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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Das Biotar
Carl Zeiss Jena
Rudolphs Planar als Ausgangspunkt
Das Biotar ist eine Weiterentwicklung – oder besser gesagt Vervollkommnung – des Planar-Typs von Paul Rudolph (Patent Nr. 92.313 vom 14. November 1896). Das Verdienst Rudolphs lag seinerzeit darin, das sogenannte Gaußobjektiv mit seinen vielversprechenden Korrektionsmöglichkeiten im Bereich der sphärischen und chromatischen Abweichungen für den Einsatzfall des photographischen Objektivs brauchbar gemacht zu haben, indem er gleichzeitig den bei diesem Typus bislang nicht beherrschbaren Astigmatismus korrigieren konnte.
Da nämlich die ursprünglich von Carl Friedrich Gauß vorgeschlagene Linsenkombination aus je einem Kron- und einem Flintglasmeniskus ausschließlich für die Verwendung als Fernrohrobjektiv vorgesehen war, und sie daher jenem speziellen Verwendungszweck entsprechend auch nur für einen sehr engen Feldwinkel korrigiert sein mußte, verlangte die Nutzbarmachung dieses Typs für photographische Zwecke nun eine sorgfältige anastigmatische Bildfeldebnung. Statt Details eines weit entfernten Gegenstandes mit vielleicht drei oder fünf Grad Blickwinkel rein visuell zu betrachten, muß dieser Gegenstand in der Photographie schließlich in seiner Gänze auf der flachen Platte abgebildet werden, wofür Bildwinkel von wenigstens 50 Grad gewünscht sind. Und im Gegensatz zur visuellen Betrachtung ist bei einer photographischen Abbildung eine möglichst gleichmäßige Schärfe bis in die äußeren Randbereiche des Bildfeldes absolut unabdinglich. Dazu mußte ein besonderes Augenmerk auf den große Probleme bereitenden Astigmatismus gelegt werden, der sich stets dann einstellt, wenn bei einem Objektiv mit größerem Bildwinkel die Lichtbündel das System schräg durchlaufen, um "seitlich gelegene" Gegenstände abzubilden. Paul Rudolph, der als erster überhaupt einen von diesem schwerwiegenden Bildfehler befreiten Anastigmaten hatte schaffen können, gelang es nun mit seinem Planar nicht nur perfekter als je zuvor die sogenannte meridionale und sagittale Bildschale einander anzunähern, sondern sie auch so abzuflachen, daß beide gewissermaßen plan auf der Bildebene zu liegen kamen. Daher schließlich auch der Name dieses neuartigen Objektives. Der Konstruktionseinfall Rudolphs lag dabei darin, zwei dieser derartigen Gauß’schen Fernrohrobjektive symmetrisch zu einer Mittelblende anzuordnen (Schutzanspruch 2).
Solche symmetrische Aufbauten erleichtern ja dem Objektivkonstrukteur generell die Arbeit, weil die Sinusbedingung von selbst erfüllt wird sowie die Koma und insbesondere Verzeichnung weitgehend verschwinden. Darin ist auch der Grund zu sehen, weshalb bereits in den 1860er Jahren der aus zwei Fraunhofer'schen Achromaten bestehende Aplanat große Verbreitung gefunden hatte. Bei ihm waren auch Farblängs- und Farbquerfehler gut behoben und bei geeigneter Glaswahl konnten zudem beide Linsen miteinander verkittet werden, was die Spiegelverluste minimierte. Es blieben jedoch störende Reste an sphärischer Aberration und natürlich Astigmatismus und Wölbung. Paul Rudolph hatte es nun als aussichtsreich für eine anastigmatische Bildebnung bei einem Doppelobjektiv erkannt, sich statt dem Fraunhofer-Typus dem besagten Gauß-Achromaten als Basis für die Objektivhälften zu widmen [Vgl. Rohr, Moritz von: Ueber das Planar, Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 12/1898, S. 70ff].
Links die Grundform des Gauß'schen Fernrohrobjektivs, wie sie im Patent Nr. 92.313 zugrunde gelegt wurde, rechts das später als Planar bekanntgewordene Doppelobjektiv Rudolphs. (Anmerkung: Beim ursprünglich von Gauß angegebenen Fernrohrobjektiv hatten sowohl Positiv- wie Negativlinse Meniskenform.)
