Werraflex

Die Werraflex

Von Jena nach Braunschweig über Berlin-Friedrichstraße?

Das Zerreißen Deutschlands in zwei getrennte Staaten in der Mitte des 20. Jahrhunderts war eine tiefgreifende Zäsur. Kein Wunder also, wenn auch unsere Photoindustrie deutliche Spuren dieser Epoche trägt und komplizierte deutsch-deutsche Zusammenhänge offenbart.

1. Eine Volkskamera-Spiegelreflex

Es dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben, wie sehr die Werra-Sucherkamera ein "politisches Kind" ihrer Zeit gewesen ist. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 reagierte das Ulbricht-Regime unter anderem mit einer Ausweitung der Konsumgüterproduktion, weil es sich erhoffte, mit dieser Maßnahme wenigstens einen Teil der Empörung in der Bevölkerung abzumildern. Man ließ Otto Grotewohl auf der Volkskammersitzung vom 27. Juli verkünden, die DDR würde die Bundesrepublik in Hinblick auf den Lebensstandard bald überrunden [Vgl. Engelmann, Schlüsseljahr 1953]. Dazu genügte es nicht, nur die Versorgung mit Lebensmitteln und einfachen Verbrauchsgütern zu erhöhen. Hochwertige, langlebige Erzeugnisse wie eben eine Kleinbildkamera gehörten zu den Dingen, die sich die Menschen damals wirklich wünschten. Außerdem ließ sich mit derartigen "Luxusartikeln" überschüssige Kaufkraft abschöpfen, um die in Umlauf befindliche Geldmenge zu begrenzen und dem Staatshaushalt Einnahmen zu sichern. Das erwies sich als eine bessere Strategie, als die als Normenerhöhung getarnten Lohnkürzungen, die den Volksaufstand ausgelöst hatten.


Für die Entwicklung einer deratigen massentauglichen Sucherkamera wurde der Vorzeigebetrieb VEB Carl Zeiss Jena verpflichtet. Diese nach dem Flüßchen Werra genannte Kamera verband trotz ihrer spartanischen Ausstattung hohe Bildqualität mit einem innovativen Äußeren. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit, als sie auf der Leipziger Herbstmesse 1954 vorgestellt wurde [Bild: Roger Rössing Deutsche Fotothek, Aufn.-Nr.: df_roe-neg_0006722_012].

Wenig bekannt ist jedoch, daß im VEB Carl Zeiss Jena quasi parallel auch an einer Einäugigen Spiegelreflexkamera mit Zentralverschluß gearbeitet wurde, deren "Arbeitstitel" Werraflex lautete. Dabei ist die Zugehörigkeit dieser Kamera zum "Werra-Universum" allein durch ihre äußere Anmutung unverkennbar. Allerdings ist ihre Entwicklung letztlich so tief im Prototyp-Staus hängen geblieben, daß dieses interessante Projekt späterhin regelrecht in Vergessenheit geriet. Heute zeugen nur noch unfertige Überreste von den damaligen Konstruktionsarbeiten. Ein nie vollständig fertiggestellter Prototyp sowie Bilder einer weiteren Musterkamera zeigen jedoch deutlich, daß dieses Werraflex-Projekt noch auf der Basis des Vebur-Verschlusses entwickelt worden ist. Daraus muß man schlußfolgern, daß diese Kamera mit den Prestor-Entwicklungen bei Zeiss Ikon, die letztlich erst 1960 in der Zentralverschluß-Spiegelreflexkamera Pentina mündeten, noch in keinerlei Verbindung stand.


Vielmehr muß aus der Verwendung des Vebur geschlossen werden, daß dieses Projekt Werraflex den heute noch sichtbaren Status erreicht hatte, lange bevor der VEB Kamera-Werke Niedersedlitz ab 1958 die zukünftige Pentina zuende entwickelte. Der Ursprung der Pentina lag wiederum in einem Projekt des VEB Zeiss Ikon, das zweifellos ein Nachahmen der westdeutschen Zentralverschluß-Spiegelreflexkamera Contaflex zum Ziele hatte. Man kann heute nur vermuten, daß die laut Betriebsunterlagen im Mai 1954 aufgenommenen Arbeiten an einer Reflex-Werra eine ähnliche Reaktion auf das Erscheinen der Contaflex in der Bundesrepublik darstellten, wie die sehr ähnlichen Entwicklungsarbeiten in Dresden, von denen ein erstes Patent: DD14.803 vom Juli 1954 zeug. Die leichtfüßig anmutende Verwendung eines Zentralverschlusses und dessen sich fast zwangsläufig ergebende Verknüpfung mit einer vollautomatischen Springblende müssen sowohl in Jena wie auch in Dresden großen Eindruck gemacht haben. Man meinte wohl, eine Kleinbildreflexkamera mit deutlich geringerem Aufwand realisieren zu können, wenn man sie auf einen Zentralverschluß basieren läßt.

