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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Die Pancolare 1:1,4
Carl Zeiss Jena
Kamera- und Objektivbau als gegenseitige Antreiber
Den Objektivbau kann man nicht vom Kamerabau losgelöst betrachten. Schließlich handelt es sich um zwei Hälften einer Gesamtheit. Zur besonderen Charakteristik speziell der mitteldeutschen Photoindustrie gehört aber, daß sich historisch gesehen diese beiden Bereiche weitgehend voneinander abgetrennt entwickelt haben; das heißt, anders als es heute oft üblich ist, haben die Kamerahersteller ihre Objektive nicht selbst gebaut. Voigtländer in Braunschweig oder Leitz in Wetzlar sind Gegenbeispiele dafür, wie sich Kamera- und Objektivbau durchaus auch unter ein und demselben Dach etabliert haben. Auch die japanische Photoindustrie scheint überwiegend durch letztere Charakteristik geprägt zu sein. Für die mitteldeutsche Photoindustrie sind jedoch diese beiden großen Objektivhersteller im thüringischen Jena und dem schlesischen Görlitz charakteristisch. Zweitens ist auffällig, wie das Zeisswerk seit Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte, den Kamerabau unter die eigenen Fittiche zu bekommen und damit zu monopolisieren. Dieser Prozeß schien in den Jahren 1926/27 abgeschlossen zu sein, als die Ernemannwerke, die einen eigenen Objektivbau begonnen hatten, in die Zeiss-Tochter Zeiss-Ikon integriert werden konnten.
Doch schon in den 30er Jahren war diese Zeiss-Strategie der Übernahme des Kamerabaus in den eigenen Konzern aufgrund des Emporkommens neuer erfolgreicher Firmen wie der Ihagee verwässert worden. Die Kamerabaufirmen blieben stark und gaben die technische Entwicklungsrichtung vor. Ein Beispiel dafür war das Aufgeben der Meßsucherkamera nach 1945 und die Konzentration auf die Einäugige Spiegelreflexkamera, für die auch völlig neue Objektivtypen wie Retrofokus-Weitwinkel verlangt wurden. Der Niedergang des VEB Zeiss Ikon in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre sorgte gar dafür, daß der VEB Kamera-Werke Niedersedlitz kurzzeitig zum Leitbetrieb des Kamerabaus der DDR wurde. Seine Dominanz setzte sich auch mit der Gründung des VEB Kamera- und Kinowerke zum 1. Januar 1959 fort. So wurde die in Niedersedlitz nach modernen Gesichtspunkten konstruierte Praktina IIA zur damaligen Leitkamera. Das kann man daran ablesen, daß die auf den Frühjahrsmessen 1959 und 1960 vom VEB Carl Zeiss Jena vorgestellten Serien neuer Objektive (zum Beispiel das Flektogon 4/25 mm) zunächst mit Anschlüssen für die Praktina ausgestattet waren, die mit ihrer innengesteuerten Automatischen Druckblende international den Trend vorgab. Um so mehr erschütterte es die DDR-Photoindustrie, als gerade diese Praktina nur wenige Wochen nach der Frühjahrsmesse 1960 aus der Produktion genommen wurde. Es muß davon ausgegangen werden, daß aufgrund einer von oben angeordneten Preissenkung die Herstellung dieser Kamera hoch defizitär geworden war. Damit war dem Dresdner Kamerabau das zentrale professionelle Kamerasystem genommen worden. Von diesem Schritt muß wohl auch Zeiss Jena ziemlich überrumpelt worden sein. Der Kurswechsel hin zu einer Spiegelreflexkamera mit Zentralverschluß, die wenig Anklang fand, trug zusätzlich zur Verunsicherung bei.
Erst im Laufe der 1960er Jahre ist zu erkennen, daß mit der Konzentration auf die klassische Spiegekreflexkamera mit Schlitzverschluß wieder eine Festigung im Kamerabau stattfindet, die auch den Objektivbau der DDR wieder beflügelt. Während der neu geschaffene VEB Pentacon die Praktica am Fließband zu fertigen beginnt und um die 80 Prozent von ihnen exportiert, zieht Zeiss Jena Mitte der 1960er Jahre mit neuen Objektiven mit M42-Gewindeanschluß nach, wie beispielsweise dem Flektogon 4/20 oder dem ASB Sonnar 4/300 [Vgl. Scharffenberg, Helmut; Klupsch, Paul: Neue Objektive aus Jena; in: Fotografie 4/1966, S. 152.]. Äußeres Kennzeichen war das zeittypische Flachnutenrändel – der Assoziation folgend später als Zebra-Gestaltung bezeichnet. Mit der PRAKTICAmat konnten zudem erste Erfahrungen mit der neuen Innenlichtmessung gesammelt werden. Der große Verkaufserfolg der Praktica-Kameras, der auch den Absatz der Objektive beflügelte, gab nun den Impuls, wieder eine professionelle Systemkamera als Ersatz für die ausgelaufene Praktina zu schaffen.