Um nun eine solche anastigmatische Bildfeldebnung, wie sie für das Erreichen eines für photographische Zwecke ausreichenden Bildwinkels erforderlich ist, mit einer Achromatisierung des Gesamtobjektivs in Einklang zu bringen, erachtete es Rudolph als notwendig, die inneren, zerstreuend wirkenden Linsen des Doppelobjektives als Kittglieder auszulegen. Er kombinierte dabei zwei Linsen, die zwar dieselbe Brechkraft, aber eine unterschiedliche Farbzerstreuung aufwiesen (Schutzanspruch 1). Die Gesamtkombination ergab die Möglichkeit, mithilfe der Durchbiegung der entstehenden Kittfläche die chromatische Aberration des Systems zu verändern, ohne die Korrektur der sphärischen Aberration und sogar des Astigmatismus antasten zu müssen. Diesen „Konstruktionskniff“ der „hyperchromatischen Linse“ hatte er sich (offenbar) wenige Monate zuvor in seinem Patent Nr. 88.889 sichern lassen. Mit diesem Potential ließ das Planar sogar die vollkommene Einbeziehung des sogenannten sekundären Spektrums in die Farbkorrektur zu, was erstmals apochromatische Objektive für die damals äußerst bedeutsamen Reproduktionszwecke zuließ.
Wie rasch in der Zeit um die Jahrhundertwende die Glastechnologie verbessert werden konnte, kann man daran ablesen, daß es Friedrich Kollmorgen mit seinem Aristostigmat bereits vier Jahre später gelang, die chromatische, sphärische und anastigmatische Korrektur des Gauß'schen Doppelobjektivs ohne solche zusätzlichen Kittglieder erreicht zu haben. Aber bald gelangten weitere komplexe Bildfehler ins Blickfeld, für deren Behebung Rudolph mit seinem Planar bereits wichtige Grundlagen gelegt hatte. Das ursprüngliche Gaußobjektiv war nämlich gerade deshalb für stark vergrößernde Fernrohrobjektive gut geeignet, weil es die gleichzeitige Korrektur des Kugelgestaltsfehlers (sphärische Aberration) für zwei verschiedene Farben gestattete.
Einer der schwerwiegendsten Bildfehler, der die Bildqualität bewährter Objektivtypen schnell infrage stellt, sobald die Lichtstärke angehoben werden soll, ist nämlich die farbabhängige Abweichung der sphärischen Aberration. Die Fachleute sprechen hierbei von der Sphärochromasie oder dem Gaußfehler im engeren Sinne. Wenn auch der Öffnungsfehler eines lichtstarken Objektivs für den sichtbaren Bereich im Gelbgrün gut auskorrigiert sein mag, so kann gleichzeitig die Korrektion für rotes oder blaues Licht vollkommen unzureichend ausfallen. Auch die sphärische Aberration schiefer Büschel kann bei unterschiedlichen Lichtfarben stark ausbrechen. Diese als Farbquerkoma bezeichnete Erscheinung gehört daher zum Gaußfehler im weiteren Sinne. Die hinter diesen Abbildungsfehlern stehenden Zusammenhänge sind für den Laien kaum noch verständlich, müssen aber vom Konstrukteur lichtstarker Objektive sehr genau beachtet werden.