Werraflex Muster 1954

Diese Annahme wird auch unterstützt durch den unten gezeigten CIA-Bericht vom 2. September 1954 (Distributionsdatum) über Aktivitäten beim VEB Carl Zeiss Jena, der sich in den Punkten 3 und 5 explizit auf diese neue Kamera bezieht [CIA-RDP80-00810A004700410008-0]. Demnach war die Werraflex als "Volkskamera-Spiegelreflex" projektiert. Eine Verwechslung dieser Entwicklungsarbeiten mit denjenigen zur Werra-Sucherkamera durch den Informanten des CIA ist auszuschließen, weil sich letztere zu diesem Zeitpunkt bereits in der Serienfertigung befand und außerdem gerade auf der Leipziger Herbstmesse 1954 vorgestellt wurde. Es kann daher kein Zweifel daran bestehen, daß tatsächlich die Werraflex gemeint ist

CIA-RDP80-00810A004700410008-0 Volkskamera

Diesem Bericht zufolge waren ganze 15.000 Stück von dieser "Volks-Reflexkamera" für den Rest des Jahres 1954 anberaumt gewesen, obwohl laut Informant noch nicht einmal die Konstruktionsarbeiten abgeschlossen waren. Nicht nur, daß der VEB Carl Zeiss Jena in Bezug auf die Herstellung einer derartig komplexen Kamera keine Erfahrungen vorzuweisen hätte, der Bericht deutet darüber hinaus an, daß dafür auch eine umfassende Reorganisation des Betriebes nötig gewesen wäre, um entsprechende Produktionskapazitäten zu schaffen. Auf der anderen Seite erfahren wir durch diese unverblümt kritische Einschätzung so offenherzig übrigens, wie man es kaum jemals aus einer offiziellen zeitgenössischen DDR-Quelle erfahren würde wie Jena durch den fortschreitenden Bedeutungsgewinn Oberkochens zunehmend mit einem regelrechten "Produktionsvakuum" konfrontiert worden sei, weil offenbar sukzessive der Westen als Absatzmarkt für die einstmals konkurrenzlosen Erzeugnisse Jenas wegfiel. Das wirft meiner Ansicht nach noch einmal ein ganz anderes Licht auf die Geschichte der Werra. Schließlich legt die Quelle mit dieser Aussage nahe, Rudi Müller habe, als es nach dem 17. Juni darum ging, die Versorgungslage der Bevölkerung im Bereich der Photogeräte zu verbessern, auch deshalb laut "hier" gerufen, weil seine Weltfirma zu jener Zeit schlichtweg nach einer neuen Möglichkeit zur Auslastung der Produktionskapazitäten suchen mußte. Eine solche Sichtweise auf die damalige Situation des VEB Carl Zeiss Jena habe ich ehrlich gesagt noch nirgends gelesen.

Werraflex

Diese Archivbilder vom August 1954 zeigen offensichtlich ein Muster der avisierten Volks-Spiegelreflex, bei dem das Objektiv fest eingebaut zu sein scheint. Man darf demzufolge davon ausgehen, daß diese Reflex-Werra parallel zur Sucherkamera entwickelt wurde [Technische Hauptleitung CZJ, Signatur BIII 00452/1].

2. Eine Wechselobjektiv-Spiegelreflex

Man kann heute man nur spekulieren, weshalb die offensichtlich im August 1954 fertiggestellte Konstruktion einer Reflex-Werra nicht sogleich in die Serienproduktion überführt wurde, um das avisierte Planziel von 15.000 Stück zu erfüllen. Neben den im obigen CIA-Bericht genannten Gründen mag überdies dieselbe Erkenntnis eine Rolle gespielt haben, die einige Zeit später so auch im VEB Zeiss Ikon reifte: Eine Spiegelreflexkamera, die wie kein anderer Kameratyp ideal für Wechselobjektive geeignet ist, mit einem fest eingebauten Objektiv zu versehen, das erschien angesichts des Aufwandes für solch eine Kamera als zu wenig ambitioniert.

