudolph, seine Thesen zur Tiefenwirkung des Plasmat-Typs aufgrund dessen besonderer sphärochromatischer Korrektur anhand einer von ihm entwickelten Testmethode zu bekräftigen. Mit der umständlichen Beschreibung seines von ihm gebastelten Testobjekts und den wenig aussagekräftigen Vergleichsphotos wird er seinem Anliegen allerdings eher einen Bärendienst erwiesen und nur noch mehr Hohn auf sich gezogen haben. Für uns ist dieser Artikel aber deshalb von Bedeutsamkeit, weil er uns noch einmal vor Augen führt, wie Rudolph damals etwas unbeholfen von seinem vogtländischen Herrenhaus aus agierte, wo er sein Konstrukt in der guten Stube aufstellen mußte, weil er keinen Zugang zu einem wissenschaftlichen Laboratorium mehr hatte. Neben der wirtschaftlichen Not durch die mittlerweile galoppierende Inflation wird dieser Umstand ein weiterer Beweggrund gewesen sein, weshalb er im Folgejahr nach Görlitz ging.
Ein weiterer Artikel vom August 1923 in der Photographischen Chronik zeigt uns, wie angegriffen Rudolph durch die relative Erfolglosigkeit seiner Plasmat-Schöpfung seinerzeit gewesen ist. Er liefert hier nicht nur einen Rundumschlag gegen seine Konstrukteurs-Kollegen, die den Plasmaten schlecht machen würden, sondern versteigt sich gar zur Behauptung, der Handel habe sich gegen ihn verschworen und auf eine schwarze Liste gesetzt. Meyer-Optik versuchte dagegen der geringen Nachfrage nach dem Plasmat mit intensiver Werbung entgegenzutreten.
Doch Rudolphs Plasmate blieben auch nach der Überwindung der Inflation ein Nischenprodukt im ständig wachsenden Photomarkt. Bleibt anzumerken, daß Herr Rudolph durchaus dem Zeitgeist folgte, wenn er zur Beschrebung der Abbildungscharakteritik seiner Objektive Begriffe wie "malerisch" verwendete. Die Firma Busch in Rathenow warb zu jener Zeit gerade für ihr neues "Nicola-Perscheid-Portrait-Objektiv" mit genau diesem Attribut "malerisch". Nach mehr als drei Jahrzehnten Anastigmat-Entwicklung, die immer perfektere Objektive hervorgebracht hatte, gab es nach dem Ersten Weltkrieg nun eine deutliche Gegenbewegung, die mit Begriffen wie künstlerischer Weichheit, erweiterter Bildtiefe und dergleichen hantierte. Paul Rudolph lag also mit der Wortwahl durchaus im damaligen Trend; auch wenn er seine Bildplastizität durch eine perfektionierte sphärochromatische Korrektur zu erreichen zielte.
Als "Problem" wurde damals insbesondere von den Portrait-Photographen angesehen, daß Anastigmate aufgrund ihrer hohen Bildfehlerkorrektur eine scheinbar geringere Schärfentiefe aufwiesen, weil der Übergang von scharf zu unscharf sehr schroff ausfiel, während er bei älteren, weniger gut auskorrigierten Objektiven, als viel sanfter wahrgenommen wurde. Von dieser Seite der Photokünstler wurden nun Begriffe wie "Raumzeichner" in die Debatte eingeführt und die optischen Anstalten bauten spezielle Objektive, die diesen Ansprüchen nach der "erhöhten Raumtiefe" Rechnung trugen, so wie zum Beispiel das angesprochene Perscheid-Objektiv von Busch, den Kühn-Anachromat von Staebele, die Mollar-Linse vorn Goerz oder das Rodenstock Imagon. Von K. Fischer gab es zehn Jahre später, in der Photographischen Korrespondenz des Jahrganges 1933, einen zweiteiligen Aufsatz zum Thema "Das raumzeichnende Objektiv", der sich mit der Theorie hinter der psychologischen Wahrnehmung beschäftigte. Die Zeichnung oben macht noch einmal deutlich, wie groß der Anteil der äußersten Zonen der Linsen an der Lichtstärke des Objektivs ausfällt, was dadurch bedingt ist, daß es sich um eine Kreisfläche handelt. Nach der Einschätzung Fischers habe man sich so daran gewöhnt, einen scharfen Bildkern durch einen Lichthof überstrahlt zu sehen, daß mittlerweile genau dieses Phänomen als charakteristisch für Weichzeichnerobjektive angesehen werde. In Hinblick auf diese, als angenehm empfundene Art der Abbildung, führt nun Fischer folgende zeitgenössische Einschätzung zum Plasmat-Typus aus:
