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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Stereokameras "System Kern"
Wiederentdeckung eines vergessenen Raumbildformates
Bei der Konstruktion einer Kleinbild-Stereokamera hat man es mit verschiedenen Parametern zu tun, die entweder feststehen oder variabel sind. Zu den unveränderlichen Größen gehört der Perforationslochabstand von 4,75mm. In weiteren Grenzen frei wählbar sind hingegen die genaue Form des Bildtransportes und die Größe des einzelnen Teilbildes. Viele Kamerahersteller haben auch die Objektivbasis bzw. den Bildfensterabstand zur frei wählbaren Größe deklariert, was dazu führte, daß beispielsweise beim sogenannten Amerikanischen Format mit 10 Perforationslöchern Bildtransport die Basis auf über 70mm anwuchs und der Filmstreifen daher unbedingt zerschnitten und die Teilbilder in Rähmchen neu gefaßt werden mußten, um die fertigen Aufnahmen betrachten zu können.
Einen anderen Weg ist die schweizerische Firma Kern & Cie. in Aarau im Jahre 1932 gegangen. Hier hat sich damals wirklich jemand tiefgreifend mit den praktischen Problemen der Stereophotographie auseinandergesetzt und ein neues Gesamtsystem erarbeitet. Eines der größten Hindernisse der Raumbildphotographie ist nämlich die Neuzuordnung und korrekte Montage der Teilaufnahmen im Diarahmen, wenn der Bildstreifen erst einmal zerschnitten wurde, um die Bilder betrachtungsfähig zu machen. Hier muß nämlich sehr genau gearbeitet werden, insbesondere wenn die Bilder in starker Vergrößerung betrachtet oder gar projiziert werden sollen. Bei Kern hat man sich daher die Frage gestellt, wieso umgehen wir nicht dieses Zerschneiden des Filmes und belassen die Teilbilder auf dem Kleinbildstreifen in genau jener Position, wie diese aufgenommen worden sind. Eine ansonsten unumgängliche Neumontage mit einer Präzision im 1/10mm-Bereich wird dann nämlich obsolet!
Dazu sind aber zwei Voraussetzungen zu erfüllen: Erstens müssen die Bilder von vornherein im Augenabstand auf dem Film aufgenommen werden, weil sie nur dann ohne Zerschneiden nutzbar sind. Damit ist aber der Bildfensterabstand keine frei wählbare Größe mehr, was dem Kamerakonstrukteur große Probleme bereitet, da sich ein solcher Bildfensterabstand von etwa 65mm nur schwer mit dem unveränderlichen Perforationslochabstand von 4,75mm in Einklang bringen läßt. Die französische Firma Richard und das Dresdner Belca-Werk haben später einen ungleichmäßig verschränkten Bildtransport (jeweils abwechselnd 7 und 21 bzw. 20 Perforationslöcher) entwickelt, der dieses Problem zwar löste, aber zu sehr komplizierten Kameras führte, die zudem gewisse Zugeständnisse in der Bedienung erforderten (z.B. konnte bei der Belplasca der Filmtransport nicht mit dem Verschlußaufzug gekuppelt werden).