Wenig bekannt ist, daß der Planartypus auch durch Paul Rudolph persönlich weiterentwickelt wurde. Rudolph, der durch seine Grundlagenpatente "ausgesorgt" zu haben schien, hatte sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach heftigen Auseinandersetzungen mit seinem Arbeitgeber ins Privatleben zurückgezogen (und zwar offenbar ins Tal der Göltzsch, auf sein Gut "Grün" bei Lengenfeld im Vogtland). Nach dem Kriege jedoch sah er sich gezwungen, im Alter von 60 Jahren die Konstruktionstätigkeit wieder aufzunehmen. Ein erster Schritt dahingehend war das DRP Nr. 310.615 vom 15. März 1918, mit dem er nach eigener Angabe erstmalig eine wirkliche Sphäro-Achromasie verwirklichen konnte. Dieses Objektiv entwickelte Rudolph später zum "Plasmat" weiter. Doch weder mit dem Patent von 1896, noch mit jenem von 1918 sei ein Mittel zur gleichzeitigen Beseitigung der sphärischen Zonen gefunden worden. Diese besagten Zonen erkennt man gut in der von Rohr'schen Darstellung der sphärischen Aberration, wie sie z. B. unten bei Mertés Biotar in der Kurve a) gezeigt ist. Hier sieht man, wie typischerweise der Schärfepunkt einmal in der Bildmitte und ein weiteres mal zum Rande hin genau in der Bildebene zu liegen kommt, für dazwischenliegende Einfallshöhen der Strahlen die Kurve aber oftmals jene charakteristische bauchige Ausbuchtung aufweist. Für gut auskorrigierte Anastigmate, die darüber hinaus das Potential zu hohen Lichtstärken mitbringen sollen, müssen diese Zonen allerdings stark verringert werden. Ganz im Gegensatz zum Patent von 1896 gestaltete Rudolph daher in seinem Patent Nr. 420.223 vom 7. Februar 1924 die innere Kittgruppe aus Gläsern mit stark abweichenden Brechungsexponenten, um bei einer schwachen Krümmung der Kittfläche zu einer erheblichen zerstreuenden Wirkung zu gelangen. "Kittflächen sind bisher in großem Umfange als Korrektionsmittel genutzt worden. Zerstreuende Kittflächen mit stärkerer Krümmung als die der Außenflächen dienen zur Korrektion der sphärischen Abweichung und sammelnde Kittflächen zur Herbeiführung anastigmatischer Bildeldebnung. Die Kittfläche ist dabei meist von relativ schwacher Krümmung." Mit diesem Prinzip der gegensätzlichen Brechzahlabstufung hatte sich Rudolph seit Ende der 1880er Jahre seinen Platz in der Geschichte der rechnenden Optik gesichert. Bemerkenswert an diesem Patent 420.223 ist zudem, daß Rudolph im Gegensatz zu den vorgenannten Patenten den Planartypus auf eine Lichtstärke von 1:3 bringen konnte indem er gleichzeitig dessen strengen symmetrischen Aufbau fallen ließ.
Mertés Biotar als Vervollkommnung
Die ausgezeichneten Korrekturmöglichkeiten für die oben angeführte Sphärochromasie sowie weiterer, von der Lichtwellenlänge abhängiger "Gaußfehler" waren offenbar der Grund, wieso dieser Planartyp wieder interessant wurde, als die Photoindustrie nach immer lichtstärkeren Systemen verlangte. Lange aber war der Planar-Doppelgaußtyp als für ein Universalobjektiv ungeeignet betrachtet worden, weil aufgrund seiner vielen Glas-Luft-Grenzflächen die Abbildung oft durch unerwünschte Spiegelbilder verdorben wurde. Daher konnte das Planar bislang fast nur in der Reproduktionsphotographie erfolgreich eingesetzt werden, wo man die Lichtführung stets unter Kontrolle hatte. Auch die Weiterentwicklung des Doppelgauß durch Horace William Lee [GB 157.040], der 1920 immerhin eine Lichtstärke von 1:2,0 erreichen konnte, scheiterte in der Praxis vorerst an falschem Licht, das durch Reflexe und Koma hervorgerufen wurde. [Vgl. Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 60.]
Willy Merté gelang mit seinen Biotaren ein entscheidender Durchbruch, indem er diese Reflexe so dirigierte, daß sie nunmehr außerhalb des Bildfeldes lagen oder aber nur als großflächiger, diffuser Schimmer auftraten, der seinerseits zu keiner störenden Schwärzung der Schicht mehr führen konnte. Außerdem ging er nun vollends von dem Verständnis des Gaußobjektivs als symmetrisches Doppelobjektiv ab und korrigierte sein Biotar als Gesamtsystem, wodurch er es auf hohe Lichtstärken ohne eklatante Zugeständnisse an die Abbildungsleistung trimmen konnte. Dazu war insbesondere auch eine Beherrschung der Koma mit ihren sehr störenden, weil stark asymmetrischen Zerstreuungsfiguren, nötig. Mit seinem Patent Nr. 485.798 vom 30. September 1927 brachte er die Lichtstärke dieser Biotare bis auf 1:1,4 und erreichte damit den Anschluß an Berteles Tripletabkömmling "Ernostar". Man beachte die schlanke Kurve der sphärischen Aberration (a) dieses Biotars.