„Eine Mittelstellung zwischen den Objektiven mit Punktschärfe und den Weichzeichnern nimmt das Plasmat ein, das zwar gerade sphärochromatisch sehr gut korrigiert, aber mit einer in den hohen Lichtstärken bis zum Dreifachen des Üblichen gehenden sphärischen Abweichung behaftet ist; dadurch entsteht der erwähnte Lichthof um das Zerstreuungsscheibchen. Die Verbesserung der Schärfentiefe ist durch die[se] sphärischen Fehlerreste genügend erklärt und entsprechend gering – bei den vorerwähnten [speziellen] Weichzeichnern beträgt sie etwa das Doppelte bis Dreifache. Durch die sphärochromatische [...] Korrektion kann die Schärfentiefe bestimmt nicht gesteigert werden, wie auch namhafte Rechenmeister der neueren Zeit [W. Merté: Centralzeitung für Optik und Mechanik . 1924, S. 64.] betonen: 'Die der geringen Sphäroachromasie (des Plasmaten von P. Rudolph) zugeschriebene Erhöhung der Tiefe der Abbildung ist bei sorgfältiger Versuchsanordnung nicht nachweisbar, übrigens auch aus theoretischen Gründen nicht wahrscheinlich.' Die gelegentlich in den Druckschriften [Über das Meyer Plasmat, F126, 1932, S.5.] gegebenen Zahlenbeispiele zeigen die Verhältnisse der Deutlichkeit halber übertrieben; in Wirklichkeit ist wohl beim Plasmat die Längsverschiebung des Gaussischen Bildpunktes für die Farben D und G' auf den vierten Teil des sonst erreichten gedrückt, aber die entscheidende Gesamtlängsabweichung beider Farben gegen den Gaussischen Bildpunkt, die Zone, beträgt beim Plasmat 1:4 immer noch 0,7 mm und ist damit 20mal größer als die Längsabweichung der Gaussischen Bildpunkte für die Farben D und G' untereinander. Die 'Unsicherheit der Schärfenorientierung im Raum' ist also nach wie vor vorhanden, denn für sie ist die Größe und Lage der Zone von Bedeutung, während die Lage der Gaussichen Bildpunkte [...] belanglos ist. Übrigens ist auch an den zeitlich vor dem Plasmat erschienen Sphäroachromaten [das Planar von Rudolph und das Euryplan von Arbeit] eine Verbesserung der Tiefe als Kennzeichen des Typs nie beobachtet worden.“ [Fischer, K.: Das raumzeichnende Objektiv, Photographische Korrespondenz, 11/1933, S. 168/169.]
Die größere "Raumtiefe" des Plasmats sei demnach eine Folge seiner durchaus merklichen sphärischen Restfehler und nicht seiner besonderen sphärochromatischen Korrektur. Doch mit seinem Wechsel nach Görlitz hatte Paul Rudolph bereits begonnen, noch viel lichtstärkere Plasmat-Abwandlungen zu rechnen, bei denen er die den Kugelgestaltsfehler immer weiter zurückdrängen konnte.
3.3.5 Der Repro-Plasmat
Nur wenig ist über diese Ausführung des Plasmat-Typs bekannt geworden. Es fragt sich, ob die Reproduktionsanstalten dieses Objektiv wirklich angeschafft haben. Die unten von Hans Walter vorgebrachte These, die sphärochromatische Korrektur übertreffe die apochromatische, ist angesichts der Verwendung dieser Objektive für Farbauszüge nur schwer zu glauben. Diese These wird jedenfalls kaum die konservativen Techniker überzeugt haben und sie blieben lieber bei Rudolphs Apo-Planaren und Apo-Tessaren.