Das Pancolar 1,4/55 mm
Erstes Anzeichen dafür war, daß zu den im Frühjahr 1966 neu herausgebrachten Zeiss-Objektiven für Spiegelreflexkameras auch zwei Konstruktionen mit der Lichtstärke 1:1,4 gehörten. Insbesondere das neue hochlichtstarke Normalobjektiv Pancolar 1,4/55 mm kann man als eine Reaktion auf das rasche Aufholen der Konkurrenz auf dem Weltmarkt begreifen. Seit Anfang der 60er Jahre war für die Stuttgarter Contarex ein Oberkochener Planar 1,4/55 mm (1959 konstruiert) verfügbar. Wirklich besorgniserregend – weil sie sich im Unterschied zur Contarex auch tatsächlich gut verkauften – waren entsprechende Objektive, die Nikon oder Topcon für ihre hochwertigen Reflexkameras im Angebot führten. Wenige Jahre nachdem die Praktina eingestellt worden war, reifte in der DDR-Photoindustrie wohl die Erkenntnis, daß man sich quasi aus dem Marktsegment der professionellen Kleinbild-Systemreflexkamera verabschiedet hatte, als jenes gerade erst so richtig durchstartete. Man hat im Frühjahr 1960 wohl gemeint, die sich noch gut verkaufende Exakta Varex sei professionell genug. Angesichts neuer Kameras wie einer Nikon F oder einer Topcon RE war die mittlerweile drei Jahrzehnte alte Konstruktion der Exakta nun aber hoffnungslos veraltet und im Prinzip nicht weiterentwicklungsfähig.
Tatsächlich wurden jedoch schon kurze Zeit nach Einstellung der Praktina bereits wieder Entwicklungsarbeiten aufgenommen, die das Ziel erkennen lassen, den Dresdner Kamerabau langfristig wieder in das Segment der ambitionierten Kleinbildspiegelreflex zurückzubringen. Indikator dafür sind erste Patente zu einem Metalllamellen-Schlitzverschluß, dessen Arbeitsprinzip besonders kurze Ablaufzeiten in Aussicht stellte. Dieses Projekt einer professionellen Systemkamera, das zunächst als Praktina N, angelaufen war, wurde später in Pentacon Super umbenannt, um die Verknüpfung zum neuen Kamera-Großbetrieb in Dresden stärker hervorzuheben. Interessant ist nun, daß das Normalobjektiv für diese neue Pentacon Super bereits einige Monate vor dem Erscheinen der Kamera vorgestellt worden war. Den Zeiss-Fertigungsunterlagen zufolge existierte allerdings zu jener Zeit nur ein einziges Musterobjektiv mit der Seriennummer 7.071.105. Bezeichnenderweise ist exakt dieses Exemplar auf allen frühen Prospektabbildungen der Kamera zu sehen.
Diese neue Pentacon Super wurde dann zur Leipziger Herbstmesse 1966 das erste Mal gezeigt. Es gibt viele Indizien dafür, daß das Pancolar 1,4/55 mm, dessen Rechnung im August 1963 fertiggestellt worden war, parallel zu den Konstruktionsarbeiten für diese Profikamera gezielt als deren Normalobjektiv entwickelt wurde. Ein derart aufwendiges Normalobjektiv dürfte jedenfalls kaum allein für die Amateurkamera Praktica gedacht gewesen sein. Dazu war es mit 547,- Mark einfach viel zu teuer – teurer jedenfalls, als die Kameragehäuse der damaligen Praktica-Typen. Ein "standardmäßiges" 1,4er Normalobjektiv für die Praktica gab es erst anderthalb Jahrzehnte später, als man wirklich nicht mehr drum herum kam.