Die erste nenneswerte Anwendung fand das neue Biotar übrigens als Normalobjektiv für die 16-mm-Schmalfilmkamera, wie das unten zu sehende frühe Exemplar eines Biotar 1,4/2,5 cm aus dem Jahre 1930 zeigt. Diese Beschränkung auf das Metier des Schmalfilms hatte auch einen unschwer nachvollziehbaren Grund: Ein Objektiv der Lichtstärke 1:1,4 wäre für die Ende der 20er Jahre noch dominierende Plattenkamera 9x12 cm schlichtweg unsinnig gewesen. Mit einer für dieses Format notwendigen Brennweite von 150 mm wäre ein Scharfstellen unmöglich geworden, zumal die große Glasmasse ein solches Objektiv untragbar hätte werden lassen – und zwar sowohl in Hinblick auf das Gewicht, wie auf den Preis. Erst das nach 1930 aufkommende Kleinbild etablierte quasi einen zwischen dem winzigen Kinofilmbildchen und dem Großformat liegenden Kompromiß. Zur vollen Ausnutzung der Lichtstärke waren zwar gewisse Scharfstellhilfen notwendig, aber Preis und Gewicht eines solchen Objektives nahmen nunmehr keine vollkommen utopischen Ausmaße mehr an.
Die obengenannte Notwendigkeit einer Scharfstellhilfe, wenn man eine solch hohe Lichtstärke sinnvoll ausnutzen will, sorgte für die Entwicklung zweier neuartiger Kameratypen: Die moderne Entfernungsmesserkamera durch Barnack und die moderne Spiegelreflexkamera vom Typ Nüchterlein. Wie kein anderes Kamerasystem zuvor, war nun gerade diese Einäugige Kleinbildspiegelreflexkamera prädestiniert für die Verwendung solch lichtstarker Objektive. Ist bei der Sucherkamera der Entfernungsmesser nur eine Art zusätzliches Hilfsaggregat zum Scharfstellen, so ist die präzise Mattscheibeneinstellung bei der Spiegelreflex Teil ihres Grundkonzepts als "Sehende Kamera". Und weil bei ihr fast ausschließlich Schlitzverschlüsse Anwendung finden, gibt es wesentlich weniger Beschränkungen zum Beispiel was den Durchmesser des Objektivs in Blendennähe betrifft (wie das bei Zentralverschlüssen meist der Fall ist). Allein die Schnittweite des Objektivs darf ein Mindestmaß nicht unterschreiten, damit der Spiegel nicht anstößt. Das ist übrigens der Grund, wieso das Kleinbild-Biotar eine Brennweite von ungewöhnlichen 58 mm aufweist. Anders war es mit der Technologie der 1930er Jahre bei einem so lichtstarken Objektiv wie dem Biotar nicht möglich, die mechanischen Erfordernisse der Spiegelreflexkamera einzuhalten. Es gab zwar vor dem Kriege schon ein Schneider Xenon 2/50 mm für die Exakta, aber hier bildete wirklich der hinterste Linsenscheitel den mechanischen Abschluß des Objektivs und war dadurch auch den entsprechenden Beschädigungsgefahren ausgesetzt. Erst mit der Weiterentwicklung dieser lichtstarken Normalobjektive in den 1950er Jahren gelang es, die Brennweite auch für Spiegelreflexkameras allgemein auf den Nennwert 50mm zu senken. Diesem Trend folgend wurde bei Zeiss Jena im Jahre 1954 ein Biotar 2/50 gerechnet, das später als Flexon und Pancolar für die Praktina und Exakta geliefert wurde. Neue hochbrechende Gläser und eine meniskenförmige Umgestaltung des vorderen Objektivteiles ermöglichten diesen Fortschritt.
Das Biotar 2/58 mm mit dem Konstruktionsdatum 19. Oktober 1936 wurde von Carl Zeiss Jena ziemlich genau 25 Jahre optisch unverändert hergestellt. Es behielt lange Zeit seine Stellung als Spitzenausstattung für die Exakta, die Praktica und die Contax. Zwischen 1945 und 1961 konnte Zeiss Jena auf diese Weise etwa 328.000 Exemplare des Biotars 2/58 mm absetzen. Seine absolute Hochphase hatte es dabei übrigens fast am Ende dieser Erfolgsgeschichte: Allein in den beiden Jahren 1958/59 wurden über 50.000 Stück des Biotars in Springblendenfassung gebaut. Es war halt gleichsam die letzte große Zeit, die eine Spiegelcontax und leider auch eine Exakta als internationale Spitzenkameras erlebt haben.
