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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Biotar 1,5/75
Das Erscheinen der Kleinbild-Spiegelreflexkamera in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre brachte einen Entwicklungsschub für Objektive mit höchsten Lichtstärken.
Denn die sich aus dem Kleinbild ergebenden kurzen Brennweiten gepaart mit der Präzision der nun völlig aus Metall bestehenden Kleinbildkameras ließen die Verwendung hochlichtstarker Objektive überhaupt erst sinnvoll werden. Eine zweite Grundvoraussetzung waren zuverlässige Scharfstellhilfen. Im Gegensatz zu den Sucherkameras mit gekuppelten Entfernungsmessern, wie sie in Form der Leica II und Contax I um 1930 aufkamen, erleichterte die neuartige Kleinbildspiegekreflexkamera die Verwendung von Zusatzobjektiven, deren Brennweiten vom Normalwert von 50 mm abwichen, weil der Sucher der Reflexkamera auch ohne Zusatzgeräte sets genau das zeigte, was auf dem späteren Bild zu sehen war.
In diesem Zusammenhang ist bislang wenig thematisiert worden, wie neuartige Kameras wie die Exakta der Ihagee oder die Praktiflex der Kamera-Werke damals auch die Strukturen innerhalb des Zeiss-Konzerns langfristig zu verschieben begannen. Schließlich war die Konzerntochter Zeiss Ikon AG in Dresden 1926/27 ja explizit für den Zweck formiert worden, durch die Schaffung moderner Kameras den Absatz Jenaer Objektive zu sichern. Weil die Zeiss Ikon aber ein Kind ihrer Vorgängerfirmen war, machte nun gerade der große Erfolg der neuartigen Kleinbildphotographie Dresden für eine gewisse Zeit zum Zentrum für die Entwicklung der Kleinbildoptik. Das lag hauptsächlich an den damals äußerst fortschrittlichen Konstruktionsideen des vom Ernemannwerk "übernommenen" Ludwig Bertele, der mit seinen Sonnaren der Konkurrenz auf dem Markt mehrere Schritte voraus war. Zwar wurden alle Zeiss-Photoobjektive in Jena gefertigt, aber weltweit führende Kleinbildobjektive wie die Sonnare 1,5/5 cm und 2/5 cm, das Olympiasonnar 2,8/18 cm oder das Biogon 2,8/3,5 cm stammten alle aus dem Dresdner Rechenbüro Berteles. Jenaer Entwicklungen wie das Biotar, das Orthometar oder das Herar waren demgegenüber wirtschaftlich von eher untergeordneter Bedeutung. Was den großen Wachstumsmarkt der Kleinbildoptik anbetraf, stand also die Zentrale in Jena konzernintern einige Zeit regelrecht in der zweiten Reihe.
Mit Kameras wie der Exakta und der Praktiflex wurden die Karten nun aber neu gemischt. Plötzlich ergab sich ein Absatzpotential für neuartige Typen von Normal- und Wechselobjektiven der Spitzenklasse von Seiten dritter Firmen. Und weil nicht immer die bisherigen, für die Sucherkamera geschaffenen Konstruktionen geeignet waren, tat sich für Zeiss Jena eine Pforte auf, Kleinbildobjektive zu schaffen unabhängig vom Dresdner Tochterbetrieb. Schon im Oktober 1936, nur wenige Monate nach dem Produktionsstart der Exakta, konnte mit dem Biotar 2/5,8 cm erstmals dieser Objektivtyp erfolgreich als Normalobjektiv eingeführt werden und sich gegenüber der großen Dominanz der Sonnare behaupten. Die Bedeutung dieses Schrittes sollte keinesfalls geringeschätzt werden. Immerhin fußten später fast alle lichtstarken Normalobjektive für Spiegelreflexkameras auf dem Biotartypus.
Dieses hochwertige Normalobjektiv aus dem Rechenbüro Willy Mertés war ein großer Erfolg – wenn auch bis Kriegsende zunächst nur reichlich 4000 Stück hergestellt wurden. Aber die Bildergebnisse zeugten von der hohen Leistungsfähigkeit dieses Objektivtyps. Daher kam die Idee auf, noch das restliche Potential an Lichtstärke aus dem Biotar herauszuholen. Immerhin war Mertés Biotar-Patent Nr. DE485.798 vom 30. September 1927 bereits auf eine maximale Öffnung von 1:1,4 ausgelegt gewesen.
Es dürfte aber rasch klar geworden sein, daß bei einem solch lichtstarken Objektiv für eine Kleinbildkamera mit Klappspiegel die Brennweite nicht im Bereich des für eine Normaloptik Üblichen gehalten werden konnte. Allein die Baulänge der gesamten Optik würde zu einer zu kurzen Schnittweite führen. Dieser hochlichtstarke Anastigmat wurde daher mit einer etwa 50% längeren Brennweite konstruiert und geriet daher in eine Gruppe an Spezialobjektiven, die gerne ihrer günstigen perspektivischen Wirkung wegen für Sach- und Bildnisaufnahmen genutzt wurden. Auch die Bühnenphotographie wurde später zum speziellen Einsatzfall des Biotars 1,5/7,5 cm.