3.3.6 Der Kino-Plasmat 1:2
Aus den obigen Ausführungen Fischers kann man in etwa herauslesen, welche Meinung in der Fachwelt damals Anfang der 1920er Jahre über Paul Rudolph in etwa vorgeherrscht haben wird: Der alte, etwas verschrobene Mann, der um einen zweiten Frühling bemüht ist und dabei stark um Aufmerksamkeit buhlt. Dem wurden "namhafte Rechenmeister der neueren Zeit" gegenübergestellt wie eben ein Willy Merté. Doch weit gefehlt. Wer gemeint hatte, dieser Rudolph pfeife schon auf dem letzten Loch, der muß sich in den folgenden Jahren mehrfach verwundert die Augen gerieben haben. Denn dieser Mann sollte in seinem letzten Lebensjahrzehnt noch einmal zu einer Schaffenskraft zurückfinden, die es seinen bedeutend jüngeren Kollegen kaum möglich machte, schrittzuhalten. Wie weiter unten noch gezeigt werden wird, wurde zum Teil erst lange später begriffen, wie weit Paul Rudolph in manchen Aspekten bereits in den 1920er Jahren vorangekommen war, als man nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ähnlich hochkorrigierte Objektive zu schaffen versuchte.
Um die Tragweite des nächsten grundlegenden Entwicklungsschrittes nachvollziehen zu können, den Dr. Rudolph ab 1922 in die Geschichte des Photoobjektives einbrachte, müssen wir uns zunächst mit einem anderen Mann beschäftigen, der ziemlich genau ein halbes Jahrhundert zuvor zu den wichtigsten Theoretikern des frühen Objektivbaus gehört hatte, dessen Leistungen in diesem Fachgebiet heute aber vollständig in Vergessenheit geraten sind. Das hat zweierlei Gründe. Einmal liegt das schlichtweg an dem Namen dieses Mannes, der immer wieder für Verwirrung sorgt: Hans Friedrich August Zincken genannt Sommer (1837 bis 1922) lautet dieser Name vollständigerweise [Bild oben: Universitätsarchiv TU Braunschweig, Best. G131, Nr. 2, um 1884]. Der hochbegabte Stiefsohn Friedrich Voigtländers hatte Mathematik studiert und zum Thema "Zur Bestimmung der Brechungsverhältnisse" promoviert. Wie Petzval tat er sich sowohl als theoretischer wie auch als rechnender Optiker hervor. Während er seit den 1860er Jahren als Objektivkonstrukteur für die Voigtländer'sche Werkstätte aushalf, legte er zugleich auch wichtige analytische Arbeiten zur Optik vor – letzteres unter dem Namen Zinke oder Zincke. Die große Verwirrung kommt nun daher, daß Zincken gen. Sommer nach dem Tode seines Stiefvaters seinen Beruf als Mathematiker vollständig ablegte und unter dem Namen Hans Sommer als Komponist ein völlig neues Leben begann. Da er anschließend im Bereich der Musik mit seinen Liedern und Märchenspielen ähnlich innovativ war, wie zuvor in der Optik, ist Zincken-Sommer heute fast nur noch unter seinem "Künstlernamen" Hans Sommer bekannt, weshalb oftmals nicht erkannt wird, daß der hochbegabte rechnende Optiker und der hochbegabte Komponist ein und dieselbe Person ist.
Zweitens waren Zincken-Sommers Objektiventwicklungen ihrer Zeit einfach zu weit voraus. So hatte er im Jahre 1870 das Petzval-Objektiv auf eine Öffnung von 1:2,4 bringen können und etwa zwei Jahre später gelang ihm die Konstruktion des oben gezeigten Aufbaus, mit dem er sogar die Gauß-Bedingung der sphärochromatischen Korrektur erfüllen konnte [Vgl. Flügge, Johannes: Das photographische Objektiv. In: Michel, Kurt (Hrsg.): Die wissenschaftliche und angewandte Photographie, Band 1, 1955, S.183f.]. Doch die persönliche Voreingenommenheit seines Stiefvaters gegenüber Objektiven aus einzeln stehenden Linsen hatte zur Folge, daß diese vielversprechende Konstruktion nie in die Produktion gelangte und Hans Zincken-Sommer, anstatt sie in Bezug auf eine bessere Bildfeldebnung und chromatische Korrektur weiterzuentwickeln, beiseite legte. Moritz von Rohr nahm viele Jahrzehnte später das diesem Konstruktionsansatz inneliegende Potentials wieder auf und entwickelte daraus unter Einbeziehung einer Smyth'schen Linse sein wenig erfolgreiches Biotar 1:1,8 von 1911. Paul Rudolph hatte jedoch erkannt, daß er ohne solche problematische Zusatzlinsen zur Bildfeldebnung auskommen könne, wenn er nämlich die anastigmatische Korrektur durch Hinzufügen von Nachbarglasflächen bewerkstelligen würde.
