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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
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Planar und Biotar
Inbegriffe des lichtstarken Gaußtyps

Hochlichtstarke Normalobjektive wie das Biotar oder das zeitgenössische Xenon von Schneider sorgten ab etwa 1930 für neue Impulse in der Photographie und in der Kinematographie. Die damals sprunghafte Verkleinerung der Aufnahmeformate durch das Aufkommen des Kleinbildes und des Schmalfilmes ließ eine Verwendung derart lichtstarker Systeme für die bildmäßige Photographie überhaupt erst sinnvoll werden. Galt seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein anastigmatisch auskorrigiertes Objektiv mit einer maximalen Öffnung um 1:4 als ausgesprochen lichtstark, so hatte sich drei Jahrzehnte später diese Grenze mit Lichtstärken bis 1:1,4 um ganze drei Größenordnungen nach oben verschoben. Daß dies quasi auch heute noch der Oberwert für praktisch verwendbare Photoaufnahmeobjektive ist, zeigt, wie weit man vor etwa 100 Jahren bereits gekommen war.
1. Rudolphs Planar und der Kampf gegen die Sphärochromasie
Dabei war das Fundament für eine derartige Anhebung der Lichtstärken bereits um das Jahr 1900 gelegt worden. Wenn auch in den 20er und 30er Jahren das Erzielen sehr lichtstarker Objektive zunächst anhand der Weiterentwicklung des Triplettyps versucht wurde (Ernemann Ernostar, Leitz Hektor, Astro Pantachar u.a.), so haben sich in der Folgezeit auf diesem Gebiet fast ausschließlich Abwandlungen des sogenannten Doppel-Gauß als Grundlage durchgesetzt. Und für diese Objektivbauform spielt historisch gesehen das Planar-Objektiv von Paul Rudolph eine zentrale Rolle. Mit seinem Reichspatent Nr. 92.313 vom 14. November 1896 fällt Rudolph nämlich die Priorität zu, als erster das sogenannte Gaußobjektiv mit seinen vielversprechenden Korrektionsmöglichkeiten im Hinblick auf die Beseitigung der Farbfehler für den Einsatzfall des photographischen Objektivs brauchbar gemacht zu haben, indem er gleichzeitig den bei diesem Typus bislang nicht beherrschbaren Astigmatismus korrigieren konnte.

Paul Rudolph in etwa zu der Zeit, als er am Planar arbeitete.
Doch was bedeutet dieser in der Phototechnik oft vorkommende Begriff "Gauß-Objektiv" eigentlich? Er steht zunächst für eine besondere Bauform eines der wichtigsten Konstruktionselemente der Optik: den Achromaten. Dieser gestattet, die stets mit der Brechung des Lichtes einhergehende Zerlegung in dessen Spektralfarben im Zaume zu halten. Achromate waren schon lange vor der Verbreitung der Photographie bekannt und wurden insbesondere beim Bau von Fernrohren eingesetzt, da hier Farbsäume aufgrund der starken Vergrößerung der Abbildung besonders störend in Erscheinung traten. Dabei lassen sich diese Achromate grob in zwei große Gruppen einteilen: Einmal in solche nach Joseph von Fraunhofer und zweitens in diejenigen nach Carl Friedrich Gauß [Vgl. Rohr, Moritz von: Ueber das Planar; in: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 12/1898, S. 70ff].

Der Fraunhofer-Achromat, bei dem durch geeignete Glaswahl die beiden Linsen miteinander verkittet werden konnten, war die Grundlage für den Aplanat-Typus gewesen, der die Photoaufnahmeobjektive in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stark dominiert hatte. Mit zwei symmetrisch zu einer Mittelblende gegeneinander gestellten derartigen Achromaten konnten Farblängs- und Farbquerfehler sehr gut behoben werden, es blieben jedoch Reste an sphärischen Fehlern. Ferner ergaben sich eklatante Randverzerrungen aufgrund von Bildfeldwölbung und Astigmatismus, die den ausnutzbaren Bildwinkel stark einschränkten. Paul Rudolph war es in den Jahren 1889/90 gelungen, mit einem völlig asymmetrisch aufgebauten Objektiv zum ersten Male dieses problematische Auseinanderlaufen der Bildschalen zu eliminieren sowie beide Bildschalen stark abzuflachen. Doch so revolutionär sein Protar-Anastigmat auch gewesen war – bald zogen konkurrierende Firmen mit sogenannten Doppelanastigmaten nach. Dabei handelte es sich gewissermaßen um auf Beseitigung des Astigmatismus getrimmte Aplanate. Paul Rudolph mußte die Erfahrung machen, daß Konkurrenten wie namentlich Emil von Höegh zum Teil unter Ausnutzung seiner Korrekturprinzipien Doppelanastigmate wie das Dagor entwickelt hatten und sich die Herstellerfirma Goerz damit sogar erfolgreicher am Markt placieren konnte. Besonders schwerwiegend scheint aber gewesen zu sein, daß dadurch die weitere patentrechtliche Absicherung dieses Objektivtyps für das Zeisswerk verbaut war.

Für Paul Rudolph scheint dies der Anlaß gewesen zu sein, Mitte der 1890er Jahre den Fraunhofer-Typ des Achromaten als Grundlage eines Doppelobjektives gänzlich zu verlassen und das Augenmerk dagegen auf den besagten Gauß-Achromaten zu richten. Dieses im Jahre 1817 erstmals veröffentlichte Fernrohrobjektiv zeichnete sich durch das äußerliche Charkteristikum aus, daß sowohl die Sammel- als auch die Zerstreuungslinse jeweils meniskenförmig durchbogen waren. Carl Friedrich Gauß' großes Verdienst lag aber vielmehr darin, daß er mit seinem Achromaten erstmals das Ausbrechen des Kugelgestaltsfehlers über das Lichtspektrum hinweg in den Griff bekommen hatte. Dieses schwerwiegende Problem der farbabhängigen Abweichung der sphärischen Aberration hatte die Anhebung der Lichtstärke von Objektiven über ein gewisses Maß hinaus bislang stets vereitelt. Das Problem wird in Fachkreisen Sphärochromasie oder auch Gaußfehler im engeren Sinne genannt. Wenn auch der Öffnungsfehler eines lichtstarken Objektivs für den sichtbaren Bereich im Gelbgrün gut auskorrigiert sein mag, so kann gleichzeitig die Korrektion für rotes oder blaues Licht vollkommen unzureichend ausfallen. Auch die sphärische Aberration schiefer Büschel kann bei unterschiedlichen Lichtfarben stark ausbrechen. Diese als Farbquerkoma bezeichnete Erscheinung gehört daher zum Gaußfehler im weiteren Sinne. Die hinter diesen Abbildungsfehlern stehenden Zusammenhänge sind für den Laien kaum noch verständlich, müssen aber vom Konstrukteur sehr genau beachtet werden, wenn er lichtstarke Objektive schaffen möchte.

Der phototechnischen Entwicklung um etwa zwei Jahrzehnte voraus: Ein Planar 3,8/160 mm mit der Seriennummer 26.728 aus dem Jahre 1898. Bild: Sebastian Philipp Manke
Genau diese Aussicht auf eine Anhebung der Lichtstärke weit über das bei Anastigmaten bislang erreichte Niveau hinaus muß der Ansporn für Paul Rudolph gewesen sein, seine bisherigen Arbeiten zum Protar und zu den Satz-Anastigmaten ruhen zu lassen und sich gänzlich auf das Gauß-Objektiv zu konzentrieren. Freilich war Paul Rudolph nicht der erste, der auf die Idee gekommen war, zwei zu einer Mittelblende symmetrische Gauß-Achromate als Grundlage für ein Photoobjektiv herzunehmen. Nennenswerte Erfolge waren jedoch bislang damit nicht erzielt worden. Schließlich lag die Schwierigkeit darin, gleichzeitig die für Photoobjektive nötige anastigmatische Bildfeldebnung zu erreichen. Während mit einem Fernrohrobjektiv dem speziellen Verwendungszweck entsprechend nur ein sehr enger Feldwinkel visuell betrachtet wird, muß in der Photographie der Gegenstand unter einem möglichst großen Bildwinkel mit gleichmäßiger Schärfe bis in die äußeren Randbereiche des Bildfeldes auf die ebene Photoplatte geworfen werden. Paul Rudolph gelang es, trotz der hohen Lichtstärke seines neuen Planars perfekter als je zuvor die sogenannte meridionale und sagittale Bildschale einander anzunähern und gleichzeitig das Bild so abzuflachen, daß es gewissermaßen plan auf der Bildebene zu liegen kam. Daher schließlich auch der Name dieses neuartigen Objektives.

Oben Rudolphs Planar-Patent Nr. 92.313 von 1896. Bei den Zeichnungen ist links die Grundform des Gauß'schen Fernrohrobjektivs gezeigt, wobei anzumerken ist, daß beim ursprünglichen Gauß-Achromaten sowohl Positiv- wie Negativlinse Meniskenform aufwiesen.

Damit hatte Paul Rudolph erstmals das Gauß-Objektiv sowohl auf eine ausgezeichnete anastigmatische Bildfeldebnung, als auch auf eine gute sphärische Korrektur gebracht. Die Erfüllung der Sinusbedingungen, die in den Einzelhälften zunächst außer Acht gelassen worden war, erreichte er dadurch, daß er zwei solcher identischen Gauß'schen Achromate symmetrisch zu einer Mittelblende anordnete [Vgl. Rohr, Moritz von: Theorie und Geschichte des photographischen Objektives, 1899, S. 390.]. In der Fachsprache werden dafür die Ausdrücke homologe Glieder bzw. holosymmetrische Anordnung verwendet. Mit dieser astigmatischen Korrektur war die Voraussetzung für das Erreichen eines für photographische Zwecke ausreichenden Bildwinkels gegeben sowie mit dieser sphärischen Korrektur die Anhebung der Lichtstärke auf ein bei Anastigmaten bislang nicht gekanntes Maß. Blieb jedoch die Korrektur der farbabhängigen Fehler. Um wirklich eine vollständige Ausnutzung des großen Potentials seines Gauß-Doppelobjektives sicherzustellen, hatte sich Rudolph im Frühjahr 1896 noch einen speziellen Kunstgriff einfallen lassen: seine hyperchromatische Zerstreuungslinse [DRP Nr. 88.889 vom 17. März 1896].

Im Grunde genommen fehlten ihm damals die späteren Tiefflint-Gläser, die bei hoher Dispersion eine kleine Brechzahl aufweisen. Die Einführung einer Vielzahl neuartiger Glasarten durch die Schott'sche Fabrik in den 1890er Jahren hatte jedoch bereits zu der glücklichen Lage geführt, daß auf einmal für eine gegebene Brechzahl Gläser mit unterschiedlichen Farbzerstreuungen verfügbar waren und umgekehrt. Um sein Gauß-Doppelobjektiv achromatisieren zu können, ohne jedoch dabei die für die sphärische und astigmatische Korrektur gefundene Linsenform der inneren Zerstreuungslinsen antasten zu müssen, zerlegte Paul Rudolph diese jeweils in eine Sammel- und eine Zerstreuungslinse, die miteinander verkittet wurden. In dem dabei gewonnenen Kittglied kombinierte er zwei Glasarten, die zwar dieselbe Brechzahl aufwiesen, aber völlig unterschiedliche Farbzerstreuungen. Das führte dazu, daß sich dieses Kittglied in Bezug auf die Brechkraft wie eine Einzellinse verhielt, mit einer Änderung der Durchbiegung der entstehenden Kittfläche sich jedoch dessen chromatische Wirkung in weiten Grenzen variieren ließ.
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Wie aus der Abbildung oben zu erkennen ist, konnte auf diese Weise beim neuen Planar die farbabhängige Variation des Öffnungsfehlers für damalige Verhältnisse stark zurückgedrängt werden. Einerseits war dies die Grundvoraussetzung für das Erzielen eines mit Öffnungen von 1:3,8 oder gar 1:3,6 seinerzeit ungewöhnlich lichtstarken Anastigmates. Wurde aber andererseits auf übermäßige Lichtstärke verzichtet, so konnte der neue Planar-Typ durch ein Zurückdrängen des sogenannten sekundären Spektrums auf ein Maß der Farbkorrektur gebracht werden, das erstmals apochromatische Objektive für die damals äußerst bedeutsamen Reproduktionszwecke ermöglichte (siehe folgenden Abschnitt).