Eine erste Nullserie des Pancolars 1,4/55 von 100 Stück gelangte erst im April 1967 in die Endmontage. Weitere 1000 Stück folgten zum Jahresende 1967. Es bietet wohl auch einen gewissen Einblick in die Geschichte der Pentacon Super, wenn erst mehr als ein Jahr später im Februar 1969 ein richtig großes Fertigungslos von 2000 Stück der Pancolare 1,4/55 aufgelegt wurde, gefolgt von weiteren 2000 Stück ab April 1971. Man darf wohl davon ausgehen, daß in diesen Zeiträumen auch die Produktion der Pentacon Super angesiedelt werden muß – sowie ihr anschließender Abverkauf. Auch die Gesamtstückzahl um die 5000 werden näherungsweise auf die Pentacon Super extrapolierbar sein. Zwar läßt sich nachweisen, daß in geringem Umfang auch Praktica-Kameras direkt mit dem Pancolar 1,4/55 mm ausgeliefert wurden, doch das wird überschlagsmäßig dadurch ausgeglichen, daß für die Pentacon Super auch ein paar Exemplare des mit der speziellen Offenblendenübertragung versehenen Pancolares 1,8/50 mm zur Verfügung gestellt wurden. Andererseits läßt sich nachweisen, daß späte Exemplare des Pancolares 1,4/55 mm auch einzeln in den Abverkauf gelangten, wie das hier gezeigte mit der Nummer 8.401.298, das sich stets an der obigen Praktica LTL befand. Zieht man in Betracht, daß die letzte Seriennummer des Pancolares 1,4/55 mm bei 8.401.809 lag, handelt es sich also in diesem Fall um eines der letzten hundert Stück. Daraus könnte man wiederum den Schluß ziehen, daß die Stückzahlen der Pentacon Super nicht einmal die 5000er Marke erreicht haben dürfte.
Bei diesem Objektiv hatte sich jedenfalls die Abteilung Photo des Zeisswerks Jena noch einmal richtig "ins Zeug gelegt". Nicht nur daß bei der Konstruktion mittlerweile mit dem Zeiss Rechenautomaten ZRA1 auf stark verbesserte Computertechnik zurückgegriffen werden konnte; auch fertigungstechnisch hatte man sich weit von dem noch zehn Jahre zuvor Üblichen abgesetzt. In den Prospekten wurde dies als Erfolg „neuer Korrektions- und Meßmethoden“ angegeben. Darüber hinaus basierte dieses Pancolar 1,4/55 mm auf einer gänzlich neuen Glassorte, die offenbar wenige Jahre zuvor im Labor des Jenaer Glaswerks von Werner Vogel und Wolfgang Heindorf entwickelt worden war [DDR-Patent Nr. 22.535 vom 26. Juni 1959]. Es handelt sich dabei namentlich um das Schwerstkron SSK11 mit einer Hauptbrechzahl von 1,7564 bei einem ny-Wert von 52,9.
Dabei handelte es sich um ein – auch nach heutigen Maßstäben – außergewöhnlich hochbrechendes Kronglas. Es zeichnete sich dadurch aus, daß es zwar einen Brechungsindex aufwies wie die schwersten Flintgläser jener Zeit, dabei aber nur eine etwa halb so große Grunddispersion erreichte. Das heißt, totz des hohen Brechungsvermögens wurde das Licht nur in einem Ausmaß aufgespaltet, wie man es von Krongläsern her gewohnt war. Das eröffnete neue Perspektiven für den Objektivbau. Seit den Forschungsbeiträgen Paul Rudolphs im späten 19. Jahrhundert gehörte es zum Grundpfeiler des Objektivbaus, zwei Glassorten mit annähernd gleichem Brechungsindex gegenüberzustellen, die aber erheblich voneinander abweichende Farbzerstreuungen aufwiesen. Während sich beispielsweise ein auf diese Weise zusammengestelltes Kittglied von der Brechung her annähernd wie eine Einzellinse verhielt, konnte mithilfe der Durchbiegung der zwischen beiden Linsen liegenden Kittfläche ein erheblicher Einfluß auf die Behebung der chromatischen Fehler genommen werden. Beim Pancolar 1,4/55 wurde dieses "hyperchromatische" Grundprinzip gleich in beiden Objektivhälften angewandt. Im vorderen Kittglied wurde das SSK11 dem Schwerflint SF3 (n = 1,74; v = 28,2) gegenübergestellt, im hinteren dem Schwerflint SF4 (n = 1,755; v = 27,5) [Abb.: Benedix].