Mit dem Reichspatent Nr. 401.630 vom 31. Dezember 1922 hatte nun Rudolph zusätzlich zum bisherigen Plasmat-Aufbau mit den inneren Sammellinsen einen zweiten Sphäro-Achromaten geschaffen, dessen zwei innere zerstreuende Menisken ihre erhabene Seite der Mittelblende zukehren (Patentbeispiel III, Abbildung 3). Wie in der Patentschrift zu lesen, war das Objektiv nicht holosymmetrisch aufgebaut, also nicht streng symmetrisch, sondern hemisymmetrisch, also mit geringfügigen Abweichungen der Radien, Dicken und Abständen zwischen beiden Objektivhälften. Aus dem einführenden Abschnitt seiner Schutzschrift wird deutlich, daß Paul Rudolph den großen Trend der Zeit erkannt hatte: Die Kinematographie verlangte aufgrund der feststehenden Belichtungszeit bei der Kinokamera nach ganz besonders lichtstarken Objektiven, um das Negativmaterial auch bei ungünstigeren Lichtverhältnissen ausreichend exponieren zu können. Große Bildwinkel wurden dagegen nicht verlangt. Dieser Konstruktion wurde daher von Meyer unter der Bezeichnung Kino-Plasmat 1:2,0 auf den Markt gebracht.
Wie die Karte 646 aus der Zeiss-Datenblatt-Überlieferung zeigt, wurde tatsächlich nur etwa 35 Grad Bildwinkel erreicht. Das Patentbeispiel zeigte dabei eine deutliche astigmatische Differenz. Noch bemerkenswerter sind freilich die massiven sphärischen Zonen und die noch einmal größere Abweichung von der Abbe'schen Sinusbedingung. Selbst unter der Annahme, daß das tatsächlich hergestellte Objektiv deutlich besser optimiert gewesen sei, kann man sagen, dieser Kino-Plasmat konnte nur in kürzeren Brennweiten eine einigermaßen akzeptable Bildqualität bieten.
Sein kleiner Aufsatz in der Fachzeitschrift "Der Kinematograph" vom Dezember 1923 zeigt, daß Rudolphs die Attraktivität einer vom bislang üblichen Wert von 1:3,5 und 1:3,0 auf nun 1:2,0 erhöhte Maximalöffnung für den Filmphotographen innehatte. Es konnte in den Aufnahmestudios nun etwa die Hälfte an Kohlenbogenscheinwerfern eingespart werden, die zwar ein kaltfarbiges Licht erzeugten, trotzdem jedoch große Mengen an Hitze erzeugten. Die kürzeste Brennweite von 35 mm war etwas länger als die Diagonale des Stummfilmformates 18x24 mm. Es wurde in der Praxis jedoch vielfach mit etwas längeren Brennweiten gearbeitet, um angesichts des damals sehr begrenzten Auflösungsvermögens des Rohfilmes eine möglichst große Abbildung des Motivs zu erlangen. Die angebotenen Brennweiten waren demnach genau auf die Belange der Kinokamera zugeschnitten.
