Vario-Prakticar

Die Vario-Prakticare

Während Zoomobjektive auf westlichen Märkten in den 1980er Jahren zur Massenware gerieten, verteilte Zeiss Jena seine beiden Eigenentwicklungen in geradezu homöopathischen Dosen...

Vario-Pancolar

Vario-Pancolar 2,7-3,5/35-70

In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zeichnete sich ein neuer Trend im Amateurphotobereich ab: Von Japan ausgehend begann das Vario-Objektiv den Markt in den USA und Westeuropa zu erobern. Schon seit zehn Jahren war es als "Gummilinse" standardmäßig in fast allen Super 8 Schmalfilmkameras eingebaut. Doch nun setzte es sich sukzessive auch im Photobereich durch, und zwar unter der aus dem Amerikanischen übernommenen Bezeichnung Zoom auch wenn diese in Deutschland anfänglich fast durchwegs falsch ausgesprochen wurde ("Tsohm").


Damit war zwar einerseits ein Anfang gemacht, andererseits enttäuschten die frühen Modelle oft durch eine aus heutiger Sicht geradezu haarsträubende Abbildungsqualität, die in den Fachzeitschriften regelmäßig heftig kritisiert wurde. Auch in den vergleichenden Untersuchungen der damals maßgeblichen Stiftung Warentest erzielten diese Zooms zunächst nur mäßige Noten. Dem Photoamateur mit seinen postkartengroßen Abzügen fiel dies jedoch nur in den seltensten Fällen auf. Außerdem wurden die Konstruktionen wörtlich im Jahresrhythmus verbessert. Die Fortschritte waren enorm und die Patentliteratur zu Zoomobjektiven aus dieser Zeit ist geradezu unüberschaubar. Technische Sackgassen, wie nicht-parfocale Konstruktionen, bei denen sich beim Zoomen stets die Bildschärfe verstellte, verschwanden rasch vom Markt. Es setzten sich bald im wesentlichen zwei Typen an Zoomobjektiven durch: Ein später als Standardzoom bezeichneter Typus, der quasi das Normalobjektiv zu ersetzen begann, und zuerst den Brennweitenbereich 35-70 mm und später im Laufe der 1980er Jahre auch etwa 28-80 mm überstrich. Zweitens der Typus des Telezooms im Brennweitenbereich von etwa 70-210 oder 80-200 mm. Diese beiden Varianten erlebten in den 80er Jahren enorme Umsatzzuwächse, weil sie vom Amateur für sich entdeckt und zunehmend gegenüber festbrennweitigen Zusatzobjektiven bevorzugt wurden.

Vario Prakticar 2,7-3,5/35-70

Dieser Trend war natürlich auch der DDR-Photoindustrie und dem Außenhandel nicht verborgen geblieben. Mit dem Pentovar 2/30-120 mm, das Anfang der 50er Jahre unter Robert Geißler im VEB Zeiss Ikon für professionelle kinematographische Aufnahmen entwickelt worden war, muß die junge DDR sogar als ein Pionier im Bereich der Varioobjektive angesehen werden. Zwar wurden Mitte der 60er Jahre Patente für ein im Stillbildbereich verwendbares Zoomobjektiv angemeldet, aber eine Produktion fand indes nicht statt. Es dauerte bis in das Jahr 1976, daß sowohl im VEB Zeiss JENA, als auch im VEB Feinoptisches Werk Görlitz die Notwendigkeit für eine "DDR-eigene" Reihe an Zoomobjektiven erkannt und an entsprechenden Konzeptionen gearbeitet wurde. Zwischenzeitlich hatte der DDR-Außenhandel begonnen, auf dem NSW-Markt zwei Zoomobjektive der Japanischen Firma Sigma unter dem Markenzeichen "Pentacon" zu vertreiben. Zu diesem Zweck wurde offensichtlich auch die Verwendung der damals noch patentgeschützen elektrischen Blendenwertübertragung lizensiert.


Dadurch also, daß zunächst Fremdhersteller die Angebotslücke an Zoomobjektiven ausfüllten, ließ sich zumindest für den westlichen Praktica-Kunden verschleieren, daß die DDR keine eigenen Produkte in diesem Bereich zu bieten hatte. Doch damit konnte sich der DDR-Photogerätebau nicht zufieden geben, da der DDR-Außenhandel natürlich mit eigenen Produkten westliche Währung verdienen wollte, statt Japanische Erzeugnisse zu vertreiben. Im VEB Carl Zeiss JENA wurde daher im April 1979 die Berechnung eines ersten eigenen Standardzooms für das Kleinbildformat mit den Daten 3,5/35-70 mm fertiggestellt. Dieses Objektiv zeichnete sich zwar durch ein über den gesamten Zoombereich konstant gehaltenes Öffnungsverhältnis aus, war aber mit 11 Linsen in 10 Gruppen sehr aufwendig aufgebaut. Außerdem war es gegenüber zeitgenössischen Konkurrenzerzeugnissen (wie dem Minolta 3,5/35-70) viel zu groß und viel zu schwer.