Ein Planar 4,5/50 mm etwa im Frühjahr 1900 hergestellt. Diese für damalige Verhältnisse sehr kurze Brennweite deutet auf eine Anwendung beispielsweise im mikrophotographischen Gebiet hin.
Mit diesen Eigenschaften war das Planar jedoch seiner Zeit weit voraus. Als Universalobjektiv eignete es sich damals an der Wende zum 20. Jahrhundert aus verschiedenen Gründen nicht. Moritz von Rohr urteilte im Jahre 1899 in seiner etwas verklausulierten Art:
"Theoretisch bedeutet die Konstruktion des Planars eine gleich einschneidende Neuerung, wie es die der Anastigmatdoublets [vom Dagor-Typ] war; nur praktisch wird sich das nicht derartig fühlbar machen, da sich in der Zwischenzeit durch die Einführung der Anastigmatkonstruktionen die Qualität der besseren marktfähigen Objektive ganz ungemein gehoben hat" [Rohr, Moritz von: Theorie und Geschichte des photographischen Objektives, 1899, S. 391.].
Mit anderen Worten: Es war damals schon klar, daß das Planar nicht als Massenobjektiv insbesondere für den aufkommenden Markt der Amateurphotographie geeignet ist. Als Anzeichen für die herausragende Stellung Paul Rudolphs innerhalb der damaligen Photooptik steht die Tatsache, daß er diese Marktlage richtig zu analysieren vermochte und bereits im Jahre 1902 mit dem Tessar den nächsten Meilenstein schuf, der sich in den folgenden Jahrzehnten als ausgezeichnetes Universalobjektiv erweisen sollte.

Bei dieser interessanten Meldung in Eders Jahrbuch 1898, als das Planar in den Handel gekommen war, fällt der zweite Satz auf, der deutlich macht, daß über die begrenzte ökonomische Verwertbarkeit der Neukonstruktion von Anfang an völlige Klarheit herrschte und die Herstellerfirma nicht erst aus schleppenden Verkaufszahlen heraus darauf zu schließen brauchte. [aus: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 12/1898, S. 343.].

Oben: Nachdruck der Vorstellung des neuen Planars vom August 1897 in der Fachzeitschrift Photographische Correspondenz Nr. 445 vom Oktober 1897. Interessant, daß man mit diesem neuen Objektiv bei Zeiss erst an die Öffentlichkeit gegangen ist, nachdem im Monat zuvor das Patent erteilt worden war. Ebenso fällt auf, daß man das Planar-Patent erst anmeldete, nachdem wenige Tage zuvor das Patent zur hyperchromatischen Linse erteilt worden war. Diesmal wollte man sichergehen, daß kein Konkurrent Rudolphs Korrekturprinzipien "wegschnappt" (siehe hier).

Oben der Nachtrag des Planars zum Katalog der photographischen Objektive der Firma Zeiss Jena von 1897 mit noch nie gesehenen Rekordwerten bei den erreichten Öffnungsverhältnissen.
2. Das Apochromat-Planar
Aber noch bevor das Tessar den Höhepunkt seiner Schaffensperiode bei Zeiss einläutete, hatte Paul Rudolph bereits um das Jahr 1900 auf Basis seines Planartyps einen Erfolg in der Beseitigung der sphärochromatischen Fehler erreichen können, der heute leider beinah vergessen ist. Zu den herausragenden Eigenschaften des Planars als Prototyp für den Doppelgauß mit verkitteten inneren Zerstreuungslinsen gehörte, wie oben bereits gezeigt, daß sich eine sehr schlanke Kurve für die sphärische Aberration erzielen ließ mit einer sehr geringen Ausprägung der sonst oft zu verzeichnenden sphärischen Zwischenfehler (der sogenannten "Zonen"). Das war die Voraussetzung dafür, daß mit diesem Doppelgauß jene außergewöhnlich hohen Lichtstärken zu erzielen waren, ohne daß derartige Zonenfehler das überöffnete Objektiv zu einem bloßen Weichzeichner machten. Dieses Potential zur Begrenzung der sphärische Aberration führte dazu, daß bereits das "normale" Planar bei leichter Abblendung als Reproduktionsobjektiv eingesetzt werden konnte, weil es Einzelheiten im Original mit einer hohen Strichschärfe wiedergeben konnte. Dieses Spezialgebiet der Photographie hatte bis zum allmählichen Durchsetzen der elektronischen Bildverarbeitung in den 1960er und 70er Jahren eine enorme Bedeutung, da die photomechanische Reproduktion quasi die Grundvoraussetzung für die gesamten Druckverfahren bildete. Diesem Anwendungsbereich kam auch die ausgezeichnete astigmatische Bildfeldebnung des Planars zugute, denn schließlich mußten die flachen Vorlagen auch bis in die äußersten Randzonen kompromißlos scharf wiedergegeben werden.
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Bei den extremen Anforderungen, welche die Reproduktionsphotographie an die Abbildungsgüte der damaligen Objektivs stellte, machte sich aber ein verbliebener Restfehler bemerkbar: Normalerweise wurden Objektive für zwei Farben des sichtbaren Spektrums streng korrigiert und die verbliebenen Farben führten im Bild zu leichten Farbsäumen, die sekundäres Spektrum genannt werden. Dieser Restfehler ergab sich daraus, daß bei bisher üblichen Glaspaaren die Farbzerstreuung der gegensätzlich brechenden Linsen eines Achromaten nicht proportional zueinander verlief. Diese Situation änderte sich schlagartig, als die Schott'sche Glasfabrik Ende der 1890er Jahre sogenanntes Fernrohr-Flint liefern konnte, das einen stark abweichenden Verlauf der Dispersion zeigte [Vgl. Rudolph, Paul: Das Planar mit vermindertem secundären Spectrum; in: Photographische Correspondenz, 1902, S. 193.]. Später wurde für diese Glasarten die Gruppe der Kurz-Flinte neu geschaffen. Mit ihnen wurde es nun möglich, das Planar apochromatisch auszukorrigieren. Nach der von Ernst Abbe im Jahre 1886 geschaffenen Begriffsdefinition wurde von einem Apochromat nicht nur die Beseitigung des sekundären Spektrums (also der chromatischen Längs- und Querabweichung) abverlangt, sondern auch die Korrektur der farbabhängigen Variation der sphärischen Aberration (Sphärochromasie) für wenigstens zwei Farben.

Diese Apochromat-Planare wurden aber zunächst nicht offiziell, sondern lediglich auf besondere Bestellung gefertigt, weil die regelmäßige Versorgung mit den neuen Gläsern nicht sogleich sichergestellt werden konnte. Nachdem dieses Hindernis jedoch beseitigt worden war, erfolgte ab dem Frühjahr 1901 die reguläre Aufnahme dieses Objektivs in den Katalog der Firma Zeiss [Vgl. Harting: Ueber die Theorie des Apochromatcollineares; in: Photographische Korrespondenz, 1901, S. 522ff.]. Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, daß der Konkurrent Voigtländer ab Herbst 1900 ein von Hans Harting konstruiertes Apo-Colliniear 1:9 lieferte [Vgl. ebenda S. 195.]. Als Reaktion auf die Vorstellung dieses Apo-Collinears im Jahre 1901 folgte daher diejenige des Apo-Planars gleich im Jahr darauf. Oben sind diese beiden Objektive im Hinblick darauf gegenübergestellt, wie die Behebung der Sphärochromasie gelungen war [Nach Rudolph, Paul: Das Planar mit vermindertem secundären Spectrum; in: Photographische Correspondenz, 1902, S. 201.]. Trotz des bereits für damalige Verhältnisse sehr guten Leistungsstandes des Apo-Collinears konnte Paul Rudolph mit seinem Apo-Planar ein Konkurrenzerzeugnis schaffen, das gewissermaßen gänzlich von sphärischen Zwischenfehlern befreit werden konnte. Die Brennpunkte aller vier Farben drängten sich in einem Bereich zusammen, der nicht mehr als 1 Promille von der besten Einstellebene in Achsennähe abwich. Bis zu einer Einfallshöhe von etwa 6 mm entsprechend einer Abblendung auf f/8 blieb das auch so, um bei voller Öffnung bis auf 3 Promille anzuwachsen. Das war bei einem anastigmatisch auskorrigierten Objektiv bislang unerreicht.