In der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten wurde das Biotar 2/58 übrigens als preisgünstiges Normalobjektiv bis in die Jahrtausendwende hinein in extrem hohen Stückzahlen unter der Bezeichnung „Helios“ gefertigt und in dieser Konfiguration ist es trotz schwankender Fertigungsqualität auch heute noch wegen seiner Abbildungscharakteristik geschätzt. Wenn das keine Anerkennung für die Konstruktionsleistung eines Willy Mertés ist …
Für Aufnahmen unter den aller-ungünstigsten Lichtverhältnissen wurde im April 1938 noch ein Biotar 1,5/75 mm geschaffen, das erst nach dem Kriege wirklich in größeren Stückzahlen gefertigt wurde und heute zur Legende unter den Portraitobjektiven geworden ist.
Literatur:
Eder, Josef Maria: Ausführliches Handbuch der Photographie, Band I, 4. Teil, Die Photographischen Objektive, 3. Aufl., Halle, 1911.
Flügge, Johannes: Das photographische Objektiv; in: Michel, Kurt [Hrsg.]: Die Wissenschaftliche und angewandte Photographie, Erster Band, Wien, 1955.
Merté, Willy: Bauarten der photographischen Objektive, in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band I, Das photographische Objektiv, Wien, 1932.
Als Standardbestückung für die 16-mm-Schmalfilm-Spiegelreflexkamera AK16 waren neben einem Flektogon 2,8/12,5 mm ein Biotar 1,4/25 und ein Biotar 1,4/50 mm vorgesehen. Für das Biotar 1,4/25 wurde zunächst auf eine Rechnung von Willy Merté aus dem Jahre 1928 zurückgegriffen! Zum 1. September 1955 war aber eine neue Version abgeschlossen worden, die bereits wenige Wochen später in die Serienfertigung ging. Auch für das Biotar 1,4/50 gab es zwei verschiedene Rechnungen. Eine vom 2. Mai 1950 und eine vom 10. September 1955.
Oben: Ein Biotar 2/5,8 cm aus dem Jahre 1950 mit einer schwarz lackierten Aluminiumfassung an einer Kiné-Exakta II. Es gehört zu den letzten Serien, bei denen die Brennweite noch in Zentimetern angegeben war. Ungefähr im Jahresverlauf 1950 wurde diese Größe bei Zeiss Jena alsdann in Millimetern aufgraviert.
Unten: Eine Aufnahme mit dem Biotar 58 mm bei Blende 2,8; 1/1000 sec., Spiegelcontax
Dieses frühe Biotar 1:2 f = 5,8 cm aus dem Jahre 1938 beweist übrigens, daß sehr wohl nachträglich Vergütungsschichten auf bislang unvergütete Objektive aufgebracht wurden, denn es zeigt deutlich den typisch bläulichen Schimmer auf den Glasoberflächen. Aufgrund einer Mitteilung Robert Richters wissen wir zwar, daß zum Zeitpunkt der Herstellung dieses Biotars die Linsenentspiegelung nach dem Verfahren A. Smakulas bereits patentiert und praktisch durchgeführt wurde, sie allerdings "jahrelang nur in den wertvollsten Geräten angewandt" worden ist. [Richter, R.: Die Bedeutung der Zeiss-T-Optik für die Photographie und Projektion; in: Zeiss-Nachrichten, Sonderheft 5, Dezember 1940, S.1.] Jetzt aber, da das Verfahren erprobt und vollständig durchgebildet worden sei, solle die Linsenentspiegelung "allgemeiner in jedem Gerät verwendet werden, in dem sie von Nutzen sein kann." [Ebenda].
Wir können also davon ausgehen, daß die Vergütungsschichten sukzessive ab dem Jahreswechsel 1940/41 auf photographischen Objektiven aufgebracht wurden. Sukzessive deshalb, weil das nicht flächendeckend der Fall war. Manche Objektive wurden vorerst sowohl mit T-Belag als auch ohne geliefert. Genauere Aussagen dazu kann man nicht treffen, da wir uns zunehmend in der Zeit der Kriegsproduktion befinden und der Konsumgüteranteil gegenüber der Rüstungslieferung rasch in den Hintergrund tritt.