Für ein derart lichtstarkes Normalobjektiv für das Kleinbildformat mußten Aberrationen ins Blickfeld genommen werden, die allgemein als Gaußfehler bezeichnet werden: Abbildungsfehler wie beispielsweise die sphärische Abweichung, die Koma usw. nehmen bei unterschiedlichen Lichtfarben ein unterschiedlich großes Ausmaß an. Gerade Öffnungsfehler und Koma müssen jedoch bei einem hochlichtstarken Objektiv besonders gut korrigiert werden, wenn man bei voller Öffnung hinreichend kontrastreiche und bis in die Bildecken scharfe Aufnahmen erzielen will. Mit optischen Gläsern, die in die Extrembereiche des zur Verfügung stehenden "Glaskontinents" vorstießen, standen nun verbesserte Korrekturmöglichkeiten zur Verfügung, um bei solchen hochlichtstarken Objektiven gleichzeitig die immer höher gewordenen Anforderungen an die Abbildungseigenschaften zu erfüllen. Für die Behebung von solchen sphärochromatischen Fehlern spielte offensichtlich auch der spezielle Verlauf des Brechungsindexes über das Lichtspektrum hinweg eine große Rolle, den das neue Glas bot: Mit den „von bereits bekannten optischen Gläsern stark abweichenden Teildispersionen“ [Ebenda.] war es offenbar möglich, das besonders schädliche Ausbrechen der Werte in bestimmten Positionen der Kurven zu minimieren.
Erkauft wurden diese vorteilhaften optischen Eigenschaften des neuen Schwerstkronglases allerdings durch den Zusatz seltener Elemente in Form von Lanthantrioxid oder giftiger schwermetallhaltiger Bestandteile wie Cadmiumfluorid. Zentraler Problempunkt war aber der Einsatz von Thoriumdioxid, denn diese chemische Verbindung ist leicht radioaktiv. Für den Nutzer des Objektives ging zwar keinerlei Gefahr aus, aber diese Gläser erwiesen sich als langfristig nicht stabil. Der schon nach der Herstellung vorhandene merkliche Gelbstich des Glases verschlimmerte sie sich mit der Zeit immer mehr, was aber offenbar nur nach und nach als großer Nachteil erkannt wurde. Erst beim anderthalb Jahrzehnte später gerechneten Nachfolger Prakticar 1,4/50 mm, das zunächst ebenfalls auf diesem Schwerstkron SSK11 basierte, führte dieses Problem sogar dazu, daß eine bereits auf den Markt gebrachte Konstruktion aufgegeben und durch eine völlige Neuberechnung ersetzt werden mußte.
Beim Pancolar 1,4/55 von 1963, bei dem nicht weniger als vier der sieben Linsen aus SSK11 bestanden, fällt zunächst die von damaligen Standards abweichende Vergütung ins Auge. Statt wie sonst bläulich, schimmern die Entspiegelungsschichten bei diesem Objektiv auffallend gelblich. Es handelt sich im Grunde genommen um denselben Farbton, den auch ein heute vergilbtes Pancolar angenommen hat. Man kann daraus schließen, daß eine leichte Eigenfärbung des Glases also bereits von Anfang an vorhanden war und deshalb die Restreflexion der Entspiegelungsschichten genau so gelegt wurde, daß damit gezielt einem Gelbstich entgegengewirkt werden konnte. Im Neuzustand (oder wenn die Vergilbung durch UV-Bestrahlung rückgängig gemacht wurde, siehe Farbaufnahme oben) arbeitet das Pancolar 1,4/55 also einigermaßen farbneutral mit einer gewissen warmen Tendenz. Diese Eigenschaft hatten aber viele Gaußtyp-Objektive. Ein echter Gelbstich mußte hingegen unbedingt verhindert werden, weil sich die damals vorherrschenden Farb-Umkehrfilme bekanntermaßen nicht nachträglich farblich korrigieren ließen. Wie weiter unten gezeigt wird, gelang auch dies dem Hersteller nicht in vollem Umfang. Noch schlimmer war aber, daß sich diese negative Eigenschaft mit der Zeit verschlimmerte. Langsam vergilbende Objektive wurden daher ein untragbares Problem für den Hersteller, was aber nur deshalb so verspätet zum Verzicht auf das Schwerstkron SSK11 führte, weil dessen optische Eigenschaften derart "verlockend" waren.