Neben der Reproduktionsphotographie fand das neue Apo-Planar 1:6,3 aber auch in der Astrophotographie nun eine bevorzugte Anwendung, da hier das Erzielen allerfeinster Zerstreuungsfiguren die Voraussetzung zur meßtechnischen Auswertung der Sternaufnahmen bildete. Im Bereich der astronomischen Beobachtung waren bei Zeiss unter Max Pauly zuvor schon große Fortschritte durch apochromatisch korrigierte Fernrohrobjektive erzielt worden. Es ist verständlich, daß in der Astro-Photographie keine hohen Stückzahlen dieser Apo-Planare absetzbar waren und selbst für die Repro-Photographie wurden kurze Zeit später die deutlich günstigeren Apo-Tessare geschaffen, die bei Zeiss Jena bis Ende der 60er Jahre gefertigt wurden und im Gegensatz zum Apo-Planar ganz beachtliche Stückzahlen erreichten.
Planare hingegen, die in Form von achromatischen und apochromatischen Aufnahmesystemen an die Grenzen des damals Machbaren gingen, fanden zunächst kaum Verbreitung. Es sollten weitere drei Jahrzehnte vergehen, bis das Doppelgaußobjektiv mit verkitteten inneren Zerstreuungslinsen, wie es Paul Rudolph in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts geschaffen hatte, sukzessive zum zentralen Konstruktionsprinzip aller lichtstarker Hochleistungs-Anastigmate werden wird.
3. Zwischen Planar und Biotar – auf der Suche nach dem Anschluß an die Spitzenposition
Auf diese sehr bescheidene Marktbedeutung seines Doppelgauß reagierte Paul Rudolph also unmittelbar nach Fertigstellung des Apo-Planars mit der Entwicklung seines Tessars. Doch zu jenem Zeitpunkt, als sich mit dieser Triplet-Variante endlich der große wirtschaftliche Durchbruch für das Zeisswerk auf dem Sektor der Photoaufnahmeobjektive einstellte, war das Verhältnis zwischen dem Begründer der Abteilung Photo und seinem Arbeitgeber bereits zerrüttet. Schon das Planar hatte Paul Rudolph klar werden lassen, daß es für ihn keine finanzielle Teilhabe mehr an den Markterfolgen seiner Objektive geben wird, so wie dies bislang für all seine Protar-Abwandlungen explizit in seinem noch mit Ernst Abbe geschlossenen Arbeitsvertrag vereinbart war. Mit dem Tessar wurde diese Erkenntnis nun endgültig zementiert. Zwischen den Entwicklungsarbeiten von Planar und Tessar lag zudem das mit dem kurzlebigen Unar verbundene großes Wagnis Paul Rudolphs, seine Einnahmen durch ein Engagement im Kamerabau verbessern zu wollen. Der für damalige Verhältnisse sagenhaft kostspielige Bankrott des Palmos-Kamerawerkes mußte letztlich von Rudolphs Arbeitgeber aufgefangen werden, was das Verhältnis beider Parteien naturgemäß weiter verschlechterte. Die folgenden fast zehn Jahre müssen dann eine Qual für beide Seiten gewesen sein, die darin zum Ausdruck kommt, daß der wohl innovativste Objektivkonstrukteur seiner Epoche seine Innovationstätigkeit fast vollständig verweigerte. Erst zum Jahresende 1910 gelang es schließlich, die unglückselige vertragliche Bindung zwischen Carl Zeiss Jena und Dr. Paul Rudolph endgültig zu lösen.
Während also zur selben Zeit konkurrierende Firmen ihre Objektivkonstrukteure zu Betriebsdirektoren emporsteigen ließen, gefiel sich der knausrige und wenig dankbare Zeiss-Konzern darin, diesen genialen Mann, der die hauseigene Photoabteilung gegründet und immerhin zwanzig Jahre geleitet hatte, nicht nur gänzlich loszuwerden, sondern ihn auch erfolgreich kaltzustellen. Sein mit Zeiss im Sommer 1889 abgeschlossener Arbeitsvertrag untersagte Paul Rudolph schlichtweg jede Beschäftigung bei irgendeinem Konkurrenzunternehmen auf zehn Jahre nach dem Ausscheiden bei Zeiss und die Jenaer Unternehmensleitung pochte auch vehement auf die Einhaltung dieser Vertragsklausel. Dem gerade erst 52-jährigen Paul Rudolph blieb daher nichts weiter übrig, als sich mit seiner bescheidenen Pension ins Privatleben zurückzuziehen, und zwar auf das Gut "Grün" bei Lengenfeld im Vogtland, das er im selben Jahr erworben hatte. Daß Zeiss in den folgenden Jahrzehnten den weltweit bekannten Markennamen Planar für Weiterentwicklungen des Doppelgauß-Typs gänzlich fallen ließ und stattdessen den Markennamen Biotar einführte, kann durchaus als Anzeichen dafür interpretiert werden, wie sehr für Paul Rudolph für die Firma zur regelrechten Persona non grata geworden war. Über diese ziemlich schäbigen Hintergründe wird man aus den offiziellen Zeiss-Publikationen freilich kaum etwas erfahren.
Dabei dürfte selbst Experten heute kaum noch bekannt sein, welchen verworrenen Ursprung wiederum der Markenname Biotar in sich birgt. Der Konstrukteur Moritz von Rohr (1868 bis 1940), der bei Zeiss eigentlich der Fachmann für medizintechnische Geräte und Brillen war, hatte bereits 1906 ein lichtstarkes Mikroskopobjektiv 1:1,8 entwickelt, das er vom Petzvaltyp abgeleitet hatte und das er auf einen vergleichsweise geringen Astigmatismus trimmen konnte [DRP Nr. 186.473 vom 10. Juli 1906]. Es drängt sich nun der Eindruck auf, daß der Zeiss-Konzern damals gerne Moritz von Rohr als nahtlosen Ersatzmann für den geschassten Paul Rudolph gesehen hätte. Doch Ausnahmetalente fallen nicht einfach vom Himmel – zumal zu jener Zeit für die Schaffung photographischer Objektive ein heute nicht mehr vorstellbares Maß an Erfahrung und Einfühlungsvermögen nötig war. Paul Rudolph war mindestens so sehr ein kunstvoller Schöpfer wie er mathematischer Handwerker gewesen ist.
3.1 Das Petzval-Biotar (II) (ab 1911)
Der Zeiss-Konzern erwartete nun offenbar von Moritz von Rohr, daß dieser sein vielversprechendes Mikroskopobjektiv zu einem lichtstarken Universalobjektiv für das neue Lichtspielwesen weiterentwickeln würde, denn dieses Spezialgebiet erlebte damals – kurz vor dem Ersten Weltkrieg – einen enormen Aufschwung. Für derartige Anwendungen in Aufnahme und Projektion mußte jedoch ein ausreichend großer Bildwinkel erreicht werden, was durch den verbleibenden Restbetrag an Bildfeldwölbung bei seinem Mikroskop-Objektiv von 1906 vereitelt wurde. Um diesen Fehler zu beheben, griff von Rohr nun im Jahre 1911 auf eine sogenannte Smyth'sche Linse zurück, mit der er das Bildfeld der Petzval-Konstruktion ebnen konnte. Und dieses neue, vielversprechende lichtstarke System wurde jetzt als Biotar vermarktet [Vgl. Rohr, Moritz von: Das Biotar, ein Projektionssystem mit besonders großer Öffnung und ebenem Felde, Zeitschrift für Instrumentenkunde, 9/1911, S. 265-270.]. Doch das Bestreben, dieses Biotar zur Zeiss'schen Universallösung für Kinoprojektoren und Kinokameras umzumünzen, stellte sich schon bald in der Praxis als illusorisch heraus, da diese Konstruktion aufgrund der Smyth'schen Linse eine viel zu kurze Schnittweite hatte, um mit den entsprechenden Geräten kompatibel zu sein. [Vgl. dazu Merté, Willy: Bauarten der photographischen Objektive, in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band I, Das photographische Objektiv, Wien, 1932, S. 325 sowie Merté, Willy: Zeiss Index of Photographic Lenses, 1948, S. 29.].

Die mehr als verwirrende Nomenklatur bei Zeiss, daß die zweite Besetzung des Namens "Biotar" ausgerechnet als Biotar III bezeichnet wurde (siehe Abschnitt 3.2), läßt als einzige logische Schlußfolgerung zu, daß das Ausgangsobjektiv von 1906 als Biotar I und das von 1911 als Biotar II angesehen wurde. Dies wiederum ergibt nur vor dem Hintergrund einen Sinn, daß diese Nummerierung erst im Nachhinein geschaffen wurde, nachdem allein das Gaußtyp-Biotar (siehe Abschnitt 3.3) erfolgreich geworden war. Auf der oben gezeigte Karte Nr. 225 aus der Zeiss'schen Datenblattsammlung mit dem Titel "Biotar 1:1,8 f = 8,5 cm mit Zusatzlinse" ist gut die Smyth'sche Linse zur Bildfeldebnung zu sehen. Leider sind jedoch durch die Mikroverfilmung die Kurven für Kugelgestaltsfehler und Astigmatismus nicht mehr erkennbar, dafür jedoch im linken Teil der Seite die entsprechenden Zahlenwerte.
Ziemlich genau zehn Jahre später ist die unten gezeigte Karte Nr. 564 der Zeiss-Datensammlung entstanden, die uns vor Augen führt, daß Willy Merté (es kommt sonst kaum ein anderer in Frage) im Jahre 1921 immernoch an diesem Biotar auf Petzval-Basis laboriert hat, um zu einem lichtstarken Objektiv 1:1,8/5 cm zu gelangen, wobei bemerkenswerter Weise auf die bildebnende Zusatzlinse wieder verzichtet wurde.

Oben das von Moritz von Rohr im Jahre 1911 in seinem Aufsatz veröffentlichte Achsenschnittbild seines Biotars. Ihm war es zwar seinerzeit gelungen, den Petzval-Typ endlich vom Astigmatismus zu befreien, doch die zusammengelegten sagittalen und meridionalen Schalen waren nach wie vor durchwölbt (siehe Koordinatensystem links). Das war für die Verwendung als Mikroskopobjektiv verschmerzlich. Durch Nachschalten einer sogenannten Smyth'schen Linse, die er in unmittelbarer Nähe zur Bildebene anordnen mußte, um wirksam zu sein, war die für photographische Zwecke unabdingliche Behebung dieser Bildfeldwölbung erreicht (Koordinatensystem rechts). Das schränkte jedoch die praktische Anwendung an Kinogeräten stark ein, denn dort wo die Zusatzlinse hätte placiert werden müssen, befanden sich bei den Kameras und Projektoren zwangsläufig die Greifersysteme und die Sektorenblenden.
3.2 Das Triplet-Biotar III von 1923
Die Bezeichnung Biotar verweist eindeutig auf den diesem Objektiv zugedachten Verwendungszweck für lebendige Bilder (so wie sie durch das Bioskop von Max Skladanowsky eingeführt worden war). Und da dieses Problem akut blieb, daß nämlich speziell für Kinoaufnahmezwecke aufgrund der durch die Bildwechselzahl der Kamera festgelegten Belichtungszeit ganz besonders lichtstarke Objektive nötig waren, wurde nach dem Ersten Weltkrieg auch bei Zeiss weiter in diesem Segment geforscht. In der Abteilung Photo hatte mittlerweile Willy Merté (1889 bis 1948) die Lücke gefüllt, die Paul Rudolph seit 1910 offengelassen hatte. Auch wenn wir heute wissen, daß Merté zu den talentiertesten Objektivkonstrukteuren aller Zeiten zu zählen ist, hatte er zunächst mit starken Schwierigkeiten zu kämpfen, den richtigen Ansatz für ein solches Objektiv zu finden. Während sich Paul Rudolph zur gleichen Zeit mit seinem Plasmat-Typus wieder dem (quasi)symmetrischen Doppelobjektiv zuwandte, versuchte sich Willy Merté zunächst am Grundtyp des Cooke-Triplets, das er mit Verkittungen und Zusatzgliedern erweiterte. In seiner letzten Zusammenfassung der Zeiss'schen Sammlung an Photoobjektiven, die noch in seinem Todesjahr 1948 veröffentlicht (und 1949 vom damaligen "Air Documents Research Center" der britischen und amerikanischen Armee ins Englische übersetzt) wurde, ordnete Willy Merté selbst seine Neuentwicklung unter der Rubrik Hektor-Typus ein.

Aus diesem "Zeiss Index of Photographic Lenses" geht hervor, daß dieser Triplet-Abkömmling mit der Lichtstärke 1:1,8 bei Zeiss nun als Biotar III bezeichnet wurde. Leider sind ausgerechnet die oben genannten Karten 670ff nicht in der Archivüberlieferung des heutigen "Defense Technical Information Centers" (DTIC) erhalten geblieben, wohl aber diejenige eines Versuchsobjektivs Nr. 6 aus dem Jahre 1922 auf Karte Nr. 599 (s.u.), sowie zwei Versuchsobjektive Nr. 2 und Nr. 3 aus dem Jahre 1923 auf den Karten 606 und 607.


Ein Versuchsobjektiv V1922/6 für das Biotar III mit den Daten 1,95/7,5 cm, das von den Arbeiten Willy Mertés aus dieser Zeit zeugt. Unten die Zeichnung aus dem Patent DE404.805.