Man kann deshalb nicht mit Gewißheit sagen, WANN dieses Biotar vergütet wurde, klar ist nur, daß es nachträglich geschehen sein muß, denn 1938 ist es definitiv nicht so geliefert worden. Daß es wiederum die originalen Gläser aus dem Jahre 1938 sind, die vergütet wurden, ist dadurch gesichert, weil die inneren Linsengruppen fest mit ihrer Gewindehülse verpreßt sind und daher nicht nachträglich von irgendjemand lediglich die Linsen ausgetauscht worden sein können. Das ist schon alles professionelle Arbeit gewesen. Dieses wertvolle Exemplar eines Biotars in seiner schweren, hartverchromten Messingfassung muß seinem Besitzer also lieb und teuer genug gewesen sein, es nachträglich aufwerten zu lassen – Vergütung im doppelten Sinne also.
Es gibt noch ein interessantes Detail zu diesem Biotar zu berichten: Bei dessen Reinigung war mir aufgefallen, daß die Irisblende eine eigentümlich gewölbte Form annahm, wenn man sie schloß. Ich konnte zwar erkennen, daß dies explizit so konstruiert war, der Grund dafür war mir aber zunächst nicht ersichtlich. Nun habe ich allerdings eine Patentschrift gefunden, die diesbezüglich Aufklärung liefert. Wenn man nämlich lichtstarke Objektve abblendet, dann wird das durch das Objektiv durchtretende Licht mit immer kleinerer Apertur abgebildet, während der Flächeninhalt der Blende mit verhältnismäßig großer Apertur zur Abbildung gelagt. Durch Reflexion des Lichtes insbesondere an konkaven Oberflächen von Objektivlinsen wird diese hell erleuchete Blende wie ein Spiegel auf die lichtempfindliche Schicht projiziert, wo sie mehr oder weniger scharf begrenzte helle Flecke erzeugt. Um diese lästige Erscheinung zu mildern, kam man bei Zeiss Jena auf die Idee, die Öffnung der Blende nicht mehr in einer gleichbleibenden Ebene zu anzuordnen, sondern ihre verschiedenen "Öffnungsstadien" entlang der optischen Achse wandern zu lassen [DRP Nr. 591.304 vom 17. März 1933]. Diese aufwendige mechanische Konstruktion konnte freilich sofort wieder ad acta gelegt werden, sobald ab Anfang der 1940er Jahre die Glasoberflächen von Objektiven entspiegelt wurden.
Unten sieht man nun die Apparatur, mit der im VEB Carl Zeiss JENA in den 1950er Jahren die Vergütung auf den Glasoberflächen aufgebracht wurde. Das Aufsublimieren des Belags im Vakuum war sichtlich arbeits- und zeitaufwendig und mußte ganz genau kontrolliert werden. [phot. Wolfgang Schröter (1928-2012), Deutsche Fotothek]
Zum Biotar 58 mm dürfte noch die folgende Mitteilung des VEB Carl Zeiss JENA von Interesse sein:
„Wußten Sie schon…
... daß zur mathematischen Berechnung des bekannten Foto-Objektivs ‚Biotar‘ 1:2, f = 58 mm 480 Berechnungsgänge notwendig waren, die ein Manuskript von 3200 eng mit Zahlen beschriebene Seiten ergaben, an dem 2 Rechner 3 Jahre lang gearbeitet haben? [...]
… daß das bekannte Foto-Objektiv ‚Biotar‘ 1:2, f = 58mm, in der Ausführung mit Springblende für die ‚Exakta Varex‘ aus 85 Teilen besteht?
… daß zur Herstellung dieses Objektivs 1243 Arbeitsgänge und 336 Kontrollarbeitsgänge erforderlich sind?
… daß bei diesem Objektiv für die Lamellen der Irisblende Schräubchen und Niete verwendet werden, von denen etwa 600 Stück in einem normalen Fingerhut Platz finden?
… daß die Schichtdicke des Transparenzbelages vergüteter Foto-Objektive fast 0,0001 mm beträgt?
… daß die durchschnittliche optische Schleifgenauigkeit bei 0,0006 mm liegt?
… daß durchschnittlich etwa 9 Monate vergehen, ehe ein Foto-Objektiv im Rahmen einer Serie fertiggestellt wird?“
[aus: Steiner, Johannes: Fototaschenbuch 1959, Halle, 1958, S. 156 und 256.]
Für uns heute ist besonders interessant, wie lange der Herstellungsprozeß der Objektive in den 50er Jahren gedauert hat – also vom Schmelzen der Gläser bis zur Auslieferung. Die Angaben bei Thiele beziehen sich immer auf das Fassen des ersten Objektivs der Serie bzw. den Beginn der Endmontage. Von den oben angegebenen 1243 Arbeitsgängen wären das also stets die ziemlich späten.