Demgegenüber ist die Lösung der Firma Kern geradezu genial einfach. Man benutze für die »Kern SS« Stereokamera den bereits im Jahre 1913 für die Firma Richard, Paris, patentierten, gleichmäßig verschränkten Colardeau-Schaltschritt, allerdings nicht mit dessen ungünstigen Bildformat 24x18mm (hochkant) und dem ungeeigneten Bildfensterabstand von 57mm [u.a. US Patent Nr. 1.256.774]. Selle gibt in seiner Beschreibung der »Kern SS« Stereokamera an, „die Filmperforation war unberücksichtigt“ [Selle, Walter, Kleinbild-Stereoskopie, Seebruck, 1953, S. 14]. Das konnte ich mir nicht vorstellen, zumal Selle ja ansonsten sehr genaue Werte für die Basis (64mm) und die Bildgröße (20x20mm) zu nennen weiß. Bei der gedanklichen Rekonstruktion dieser Kamera bin ich schließlich darauf gekommen, daß die Kern SS im Gegensatz zur »Homeos« der Richard-Werke nicht acht, sondern neun Perforationslöcher je Stereobild transportiert. Nach den Gesetzen des Colardeau-Schaltschrittes, wonach der Bildfensterabstand das 1,5-fache des Bildtransportes beträgt, liegt dieser also bei 13,5 Perforationslöchern, was 64,125mm entspricht. Das ist ein geradezu idealer Wert. Nach einer anderen Regel des Colardeau-Schaltschrittes beträgt der für die Belichtung zur Verfügung stehende Raum die Hälfte des Bildtransportes, also 4,5 Perforationslöcher. Multipliziert mit dem Perforationslochabstand von 4,75mm kommt man auf eine Breite von 21,375mm. Reduziert man die tatsächlichen Bildfensterausmaße auf 20mm, so bleibt also noch genügend Platz für den Bildsteg. Und weil die Konstrukteure erkannt hatten, daß ein quadratisches Bildformat für Raumbilder am günstigsten ist, haben sie die Bildhöhe von zur Verfügung stehenden 24mm auf 20mm reduziert. Dieser kleine Bildfeldverlust ist also der einzige nennenswerte Nachteil des Kern-Formates. Er spielt in der Praxis eine untergeordnete Rolle. Das Kern Format muß aus diesem Blickpunkt heraus daher als ein Optimum für eine Kleinbild-Stereokamera bezeichnet werden. Leider war die Kamera selbst aufgrund ihres unerschwinglichen Preises nicht erfolgreich (Lüscher gibt 480 Franken an, was 1932 in den Nachwehen der Weltwirtschaftskrise ein kleines Vermögen dargestellt hat). Und der von ihr benutzte Filmtransport wurde leider auch von keiner anderen Firma wieder aufgegriffen.
Ich habe oben von zwei Voraussetzungen gesprochen, um einen unzerschnittenen Bildstreifen direkt betrachten zu können. Neben der Notwendigkeit, daß die Bilder im Augenabstand vorliegen, muß noch ein spezieller Betrachter vorhanden sein, der die Seitenverdrehung der Bilder aufhebt. Das ergibt sich leider aus den unumgänglichen Gesetzen der Optik, die auf dem Film ein kopfstehendes und seitenverkehrtes Bild erzeugen. Will man nun den beispielsweise durch Umkehrentwicklung erzeugten Positivstreifen betrachten, dann kann man zwar das Kopfstehen und die Seitenvertauschung der Bilder durch das entsprechende Drehen des Streifens aufheben, aber dann wird man feststellen müssen, daß nun das rechte Auge dasjenige Teilbild betrachtet, das ursprünglich vom linken Objektiv erzeugt wurde und umgekehrt. Das ist unzulässig und führt zu keinem natürlichen Raumeindruck (Pseudostereoskopie). Dreht man nun wiederum den Streifen so, daß das jeweilige Auge das zugehörige Teilbild aufrechtstehend erfaßt, dann steht man vor dem Problem, daß nun die Bilder seitenverkehrt sind.
Diese kniffligen, aber unabänderlichen Zusammenhänge hatten Stereoskopiker bis dahin immer dadurch gelöst, daß sie die Aufnahmen zerschnitten und neu positionierten – mit all den besagten Schwierigkeiten, die dieses Vorgehen mit sich brachte. Kern hatte nun einen Betrachter entwickelt, der die Seitenvertauschung der Bilder auf optischem Wege aufhob und dadurch ein Zerschneiden des Filmes vermied. Den technologischen Möglichkeiten des Jahres 1932 folgend, hatte Kern einen Betrachter entwickelt, der mit dem Prinzip des astronomischen Fernrohres arbeitete. Ein solches Fernrohr liefert bekanntlich seitenverkehrte und kopfstehende Bilder liefert. Kopfstehende Bilder sind einfach auszugleichen, indem man den Filmstreifen schlichtweg kopfstehend einlegt. Also blieb der Effekt, daß seitenverkehrt mal seitenverkehrt seitenrichtig ergibt. So einfach war das also. Leider war dieser Kasten aber sehr groß und sehr teuer (180 Franken), was ein zweiter Grund gewesen sein mag, wieso sich dieses Prinzip nicht durchsetzte.