Das wöchentlich erscheinende Nachrichtenblatt "Photographische Chronik" scheint ein wenig das Sprachrohr Paul Rudolphs in dieser Zeit gewesen zu sein. Schließlich war Rudolph ja Ehrenmitglied des herausgebenden Photographenverbandes. Noch bevor der weiter oben gezeigte Rundumschlag zum "Plasmat auf dem Photomarkt" im August erschien, hatte Paul Rudolph im Februar 1923 einen Artikel "Die Weiterentwicklung des Plasmaten" verfaßt, in dem er zunächst noch einmal die Vorzüge seiner bisherigen Plasmat-Typen Doppel-, Satz- und Repro-Plasmat hervorhob, um im letzten Absatz auf seinen neuen Kino-Plasmat 1:2 zu sprechen zu kommen. Hier wird ein Detail erwähnt, dessen Bedeutung für die Geschichte der Photo-Optik noch einmal herausgehoben werden muß: Grob gesagt gab es bis dahin entweder symmetrisch gebaute Photoobjektive oder asymmetrisch gebaute. Der Kino-Plasmat war dagegen in prinzipiell symmetrisches Objektiv, bei dem aber bewußt leichte Asymmetrien eingeführt wurden, um die Bildfehler bei dieser hohen Öffnung in den Griff bekommen zu können. Das war ein sehr moderner Ansatz, der später nicht nur von Rudolph weiter ausgebaut wurde, sondern allgemein zum Konstruktionsprinzip werden sollte.
Der obige Ausschnitt aus einem mehrteiligen Aufsatz von Konrad Wolter zu Fragen der Kinematographie aus dem Jahre 1924 faßt noch einmal die Problemen zusammen, die aus der festliegenden Belichtungszeit bei der Kinokamera herrühren und er liest sich zugleich als Werbeschrift für Rudolphs Kino-Plasmat.
3.3.7 Der Kino-Plasmat 1:1,5
Dieser Kino-Plasmat hatte naturgemäß zunächst nur eine sehr kleine Marktbedeutung. Wie viele Dutzend an Filmkameras werden wohl damals in Deutschland in den Ateliers gestanden haben, die man überhaupt potentiell mit diesem Objektiv hätte versehen können? Auf dem US-amerikanischen Markt wurde der Kino-Plasmat ebenfalls ignoriert, denn hier hatte Taylor & Hobson schon seit etwa 1920 Objektive mit dieser Lichtstärke 1:2,0 im Angebot. Im Deutschen Reich muß dieser Kino-Plasmat jedoch unter den Kollegen Paul Rudolphs für Aufruhr gesorgt haben, denn diese erkannten natürlich den gewaltigen Gedankenschritt, den Rudolph mit dieser Konstruktion eingeschlagen hatte. Bei Zeiss in Jena läßt sich nachweisen, wie ein gewisser Willy Merté in ebendieser Zeit 1922/23 mit einem vom Triplet abgeleiteten Biotar 1:1,8 (später als Biotar III bezeichnet) dieser Entwicklung zu begegnen versuchte und dabei einen ziemlichen Fehlschlag erlitt.
Doch im selben Jahr, als der Kino-Plasmat 1:2,0 erschien, erlebte auch der Sektor des Bewegtbildes einen bislang nicht erwartbaren Schub durch die Einführung des 16-mm-Schmalfilmes. Zuvor war es für Amateurfilmer so gut wie unerschwinglich gewesen, mit dem sehr teuren 35-mm-Material zu arbeiten. Jetzt änderte sich diese Lage schlagartig und der Schmalfilm erlebte binnen kurzer Zeit eine erstaunliche Verbreitung – von den USA ausgehend nun auch ziemlich rasch in Europa. Das Filmen war jetzt für jeden in greifbare Nähe gerückt. Die noch kürzeren Brennweiten des kleinen Schmalfilmbildes mit den noch günstigeren Schärfentiefen erlaubten dabei prinzipiell noch höhere Lichtstärken. Die Entwicklung schritt nun rasch voran. Zum Jahresende 1924 hatte der vier Jahrzehnte jünger Ludwig Bertele ein Ernostar 1:1,8 zum Patent angemeldet, das nun 1925/26 auf dem Markt erschien. Paul Rudolph hatte währenddessen sein Kino-Plasmat weiterentwickelt und auf die noch höhere Lichtstärke 1:1,5 bringen können. Das war ein neuer Weltrekord.