Bessamatic

Doch damit war der Fall Werraflex für Zeiss Jena noch nicht abgeschlossen. Man muß davon ausgehen, daß im Anschluß noch an einer Weiterentwicklung dieser Kamera hin zu Wechselobjektiven gearbeitet worden sein muß. Von diesen Arbeiten zeugen nun glücklicherweise nicht nur Bilder, sondern es hat eine Prototyp-Kamera die Zeiten überdauert. Und diese Spiegelreflexkamera verband nun einen feststehenden Zentralverschluß mit vorgesetzten, im Ganzen auswechselbaren Objektiven. In der Fachwelt nennt man das gern das "Bessamatic Prinzip". Doch genau diesen Ausdruck sollten wir uns wohl zukünftig lieber abgewöhnen. Schließlich kam die Bessamatic der Braunschweiger Firma Voigtländer erst 1958 auf den Markt. Angesichts aller Anzeichen darunter auch hier wieder die Verwendung des Vebur-Verschlusses muß der erhalten gebliebene Werraflex-Prototyp mit Wechselobjektiven aber eindeutig früher als die Bessamatic verortet werden. Und zwar mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls noch im Jahr 1954. Wenn dies zutrifft, dann sollten Einäugige Spiegelreflexkameras mit vor den Zentralverschluß gesetzten Wechselobjektiven daher zukünftig als Werraflex-Typus bezeichnet werden. An dieser Prioritätsfrage ändert sich übrigens selbst dadurch nichts, daß der vorliegende Werraflex-Prototyp offenbar nie eine vollständige Funktionstüchtigkeit erreicht hat. Schließlich gilt ja auch Rudolf Fischer als Erfinder des Prinzips des Mehrschichtenfarbfilms mit farbstoffgebender Entwicklung obschon es erst 25 Jahre später einer neuen Generation an Photochemikern gelang, basierend auf den in Fischers Patenten angegebenen Prinzipien einen Agfacolorfilm hervorzubringen.

Werraflex

So wurde der Prototyp der Werraflex im Museum in Jena präsentiert. Die Angabe einer mit "um 1960" viel zu spät angesetzten Entstehungszeit zeigt, daß über den Hintergrund zu dieser Kamera bislang wenig Konkretes bekannt war. Bild oben Simon Worsley, unten L.F. Oliveira.

3. Schlüsselperson Swarofsky?

Doch an genau diesem Punkt wird "der Fall Werraflex" noch einmal richtig interessant und zugegebenermaßen auch etwas kompliziert. Wenn man nämlich genauer hinschaut, dann zeigt sich, daß gerade die Verknüpfung zwischen der Werraflex und der Voigtländer'schen Bessamatic weit über eine reine Prioritätsfrage um das Kamerabauprinzip hinausgeht. Es stellt sich nämlich eine Verknüpfung zwischen ost- und westdeutscher Photoindustrie dar, die offensichtlich lange schon in Vergessenheit geraten war. Die Schlüsselperson dazu ist Walter Swarofsky, ein Konstrukteur, von dem bereits bekannt war, daß er in den 50er Jahren von Zeiss Jena nach Braunschweig gekommen war. Unter seiner Leitung wurden dann bei Voigtländer die beiden Zentralverschluß-Spiegelreflexkameras Bessamatic und später Ultramatic entwickelt. Dabei spielen zwei Patente aus dem Jahre 1956 eine zentrale Rolle, mit denen sich Swarofsky die neuartige Verknüpfung zwischen den Wechselobjektiven mit Springblende und dem Kameragehäuse schützen ließ, wie sie für die Bessa- und Ultramatic so charakteristisch sind [Nr. DE1.063.454 vom 12. Januar 1956 und 1.078.428 vom 7. Juli 1956]. Deren Blendenöffnungen wurden nämlich erstmals allein vom Kameragehäuse aus gesteuert die Objektive selbst besaßen keinen Blendenring. Um die damit angestrebte Verknüpfung der Auswechselobjektive mit einer Belichtungshalb- oder sogar Vollautomatik zu ermöglichen, mußte zudem eine Erkennung deren maximaler Öffnung sichergestellt sein.