Das Pancolar 1,4/55 ist gerade noch so als Portraitobjektiv für formatfüllende Kopfaufnahmen geeignet, denn eigentlich nimmt man dafür besser Brennweiten ab etwa 70 mm, bei denen durch den vergrößerten Aufnahmeabstand die Gefahr perspektivbedingter Entstellungen der Kopfform stark zurückgeht. Die Nutzung der vollen Objektivöffnung von 1:1,4 führte bei dieser Aufnahme zu einer vollkommenen Unterdrückung des eigentlich sehr unruhigen Hintergrundes. Praktica DTL3, Fomapan 100.
Reichlich drei Jahre nach dem Abschluß seiner Rechnung wurde im Oktober 1966 der Überführung des Pancolares 1,4/55 in die Serienfertigung zugestimmt. Aus dem oben genannten Laborbericht vom 7. Juli 1964 wird deutlich, wie sehr man im VEB Carl Zeiss Jena bestrebt war, ein hochlichtstarkes Normalobjektiv auf internationalem Spitzenniveau zu entwickeln. Neben dem Planar 1,4/55 von der bundesdeutschen Konkurrenz wurde auch ein Erzeugnis des japanischen Herstellers Konica zum Vergleich herangezogen. Deutlich wird auch, daß dem letztlich serienmäßig hergestellten Versuchsmuster V358 sieben Versuchsobjektive vorausgegangen waren. [Sammlung Benedix]
Der obige Nachtrag zum Prüfbericht für das neue Pancolar 1,4/55 mm, der ein Jahr später im Juli 1965 nachgereicht wurde, beschäftigt sich genau mit dem Problem, das die Verwendung des Schwerstkron SSK11 als Kehrseite mit sich brachte: Zunächst die vergleichsweise bescheidene Gesamt-Transmission von 86 Prozent. Das bedeutet, bei einem realen geometrischen Öffnungsverhältnis des Musterobjektivs von 1:1,47 lag dessen T-Wert demnach bei etwa 1:1,7. Zweitens wird aber aus diesem Bericht auch der problematische Farbstich des Pancolares 1,4/55 deutlich, der bereits ohne eine zeitbedingte Vergilbung der Gläser nicht normgerecht ("TGL") war. Und zwar spielte hier besonders seine ungünsige Lage im Farbraum eine Rolle, die offensichtlich weit über den akzeptablen Grad eines "warmen Charakters" hinausging. Möglichweiser zog die im letzten Satz angemahnte Korrektur die oben bereits beschriebene, vom üblichen Standard auffällig abweichende Steuerung der "Farbe" der Vergütungsschichten bei den Serienobjektiven nach sich.
Oben ist der im Nachtrag zum Prüfbericht angegebene Farbort der Eigenfärbung des Pancolares 1,4/55 mm, die dessen Abbildung also bereits im Neuzustand des Objektives überlagerte, visualisiert worden. Sichtlich ist der Farbstich im für Farbaufnahmen besonders ungünstigen Gelbgrün-Bereich gelegen.
Das Pancolar 1,4/75 mm
Das Pancolar 1,4/55 mm wurde gewissermaßen aus dem Biotar-Typ heraus entwickelt, indem einerseits zusätzliche Elemente hinzugefügt und andererseits Kittgruppen in einzelne Glieder aufgelöst wurden. Das ebenfalls im Frühjahr 1966 vorgestellte Pancolar 1,4/75 mm enthielt nun gar keine Verkittungen mehr. Letzteres wurde sogar im DDR-Schutzrecht Nummer 48.055 vom 9. September 1964 verankert. Hier werden Harald Maenz und Rudolf Wanke als Urheber genannt. Als Grund für die totale Aufspaltung aller Kittglieder des bekannten Gauß-Typs wurde angegeben, daß jener zwar zu einer guten axialen Korrektion getrieben worden sei, die Verbesserung außeraxialer Fehler (vor allem komatischer Natur) ohne Abwandlung dieser altbewährten Typen allerdings nicht weiter erwartbar sei.