Seit 1948 stehen aber als Nebenprodukt der Spiegelreflexkamera-Entwicklung Umkehrprismen zur Verfügung, die einen derart großen Durchlaß ermöglichen, daß sie mit weitwinkligen Okularen kombiniert werden können – das Prinzip des Prismensuchers also. Auf diese Weise ist das zweite Grundproblem der Stereo-Bildbetrachtung wesentlich einfacher lösbar geworden. Damit wird natürlich das alte Stereosystem nach Bauart Kern wieder hochinteressant. Einen solchen Stereobetrachter kann man nämlich ohne übermäßigen Aufwand selber bauen.
Als viel schwieriger erwies es sich, eine Kamera entsprechend (um)zubauen, mit der man einen Bildstreifen mit den besagten 20x20mm großen Bildern in einem Bildfensterabstand von 64,125mm belichten kann. Die Hürde lag dabei darin, daß es gar nicht so einfach ist, bestehende Kamerakonstruktionen mit einem Bildtransport von acht Perforationslöchern auf die nötigen neun umzustellen. Nach längerem Tüfteln mit sowjetischen Kameras der Typen »FED« und »Sorki« habe ich aber einen Weg gefunden, wie diese Forderung mit vertretbarem Aufwand zu verwirklichen ist. Um es vorweg zu nehmen: Das bedeutet, daß alle Kameras der „Bauart Leica“ nachträglich auf dieses System umgebaut werden könnten (allerdings nur mit einem "Trick 17" – der bessere Weg wäre natürlich eine Umdimensionierung des Transportgetriebes). Leider kam die Kern SS auf den Markt, nachdem Barnack seine Arbeiten an der Doppelleica schon eingestellt hatte. Die Geschichte der Leica-Stereokamera hätte ansonsten einen anderen Weg nehmen können, zumal Schlitzverschluß und Wechselobjektive ganz andere Möglichkeiten hätten bieten können, als die Kern SS mit ihren fest eingebauten, zu langbrennweitigen Objektiven (35mm Brennweite kontra 28,3mm Bilddiagonale!). Durch den universellen M39-Anschluß hat man eine freie Wahl an Objektiven – auch ganz kurzbrennweitige. Ich habe mir zwei Obektive 8/27mm aus der Pentacon K16 auf M39 adaptiert, die das Bildformat gerade so mit hoher Schärfe auszeichnen. Der ausgenutzte Bildwinkel liegt bei für Stereoaufnahmen idealen 55 Grad und es muß nicht auf die Schärfentiefe geachtet werden.
Ich habe in der Folge mehrere Kameras für dieses Stereoformat umgebaut, um das System ausgiebig testen zu können. Der große Vorteil des gleichmäßigen Colardeau-Schaltschrittes liegt dabei darin, daß sich die fertige Stereokamera genau so bedienen läßt, wie die ursprüngliche Kamera – das heißt ein spezielles Beachten eines abwechselnd kurzen und langen Bildschaltschrittes fällt weg. Auch ist in gewohnter Weise der Verschlußaufzug mit dem Bildtransport gekuppelt. Als einzige, technisch aufwändige Hürde ist anzusehen, daß aufgrund des verkürzten Ablaufweges eine neue Steuerwalze für die Verschlußtücher angefertigt werden muß.
Also um es noch einmal zusammenzufassen: Die grundlegende Idee des Kern-Systems liegt darin, die Halbbilder (auch Teilbilder genannt) im Augenabstand auf dem Kleinbildstreifen aufzunehmen, ohne daß ein spezieller und komplizierter Filmtransport notwendig ist, damit ein Zerschneiden des Streifens umgangen werden kann. Denn die Seitenvertauschung der Bilder, die dieses Zerschneiden ansonsten notwendig macht, wird durch einen auf diesen Gesichtspunkt hin ausgelegten Betrachter obsolet gemacht, der zu diesem Zwecke entweder mit bildumkehrenden Linsen- oder Prismensystemen ausgestattet ist. Ich habe mit beiden Varianten experimentiert und kann sagen, daß diese Lösungen praktikabel und qualitativ überzeugend sind, solange man sich mit der Individualbetrachtung zufrieden gibt.