Aus den hier zu sehenden Linsenschnittbildern läßt sich eindeutig der Schluß ziehen, daß dieses Biotar III identisch mit dem im Reichspatent Nr. 404.805 vom 2. August 1923 geschützten Aufbau ist. Über diesen berichtete Merté im Jahre 1924 auch in einem seiner ersten Aufsätze in der Fachpresse [Merté, Willy: Mitteilungen über einige neue Lichtbildlinsen, Centralzeitung für Optik und Mechanik, Nr. 45/1924, S.63.]. Doch dieses Biotar III, dessen Bildwinkel kaum 30 Grad zu überschreiten vermochte, war weit entfernt von einer adäquaten Antwort des Zeisswerkes auf hochlichtstarke Objektive jener Zeit wie Plasmat und Ernostar und kam daher nie in den Handel. Der Ansatz, Tripletobjektive zu erweitern um zu höheren Lichtstärken zu gelangen, führte Merté zwar ab 1925 noch einmal bei seinem Biotessar fort, das als Normalobjektiv 1:2,8 für großformatige Kameras gedacht war, aber auch diese Konstruktion verschwand sehr bald wieder vom Markt.
3.3 Der Schritt zum Gaußtyp-Biotar bei Zeiss
Der große Durchbruch im Bereich lichtstarker, kurzbrennweitiger Systeme gelang erst, nachdem Willy Merté in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auf das hochkomplexe Doppelgauß-Objektiv wechselte, das er dann freilich gleich auf ein ganz neues Niveau bringen konnte (siehe folgenden Abschnitt). Jetzt wurde der Produktname Biotar erneut mit einer völlig anderen Objektivbauform belegt. Doch erst mit diesem dritten Anlauf erlangte dieses bald weltbekannte Objektiv erstmals tatsächliche Marktwirksamkeit. Darin liegt wiederum der Grund, weshalb die beiden Vorgängerkonstruktionen anschließend als Biotar II und Biotar III gelistet wurden, wobei offenbar als Biotar I die Ausgangskonstruktion von 1906 angesehen wurde. Und die zweite Merkwürdigkeit in diesem Zusammenhang liegt wie gesagt darin, daß Zeiss trotz seiner eindeutigen Zugehörigkeit zum Typus des Gauß-Doppelobjektives dieses neue Objektiv bewußt nicht als Planar, sondern eben als Biotar vermarktete.

Doch bevor hier dieses Biotar als Inbegriff des modernen Gaußobjektivs näher beschrieben wird noch ein Wort dazu, weshalb man sich bei Zeiss damals so schwer tat, dem Stand der Technik nachzukommen und weshalb die Entwicklung derart verzögert erscheint. Das ganze Problem kreist wiederum um die Person Paul Rudolphs und dessen zwischenzeitlich erfolgten Weiterentwicklungen des Doppelgauß-Aufbaus, die in der Fachwelt bislang wenig thematisiert worden sind. Dabei klaffte doch bei Zeiss lange Zeit eine kaum zu verbergende konzeptionelle Lücke, die mit dem Laborieren an Petzval-Typen und Triplett-Abkömmlingen wie den oben genannten Biotaren II und III ausgefüllt sind.
Daß dabei durchaus der Schatten eines Paul Rudolphs eine Rolle gespielt hat, geht aus dem Abschnitt "Biotar-Type Lenses" in Willy Mertés Datenblattsammlung "Zeiss Index of Photographic Lenses" hervor. Dort ist unter der Nummer 539 ein Planar verzeichnet, von dem es heißt, dieses Gauß-Objektiv falle nicht in Konflikt mit dem (Merté'schen) Biotar-Patent, weil die beiden äußeren sammelnd wirkenden Komponenten Meniskenform aufwiesen [Merté, Willy: The Zeiss Index of Photographic Lenses, 1948, Übersetzung von 1949, S. 19.]. Leider fehlen in der oben genannten archivalischen Überlieferung alle Seiten Seiten zwischen 481 und 536, und damit ausgerechnet sämtliche Karten zum Biotar-Typ, wodurch nicht nur die Biotar-Entwicklung Mertés nicht nachvollzogen werden kann, sondern auch der Startpunkt für einen neuen Entwicklungsschub im Bereich der Doppelgauß-Systeme, der im Jahre 1918 verortet werden muß und der eindeutig durch Paul Rudolph angestoßen wurde.

Allen vorausgegangenen Differenzen zum Trotz war nämlich seit 1917 [Gronow, Harald von: Paul Rudolph zu seinem 70. Geburtstag; in: Photographische Korrespondenz, 11/1928, S. 325f.] Paul Rudolph wieder für Zeiss tätig, da er offenbar in der Endphase des Krieges von höherer Stelle dienstverpflichtet worden ist [Vgl. Hofmann, Christian, Rudolph, Paul; in: Neue Deutsche Biographie 22, 2005, S. 201-202.]. Hier entwickelte er zwei Ansätze für Doppelgaußobjektive weiter: Einmal den Typ mit einem äußeren, zerstreuend wirkenden Kittglied und einem inneren sammelnd wirkenden Meniskus [nach Goerz 1899, DRP 107.358 sowie Ernst Arbeit 1901 DRP 135.742 und 1911 DRP 250.781], aus dem der spätere Plasmat [DRP Nr. 310.615 vom 15. März 1918] hervorging und von dem anhand der Karten 454 und 454a nachweisbar ist, daß im Hause Zeiss noch im Jahre 1918 die Fabrikation von Versuchsobjektiven für dieses Rudolph'sche Objektiv stattfand. Der zweite Ansatz war eine Doppelgauß-Abwandlung, bei der ebenfalls die zerstreuend wirkende Komponente außen lag, aber durch einen einzelnen Meniskus gebildet wurde, während die innere sammelnde Komponente aus einem Kittglied bestand. Dieser Aufbau wurde in dem oben gezeigten Reichspatent Nr. 322.506 vom 27. März 1918 geschützt. Ferner gab es in dieser Zeit eben noch ein Gaußobjektiv auf der bereits erwähnten Karte Nr. 539, das mit äußeren Sammellinsen arbeitete und zeissintern daher noch als Planar bezeichnet worden ist. Und die zentrale Ursache dafür, weshalb bei Zeiss die Weiterentwicklung der Doppelgaußobjektive in der folgenden Zeit derart gehemmt wurde, liegt nun darin begründet, daß bereits bevor die oben genannten Versuchsfertigungen stattfanden, Paul Rudolph diese beiden essentiellen Erfindungen ohne Wissen des Zeisswerks unter eigenem Namen zum Patent angemeldet hatte. Als Hintergrund dafür müssen wir heute wohl annehmen, daß Paul Rudolph in den letzten acht Jahren, die er zurückgezogen im abgelegenen Vogtland verbrachte, dazugelernt hatte. Diesmal wollte er das Zeisswerk endlich in eine für ihn lukrative Lizenzfertigung zwingen. Als man ihm dies bei Zeiss ein zweites Mal verweigerte, brach die Zusammenarbeit mit Jena nun endgültig ab. Während Rudolph aber kurz darauf in der Firma Meyer-Optik Görlitz einen Lizenznehmer für seine Objektive fand, waren die auf neuen Glasarten beruhenden Weiterentwicklungen des Doppelgaußobjektivs für Zeiss Jena auf Jahre hin verbaut. Denn bei diesem Konkurrenten setzte er nahtlos seine Doppelgauß-Entwicklungen fort, wie im folgenden Abschnitt gleich gezeigt werden wird.

Diese Zusammenstellung verdeutlicht noch einmal, daß ein Mann wie Paul Rudolph für den Zeisskonzern nicht kurzerhand ersetzbar war.
Welche langfristige Bedeutung dieser abermalige Bruch mit Paul Rudolph am Ende des Ersten Weltkrieges hatte, erkennt man daran, daß bei Zeiss Jena der Markenname Planar für Neuentwicklungen von Doppelgaußobjektiven nie wieder Verwendung fand. Selbst nach 1945 wurde die Bezeichnung Biotar konsequent beibehalten und sie mußte erst im Zuge der Auseinandersetzung mit der Zeiss AG in Heidenheim zugunsten der neu geschaffenen Objektivnamen Flexon bzw. Pancolar aufgegeben werden. Hier, bei "Zeiss West", wo nach 1945 ein sehr leistungsfähiger Objektivbau neu geschaffen wurde, besann man sich jedoch auf die Ursprungsbezeichnung Planar für lichtstarke Systeme nach dem Doppelgauß und verwendete ihn bis in die jüngste Zeit, sodaß heute die eigenartige Situation eingetreten ist, daß der Markenname Biotar als Startpunkt für den extrem lichtstarken Doppelgauß zugunsten desjenigen des Planars bereits fast wieder in Vergessenheit geraten ist.
4. Mertés Biotar als Vervollkommnung des Doppelgauß zum lichtstarken Universalobjektiv
4.1 Zeiss im Hintertreffen
Die Entscheidung zum erneuten Bruch mit Paul Rudolph im Jahre 1918 hat sich bereits nach einer kurzen Zeit als eine schwere taktische Fehlentscheidung des Zeisskonzerns herausgestellt. Offenbar hatte man bei Zeiss nicht bedacht, daß die ihm vertraglich auferlegte zehnjährige Zwangspause schon zwei Jahre später auslaufen wird und es damit abzusehen war, daß Paul Rudolph noch einmal in sein Fachgebiet zurückkehren und er sich dann zwangsläufig der Konkurrenz zuwenden würde. Und tatsächlich fand er mit der Optisch-Mechanischen Industrie-Anstalt Hugo Meyer in Görlitz sogleich einen dankbaren Lizenznehmer für sein Plasmat-Objektiv. Diese Firma war nach ihrem raschen Aufstieg zu Beginn des Jahrhunderts sukzessive in einen eklatanten wissenschaftlich-technischen Rückstand geraten. Paul Rudolph hingegen, dessen Jahrespension von 5000 Reichsmark in den letzten acht Jahren aufgrund der Kriegsinflation 90 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt hatte, sah sich im Jahre 1922 gar gezwungen, sein Gut im Tal der Göltzsch zu veräußern und im Alter von fast 64 Jahren noch einmal seinen Wohnsitz zu wechseln. Er ging nach Görlitz, um wieder als angestellter Optikrechner zu arbeiten. Hier gelang es ihm, seinen von ihm als Sphäro-Achromaten bezeichneten neuen Objektivtyp zum Kino-Plasmat 1:2,0 weiterzuentwickeln [DRP Nr. 401.630 vom 31. Dezember 1922]. Es darf dabei nicht unterschätzt werden, welche immense Bedeutung gerade die Kinematographie damals im Hinblick auf die Entwicklung der Phootooptik hatte. Erstens nahm sie die bevorstehende starke Formatverkleinerung in der Stillbildphotographie vorweg und zweitens verlangte sie aus technischen Gründen nach bis ins Extreme gesteigerten Lichtstärken. Zunächst versuchte Rudolph, die hervorragende sphärochromatische Korrektur seines Plasmattyps als besonders positiv für die "plastische Tiefe der Aufnahme" zu vermarkten, was in der Fachliteratur teils unter Hohn als bloße Behauptung bezweifelt wurde. Doch schon bald zeigte sich, daß Rudolph mit der starken Verminderung von sphärochromatischen Fehlerresten bereits die beste Grundlage dafür geschaffen hatte, um seine Doppelgauß-Entwicklungen auf immer höhere Lichtstärken zu treiben.