Oben die erste auffindbare Reklame zum neuen Kino-Plasmat 1:1,5 in der Fachzeitschrift "Der Kinematograph" vom Januar 1926. Daraus muß man schließen, daß das Objektiv bereits vor der Frühjahresmesse 1926 auf dem Markt gewesen sein muß. Unten eine weitere vom Juli desselben Jahres.
Jetzt allerdings geschah etwas unerwartetes. In den Vereinigten Staaten von Amerika, wo man bereits vor 100 Jahren sehr dem Superlativ zugeneigt war, erregte dieses Rekord-Objektiv hohe Aufmerksamkeit. Da Fachzeitschriften um 1930 sind voll mit Reklameanzeigen für den Kino-Plasmat 1:1,5. Das hatte natürlich auch damit zu tun, daß jetzt eben nicht nur Berufsfilmer mehr ein Interesse an solch extrem hohen Lichtstärken zeigten, sondern auch die gerade neu hinzugekommenen Filmamateure. Unten ist eine Auswahl dieser Annoncen wiedergegeben. Inwieweit sich die Interessenten diese doch recht teuren Objektive – 60 Dollar waren Mitte der 20er Jahre in etwa so viel wert wie 1000 Dollar heute – wirklich leisten konnten und die Firma Meyer tatsächlich größere Stückzahlen in die USA absetzte, das geht freilich aus dem Umfang der Werbung allenfalls indirekt hervor.
Der Kino-Plasmat mit 15 (bzw. 16) mm Brennweite hatte eine fast 10 mm kürzere Brennweite als die üblichen 25 mm, die sich in den USA als Normalobjektiv für den 16-mm-Film durchgesetzt hatten.
Man hat jedoch den Eindruck, die Aufnahme dieser neuen Hervorbringung Paul Rudolphs war in Übersee deutlich wohlwollender als im damaligen Deutschland. Doch auch hier kam man um dieses neue Erzeugnis nicht herum. Die hohe Lichtstärke ließ sich einfach nicht ignorieren. Das hatte natürlich auch damit zu tun, daß in dem relativ neuen Medium der Kinematographie viele jüngere und vor allem unvoreingenommenere Praktiker und Journalisten tätig waren, die den alten Rudolph nicht daran maßen, was dieser schon mal im Jahre 1902 erreicht hatte. Paul Rudolph war mit fast 70 Jahren wieder im Gespräch und Spott und Häme der letzten Jahre begannen langsam einem Respekt gegenüber der Lebensleistung dieses Mannes zu weichen. Die Frage der kommerziellen Einträglichkeit dieser Rudolph'schen Hervorbringungen für seinen Arbeitgeber steht freilich auf einem anderen Blatt. Gegenüber dem Trioplan wird der Plasmat nur eine verschwindend geringe Menge in den Produktionsziffern ausgemacht haben. Doch damit stand Rudolph nicht allein. Von Willy Mertés ab 1928 gefertigten Biotar 1:1,4 wissen wir aus der Quellenüberlieferung, daß durchschnittlich nur wenige Dutzend Exemplare je Typ im Jahr die Werkstätte verließen. Der Markt für derartige extrem hochlichtstarke Objektive war eben noch sehr eng begrenzt.
3.3.8 Der Makro-Plasmat
Das lag nicht zuletzt daran, daß im direkten Vergleich mit dem sehr innovationsfreudigen Laufbild-Sektor die Stehbild-Photographie Mitte der 1920er Jahre noch sehr konservativ war. Ein anspruchsvoller Photo-Amateur kaufte sich damals noch eine 9x12-Plattenkamera, wenn er auf eine technisch hochwertige Ausrüstung Wert legte. Photographieren auf kleinen Formaten und auf Filmbändern statt auf Glasplatten stand damals gerade erst in den Startschuhen. Um so höher ist die Voraussicht einzuschätzen, die Paul Rudolph mit seiner nächsten Neukonstruktion an den Tag legte.