Beispielaufnahmen
Für die Betrachtung dieser Stereobildpaare eignen sich besonders gut die hochauflösenden Displays von Taplet PCs und Smartphones. Die Bilder werden auf dem Display derart vergrößert, daß bspw. der linke Bildrahmen des linken Bildes vom linken Bildrahmen des rechten Bildes etwa 62mm entfernt ist (Normabstand). Dann wendet man entweder den "stereoskopischen Blick an", den man sich mit etwas Übung antrainieren kann, oder aber man nutzt so ein wunderbar altmodisches Stereoskop, unter das man das Handy legt. Alles läuft darauf hinaus, dem linken Auge das linke Bild und dem rechten Auge das rechten Bild zugänglich zu machen.
Mattscheibenbetrachter
Nun bietet aber dieses Kern'sche Konzept der unzerschnittenen Teilbilder günstige Voraussetzungen für eine weitere Lösung der Stereo-Betrachtungsproblematik - die "Kleinprojektion" nämlich. Damit meine ich eine Auf- oder Durchlichtprojektion mit nicht übermäßig starker Vergrößerung, die gerade dazu reicht, die Bildbetrachtung einem kleineren Personenkreis zu ermöglichen. Dazu reicht dann jeweils eine kleine Tischleinwand oder -mattscheibe. Doch was ist nun das problematische an solch einer Kleinprojektion? Die Schwierigkeiten liegen darin, die beiden Teilbilder auf der Projektionsfläche übereinander zu projizieren. Normalerweise werden dazu die Projektionsobjektive parallelverschoben. Bei den kurzen Bildweiten der Kleinprojektion sind aber solch große Verschiebungen notwendig, daß das durch den Kondensor entworfene Bild der Lichtquelle nun nicht mehr im Zentrum der Projektionsoptik liegt, wodurch sich deratige Abschattungen ergeben, daß die Stereoprojektion auf kurze Distanzen durchweg zum scheitern verurteilt ist.
Worin liegen nun die Lösungsmöglichkeiten, die das Kern-System für dieses Problem mit sich bringt? Die neue Perspektive ergibt sich daraus, daß die Teilbilder nun nicht mehr in starren Rahmen montiert werden, sondern auf dem biegsamen Bildstreifen vorliegen. Das ermöglicht, auf die Parallelverschiebung der Projektionsobjektive zu verzichten und das gesamte Projektionssystem samt Bildhalter so lange zu konvergieren, bis die beiden Teilbilder aufeinander liegen. Weder Abschattungen noch Unschärfen wären die Folge. Zu diesem Zwecke habe ich die unten abgebildete biegsame Bildbühne entwickelt (ohne Andruckplatten dargestellt).
Das gesamte Projektionssystem sieht man hier. Statt Halogenlampen werden hochmoderne Leisungs-LEDs eingesetzt, die einen sehr guten Wirkungsgrad haben und kaum zu Erwärmungen führen.
Gut zu erkennen die in großen Grenzen variable Konvergierbarkeit der optischen Achsen. Das machte es möglich, mit kurzbrennweitigen Objektiven auf kurzem Abstand auf eine vergleichsweise große Mattscheibe von 20x20cm zu projizieren - eine zehnfache Vergrößerung also. Die Folge sind sehr helle (trotz der doppelten Polfilter) und sehr kontrastreiche Bilder und zwar ohne die störenden Spiegeleffekte, die eine metallisierte Projektionsfläche sonst mit sich bringt. Die Mattscheibenprojektion muß als Königsweg in der Raumbildbetrachtung angesehen werden – zumal der Rahmen der Mattscheibe auch einen wunderbar scharf abgegrenzenden Rahmen für das Raumbild mit sich bringt. Die Raumbildwirkung, die dieser Mattscheibenprojektor ermöglicht, kann man nur als bestechend bezeichnen. Leider kann man das übers Internet nicht vermitteln. Aber es hat ja auch etwas gutes, daß man so etwas nur im Original bewundern kann. Original und analog.
Marco Kröger 2017
letzte Änderung 3. April 2020
Yves Strobelt, Zwickau
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