Eine regelrechte historische Brisanz ergibt sich nun daraus, daß sich Swarofsky in seinen beiden Erfindungen explizit auf ein DDR-Patent Nr. DD8826 bezieht, das er für Voigtländer weiterentwickelt hat. Letztendlich hat Swarofsky aus diesem DDR-Patent die zirkukare Ansteuerung der Springblende übernommen, die in Hinblick auf die Verknüpfung mit einem lichtwertgekuppelten Zentralverschluß immense Vorteile bot. Der Witz dabei: Swarofsky hatte diese Art der Blendenansteuerung zuvor selbst zusammen mit Max Burckhardt sowie einem gewissen Kurt Wagner entwickelt und am 11. Oktober 1952 in der DDR sowie am 19. Dezember 1952 in der Bundesrepublik zum Patent angemeldet. Kurt Wagner war wiederum der Chefkonstrukteur der Werra. Es gehört nun nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, wie Swarofsky als ehemaliges Mitglied der Werraflex-Entwicklergruppe diese Jenaer Schlüssellösung für Springblendensysteme mit nach Braunschweig genommen und dort sogleich mitilfe weiterer diesbezüglicher Schutzanmeldungen für Voigtländer patentrechtlich abgesichert hat.

DD8826 Swarofsky

Oben sieht man die bildliche Darstellung aus dem DDR-Patent Nr. 8826 von 1952 bzw. dem bundesrepublikanischen Patent Nr. DE1.248.467, die beide eine weitsichtige Art der Kupplung von Wechselobjektiven an Spiegelreflexkameras mit Schlitz- und Zentralverschluß schützten. Diese zirkulare Ansteuerung der Blende ermöglichte eine sehr leichte Verknüpfung mit den konzentrisch um das Objektiv gelagerten Blenden- und Verschlußzeitenringen bei Zentralverschlüssen. Zudem war sie geradezu essentiell an allen Kameras, bei denen das Objektiv in die Bajonettfassung eingedreht wurde. Aus diesem Grunde wurde diese Bauart auch international  an Kameras mit Bajonettanschlüssen genutzt. Bezeichend ist, daß das in der Bundesrepublik angemeldete Patent aufgrund langjähriger Auseinandersetzungen mit den Weiterentwicklungen bei Voigtländer erst im November 1974 erteilt wurde – fast 22 Jahre nach dessen Anmeldung. Bei der Pentina wurde eine Kollission mit Swarofkys Voigtländer-Patenten dadurch vermieden, weil deren Steckbajonett, bei dem kein Eindrehen des Objektives vonnöten war, eine Ansteuerung per Stößel erlaubte.


Absolut bemerkenswert ist zudem, daß sowohl das Zeiss-Jena-Patent als auch die beiden Voigtländer'schen Patente erheblich von der Auslegeschrift abweichende Ausgabeschtiften aufweisen. Das heißt, alle drei Patente wurden fast vollständig umformuliert, bevor sie letztlich vom Münchner Patentamt erteilt wurden, woraus man ablesen kann, daß es noch bis Ende der 60er Jahre erbitterte Auseinandersetzungen um die Priorität des Erfindungsgedankens gegeben haben muß.


Unten sieht man quasi das kameraseitige Gegenstück der zirkularen Ansteuerung aus Swarofkys Voigtländer-Patent Nr. DE1.063.454 vom 12. Januar 1956. Hier ist auch sehr gut die bewußte Auslegung für einen lichtwert-gekoppelten Zentralverschluß  zu erkennen.

DE1063454 Swarofsky

Es ergibt sich somit das Bild, daß Swarofsky ein DDR-Grundlagenpatent durch geschickte Weiterentwicklung und Ausrichtung auf die technischen Eigenheiten einer Zentralverschlußspiegelreflexkamera mit Belichtungsautomatik für Voigtländer abgesichert hat. Das war ihm offenbar dadurch möglich, weil er bereits an entscheidender Stelle an der Entwicklung der Werraflex beteiligt gewesen war und daher auch genau wußte, welche weiteren Schritte zu gehen waren. Der erhaltengebliebene Prototyp der Werraflex läßt vermuten, daß an genau diesem Punkt in Jena die Arbeiten in der zweiten Jahreshälfte 1954 oder 1955 abgebrochen worden waren und Swarofsky daraufhin die DDR verlassen hat.