Biotar versus Sonnar – konzerninterne Rivalitäten
Abschließend vielleicht noch ein paar Worte zum Biotartypus schlechthin. Das Biotar 2/58 sticht ja vor allem deshalb hervor, weil es in mehr als 20 Jahren in solch großen Stückzahlen gefertigt wurde. Doch seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre sind Bestrebungen erkennbar, den Biotartyp generell als neuen Standard für lichtstarke Normalobjektive bei Zeiss Jena durchzusetzen und damit ein Gegengewicht zum zahlenmäßig dominierenden Sonnartyp zu schaffen.
An dieser Stelle habe ich versucht, den Werdegang des konkurrierenden Sonnars in knapper Form aufzuzeigen. Dieser Objektivtyp mitsamt seinem Konstrukteur Ludwig Bertele müssen stets vor dem Hintergrund des Konzerngefüges Zeiss Jena – Zeiss Ikon gesehen werden sowie der Geschichte deren Vorgängerfirmen. Denn trotz der Tatsache, daß die Zeiss Ikon eine Kamerabauanstalt "von Jenaer Gnaden" gewesen ist, behielt sich Dresden doch lange Zeit noch eine erstaunliche Selbständigkeit vor. Ablesen kann man das eben unter anderem daran, daß Zeiss-Ikon-Kameras bevorzugt mit den firmeneigenen Sonnaren ausgerüstet wurden – das gilt gleichermaßen für Kleinbild- wie für Schmalfilmkameras. Biotare gab es hier allenfalls zusätzlich. Auffallend ist jedoch, daß, abgesehen vom professionellen Einsatz im Bereich der Kinematographie, Sonnare als Standardbestückung nur in seltenen Fällen für Kameras anderer Firmen geliefert wurden. Was also lichtstarke Normalobjektive betrifft, wurden für Kamerahersteller außerhalb des Zeisskonzerns bevorzugt speziell gerechnete Biotare geschaffen. Solche externen Kamerahersteller waren in der Zwischenkriegszeit allem voran naturgemäß die Ihagee mit ihren Exaktas, ab 1938 aber auch gefolgt von den aufstrebenden Kamera-Werkstätten Niedersedlitz mit ihrer Praktiflex.
Aber auch das oben gezeigte Biotar 2/4 cm für den (nicht "die") Robot aus dem Jahre 1938 ist ein Beispiel für diese Praxis. Obgleich ein Sonnar-Objektiv für diese Kleinbildkamera mit seinen drei Glas-Luft-Grenzflächen damals vielleicht günstiger gewesen wäre, lieferte Zeiss Jena selbstverständlich ein Biotar aus dem eigenen Konstruktionsbüro, statt ein in Dresden entwickeltes Sonnar. Diese Zusammenhänge – man könnte quasi von konzerninternen Animositäten sprechen, die größtenteils noch aus Zeiten der Vorgängerbetriebe herrührten – sind mir erst in den letzten Wochen so recht bewußt geworden. Man kann auf jeden Fall den Eindruck gewinnen, daß man in Jena ungern als bloße Linsenschleiferei für in Dresden entwickelte Objektive gedient hat.
Das gesamte, aus heutiger Sicht verquer anmutende Verhältnis zwischen Dresden und Jena, läßt sich nun besonders plastisch anhand des oben abgebildeten Sonnares 2/4 cm aufzeigen, das doch sehr den Eindruck eines konzerninternen Konkurrenzobjektives hinterläßt. Mit einer Lichtstärke von 1:2,0 und einer Brennweite von 4 cm bot es nicht nur dieselben optischen Daten, sondern erfüllte darüber hinaus auch noch denselben Einsatzzweck: Das Biotar 2,0/4 cm und das Sonnar 2,0/4 cm waren beide Normalobjektive für Kleinbildkameras des Aufnahmeformates 24x24 mm. Das Sonnar wurde für die Tenax II geschaffen, das Biotar für den Robot II. Beide Objektive wurden im selben Jahr konstruiert; das Sonnar am 16. April 1937, das Biotar am 7. Dezember 1937. Zwei Spitzenobjektive also, die quasi dieselbe Aufgabe erfüllten. Ich kann leider nicht umhin, aus diesen Fakten eine eindeutige Rivalität zwischen dem Jenaer und dem Dresdner Konstruktionsbüro des Zeisswerkes herauszulesen. Dazu muß man sich auch noch einmal vergegenwärtigen, wie unglaublich aufwendig das Errechnen eines Objektives in den 30er Jahren gewesen ist. Aber Prestige und Vormachtstellung gegenüber dem konzerninternen Konkurrent scheinen wichtiger gewesen zu sein, als Aufwand und Kosten. Erst äußerer Druck von höchster politischer Seite unter dem Zustand der Kriegswirtschaft hat dazumal diesem Spiel ein Ende setzen können (vergleiche wiederum hier).