Dieses komplette Auflösen in Einzelelemente ist gut aus dem obigen Schnittbild dieses Objektives ersichtlich, das der erwähnten Patentschrift Nr. DD48.055 entnommen ist. Sie gibt uns ferner Auskunft darüber, daß bei dieser Variante des Pancolars für die Linsen 1 bis 7 die Glassorten SK22; SK22; SF15; SF18; SK22; BaSF6 und SF19 Verwendung fanden. Man erkennt daraus, daß dieses Pancolar 1,4/75 mm statt auf dem extremen Schwerstkron SSK11 auf dem Schwerkron SK22 aufbaut. Dabei handelte es sich um ein Lanthan-Kronglas, das mit seiner Brechzahl von 1,6779 und einem ny-Wert von 55,5 quasi dem in der Bundesrepublik hergestellten LaK2 entsprach. Der VEB Jenaer Glaswerk Otto Schott & Genossen führte das SK22 später als LaK74 bzw. LaK74n. Deratige Schwerkrongläser haben zwar den Nachteil, daß sie sogenannte seltene Erden wie Scandium, Yttrium oder eben Lanthan benötigen, auf der anderen Seite kann aber vollständig auf radioaktive oder giftige Zusätze verzichtet werden. Vorteilhaft bei diesen Gläsern war zudem, daß das in den Zuschlagstoffen enthaltene Fluor während der Herstellung des Glases vollständig aus der Schmelze entweichen konnte, weshalb zum Zeitpunkt des Abgießens eine sogenannte "tote Schmelze" vorlag, in der beim Auskühlen keine weiteren Reaktionsvorgänge des Fluors mehr stattfinden konnten. Das ermöglichte, diese hochwertigen Schwerkrongläser trotz der teuren Bestandteile in einer technologisch beherrschbaren Massenfabrikation herstellen zu können.
Nicht ganz geklärt ist der geschichtliche Hintergrund dieser Lanthankrongläser. Die LaK1- bis LaK4- bzw. SK21- bis SK24-Gläser könnten bereits in einer Zeit entstanden sein, als zwischen den beiden Glashütten in Jena und in Mainz noch ein reger Austausch stattfand – genau so, wie die Jenaer Neurechnungen von Objektiven wie den Tessaren nachweislich auch in Zeiss Oberkochen Anwendung fanden. Damit ist auch nicht klar, ob der Ursprung dieser ersten Lanthangläser in Jena oder Mainz zu suchen ist. Durch die Patentliteratur sind lediglich die Entwicklungen von Gustav Weissenberg und Otto Ungemach im Jahre 1950/51 überliefert, die offenbar zu dem bis heute sehr wichtigen LaK9-Glas führten. Diese Schutzschrift ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie im Februar 1951 zunächst für die Ernst Leitz GmbH in Wetzlar angemeldet wurde (Aktenzeichen L8405 und Zusatz L9099), während sich das letztlich erteilte Bundespatent Nr. 949.686 bei Veröffentlichung im September 1956 im Besitz des Jenaer Glaswerks Schott & Genossen in Mainz befand. Offensichtlich wurde die Erfindung aufgekauft und Mainz übernahm dann die Herstellung.
Oben die originale Patentanmeldung von Weissenberg und Ungemach für das Leitz-Glasforschungslabor, das eine wichtige Grundlage für die in der Optik bis heute sehr bedeutenden Lanthan-Krongläser bildete. Das zugehörige Patent ist dann aber auf die Mainzer Glashütte Schott ausgeschrieben worden. Mit ihrem Verhältnis von Brechzahl und Dispersion besetzten diese Glasarten Gebiete auf dem "Glaskontinent", die für den rechnenden Optiker völlig neue Lösungsmöglichkeiten eröffneten.
Das Musterobjektiv Nummer V376 des Pancolares 1,4/75 mm in einer Normalfassung N51. Bild: Günther Benedix.
Trotz der teuren seltenen Erden eigneten sich diese Lanthankrongläser also offenbar deutlich besser für die Massenfertigung von Objektiven als die problematischen Schwerstkrone. Daraus könnte sich auch erklären, daß der Listenpreis des Pancolares 1,4/75 mm mit 515,- Mark sogar etwas niedriger lag als jener des Pancolares 1,4/55 mm. Dieser ungewöhnliche Umstand, daß ein Portraitobjektiv gegenüber einem Normalobjektiv gleicher Lichtstärke einen niedrigeren Preis aufwies, wäre also demzufolge auf den Umstand geringerer Material- und Verarbeitungskosten zurückführen. Das beim 75er Pancolar in drei Sammellinsen verwendete Lanthan-Schwerkron SK22 war ab 1967 auch Dreh- und Angelpunkt des neuen Pancolar 1,8/50 mm, in welchem es ebenfalls für drei Linsen Verwendung fand und das sich mit etwa 400.000 Stück in 20 Jahren zu einem regelrechten Massenobjektiv entwickelte.