Die Konstruktion wurde am 20. April 1938 abgeschlossen und ging im Februar 1939 in Produktion. Sie ging an die Grenze des mit den damaligen Mitteln Machbaren. Zur Erinnerung: Wir befinden uns in einer Zeit, als die stupide Durchrechnung optischer Systeme von Menschen bewerkstelligt werden mußte. Keine Computer, keine automatisch korrigierenden Programme. Allenfalls mechanische Rechenmaschinen. Das Ergebnis war trotzdem derart ausgereift, daß dieses Objektiv jahrzehntelang beinah unverändert gebaut wurde. Nur der Transparentbelag und die Vorwahlblende wurden nach 1945 ergänzt.
Dieses Biotar 1,5/75mm griff dabei auf Konstruktionsprinzipien zurück, deren Basis Ende der 1890er Jahre durch Paul Rudolph gelegt worden war und deren Vervollkommnung Ende der 1920er Jahre durch Merté erreicht werden konnte. Das große Potential des Planar-Biotar-Typus, das ihn bis heute so aktuell bleiben ließ, liegt dabei darin, Abbildungsfehler "in der zweiten Reihe" in Angriff nehmen zu können. Der Fachmann spricht in diesem Zusammenhang von Gaußfehlern. Will man bei photographischen Objektiven weit über das Mittelmaß hinausgehen und die Lichtstärke bis an die Grenzen des Praktikablen hin erhöhen, dann genügt es nicht mehr, kardinale Abbildungsfehler wie die sphärische Aberration nur leidlich zu beheben, wie man sich das bei lichtschwachen Objektiven durchaus leisten kann. Bei den derart großen Einfallshöhen, mit denen die Strahlen das optische System lichtstarker Anastigmate durchdringen, würden schlichtweg vollkommen unbrauchbare Bilder die Folge sein.
Für solch lichtstarke Systeme muß daher nicht nur der Kugelgestaltsfehler per se korrigiert werden, sondern es spielt eine große Rolle, daß das Ausmaß dieses Kugelgestaltsfehlers auch noch mit der Wellenlänge des Lichtes variiert. Diese sogenannte Sphärochromasie ist der eigentliche Gaußfehler. Da aber auch andere Bildfehler wie die Koma lichtwellenabhängig sind, muß bei lichtstarken Anastigmaten der Begriff Gaußfehler auch auf jene ausgedehnt werden. Die Fachleute sprechen von der Farbquerkoma. Das Auskorrigieren eines Systems der maximalen Öffnung von 1:1,5 wird durch solcherlei Abhängigkeiten enorm erschwert. Da sich an den genannten Problemen bis heute nichts Grundsätzliches geändert hat, kann die Leistung des Merté'schen Konstruktionsbüros von vor über 80 Jahren nur bewundert werden. Der Ansatz, die ursprünglich durch Rudolph eingeführte Verkittung in den inneren Linsen des Doppelgauß (die sogenannten hyperchromatischen Linsen) in ihrem Korrekturpotential weiter auszubauen, hat für den bis heute anhaltenden Erfolg des Biotartypus gesorgt. Daß sich Merté dabei offenbar schon vor über 80 Jahren einem Optimum angenähert hatte, zeigt sich darin, daß dieses Biotar 1,5/75mm bis zu seiner Einstellung im Jahre 1969 stets auf Basis der Rechnung vom 20. April 1938 gefertigt wurde. Erst durch neue Glassorten und computergestütze Optimierung waren noch weitere Fortschritte erzielbar, die bei Zeiss Jena Mitte der 1960er Jahre zum Pancolar 1,4/75 führten.
In seiner Hochzeit während der 1950er Jahre kostete das Biotar 1,5/75 stolze 472,- Mark. Vor der ersten großen Preissenkung im vierten Quartal 1953 waren es offenbar gar 527,- Mark. Der letzte Katalogpreis von 1970 für Restexemplare mit Exakta Bajonett lag dann bei 395,- Mark. Möglicherweise könnte es sich dabei um jene seltenen Modelle mit schwarzer Fassung gehandelt haben. Die meisten Objektive aus dieser Endphase in der zweiten Hälfte der 60er Jahre wurden aber entweder in einer sogenannten Kinoeinstellfassung oder einer Fassung für das industrielle Fernsehen geliefert. Als Photoobjektiv war das Biotar 1,5/75 mit seiner Vorwahlblende mittlerweile deutlich veraltet.