Der obige Werbetext zu Rudolphs neuen Makro-Plasmaten läßt uns im Prinzip ziemlich genau wissen, was die bisherigen Plasmat-Konstuktionen so noch nicht zu bieten imstande waren: Ein auf die neuen, in den Startlöchern stehenden Kleinbildformate ausgelegtes Objektiv, das bei hoher Lichtstärke zugleich einen großen Bildwinkel mit sehr guter Schärfe auszeichnen kann. Der Kino-Plasmat hatte zwar extreme Öffnungen geliefert, doch der Bildwinkel war bescheiden und auch die Bildleistung genügte nur den Anforderungen der Kinoformate mit ihren begrenzten Auflösungen. Auch die erhebliche Verzeichnung konnte in der Stillbildphotographie nicht toleriert werden.
Wie aus der Patentschrift Nr. 456.912 vom 19. August 1926 hervorgeht, lag die zentrale Konstruktionsidee Rudolphs darin, einen Achromaten vom Fraunhofer-Typ mit einem vom Gauß-Typ zu verknüpfen, wobei seiner Diktion nach der Unterschied darin läge, daß bei ersterem die Sammellinse vorangestellt sei, während bei letzterem die Zerstreuungslinse zuerst käme. Dabei sei der Fraunhofer-Typ günstig für die Erfüllung der Sinusbedingung, der Gauß-Typ hingegen für die sphärochromatische Korrektion. Charakteristisch für das neue Objektiv war, daß es bei insgesamt viergliedrigem Aufbau zwei innere Menisken aufwies, von denen der eine sammelnd und der andere zerstreuend wirkte. Sie schlossen eine bikonvexe Luftlinse ein, die ihrerseits die Mitte des Objektives bildete und dasselbe in zwei sammelnde Hälften aufteilte. In die Produktion gelangte wohl hauptsächlich das Patentbeispiel 4 mit dem Schwerkron SK10 in den Linsen 1; 3 und 5.
Mit diesem Makro-Plasmat führte Paul Rudolph nun die Konstruktionsansätze zusammen, die er in seinem Planar und in seinem Doppel-Plasmat über die letzten Jahrzehnte entwickelt hatte. Das führte zu einem für seine Zeit außerordentlich bemerkenswerten Aufbau, der zwar von den Doppelobjektiven her abgeleitet war, sich jedoch weit von deren Holo- und Hemisymmetrie entfernt hatte.
Etwas widersprüchlich sind die zeitgenössischen Angaben darüber, wann dieses Makro-Plasmat entwickelt wurde und in welcher Form es auf den Markt kam. Paul Rudolph selbst sprach in seinem Aufsatz "Die drei Leistungsstufen des photographischen Objektives" von 1926 von einem Makro-Plasmat 1:3, das er bereits 1924 entwickelt habe. Offensichtlich kam es in dieser Form nicht in den Handel. Im Jahre 1928 in Meyer-Pressemeldungen von einem Makro-Plasmat 1:2,9 die Rede, das für Kino-Aufnahmezwecke herausgebracht werde sowie für allgemeine Photographie in den Brennweiten 2,6 bis 30 cm. Doch dieses Objektiv muß auf dem Photomarkt zunächst so gut wie überhaupt keine Rolle gespielt haben.
Das änderte sich erst mit dem Aufkommen von Kameras, die diese hohe Lichtstärke auch sinnvoll einzusetzen gestatteten. Und dazu zählten die neuartigen Kleinbildkameras, die ab der zweiten Hälfte der der 1920er Jahre sukzessive auf den Markt drängten. Die Leica ist die bekannteste unter ihnen. In diesen kürzeren Brennweiten war der Makro-Plasmat mit der noch etwas höheren Lichtstärke von 1:2,7 erhältlich. Der Bildwinkel wurde nun allerdings nur noch mit etwa 60 Grad angegeben. Eeine weite Verbreitung fanden diese Objektive trotzdem nicht.
Oben sind die Karteikarten Nr. 784 und 787 aus der Zeiss-Datenblattsammlung wiedergegeben, die die Beispiele Nr. 2 und 4 aus dem Patent 456.912 von 1926 zeigen. Gut ist zu sehen, daß Paul Rudolph erstmals bei seinem Sphäroachromat den Kugelgestaltsfehler wirklich in den Griff bekommen hatte. Im linken Beispiel 1:3,2 gibt es quasi überhaupt keine Zonen mehr und auch im rechten Beispiel liegen sie auf einem niedrigen Niveau. Dieser Plasmat-Typ zeichnete endlich auch bei offener Blende brillant und kontrastreich! Nicht befriedigen konnten jedoch die nicht unerhebliche Verzeichnung sowie die unbefriedigende Bildfeldebnung.