Vario-Prakticar 3,5/35-70

Im Jahr darauf war man dann bei Zeiss Jena von der Prämisse einer durchgängigen Lichtstärke abgegangen und stellte die Rechnung eines Vario-Pancolars 2,8-3,5/35-70 fertig. Doch trotz einer Nullserienproduktion im zweistelligen Bereich folgte keine Aufname der Serienproduktion. Aus der Tatsache heraus, daß sogar bereits Prospekte für die Vorstellung auf der Leipziger Messe gedruckt worden waren [Vgl. Koch et al.: Variables aus der DDR; in: Photo Antiquaria Nr. 141, 12/2019, S. 33.], könnte man schlußfolgern, daß Zeiss Jena dieses Objektiv am Ende aus lizenzrechtlichen Gründen nicht auf den Markt bringen konnte. Immerhin waren Zoomobjektive nach dem im oben gezeigten Linsenschnitt ersichtlichen Aufbau, bei dem die zerstreuend wirkende Frontgruppe mit einer Sammellinse beginnt, patentrechtlich bereis stark abgesichert. So zum Beispiel von der Firma Nippon Kogaku für das Zoom-Nikkor 3,5/35-70 mm mit dem Bundespatent Nr. 2.557.547 vom Dezember 1975 oder einem Pentax Zoom 3,5-4,5/28-50 mm nach der Patentschrift DE2.720.986 vom Mai 1977.

DD235.122 Vario-Pancolar

Bei Zeiss Jena ging man daher in der Folgezeit gänzlich von diesem Aufbau ab und wechselte zu einem Konstruktionstypus, bei dem das vordere Glied mit einer negativen Frontlinse beginnt. Bei diesem Aufbau hatten die Konkurrenzfirmen bislang Schwierigkeiten, das Ausbrechen der Abbildungsfehler beim Ändern der Brennweite oder die Verzeichnung im Weitwinkelbereich im Zaume zu halten. Außerdem hatten diese Zoomobjektive entweder eine unzumutbare Baulänge oder aber verlangten nach teuren Lanthangläsern, wenn höhere Lichtstärken erzielt werden sollten. An dieser Stelle scheint es für Carl Zeiss Jena einen Anknüpfungspunkt gegeben zu haben, das hauseigene Standardzoom durch eine ausreichende Erfindungshöhe schutzrechtlich abzusichern. Mit dem DDR-Patent Nr. 235.122 vom 1. März 1985 war es Utz Schneider, Volker Tautz und Karin Holota gelungen, die Lichtstärke für ein solches Objektiv über den Wert 1:2,8 im Weitwinkelbereich zu steigern, ohne auf hochbrechende Spezialgläser rückgreifen zu müssen. Neben den 8 Linsen in 7 Gruppen fällt dabei besonders die Planplatte als Abschluß des optischen Systems auf, die neben einer mechanischen Schutzwirkung für das System dessen Bildfeldebnung verbessert. Lediglich in der Linse Nummer 2 kam mit dem LaK 75n ein erst kurz zuvor neu entwickeltes optisches Glas zum Einsatz. Dieses Lanthan-Schwerkron ersetzte das bisherige Schwerstkron SSK10, von dem es sich durch seine besseren Transmissionswerte sowie der Freiheit von Thoriumverbindungen unterschied.

Vario-Pancolar scheme

Die Berechnung des Vario-Pancolars wurde zwar bereits am 6. Oktober 1983 fertiggestellt, die Vorstellung erfolgte aber erst auf der Herbstmesse 1986 bzw. Frühjahrsmesse 1987. Nicht die Herstellung der optischen Komponenten, sondern der Objektivfassung bereitete große Probleme und zögerte daher die Produktionsüberführung hinaus. Die Fräsung der Kurven für die Zoommechanik mußte mit höchster Präzision ausgeführt werden, wofür in Saalfeld erst einmal eine entsprechende Herstellungstechnologie aufgebaut werden mußte. Dasselbe traf auch auf die unabdinglichen Verfahren und Gerätschaften zur Justage und Prüfung des Objektivs zu. Der trotzdem recht beträchtliche Montage- und Prüfaufwand vereitelte eine Fertigung in Großserie.