Die Vorkriegsobjektive mit eingenommen, sind in jenen reichlich 30 Jahren Fertigungszeit knapp 20.000 Stück dieses Biotars hergestellt worden. Dabei lagen selbst "in den besten Zeiten" die Losgrößen für einen Fertigungsauftrag fast durchweg bei nur 100; 150; 200 oder maximal 300 Stück. Obendrein gab es meist nur jeweils ein Produktionslos je Kameraanschluß und Jahr. Darin ist der Grund zu sehen, weshalb dieses Objektiv trotz seiner langen Fertigungsdauer schon zu seiner Zeit schwer zu bekommen war. Ganz offensichtlich stellte die Herstellung dieses Biotars für Zeiss Jena eine deutlich größere Belastung als die üblichen Photoobjektiven dar. Für lichtstarke Objektive dieser Brennweite brauchte man stets große Stücke absolut fehlerfreien Glases, die aber – zumal bei den hier verwendeten Spezialgläsern – nur in geringen Anteilen aus der Gesamtmasse einer Schmelze übrigblieben.
Heute ist dieses Objektiv gefragt, weil es eben doch noch nicht so perfekt auskorrigiert ist, wie moderne computerberechnete Systeme, und der verbliebene Rest an Abbildungsfehlern zu einer ganz eigentümlichen Abbildungscharakteristik führt, die sich mit Worten nicht beschreiben läßt. Deshalb an dieser Stelle mal ein Beispielbild. Das Biotar war nur ganz leicht auf etwa 1:2,0 abgeblendet, um an dem Sommertag noch mit der 1/1000 Sekunde kürzester Verschlußzeit der Praktina auszukommen.
Bei diesem Bild wird die außergewöhnlich plastische Wirkung deutlich, die das Biotar 1,5/75 erzeugen kann. Die Geometrie der Abbildungsfiguren könnte auf Reste an Punktlosigkeit und Wölbung schließen lassen. Diese geometrischen Veränderungen waren hier sehr willkommen, weil sie sehr dazu beitrugen, das Hochzeitspaar von dem extrem unruhigen Hintergund abzuheben. Im Vergleich mit Aufnahmen, die Andere mit Digitalkameras und abgeblendeten Zoomobjektiven gemacht haben, wo das Paar regelrecht am Wirrwar des Hintergrundes zu kleben scheint, sticht der außergewönliche Freistellungseffekt des Biotars wirkungsvoll hervor. Das Scharfstellen eines derart lichtstarken Objektivs an einer solch alten Kamera ist allerdings nicht ganz leicht.
Nach allem, was man bisher weiß, wurden im Sommer 1948 nur in wenigen Einzelexemplaren Biotare 1,5/7,5cm für Leica M39 mit Entfernungsmesser-Kupplung gefaßt. Wieso das geschah, und noch mehr, wieso nur in so geringen Stückzahlen, das kann man nur noch erahnen. Immerhin hätten Objektive für die Leica das größte Absatzpotential ergeben. Soweit ich es überblicken kann, waren die Leitzwerke diejenigen unter den deutschen Kameraherstellern, die drei Jahre nach Kriegsende bereits wieder mit der leistungsfähigsten Produktion aufwarten konnten. 80 Prozent der Belegschaft (entsprechend 3200 Beschäftigte) und immerhin 50...60 Prozent der Produktionskapazität aus der Vorkriegszeit hatte man zu Jahresbeginn 1948 bereits wieder erreicht [Vgl. Berichte aus der Fotoindustrie; in: Kammerer, Hans (Hrsg.), Fotoindustrie, Heft 1/2, 1948, S. 8]. Monatlich 1400 Leicas verließen das Werk bereits wieder, von denen zeitweilig zwischen 50 und 70 Prozent an die US-Armee gingen, fünf Prozent (!) für den deutschen Markt übrig blieben und der Rest war für den Export vorgesehen [Vgl. Ebenda]. Aus dem Bericht geht auch hervor, daß zu diesem Zeitpunkt keines der Dresdner Werke auch nur im Entferntesten diese Kapazitäten erreicht hätte.
Das Biotar 1,5/75 mm war in den 50er Jahren für alle drei Spitzen-Spiegelreflexsysteme verfügbar: Der M42-Gewindeanschluß für Spiegelcontax und Praktica, der Bajonettanschluß der Exakta und die Steckanpassung für die Praktina.
Diese zugegebenermaßen unhistorische Kombination soll an ein zu Unrecht vergessenes Kamerasystem erinnern. Die japanischen Firma Topcon hatte zwar den Exakta-Bajonettanschluß übernommen, ihn aber sukzessive mit einer innenausgelösten und zirkular angesteuerten Springblende sowie einer ebenfalls innenübertragenen Offenblendenmessung aufgewertet. Mit dem Modell RE Super aus dem Jahre 1963 war Topcon der weltweiten Konkurrenz teils bis zu einem Jahrzehnt voraus.
Marco Kröger
letzte Änderung: 3. Juli 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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