Hier sieht man ein Exemplar des seltenen Jena Pancolar 1,4/75 mm (Bild: Thomas Hirt). Sehr befremdlich dessen Seriennummer mit der vorlaufenden Null. Selbst wenn diese Null eine Fehlgravur wäre, würde sich die restliche Ziffernfolge in keines der bekannten Fertigungslose einfügen. Von diesem Objektiv, dessen Rechnung am 25. September 1964 abgeschlossen wurde, soll nämlich laut "Thiele" im Januar 1966 eine Nullserie von 50 Stück (Seriennummern 6.798.651 bis 6.798.700) und anschließend im Sommer 1969 ein einziges Produktionslos von 500 Stück (8.284.429 bis 8.284.928) gefertigt worden sein.
Aus der Tatsache jedoch, daß diese beiden hochlichtstarken Pancolare nicht einmal im Ansatz an den Erfolg der Modelle mit der Lichtstärke 1:1,8 heranreichten, läßt sich doch so einiges über die Probleme des DDR-Kamerabaus herauslesen. Diese beiden Hochleistungsobjektive müssen leider zutiefst zwiespältig beurteilt werden. Einerseits bewies der VEB Carl Zeiss JENA Mitte der 60er Jahre, daß er durch Einführung neuer Glassorten, neuer Fertigungsverfahren sowie neuer Meß- und Prüfmethoden an der Spitze der Objektivfertigung der Welt stand. Im gleichen Atemzug sind diese beiden Pancolare aber Ausdruck für einen einsetzenden Wandel, durch den die einstmals in vielen Bereichen fast konkurrenzlose DDR-Photoindustrie zu nicht mehr als einem der vielen Mitbewerber auf dem internationalen Markt degradiert wurde. Das wird durch folgenden Umstand deutlich: Beide Objektive wurden serienmäßig mit der mechanischen Offenblendenübertragung für die Pentacon Super ausgeliefert. Sie waren also für diese Kamera gedacht, auch wenn sie bei abgeschalteter Offenblendenmessung auch an anderen M42-Kameras nutzbar waren (siehe Bild ganz oben). Und genau an diesem Punkt werden erste Anzeichen eines Dilemmas sichtbar. Beide Objektive wurden nur in geringen Stückzahlen gefertigt (das 55er etwa 5000 mal, das 75er maximal 550 mal). Das lag daran, daß sich die Pentacon Super zum Verkaufsflop entwickelte. Als diese Kamera 1968 endlich ausgeliefert wurde, da brauchte sie niemand mehr. Die Pressephotographen des „Nichtsozialistischen Auslandes“ hatten längst ihre Nikon-F-Ausrüstung. Und die Nachfrage innerhalb der DDR nach einer solch teuren Kamera war rasch gesättigt.
Ich glaube, diese beiden Objektive markieren damit auch den Punkt, an dem Zeiss Jena langsam das Interesse am Photoobjektivbau zu verlieren begann. Zum einen wandelte sich das Kombinat zu dieser Zeit immer mehr zum Hightech-Zentrum der DDR-Industrie, bei dem die traditionellen Zweige wie Mikroskop- oder eben Objektivbau langsam in den Hintergrund traten. Zum anderen hatte es seit Beginn der 1960er Jahre für den Jenaer Objektivbau einige Enttäuschungen gegeben. Man hatte mit viel Aufwand neue Objektive für neue Kameras errechnet, die anschließend vom internationalen Markt ignoriert wurden und vielleicht kaum die Entwicklungskosten wieder einspielten. Um es hier noch einmal deutlich zu sagen: Zeiss Jena Objektive waren vorrangig dazu gedacht, im „NSW“ verkauft zu werden und Devisen einzubringen. Die Befriedigung der Inlandsnachfrage hatte dahinter zurückzutreten. Seit dem Ende der 1960er Jahre zeichnete sich ab, daß in diesem Bereich langsam umgedacht werden mußte.