In Hinblick auf Paul Rudolphs Tätigkeit bei Meyer-Görlitz dominiert der Plasmat-Typus. Wenig bekannt ist jedoch, daß Rudolph mit dem oben gezeigten Reichspatent Nr. 420.223 vom 7. Februar 1924 auch an der Weiterentwicklung seines Planars arbeitete. Hier schöpfte er nach seiner Ansicht nicht nur erstmals das Potential des Doppelgauß zur Eliminierung der farbabhängigen Abweichung der sphärischen Aberration (Sphärochromasie) voll aus, sondern beseitigte zugleich die beim Planar von 1896 noch vorhandenen sogenannten sphärischen Zonen. Das war eine wichtige Voraussetzung, um die Lichtstärke anheben zu können bzw. um bei voller Öffnung der Blende keine allzu starke Weichheit des Bildes zu riskieren. Ganz im Gegensatz zum Patent von 1896 gestaltete Rudolph daher in seinem Patent Nr. 420.223 die innere Kittgruppe aus Gläsern mit stark abweichenden Brechungsexponenten, um bei einer schwachen Krümmung der Kittfläche zu einer erheblichen zerstreuenden Wirkung zu gelangen. Schließlich war Paul Rudolph der große Pionier der Bildfehlerkorrektur mittels Kittflächen. Hatte er mit seinem Protar zerstreuend wirkende Kittflächen mit starker Krümmung zur Korrrektur des Kugelgestaltsfehlers eingeführt sowie sammelnde, schwach gekrümmte Kittflächen zur astigmatischen Bildfeldebnung, so erfand er mit seinem Planar von 1896 "neutrale Kittflächen", die allein zur Steuerung der chromatischen Aberration verwendet wurden. Bei seinem Doppelgauß nach dem Patent 420.223 führte er jetzt aber zum ersten Mal eine gering gekrümmte, zerstreuend wirkende Kittfläche ein. Bemerkenswert an diesem Patent 420.223 ist zudem, daß Rudolph im Gegensatz zu den vorgenannten Patenten den Doppelgauß auf eine Lichtstärke von 1:3 bringen konnte, indem er gleichzeitig dessen strengen symmetrischen Aufbau fallen ließ. Dieser Weg wurde kurz darauf auch von anderen Konstrukteuren eingeschlagen und eröffnete dem Planartyp ein völlig neues Zeitalter.
Und was diesen deutlich sichtbaren Trend innerhalb der Photooptik anbetraf, hatte der Zeisskonzern in der ersten Hälfte der 1920er Jahre quasi nichts entgegenzusetzen. In der Konkurrenzfirma Ernemann in Dresden hatte der junge Ludwig Bertele ein Ernostar 2,0 und 1,8 entwickelt [DRP Nr. 436.260 vom 6. Dezember 1924] und Paul Rudolph gelang es 1926, seinen Kino-Plasmaten gar auf die Lichtstärke 1:1,5 zu bringen. Und zur Frühjahrsmesse 1926 erschien die Firma Joseph Schneider mit dem von Albrecht Wilhelm Tronnier berechneten "Xenon 1:1,8" auf dem Markt [Vgl. Photographische Industrie vom 29. März 1926, S. 334.]. Diese auf eine anastigmatische Bildfeldebnung getrimmte Planarkonstruktion muß aus heutiger Sicht als der Startpunkt für den hochlichtstarken Doppelgauß gesehen werden. Und dieser Startschuß kam nicht aus Jena, sondern aus Kreuznach.

Einen zeitgenössischen Einblick auf die stürmische Entwicklung im Bereich hochlichtstarker Objektive speziell in den Jahren 1925/26 gibt uns der obige Auszug aus dem Buch "Lichtbildkunde" von Willy Frerk, das 1927 erschienen ist. Interessant ist auch zu lesen, daß das Biotar während seiner Entwicklung zunächst mit der Öffnung 1:1,8 geplant gewesen sei.
Die Abteilung Photo des Zeisswerkes schien dagegen den Anschluß verpaßt zu haben. Über das klägliche Scheitern des Biotars III aus dem Jahre 1923 wurde bereits im vorausgegangenen Abschnitt berichtet. Willy Merté versuchte aus dieser mißlichen Lage zu entkommen, indem er ab 1924 ein spezielles Kino-Tessar 1:2,7 schuf, das zwar bei den Kameramännern durchaus beliebt war und in der Stummfilmzeit auch viel verwendet wurde – von den oben genannten wegweisenden Spitzenobjektiven der Mitbewerber war es jedoch weit entfernt.

Unterdessen waren auch andere Optikkonstrukteure auf das große Potential des Doppelgaußobjektivs mit verkitteten inneren Zerstreuungslinsen aufmerksam geworden. Der im selben Jahr und im selben Monat wie Willy Merté geborene Engländer Horace William Lee hatte im Jahre 1920 einen solchen Doppelgauß mit einer Lichtstärke von 1:2,0 gerechnet [GB 157.040]. In seinem Aufsatz zur Vorstellung dieses neuen Objektives [Lee, H.W.: The Taylor-Hobson F/2 Anastigmat, Transactions of the Optical Society, 5/1924, S. 240ff.] deutet Lee an, daß für ihn deshalb die Wahl auf den Gaußtyp fiel, weil jener am vielversprechendsten bezüglich Zonenarmut und der Varianz des Kugelgestaltsfehlers bei unterschiedlichen Farben ausschlaggebend gewesen sei, sowie das symmetrische Doppelobjektiv am wenigsten Arbeitsaufwand bei der Durchrechnung erwarten ließ. Erst habe er die Objektivhälfte für sich weitgehend auskorrigiert und dann das System als Ganzes optimiert. Dabei sei er jedoch am Ende ziemlich vom symmetrischen Aufbau abgekommen. Und obwohl der Taylor-Hobson-Company das Verdienst zukommt, mit ihrem später Opic genannten Erzeugnis als erste ein Gaußobjektiv 1:2,0 auf den Markt gebracht zu haben, waren sie damit nur wenig kommerziell erfolgreich. In der praktische Anwendung konnte die Bildleistung noch nicht befriedigen, was durch falsches Licht hervorgerufen wurde, das aus Reflexen und Komaerscheinungen herrührte. [Vgl. Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 60.]. Erst mit seinem Speed-Panchro 1:2,0 aus den 30er Jahren konnte Lee diese Probleme weitgehend überwinden [GB377.537 vom 14. November 1931].

Erwähnt werden muß aber auch Lees US-Patent 2.019.985 vom 26. Dezember 1930, bei dem er die hintere Sammellinse des Doppelgauß auf zwei einzelne Elemente aufspaltete, womit er eine Anhebung der Lichtstärke auf 1:1,4 erreichte und so den Anschluß an Mertés Biotar fand. Diese Erfindung ist deshalb erwähnenswert, weil einerseits das ab 1936 gefertigte Leitz Xenon 1,5/5 cm auf diesem Patent fußte (was für den Verkauf auf dem anglo-amerikanischen Markt auch auf der Objektivfassung angegeben wurde). Zweitens findet sich dieser Aufbau mit der auf zwei dünne Elemente aufgespaltenen hinteren Sammellinse bis heute quasi bei allen Normalobjektiven der Lichtstärke um 1:1,4. Die damals verwendeten moderaten Glasarten (in diesem Falle hauptsächlich SK4 und LF5) erlaubten freilich nur eine bescheidene Bildleistung im Vergleich zu modernen Nachfolgern. Und die Probleme mit dem Streulicht wurden aufgrund der zusätzlichen zwei Flächen nun derart verschärft, daß photographische Praktiker solche Objektive vor der allgemeinen Einführung der Entspiegelungsschichten in Bausch und Bogen ablehnten.

Bleibt noch Albrecht Tronnier zu nennen, der mit seinem Reichspatent Nr. 439.556 vom 30. April 1925 den Grundstein für sein weiter oben bereits erwähntes Xenon gelegt hatte, das sich zum zeitweilig stärksten Konkurrenzprodukt für Zeiss entwickeln sollte. Kernstück seiner Konstruktionsidee war dabei die von innen nach außen ansteigenden Brechzahlen in jeder der beiden Objektivhälften, um den Doppelgauß anastigmatisch ebnen zu können. In der Praxis war er bei den Xenon-Objektiven jedoch bereits von der strengen Symmetrie abgegangen, was große rechnerische Leistungen erforderte. Damit hatte Tronnier den Grundstein für eine während der 30er Jahre sehr erfolgreiche Serie an Kino- und Schmalfilmobjektiven gelegt. Sein Xenon-Patent wurde im Januar 1927 veröffentlicht und von nun an dürfte in jeder führenden Objektivbauanstalt Klarheit darüber geherrscht haben, welches enorme Potential im Doppelgauß liegt und was für eine Marktbedeutung dieser Objektivtyp bald haben würde.
4.2 Mertés Biotar 1:1,4 von 1927
Oder: Über die Kunstfertigkeit, die Bildfehler beinah beliebig klein werden zu lassen
Im Angesicht dieses massiven wettbewerblichen Rückstandes, in den der Zeisskonzern nach dem Ersten Weltkrieg im Bereich der hochlichtstarken Objektive geraten war, ist es als Zeugnis für das Ausnahmetalent eines Willy Merté zu werten, daß er mit dem neuen Gaußtyp-Biotar 1:1,4 schließlich doch noch einen Weg aus dieser Situation gefunden hat und seinen Arbeitgeber in die Riege der Spitzenhersteller zurückbringen konnte. Allerdings: So wie drei Jahrzehnte zuvor Paul Rudolphs Planar zwar Allen vorauseilte, aber letztlich nur wenig gekauft wurde, so war freilich auch dieses Biotar 1:1,4 zunächst nur ein Nischenprodukt für absolute Spezialanwendungen. Doch dies änderte sich in der Folgezeit sukzessive und das Biotar geriet regelrecht zum Prototyp für alle hochlichtstarken Photoaufnahmeobjektive, in dessen Folge die vom Triplet abgeleiteten Typen in diesem Sektor rasch verdrängt wurden und sich stattdessen das moderne Gauß-Doppelobjektiv zu einem Standard etablierte, der bis zum heutigen Tag Bestand hat.
Genialer Optik-Konstrukteur und intriganter Karrierist
Zur Person Willy Merté
Willy Merté gehörte dem Jahrgang 1889 an – so wie Chaplin, Wittgenstein, Heidegger, Ossietzky, Hubble und auch Hitler. Es handelte sich um eine Generation, die zwar noch im "langen 19. Jahrhundert" geboren war, jedoch im hochtechnisierten 20. Jahrhundert gewirkt hat. Sie war geprägt durch die enormen Fortschritte jener Zeit, aber auch durch die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die mit diesem Umbruch einhergingen, sowie – zumindest in Europa – durch die unmittelbaren Wirkungen und die langfristigen Folgen, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte. Merté hatte zu Ostern 1908 das Gymnasium in Weimar verlassen und anschließend ein Semester in München studiert, wechselte aber bereits im folgenden Herbstsemester an die Universität Jena. Nach Abschluß der Promotion im Juli 1912, die schon ganz auf sein Lebensthema der Optik-Rechnung hin zugeschnitten war, legte er bereits im Februar 1913 sein Staatsexamen in Mathematik, Physik und Philosophischer Propädeutik mit Auszeichnung ab. Doch anstatt die Laufbahn als Lehrer einzuschlagen, wurde er zum 15. März 1913 als Assistent Ernst Wanderslebs bei Zeiss angestellt. Hier hatte sich nach dem Weggang von Paul Rudolph eine Lage ergeben, die wir heute als Fachkräftemangel bezeichnen würden.