Vario-Pancolar 1988
Vario-Pancolar 1988

Aus diesen Schwierigkeiten heraus konnten letztlich vom Vario-Pancolar mit M42- bzw. Vario-Prakticar mit Praktica B-Anschluß innerhalb von vier Jahren insgesamt nur wenig mehr 4000 Stück gefertigt werden. Um diese Gesamtmenge ins Verhältnis zu setzen: Die damit bestückbaren 4000 Spiegelreflexkameras liefen damals in Dresden innerhalb von nur etwa drei Werktagen vom Band! [Vgl.dazu Jehmlich, Pentacon, 2009, S. 131.] Von einer Alternativbestückung zum Normalobjektiv konnte also nicht einmal im Entferntesten die Rede sein. Vor diesem Hintergrund betrachtet, erübrigte sich seinerzeit auch eine breitere Debatte darüber, daß dieses Zoomobjektiv mit einem Preis von 1530,- (M42) bzw. 1570,- Mark (Bajonett) weit vom Budget eines Fotoamateurs entfernt war, da es in DDR-Photoläden ohnehin kaum zu haben gewesen sein wird. Bevor nämlich dieses Zoomobjektiv überhaupt auf den sprichwörtlichen heißen Stein tröpfeln konnte, wurde es zu allem Unglück auch noch von der DDR-Exportwirtschaft abgefangen. Als Facit ist daher zu konstatieren: Während auf westlichen Märkten das Standardzoom Ende der 80er Jahre bereits das Normalobjektiv als Grundausstattung ersetzt hatte und durch ein Überangbot von Drittanbietern auch bereits zum bezahlbaren Massenartikel geworden war, blieb es für den DDR-Photoamateur ein unerreichbarer Traum.

"Kameras für alle" Was wird sich der DDR-Bürger wohl gedacht haben, wenn er Produkte, die in seinem Land allenfalls "über Beziehungen" erhältlich waren, im Quelle-Katalog wiederentdeckte, wo sie billig verschleudert wurden. Schon im nächsten Katalog war der Preis des Jenaer Zooms von 355,- DM auf 290,- DM herabgesetzt worden. Interessant zudem, daß nun die Herstellerbezeichnung nicht mehr wegretuschiert wurde.

Vario-Pancolar Praktica MTL50

Bei der Verwendung des Vario-Pancolars an Modellen der Praktica L-Reihe ist übrigens zu beachten, daß die Belichtungsmessung erst nach der endgültigen Festlegung der Brennweite erfolgen sollte, da beim "Heranzoomen" die Lichtstärke schließlich um fast einen Blendenwert abnimmt. Bei Praktica B-Kameras mit Zeitautomatik wird dieser Lichtabfall beim Auslösen dagegen stets automatisch berücksichtigt.


Auf der Grundkonstruktion des Vario-Pancolars basierend wurde im Kombinat Zeiss JENA ab 1986 auch ein Zoom 35-70 mm abgeleitet, das eine um etwa eine Blendenstufe herabgesetzte Lichtstärke aufwies und das in großen Stückzahlen im VEB Feinoptisches Werk Görlitz für den Massenbedarf produziert werden sollte. Doch auch hier bereitete letztlich die Fertigung der Objektivfassung derartige Probleme, daß das gesamte Projekt so lange verschleppt wurde, bis es die Ereignisse im Zuge des Mauerfalls gänzlich hinfällig werden ließen.

Nachdem also ab 1986 die Dringlichkeit für eine DDR-eigene Zoomobjektivfertigung hochgestuft worden war, soll das Kombinat Zeiss JENA intensiv nach Kooperationspartnern in der Japanischen Photoindustrie gesucht haben. Von optischen Berechnungen für Firmen wie Sigma im Austausch mit hochspezialisierten Metallverarbeitungsmaschinen ist die Rede. Über die Hintergründe ist aber damals wenig bekannt geworden, weil die entsprechenden Maschinen aufgrund ihrer prinzipiellen Verwendbarkeit in der Rüstungsfertigung eigentlich auf der Embargo-Liste standen. Im Hinblick auf diese ein wenig um Dunkeln liegende Zusammenarbeit Zeiss Jenas mit japanischen Firmen ist auch das unten gezeigte "Auto Chinon Zoom 2,7-3,5/35-70 mm" interessant, das bis hin zur Makrofunktion große Ähnlichkeiten mit dem Vario-Pancolar aufzuweisen hat. Ob es sich um reine Zufälle handelt, oder die oben angedeuteten mündlichen Insiderauskünfte wirklich zutreffen, das kann ich bislang noch nicht mit Gewißheit sagen.

Oben in Figur 2 die Kurven für sphärochromatische Längsabweichung für drei Lichtfarben, in Figur 3 der Astigmatismus und die Wölbung sowie in Figur 4 die Verzeichnung jeweils für drei Brennweitenstellungen.