Zum Biotar 2,0/4 cm möchte ich abschließend noch ein Wort verlieren; es existieren nämlich zwei grundverschiedene Varianten. Das oben gezeigte, das wie gesagt für den Robot mit seinem kleineren Bildformat 24x24 mm ausgelegt gewesen ist und das am 7. Dezember 1937 gerechnet worden war, sollte keinesfalls mit einem namensgleichen Biotar 2,0/4 cm verwechselt werden, das als Rechnungsabschluß den 28. Dezember 1932 hat und das als eine Art lichtstarkes Weitwinkel für die Contax angeboten wurde. Mehr als 350 Stück wurden von Letzterem aber bis 1935 nicht fabriziert. Das Robot-Biotar war hingegen mit mehr als 16.000 Stück für damalige Verhältnisse ein regelrechtes Massenobjektiv – ja es war bis 1945 noch vor dem Biotar 2/5,8 cm (ca. 4000 Stück) das am meisten hergestellte Biotar für die Kleinbildkamera. Man sieht auch daran wieder, daß sich das Biotar erst nach und nach durchsetzen konnte. Daran hatte, wie bereits erwähnt, die Einführung der Entspiegelungsschichten einen ganz bedeutenden Anteil.
Außerdem: Viele Contax-Anwender und Sammler sind verwirrt, weil es später noch ein Biotar 2/4,25 cm gegeben hat. Lassen Sie sich nicht durcheinander bringen! Es handelt sich um haargenau dasselbe Biotar vom 28. Detember 1932, das ich oben bereits als Contax-Weitwinkel erwähnt habe. Wie wir aufgrund einer Mitteilung Willy Mertés wissen dürfen, hat es nämlich im Deutschen Reiche zum 1. Januar 1938 eine Festlegung gegeben, nachdem der auf dem Objektiv aufgravierte Wert der Brennweite nicht mehr als 6% vom Meßwert der tatsächlichen Brennweite abweichen durfte [Vgl. Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 15f.]. Aus diesem Umstand heraus ist leicht erklärbar, weshalb die letzten 250 im Jahre 1938 hergestellten Contax-Biotare nunmehr mit der "ehrlichen" Angabe 4,25cm graviert worden sind, obgleich sich am optischen Aufbau nichts geändert hatte.
Die Rivalität "Sonnar versus Biotar" ist übrigens sogar in der Nachkriegszeit noch einmal aufgeflammt. Für die neue Spiegelcontax war um 1948 in Dresden eigentlich ein passendes Sonnar 2/5,7 cm konstruiert worden. Es wurde auch in der Zeiss-Ikon-eigenen Optikfertigung im Betriebsteil Dresden-Reick (Mügelner Straße 40) in kleinen Stückzahlen hergestellt. Die Argumentation des VEB Zeiss Ikon lag seinerzeit darin, daß mit dem Namen "Contax" seit langer Zeit auf dem Weltmarkt der Name "Sonnar" verbunden sei und man aus Sicht der Werbung nur schwer den Umstieg auf das Biotar vermitteln könne. [Vgl. Thiele, Fotoindustrie, 2013, S. 27]. Das Problem lag aber darin, daß Harry Zöllner in einem Aufsatz von 1949 ohne großen Interpretationsspielraum nachgewiesen hatte, daß für Spiegelreflexkameras das Biotar dem Sonnar weit überlegen ist. Damit war für Zeiss Ikon das Projekt Sonnar 2/5,7 cm gestorben. Trotz seines sehr hohen Preises, der aufgrund entsprechender Zollaufschläge selbst den US-Export der DDR-Kameras nachteilig beinflußte, wurde das Biotar 2/58 mm in der Folgezeit auch für die Spiegelcontax zur Spitzenobjektivausstattung.
Marco Kröger
letzte Änderung: 1. Oktober 2022
Yves Strobelt, Zwickau
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