Exkurs: Das Planar 1,4/55 mm
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht angebracht, abschließend einen kurzen Blick auf das oben bereits angesprochene Oberkochener Planar 1,4/55 mm zu werfen, das nur wenige Jahre älter ist als das Pancolar. Geschaffen wurde es von Johannes Berger und Günther Lange, die es am 16. Mai 1959 zum Patent anmeldeten [Nummer DE1.170.157]. Damit zeigt das Planar 1,4/55 mm die gleiche Parallelität zur Entwicklung der Spitzen-Spiegelreflexkamera Contarex, wie das oben im Zusammenhang zwischen dem Pancolar 1,4/55 und der Pentacon Super dargestellt wurde: Eine neuartige Kamera im Programm verlangte auch nach neuartigen Objektiven. Die lichtstarken Sonnare, die Zeiss Oberkochen für die Contax-Meßsucherkameras herstellte, waren zumindest als Normalobjektiv für eine Kleinbild-Spiegelreflexkamera ungeeignet.
Bild: Francisco Lemus Borja
Im Gegenteil: In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre kam der schon seit den späten 30er Jahren angelaufene Verdrängungsprozeß des bisher so dominanten Sonnartyps durch den Planar-Biotar-Typus endgültig zum Abschluß. Kein Wunder also, daß Planar und Pancolar 1,4/55 mm auf den ersten Blick einen verblüffend ähnlichen Grundaufbau zeigen. Dazu muß man wissen, daß anders als es der unten gezeigte Linsenschnitt aus dem Planar-Patent suggeriert, die Linsen zwei und drei sowie vier und fünf miteinander verkittet sind, was auch ausdrücklich so in den Schutzansprüchen steht. Wir haben es also bei beiden Objektiven um einen klassischen Biotar-Aufbau zu tun, bei dem allerdings die hintere Sammellinse auf zwei einzelne sammelnde Elemente aufgespaltet worden ist.
Bei einem Gaußtyp die hintere Sammellinse in zwei Elemente aufzulösen, war freilich nicht neu. Erst zwei Jahre zuvor hatte sich die Firma Leitz ein derartiges Objektiv auf der Basis neuartiger hochbrechender Gläser patentieren lassen [Nr. DE1045120 vom 24. August 1957]. Offensichtlich eignete sich diese Maßnahme gut zur Fehlerkorrektur bei solch hohen Lichtstärken. Diese rein formmäßige Gleichheit des Grundaufbaus zwischen Planar und Pancolar sollte deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, daß beiden Objektiven ein gänzlich unterschiedlicher optischer Ansatz zugrundeliegt. Während in den Pancolaren 1,4/55 und 1,4/75 offensichtlich schwere und schwerste Krongläser schweren und schwersten Flintgläsern gegenübergestellt wurden, fällt beim Planar 1,4/55 sofort ins Auge, daß der optische Aufbau fast ausschließlich aus Flintgläsern besteht – und zwar aus schwersten Lanthanflinten.
Als einziges Kronglas kam Schwer-Kron SK15 in Linse Nummer zwei zum Einsatz, wo es zusammen mit dem Leicht-Flint LF7 die vordere Kittgruppe bildet. Dabei handelt es sich um ein Paradebeispiel für einen Neuachromaten, bei dem ein gering dispergierendes aber hochbrechendes Kronglas mit einem außergewöhnlich gering brechenden Flintglas kombiniert wird, um auf diese Weise die Petzvalsumme ausgleichen und damit Abbildungsfehler wie den Astigmatismus auskorrigieren zu können. Die restlichen Linsen sind schwere und schwerste Flintgläser. So bestehen die Front- und die Rücklinse aus Lanthan-Flint LaF3 und Linse Nummer fünf und sechs aus noch höher brechendem Lanthan-Flint. Diese haben die Eigenschaft, daß sie trotz ihrer hohen Brechzahlen mit ny-Werten ("Abbe'schen Zahlen") um 44 bzw. 48 gewissermaßen im Grenzbereich zwischen den Krongläsern und den "klassischen" Flintgläsern liegen. Diese neuartigen Glassorten, die damit bislang unbesetzte Gebiete auf dem "Glaskontinent" eroberten, waren erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt worden und das Planar 1,4/55 mm ist eines der ersten Beispiele dafür, wie sie serienmäßig in Massenobjektiven eingesetzt wurden. Mit dem Pancolar 1,4/55 mm hat es gemeinsam, daß trotz der deutlich längeren Fertigungszeit ebenfalls nur vergleichsweise geringe Stückzahlen existieren: Von etwas über 8000 Stück ist die Rede.
Marco Kröger, Frühjahr 2021
letzte Aktualisierung: 1. Oktober 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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