Das Jena Vario-Pancolar 2,7-3,5/35-70mm zeigt für ein Zoomobjektiv aus den 80er Jahren eine ausgesprochen gute Bildleistung. Schärfe und Kontrast sind bereits bei offener Blende brauchbar. Nur die ausgeprägt tonnenförmige Verzeichnung im Weitwinkelbereich würde man so heute nicht mehr tolerieren. Praktica BX20, Portra 400.

Im Dezember 1989 lief nach über 20 Jahren die Herstellung der Praktica L-Reihe aus. Plötzlich wurde das Vario-Pancolar 35-70 mm mit M42-Anschluß in den Ausverkauf gebracht. Deshalb hatte ein Kunde in Flöha die Gelegenheit, an ein Exemplar dieses vorher schwer erhältlichen Objektives zu gelangen. Nur zwei Monate zuvor hatte es das Werk Saalfeld verlassen.

Vario-Sonnar 4/80-200 mm

Dieses Telezoom war wiederum als "Vario-Sonnar 4/80-200 mm" für M42-Kameras sowie als "Vario-Prakticar" für Praktica-Bajonett vorgesehen. Auch hier gab es einen längeren Entwicklungsvorlauf mit mehreren Prototyp-Stadien. Die Rechnung des letztendlichen Serienobjektivs stammt vom 19. September 1984. Doch auch dieses Telezoom wurde  erst ab 1987 gefertigt mit weniger als 4000 Stück in vier Jahren. Mit 2530,- bzw. 2570,- DDR-Mark schwebte es in noch utopischeren Sphären als das Vario-Pancolar.

Vario-Sonnar 4/80-200mm
Vario-Sonnar 4/80-200 scheme

Unten sind einmal die Verstellwege der beiden mittleren Gruppen dieses Vario-Sonnars gezeigt, die letztlich die Brennweitenänderung bewerkstelligen [nach Haferkorn: Optik, 2003, S. 648.]. Der vordere sogenannte Variator mit seiner zerstreuenden Wirkung ist für die Veränderung der Äquivalentbrennweite des Gesamtobjektivs verantwortlich, der dahinter folgende Kompensator hat die Aufgabe, das Bild bei jeder Einstellung der Brennweite in derselben Ebene entstehen zu lassen. Davor befindet sich eine dreilinsige Frontgruppe mit sammelnder Wirkung, die zur Fokussierung verstellbar ist. Im Bereich der Blende folgt als letztes ein insgesamt vierlinsiges Grundobjektiv, in dem wunderbar die essentielle Bauform eines Teleobjektivs erkennbar ist.

Jena Vario-Sonnar

Solch ein Telezoom ist also prinzipiell recht übersichtlich aufgebaut. Man muß sich daher auch nicht wundern, wenn sich die Schnittbilder solcher Objektive von verschiedenen Herstellern zum verwechseln ähnlich sehen. Die Schwierigkeiten im Detail beziehen sich natürlich auf die exakte Verteilung der Brechkräfte und die Beherrschung der Aberrationen. Aus der Abbildung oben wird ersichtlich, daß im Bereich der Frontgruppe und des Variators umfangreich Lanthankrone und Lanthanschwerkrone eingesetzt werden mußten, um das Vario-Sonnar auskorrigieren zu können. Anders als oben in Bezug auf das Vario-Pancolar dargestellt, war es beim Telezoom demnach nicht gelungen, auf diese Spezialgläser zu verzichten. Daher also der extrem hohe Preis, die viel zu späte Markteinführung und die letztlich nur sehr geringen Stückzahlen.

Vario-Sonnar Vario-Prakticar

Vario-Sonnar (links) und Vario-Prakticar 4/80-200 (rechts) im Vergleich. Bild: Reinhard Kuttner

Vario-Sonnar 1988
Vario-Sonnar 1988

Unten noch ein Aufsatz von Volker Tautz zu den beiden neuen Vario-Prakticaren im Jenaer Jahrbuch 2/1989, der die obigen Ausführungen zum Aufbau beider Objektive noch einmal präzisiert. Man erkennt aber auch, daß angesichts eines Rechnungsabschlußdatums vom Oktober 1983 bzw. vom September 1984 das Vario-Pancolar 35-70 und das Vario-Sonnar 80-200 im Jahre 1989 nun schon ziemlich aus der Zeit gefallen waren. Von den breiten Paletten an Autofokus-Zooms, die gerade in Japan herausgebracht wurden, war all dies weit entfernt. 

Vario-Prakticare, Jenaer Jahrbuch 2-1989
Vario-Prakticare, Jenaer Jahrbuch 2-1989
Vario-Prakticare, Jenaer Jahrbuch 2-1989

Marco Kröger


Letzte Änderung: 7. März 2024