Sein Wirken bei Zeiss währte allerdings zunächst kurz. Der nur ein Jahr später ausgebrochene Erste Weltkrieg brachte Willy Merté neben dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse auch eine schwere Verwundung ein, die ihn für den Rest seines Lebens körperlich behindern sollte. Noch im Jahre 1947, als Merté in die USA wechseln wollte, ist in einem Fragebogen seine "Schussnarbe auf der Brust" als Merkmal explizit erwähnt. In den Zeugenaussagen zu Mertés Spruchkammerverfahren nach 1945 wird berichtet, daß er "unter einem vollkommen abnorm hohen Blutdruck leidet, dadurch sehr von Schlafmitteln abhängig und kaum zu irgendwelchen körperlichen Anstrengungen fähig ist." Er wird in seinen späteren Lebensphasen als ein ängstlicher Mensch beschrieben, der zudem "im täglichen Leben besonders unpraktisch" sei [Persilschein von Fritz Wolf vom 16. September 1947]. Von seiner Familie abgesehen habe Merté nur für seine wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiete der Optik gelebt:
"Dr. M ist voll und ganz in seinem Beruf aufgegangen. [...] Der Beruf eines wissenschaftlichen Rechners bringt es mit sich, dass die Pflege der Gesundheit bei einer solchen kollosal [sic] anstrengenden Tätigkeit vor allen Interessen und Neigungen stehen muss. Mir ist ausser einer grossen Belesenheit des Dr. M. nichts über weitere Liebhabereien [gemeint sind Hobbies] bekannt." [Persilschein von Hans Steps vom 16. September 1947]
Nach seiner Verwundung im Sommer 1915 kehrte Merté offenbar noch im selben Jahr ins Zeisswerk zurück, wo er nach eigener Aussage die Weiterentwicklung der Tessare übernahm. Seine erste selbständige Neuentwicklung war dann aber das Tele-Tessar, das der gerade 30-jährige im Juni 1919 patentieren ließ. Im Jahre 1925, nachdem die verschiedenen Rechenbüros unmittelbar der Geschäftsleitung unterstellt worden waren, stieg Merté zum Leiter des Photorechenbüros auf (während Wandersleb formell Leiter der Abteilung Photo blieb) [Vgl. Wandersleb, Zusammenstellung der Unterlagen über Wissenschaftliche Forschungsarbeiten an Zivil-Geräten der Firma Zeiss vom 4. 10. 1946]. In dieser Zeit entwickelte er sich zum "großen Innovator" für den Photoobjektivbau bei Zeiss

Nach der "Machtergreifung" gehörte Willy Merté dann aber auch zu denjenigen Deutschen, die ohne Skrupel die "neuen Möglichkeiten" der neuen Zeit ausnutzten, um auf der Karriereleiter steil nach oben zu klettern. Er bediente sich dabei auch mehrfach aus dem Werkzeugkasten des Antisemitismus. So machte er im Jahre 1934 Stimmung gegen die Abbe-Tochter Grete Unrein, weil sie Stellung gegen die Streichung des von ihrem Vater in das Zeiss-Stiftungsstatut aufgenommenen religiösen Diskriminierungsverbots bezogen hatte.
„Die Anfeindungen gegen Unrein ließen auch nach der Aufgabe ihres politischen Lebens nicht nach. Das Gerücht, sie habe in ihrer Funktion als Leiterin des Mütterheims die Personaleinstellungen von der politischen Gesinnung der Bewerberinnen abhängig gemacht, hatte seinen Ursprung sogar direkt im Zeisswerk. Sein Urheber, der wissenschaftliche Mitarbeiter des hochangesehenen Physikers Ernst Wandersleb, Willy Merté, streute es im Frühsommer 1934 gegen Unrein und reagierte damit offenbar auf deren kritische Haltung gegenüber einer Änderung des besagten Paragraphen 56 des Stiftungsstatuts."[Horn, Gisela: Entwurf und Wirklichkeit: Frauen in Jena 1900 bis 1933, S. 187.].
Das Jenaer Vorzeigeunternehmen wurde zu jener Zeit gerade gründlich "rassisch gesäubert", sodaß "arische" Arbeitskräfte in die jeweiligen Positionen nachrücken konnten. Merté, der zuvor Mitglied der linksliberalen DDP gewesen war, hatte die Zeichen der Zeit schnell erfaßt und trat noch 1933 der NSDAP bei. In einem der "Persil-Scheine" für Merté sagte sein damaliger Heidenheimer Assistent Fritz Wolf nach dem Kriege über ihn: "Er sah in Hitler vor allem den Frontkameraden des ersten Weltkrieges, der gleich ihm selbst einen neuen Krieg unter jeder Bedingung verhindern wollte." Seinen Eintritt in die Nazipartei rechtfertigte Merté gegenüber seinem zukünftigen amerikanischen Arbeitergeber folgendermaßen:
"Versprochene Friedensbereitschaft mit allen Voelkern, Versoehnung der Klassengegensätze, Beseitigung der Arbeitslosigkeit und hartnaeckige persoenliche Werbung ueberredeten mich Sommer 1933 zum Eintritt in die Partei, in der ich nie ein politisches Amt fuehrte. Durch die Entwicklung enttaeuscht, besonders wegen des Gesinnungs- und Rassenterrors, der auch nahe[,] von mir unterstuetzte juedische Verwandte schwer traf, zog ich mich schon 1935 weitgehend zurueck, um nach Kriegsausbruch die Partei voellig zu meiden. Auch die gaenzlich unpolitische, rein technische, mir wegen meiner beruflichen Stellung aufgedraengte Stellung eines Filmwarts in einer Ortsgruppe, die im Jahre durchschnittlich den Bruchteil einer Stunde erforderte, legte ich damals nieder." [aus: Fragebogen der US-Militärregierung an W. Merté vom 22. Januar 1947]
So ähnlich lauteten nach 1945 fast alle Selbstauskünfte in Bezug auf die eigene Haltung zu Hitler und seiner Partei. Jeder wollte nun plötzlich insgeheim ein Gegner des Regimes gewesen sein. Vom Kabarettisten Werner Finck ist der Ausspruch überliefert: "Na wenn ich damals schon gewußt hätte, daß das alles nur Mitläufer sind..." Und jeder wollte nun auch seinen persönlichen Juden gekannt haben, dem er "in der schlimmen Zeit" geholfen habe. Wie philosemitisch und anti-Hitler Merté seinerzeit wirklich gewesen ist, das kann man an folgender Begebenheit abschätzen: Zu Jahresbeginn 1939 gelang es Merté, seinen Chef, den Leiter der Abteilung Photo Ernst Wandersleb, aus dessen Position zu verdrängen, indem er ihn bei der Gestapo denunzierte [Vgl. Walter, Zeiss 1905-1945, S. 213ff]. Als gezielten Anlaß hatte Merté unvorsichtige Äußerungen Wanderslebs in Bezug auf das niedrige Niveau von Hitlers mein Kampf genutzt. Der in einer "jüdischen Mischehe" lebende Wandersleb wurde daraufhin am 9. Februar 1939 entlassen und Merté konnte ungehindert dessen Posten einnehmen. Daß er Wandersleb mit dieser Aktion leicht ins KZ hätte bringen können, das nahm Merté offenbar in Kauf. Aufgrund seiner Requirierung durch die Amerikaner kurz nach Kriegsende und seines frühen Todes, geriet Mertés Verhalten während der Nazizeit rasch in Vergessenheit. Diesen starken Zwiespalt zwischen seiner Person und seinem Werk muß man jedoch stets im Hinterkopf behalten, wenn hier die wissenschaftliche Leistung Mertés in so hohen Tönen gelobt wird.

Am 24. Juni 1945 wurde Willy Merté zusammen mit etlichen seiner Kollegen nach Heidenheim verbracht und interniert. Von dem späteren Zeisswerk-West konnte damals noch keine Rede sein – vielmehr war er hier weitgehend zur Untätigkeit gezwungen. Er hatte sein Vermögen größtenteils verloren; darunter das von ihm 1929 erbaute Haus in der Jenaer Johann-Friedrich-Straße 38. Kurz vor Kriegsende, am 29. März '45, war zudem der jüngere seiner beiden Söhne, der erst siebzehnjährige Will Merté, im Taunus gefallen, was ihn in der Folgezeit seelisch sehr belastete. Da er in Heidenheim keine Aussicht auf eine berufliche Betätigung sah, entschloß sich Merté – offenbar ohne daß er dazu gezwungen worden war – ein Arbeitsangebot der US Airforce anzunehmen. Der Arbeitsvertrag trägt das Datum vom 6. Februar 1947. Seine Frau Antonie Merté blieb in Heidenheim zurück und zog wahrscheinlich kurz darauf nach Landshut (weshalb Mertés letzte Patente Landshut als Ortsangabe ausweisen). Den Unterlagen zufolge traf Willy Merté Anfang April auf dem Militärflughafen Mitchel Field in New York ein und kam Ende April 1947 in Dayton (Ohio) an. Hier verstarb er ein Jahr später am 16. Mai 1948 im Alter von 59 Jahren. Den Unterlagen zufolge wurde sein Leichnam nach Frankfurt Main ausgeflogen. Er wurde auf dem Friedhof in Altweilnau beerdigt, neben seinem Sohn, der hier drei Jahre zuvor seine letzte Ruhe gefunden hatte. Auch Mertés Frau Antonie (1899 - 1992) und sein älterer Sohn Hanns-Jürgen (1921 - 2003) liegen hier begraben).

Noch wenige Wochen vor seinem Tode war die zuständige "Joint Intelligence Objectives Agency" auf Mertés Eintragung "gottgläubig" bei der Religionszugehörigkeit aufmerksam geworden. Den US-Behörden scheint nicht bewußt gewesen zu sein, daß der harmlos erscheinende Ausdruck "gottgläubig" in Wahrheit auf besonders linientreue Deutsche hindeutete, die aufgrund ihrer Identifikation mit der Nazi-Ideologie bereit waren, aus der Kirche auszutreten und damit ihre Identifikation mit dem System nach außen hin für alle sichtbar unter Beweis zu stellen. Da die Eintragung als "gottgläubig" erst ab Jahresende 1936 geschaffen wurde, ist die Einlassung Mertés, er habe sich schon 1935 vom System abgewandt, um so haltloser.
Der Ausgangspunkt für die Entwicklung eines völlig neuen Biotars auf Basis des Doppelgauß-Typs liegt bereits im Jahre 1926, als zum 1. Oktober 1926 mit dem Versuch Nr. 7 die Rechnung für ein Objektiv 1:2,0/10 cm abgeschlossen werden konnte. Man kann nur vermuten, daß Merté durch das im Oktober des Vorjahres ausgegebene, oben bereits erwähnte Patent Nr. 420.223 inspiriert wurde, mit dem sich Paul Rudolph wieder dem Doppelgauß zugewandt hatte. Während Paul Rudolph aber nach wie vor mit einem Doppelobjektiv arbeitete, dessen zwei Einzelhälften zwar unterschiedliche Brennweiten hatten, aber prinzipiell gleichartig aufgebaut waren, vollzog Willy Merté nunmehr eine vollständige Abkehr vom symmetrischen Aufbau.