Und nun muß man sich abschließend einmal vor Augen führen, welche geradezu tragische Rückwirkungen dieser Ablauf der Dinge auf die DDR-Photoindustrie im Nachhinein mit sich brachte: Kaum drei Jahre später nämlich, als der gerade erst formierte VEB Kamera- und Kinowerke mit dessen Pentina endlich ein altes Projekt des VEB Zeiss Ikon in die Tat umsetzen wollten, waren man dort gezwungen, nur deshalb mit viel Aufwand versperrte Lösungswege zu umschiffen, weil sich im Jahre 1954 der VEB Carl Zeiss Jena wohl dazu entschlossen hatte, ein zu aufwendig gewordenes Projekt einer Zentralverschlußspiegelreflexkamera auf Eis zu legen und lieber die einfachere Sucher-Werra zu bauen. Gut aus damaliger Sicht vielleicht die richtige Entscheidung. Doch anstatt sie weiter patentrechtlich abzusichern, ließ man den offenbar ebenfalls "auf Eis gelegten" Walter Swarofsky mit der neuartigen Kameraidee in den Westen abziehen. Und daß Swarofsky bereits eine zentrale Figur in diesem Werraflex-Projekt gewesen sein muß, das kann man daran ablesen, daß er für Voigtländer binnen kurzer Zeit eine Reihe an ganz dezidierten Erfindungen in Bezug auf diese spätere Bessamatic anmeldet. Er schaffte es auf diese Weise, das Werraflex-Bauprinzip mit dem Compurverschluß und seinem Lichtwertkonzept kompatibel zu machen ein wichtiger Fortschritt, der auf Basis des Vebur so niemals möglich gewesen wäre. Die DDR hatte 1954 einfach keinen mit dem Compur ebenbürtigen Zentralverschluß zur Verfügung und wie sich zeigen sollte, änderte sich an dieser Situation auch so rasch nichts.


Für mich drängt sich in diesem Zusammenhang eine auffällige Parallelität mit dem Fall Rudolf Solisch auf, der seit Ende der 1940er Jahre der Experte bei Zeiss Jena für Retrofokus-Konstruktionen gewesen war und der in etwa zu selben Zeit wie Swarofsky in den Westen flüchtete. Und zwar mitsamt seiner Idee zu einem 24-mm-Superweitwinkel, das er dann für Isco in Göttingen verwirklichte. Oder nehmen wir einen Klaus Hintze, der, nachdem es mit seiner von höchsten Parteikreisen geforderten Prakti Schwierigkeiten gab, keinen anderen Weg wußte, als in die Bundesrepublik zu flüchten. Wir können heute nur noch erahnen, welche Mischung von Gründen gut ausgebildete Facharbeiter und Ingenieure damals dazu trieb, die DDR zu verlassen. Wir wissen aber, daß dies nach dem Mai 1952 nur noch über das Nadelöhr des Bahnhofs Friedrichstraße möglich war. Auch die Hochbahn fuhr noch von der Warschauer Brücke zum Schlesischen Tor und wurde vor allem im Berufsverkehr gerne zur Flucht genutzt. Zu Fuß über die Sektorengrenze zu gehen, war hingegen angesichts der allgegenwärigen "Aufpasser" sehr gefährlich. Die "Republikflüchtlinge" mußten dabei alles in der Heimat zurücklassen außer maximal einem kleinen Köfferchen und vielleicht einer Konstruktionsidee im Kopf...

"Sie trat an den Fahrkartenschalter. Zum ersten Mal mußte sie preisgeben, was sie tun wollte.

'Zoologischer Garten', sagte sie.

Gleichmütig wurde ihr eine kleine gelbe Pappkarte zugeschoben. 'Zwanzig', sagte die Frau hinter der Glasscheibe.

'Und wenn man zurückkommen will?' fragte Rita zaghaft.

'Also vierzig', sagte die Frau, nahm die Karte und schob eine andere durch das Fensterchen.

Darin also unterschied diese Stadt sich von allen anderen Städten der Welt: Für vierzig Pfennig hielt sie zwei verschiedene Leben in der Hand."

[aus: Christa Wolf, Der geteilte Himmel, 1963.]

Marco Kröger


letzte Änderung: 15. April 2024