3.3.9 Der Kleinbild-Plasmat
Diese Restfehler auszumerzen; daran hat der mittlerweile über 70-jährige Paul Rudolph auch zu Beginn der 30er Jahre noch weiter gearbeitet. Und neue Möglichkeiten dazu eröffneten sich, nachdem von Schott in Jena unter Edwin Berger zwei neue Glasarten entwickelt worden waren, die bislang nicht gekannte Brechzahlen bei vergleichsweise kleiner Farbzerstreuung. Es handelte sich um das neue Schwerstkron SSK5 mit einer Hauptbrechzahl von ca. 1,658 bei einem ny-Wert von etwa 51 sowie um das Barit-Flint BaF10, dessen Brechzahl mit 1,67 noch höher lag, dessen Dispersion mit dem Wert 47,2 aber nur ganz knapp unterhalb der Grenze zu den Krongläsern angesiedelt war. Diese beiden Gläser wurden im Reichspatent Nr. 596.513 vom 6. November 1930 geschützt
Es ist nicht übertrieben, wenn man diesen beiden Glasarten einen gewichten Anteil daran zuschreibt, daß der deutsche Photoobjektivbau in den 1930er Jahren einen derartigen Schub erlebt und bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges diese bemerkenswerte Dominanz innegehabt hat. Es sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, daß sowohl Berteles Sonnare 1:2 und 1:1,5 als auch Mertés Tessare 1:2,8 ohne das Barit-Flint BaF10 nicht denkbar gewesen wären. Es läßt sich nun nachweisen, daß auch Paul Rudolph seinen Makro-Plasmaten umgehend mit diesen neuen Gläsern ertüchtigte.
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Bild: Kazumin Toyoball
Aber trotz der Tatsache, daß Rudolph diesen hoch auskorrigierbaren Plasmat-Anastigmaten ständig weiterentwickelte, stellte sich kein dem Tessar oder Biotar vergleichbarer wirtschaftlicher Erfolg ein. Die 20er Jahre waren aus heutigem Wissensstand heraus betrachtet eine Sattelzeit für den Objektivbau, in der sich zwar schon neue technische Entwicklungspfade abzeichneten, aber wo noch nicht genau klar war, wohin genau sich diese bewegen werden. Erst nach 1930 kristallisierte sich langsam heraus, daß die Kinematographie und die aufkommende Kleinbildphotographie nach Objektiven verlangten, die eine kompromißlose Abbildungsleistung bei einer bis an die Grenzen des Möglichen getriebenen Lichtstärke erforderten. Die Kino- und Kleinbildplasmate, die Rudolph noch bis wenige Jahre vor seinem Tode errechnet hatte, waren dabei ihrer Zeit zum Teil weit voraus und gerieten dadurch was Aufwand und Preis anbelangte alles andere als marktgerecht. Und so wie Wandersleb und Merté damals sogleich die Position besetzten, die Rudolph nach seinem Weggang aus Jena offengelassen hatte, so waren es in Görlitz nun Paul Schäfter und Stefan Roeschlein, die in seine Fußstapfen traten und die Meyer'sche Objektivbauanstalt erfolgreich in ebenjenes Zeitalter führten, das ich oben beschrieben habe.
Diesen vier Herren beispielsweise gelang dabei etwas, das Paul Rudolph in diesem Ausmaß nie wirklich vergönnt gewesen ist: Ihre Objektivberechnungen wurden genau in der von ihnen geschaffenen Konfiguration zum Teil jahrzehntelang (Biotar, Primoplan) mit großem ökonomischen Erfolg hergestellt. Was diese wirtschaftliche Verwertung betrifft, hat es den Anschein, als habe Paul Rudolph dabei zeitlebens nicht die glücklichste Hand gehabt.
Ein hochbegabtes Ausnahmetalent muß sich nicht unbedingt durch soziale Kompetenz auszeichnen
Marco Kröger
letzte Änderung: 14. November 2024