Diese Abkehr von der Symmetrie ist eines der zentralen Bestandteile seines Reichspatentes Nr. 485.798 vom 30. September 1927, mit dem sich Merté sein Biotar schützen ließ. Während die bildseitige Sammellinse deutlich bikonvexe Gestalt hat (Schutzanspruch 1), ist die dingseitige Sammellinse meniskenförmig durchbogen (Schutzanspruch 2). Zentral für die Gesamtkorrektur war dabei die gegenseitige Abstimmung der Krümmungsradien der beiden Sammellinsen. Man erkennt aber auch – obgleich dies nicht Teil der Schutzansprüche ist –, daß die beiden als Kittglieder ausgeführten inneren Zerstreuungslinsen des Doppelgauß völlig unterschiedlich aufgebaut sind. Im dingseitigen Kittglied besteht die positive Komponente aus dem dem höher brechenden Schwerkron SK10, weshalb im Verbund mit der aus dem Leichtflint LF7 bestehenden negativen Komponente eine Kittfläche von sammelnder Wirkung entsteht. Diese ist nur relativ schwach gegen das Bild gewölbt. Dagegen ist beim bildseitigen Kittglied die positive Komponente aus dem neuartigen Barit-Flint BaF9 einer negativen Komponente aus dem noch höher brechenden Schwerflint SF5 gegenübergestellt, weshalb hier eine zerstreuende Kittfläche entsteht, die gegen das Bild hohl ausgeführt ist.

Während sich mit der nur schwach gekrümmten sammelnden Kittfläche im vorderen Objektivteil die anastigmatische Korrektur durchführen ließ, erlaubte die stark gekrümmte zerstreuende Kittfläche im hinteren Objektivteil die Behebung der sphärischen Bildfehler. Merté führte damit die seit den 1890er Jahren maßgeblich durch Paul Rudolph eingeführten Korrektionsmittel auf Basis unterschiedlich brechender Kittflächen erstmals im Doppelgaußobjektiv zusammen. Daß dies erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre geschah, läßt sich nur mit dem enormen rechnerischen Aufwand erklären, der durch das Verlassen der symmetrischen Bauweise einherging. Diese Aufgabe war mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln nur mit einem leistungsfähigen Rechenbüro unter Einsatz hochspezialisierter Fachkräfte zu leisten. Von einem Doppelobjektiv im ursprünglichem Sinne konnte nun eigentlich kaum noch die Rede sein. Merté selbst schrieb über die Praxis, das Biotar und seine Konkurrenzerzeugnisse als Verwandte oder Abkömmlinge des Gauß-Doppelobjektivs zu bezeichnen:
"... so bezieht sich diese Ausdrucksweise lediglich auf die äußere Erscheinungsform. In Wirklichkeit erhält man eine gute optische Leistung bei einem großen Öffnungsverhältnis nur dann, wenn das Doppelobjektiv als in sich geschlossenes Ganzes korrigiert ist, von einer Symmetrie, Hemisymmetrie oder auch gestörten Symmetrie aber keineswegs gesprochen werden kann, und wenn insbesondere die beiden Teilglieder für sich allein keine ausreichende Fehlerberichtigung haben. Das bedeutet natürlich nicht, daß mit abgeblendeten Teilgliedern überhaupt keine brauchbaren Aufnahmen gemacht werden könnten." [Merté: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929, 1943, S. 64.]
Mit diesen Maßnahmen war es Willy Merté gelungen, die oben erläuterten verbleibenden Schwächen des vielversprechenden Doppelgauß auszumerzen, indem er die chromatischen Korrekturpotentiale dieses Typs mit einer guten astigmatischen, komatischen und einer sehr guten sphärischen Korrektur verknüpfte. Zudem gelang es ihm, die für diesen Objektivtyp typischen Reflexe so zu dirigieren, daß sie außerhalb des Bildfeldes lagen oder aber nur als großflächiger, diffuser Schimmer auftraten, der zu keiner störenden Schwärzung der Schicht mehr führen konnte.

Für diesen Korrekturerfolg dürfte sicherlich der Einsatz des neuen Barit-Flintglases BaF9 in drei der sechs Linsen ausschlaggebend gewesen sein, das bei einer für damalige Verhältnisse hohen Hauptbrechzahl von über 1,64 einen ny-Wert von 48 hatte, der das Glas nur wenig unterhalb der Gruppe der Schwerkrongläser ansiedelte. Durch sorgfältige Korrekturarbeit, die angesichts der in den 1920er Jahren zur Verfügung stehenden Rechenmethoden gar nicht hoch genug beurteilt werden kann, gelang es Merté, den Kugelgestaltsfehler auf ein bis dahin ungekanntes Maß zu reduzieren und damit selbst bei voller Öffnung eine ungewöhnlich brillante Abbildung zu erzielen. Darüber legen in der Abbildung oben die außerordentlich schlanken Kurven der sphärischen Aberration und der Abweichung von der Sinusbedingung (a) dieses Biotars 1:1,4 Zeugnis ab [nach: Merté, Willy: Bauarten der photographischen Objektive, in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band I, Das photographische Objektiv, Wien, 1932, S. 334.], die zur Einordnung der Leistung Mertés mit den im selbem Maßstab gezeichneten Kurven des zeitgenössischen Sonnars 1:1,5 und des Primoplans 1:1,5 verglichen werden sollten. Es fällt auch auf, daß (im Gegensatz zu Sonnar und Primoplan) die Kurve für die Abweichung von der Sinusbedingung (gestrichelt in a) fast exakt der Kurve für den Kugelgestaltsfehler folgt, was auch Rückschlüsse auf die gute Korrektur der Koma ("sphärische Aberration der schiefen Büschel) zuläßt.
Man darf wohl davon ausgehen, daß die Voraussetzung für die Schaffung des Biotares in der Entwicklung eines eigenen trigonometrischen Berechnungsverfahrens für die sphärische Abweichung gelegen hat, das es Merté erlaubte, weit über die bisher übliche Korrektur allein für den Null- und den Randstrahl und allenfalls noch einen dazwischenliegenden Mittelstrahl hinauszugehen und stattdessen durch eine "multiple" Korrektur die Abflachung der Kurve des Kugelgestaltsfehlers in diesem bislang ungekannten Maße zu erreichen. Dieses analytische Berechnungsverfahren für die sphärische Abweichung hatte er im Sommer 1925 unter dem Titel "Über die Kaustik axialer Dingpunkte" in der Zeitschrift für Physik veröffentlicht.

Dieser Konstruktionserfolg des neuen Biotars 1:1,4 machte Merté damals in dem oben gezeigten Artikel publik [ursprünglich aus Kinotechnik, Nr. 17/1928, S. 452f.]. Man kann trotz aller Bemühung um Objektivität nicht ganz die Genugtuung Willy Mertés darüber übersehen, daß er mit diesem neuen Objektiv mit einem Male zum Spitzenkonstrukteur des weltweiten Objektivbaus emporgestiegen war.
Genaue Auskunft über die Entwicklungsgeschichte des Biotares vermittelt uns das unten gezeigte Dokument, das offenbar von Willy Mertés Assistent Kurt Hercher (Hr) im Dezember 1945 für die Sowjetische Militärverwaltung erstellt worden ist und das erst kürzlich in den von Günther Benedix nach der "Wende" buchstäblich aus dem Müll geretteten Nachkriegs-Unterlagen des Jenaer Werkes entdeckt wurde. Man erkennt, daß bei der Schaffung des Biotares 1:1,4 stets eine Brennweite von etwa 4 bis 5 cm im Mittelpunkt stand, die sich als Standardwerte für Kino-Normalaufnahmen etabliert hatten. Filmkameras allgemein haben ja, wie bereits mehrfach erwähnt, einen großen Lichtbedarf. Beim Normalfilm hatte sich die Lage verschärft, als Ende der 20er Jahre der Tonfilm eingeführt wurde. Zum einen war jetzt erstmals eine verbindliche Bildwechselzahl festgelegt worden, die bei der Aufnahme und Wiedergabe sehr genau eingehalten werden mußte. War beim Stummfilm noch durchschnittlich mit etwa 18...20 Bilder je Sekunde gedreht worden, so wurde dieser Wert nun auf 24 Bilder hochgesetzt – nicht zuletzt, um eine einigermaßen akzeptable Tonqualität zu erreichen. Da die Öffnung der Sektorenblende wegen der Filmfortschaltung auf maximal 180 Grad begrenzt war, lief dies darauf hinaus, daß jedes Phasenbild nie länger als 1/50 Sekunde belichtet werden konnte. Das war damals eine sehr kurze Momentbelichtungszeit, die angesichts der noch sehr geringempfindlichen Aufnahmematerialien das Drehen sehr erschwerte. Zweitens konnten wegen der Tonaufnahmen nicht mehr die bislang üblichen Lichtbogenlampen verwendet werden, weil deren Abbrandgeräusche den Ton störten. Deshalb mußten die Ateliers auf Glühlampen umstellen, die erstens weniger Leistung hatten und deren Licht auch ungünstig Richtung Rot verschoben war, was zu zusätzlichen Belichtungsproblemen führte. Ein Objektiv, dessen maximales Öffnungsverhältnis von 1:1,4 auch wirklich praktisch angewandt werden konnte, wäre angesichts dessen eine große Arbeitserleichterung gewesen.

Vor diesem Hintergrund entwickelte Willy Merté im Laufe des Jahres ein absolutes Spitzenprodukt des Weltmarktes. Wie einleitend bereits geschildert, war der Ausgangspunkt dafür das Versuchsobjektiv Nr. 7 vom 1. Oktober 1926 mit der Öffnung 1:2,0. Daraus wurde bis zum 14. April 1927 mit dem Versuchsobjektiv Nr. 4 ein erstes Biotar 1,4/5 cm entwickelt, bei dem nach Prüfung eines Musterobjektivs jedoch die Werte für Chromasie und Verzeichnung noch schlecht ausfielen (Schritt 1). Mit dem Versuchsobjektiv Nr. 5 vom 20. April 1927 wurde dieser Fehler "durch Aufspaltung der letzten Linse" behoben (Schritt 2). DAHINTER verbirgt sich dasjenige, was wir oben in der Patentschrift zum Biotar als Patentbeispiel Nummer 1 sehen können, wo die hintere Sammellinse als Kittglied ausgeführt ist. Diese Ausführung wurde aber nicht auf den Markt gebracht. Stattdessen wurde bis zum 13. Mai 1927 die Linsenzahl wieder auf sechs reduziert und die erreichte chromatische Korrektur sowie eine Verbesserung des Astigmatismus "durch Einführung anderer Gläser" erreicht (Schritt 3).

Zu diesem Zeitpunkt war Merté offenbar klar geworden, daß seine Konstruktionsanstrengungen zum Erfolg geführt hatten. Ausschlaggebend dafür wird wohl auch der Einsatz des neuen Barit-Flint BaF9 gewesen sein. Nun lenkte er seine Bemühungen dahingehend um, die Brennweite etwas zu verkürzen und damit den Bildwinkel für das Kinoformat 18x24 mm etwas anzuheben. Das kommt in dem Versuchsobjektiv Nr. 9 vom 5. Juli 1927 für ein Objektiv 1,4/4 cm zum Ausdruck, dessen reale Brennweite sogar nur 39,0 mm betrug (Schritt 4). Dieses Objektiv wurde aber "nicht ausgeführt", sondern stattdessen zum 21. Juli 1927 ein Biotar 1,4/4 cm entwickelt, das eine reale Brennweite von 42,0 mm hatte und von dem bis zum Ende des Jahres etwa 250 Stück in die Endfertigung gingen (Schritt 5). Das war die Geburtsstunde des Biotar-Typs wie wir ihn heute noch kennen. Zwischenzeitlich meldete Merté zum 30. September 1927 sein Reichspatent Nr. 485.798 an. Zum 7. Dezember 1927 wurde noch ein sphärochromatisch verbessertes Biotar 1,4/4 cm entwickelt, das möglicherweise nur eine geringfügige Variation der bisherigen Rechnung war (Schritt 6). Im Laufe des Jahres 1928 konnten die sphärischen Aberrationen und die Verzeichnung weiter verbessert werden, was in einem Versuchsobjektiv Nr. 5 vom 4. Dezember 1928 mündete (Schritt 7). Tatsächlich in Serie gefertigt wurde dann das Biotar 1,4/4 cm nach Versuch 1 vom 3. Januar 1929, bei dem die "sphärischen Aberrationen noch weiter verbessert" werden konnten sowie eine für die Fertigung "günstigere Linsenform" erreicht wurde (Schritt 8). Von diesem verbesserten Biotar 1,4/4 cm gingen ab Ende Mai 1929 noch einmal etwa 100 Stück in die Endfertigung. Angesichts der Tatsache, daß diese Biotare 1,4/4 cm nur für den Einsatz an professionellen Filmkameras vorgesehen waren, sind das beachtliche Stückzahlen [Bild oben: Stefan Baumgartner].

Das Dokument oben setzt dann fort mit der Entwicklung eines Biotars 1,4/5 cm für die Leica – also für das volle Kleinbildformat 24x36 mm (Schritt 9). Dieses Objektiv mit dem Abschlußdatum 6. Mai 1929 sei als Umrechnung des vorhergehenden Versuches 1/1929 hervorgegangen. Hierbei mußte der Bildwinkel auf über 45 Grad aufgeweitet werden. Diese Rechnung von 1929 zeichnet sich vor allem durch eine im Durchmesser deutlich angehobene hintere Sammellinse aus. Weitere Korrekturmaßnahmen wie eine Aufteilung dieser Sammellinse in eine Kittgruppe (Patentbeispiel 1) erfolgte jedoch nicht. Demzufolge dürfte die Bildqualität für das volle Kleinbildformat nicht optimal gewesen sein. Von diesem Biotar 1,4/5 cm wurden daher nur in etwa 100 Stück mit einer Fassung für die Leica hergestellt. Aus einem Biotar 1,4/50 mm, welches nach 1945 in Jena entwickelt wurde, läßt sich schließen, was für ein Aufwand nötig war, um tatsächlich ein derart lichtstarkes Objektiv mit einer bis in die Bildecken reichenden Schärfe zu konstruieren. Auch ein für die Contax etwas verkleinertes Biotar 1,4/5 cm mit Abschlußdatum vom 10. November 1931 gelangte nicht in die Serienfertigung (Schritt 10).

Bevor Merté die Konstruktion eines Biotars für die Kleinbildkamera wagte, war im Laufe des Jahres 1928 aber eine andere Entwicklung abgeschlossen worden, die im obigen Dokument nicht erwähnt ist: Die Entwicklung von Biotaren 1:1,4 für die Normal- und Schmalfilmkameras. Darunter befand sich auch ein Biotar 1,4/5 cm mit Rechnungsabschluß vom 15. März 1928, das für das volle Stummfilmformat 18x24 mm vorgesehen war und dafür einen Bildwinkel von etwa 33 Grad auszuzeichnen vermochte. Dabei fällt auf, daß in der vorderen Sammellinse nicht wie im Patent angegeben BaF9 verwendet wurde, sondern das etwas geringer brechende, aber dafür auch deutlich geringer dispergierende Schwerkron SK4. Es sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, daß auch bei den anderen seit 1928 entstandenen Biotaren 1:1,4 bzw 1:1,5 in der Frontlinse statt BaF9 Schwer- oder Schwerstkron zum Einsatz kam. Die Kittfläche im vorderen Glied ist zwar fast plan, aber im Gegensatz zum Patent ist sie Richtung Dingebene gewölbt..

Das "Kino-Biotar" 1,4/5 cm von 1928 unterscheidet sich vom Patent aber auch noch durch das Schwerflint SF12 in der bildseitigen Zerstreuungslinse auf, das mit seiner Brechzahl von n = 1,65 nur noch sehr gering vom Barit-Flint BaF mit n = 1,642 entfernt liegt, sodaß von der stark durchbogenen hinteren Kittfläche kaum noch Brechkraft ausgeht. Stattdessen erinnert dieses Kittglied stark an die in Abschnitt 1 beschriebene hyperchromatische Linse Paul Rudolphs, mit der sich die chromatischen Fehler auskorrigieren ließen, ohne daß sich Rückwirkungen auf die übrigen Bildfehler ergaben. Schließlich haben beide Gläser trotz der nah beieinander liegenden Brechzahlen erheblich voneinander abweichende ny-Werte. Als weitere Abweichung vom Patent fällt die große Dicke der hinteren Sammellinse auf. Dadurch wurde die Schnittweite im Vergleich zur Brennweite ziemlich stark verkürzt, weshalb die Randstrahlen ziemlich steil auf die Bildebene fallen.
Auch für den 16-mm-Schmalfilm hat Merté im März 1928 ein Normalobjektiv in Form des Biotares 1,4/2,5 cm geschaffen. Dieses Filmformat war gerade erst fünf Jahre auf dem Markt und hatte dennoch den Normalfilm beim Amateur fast vollständig verdrängt. Dieses Marktsegment entwickelte in der Folgezeit große Wachstumsraten, was auch die Nachfrage nach lichtstarken Objektiven enorm beflügelte. Auch bei Schmalfilmkameras ist die Belichtungszeit mit günstigstenfalls 1/30 Sekunde auf einen ziemlich kurzen Wert festgelegt. Schon trübes Wetter konnte deshalb die Filmaufnahmen sehr erschweren. Hinzu kam, daß für den 16-mm-Film additiv arbeitende Farbverfahren entwickelt worden waren, die strenge farbige Streifenfilter vor dem Objektiv verlangten und daher viel Licht schluckten. Das war ein weiterer Grund weshalb auch bei diesen Amateurkameras solch enorme Lichtstärken tatsächlich benötigt wurden.

Oben ist ist ein Auszug aus den originalen Aufzeichnungen Willy Mertés zur Rechnung des Biotares 1,4/2,5 cm mit Abschlußdatum vom 16. März 1928 zu sehen [Sammlung Utz Schneider (1943 - 2025)]. Seine Handschrift ist unverkennbar. Dieses Biotar 1,4/2,5 cm als Normalobjektiv für 16-mm-Schmalfilmkameras ist das einzige dieser Biotare 1:1,4 aus der Zeit 1927 bis 1929, bei dem man wirklich von einer echten Großserienfertigung sprechen kann. Es ging bereits Mai 1928 in Produktion und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden etwas über 1300 Stück fabriziert, die zu großen Teilen an Bell & Howell oder Kodak geliefert wurden, aber unter anderem auch an Siemens.

Von diesem Biotar 1,4/2,5 cm, das nach dem Zweiten Weltkrieg als Normalobjektiv für die 16-mm-Reflexkamera AK16 weitergebaut wurde, hat sich in der Sammlung von Günther Benedix ein Optik-Datenblatt erhalten, sodaß hier auch über dessen tatsächlichen Aufbau exakte Angaben geliefert werden können. Demnach wurde in der vorderen Sammellinse ebenfalls nicht BaF9 verwendet, sondern das ältere Schwerstkron SSK1. Der übrige Aufbau gleicht jedoch – auch was die Linsenformen anbetrifft – den Angaben im Patent. Die vordere Kittfläche ist deutlich Richtung Bild gewölbt.

Rechnet man das Biotar 1,4/2,5 cm anhand der originalen Konstruktionsdaten durch, dann ergibt sich bei einer mittleren Brennweite von 25,02 mm eine bildseitige Schnittweite von etwa 15,17 mm. Zum Vergleich: Beim etwas später entstandenen Sonnar 1,4/2,5 cm aus dem Rechenbüro Ludwig Berteles betrug die Schnittweite nur 8,78 mm, was das Sonnar nicht für jede Schmalfilmkamera geeignet machte. Das Biotar mit seiner hinter der Blende liegenden Hauptebene ließ sich sogar an Reflexkameras mit Rotationsspiegel verwenden.
Zweifellos war das Biotar 1:1,4 für die Zeit Ende der 1920er Jahre ein enormer Fortschritt was das Potential zum Auskorrigieren der Abbildungsfehler anbetraf. Die Einschränkung lag lediglich darin, daß der Bildwinkel auf etwa 35 Grad begrenzt bleiben mußte. Für Anwendungen im Laufbild-Bereich war das in Ordnung, denn hier bevorzugte man ohnehin Brennweiten wischen dem Anderthalbfachen und dem Doppelten der Bilddiagonale. Für den Stehbild-Bereich mußte der Bildwinkel jedoch mindestens 10 Grad größer sein, was sich mit der bestehenden Konstruktion und bei dieser großen Lichtstärke nicht realisieren ließ. Merté reagierte darauf, indem er Anfang der 30er Jahre das im folgenden Abschnitt besprochene Biotar 1:2,0 mit Bildwinkeln bis über 55 Grad konstruierte.
Vom lichtstärkeren Biotar wurden in den 30er Jahren nur zwei Typen für allgemeine Aufnahmegeräte entwickelt. Zum einen war dies das hier zu sehende Biotar 1:1,5/1,25 cm für den 8-mm-Schmalfilm. Abschlußdatum war der 29. April 1935. Der Doppelachtfilm war erst 1932 neu eingeführt worden und die gegenüber 16 mm um etwa auf ein Viertel reduzierten Materialkosten sorgten dafür, daß sich viele neue Schmalfilm-Amateuren gewinnen ließen. Angesichts der recht einfachen Aufnahmegeräte und der sehr mäßigen Bildqualität des nur 3,6 x 4,8 mm messenden Filmbildes war das Biotar als Normalobjektiv natürlich ein wenig überzogen. So sind zwischen 1936 und 1941 nicht einmal 1400 Stück hergestellt worden, die fast alle an Niezoldi & Krämer geliefert wurden, um deren Nizo-Kameras damit zu bestücken.

Das zweite dieser lichtstarken Biotare, das noch vor Ausbruch des Krieges geschaffen worden war und tatsächlich noch eine Marktbedeutung erlangte, war das Biotar 1,5/7,5 cm für die neue Kiné-Exakta. Hier bestand die Frontlinse aus SK4. Charakteristisch war zudem die große Dicke der hinteren Sammellinse. Während des Krieges rechnete Willy Merté für die Rüstung Biotarformen mit Lichtstärken bis 1:1,0, die zum Teil nur für den Infrarotbereich ausgelegt waren.
Above: my attempt to make an English version of Willy Mertés historically significant article about his momentous innovation trying not to adulterate his specific diction.
4.3 Das universelle Biotar 1:2,0
Im vorausgegangenen Abschnitt konnte gezeigt werden, daß das Biotar 1:1,4 seinen Ursprung in einem Objektiv für Filmaufmahmekameras hatte und für diesen Einsatzzweck hin hervorragend ausgelegt war. Der Einsatz an Photokameras mag den Experten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre aber noch ziemlich absurd vorgekommen sein. Die Ära der großformatigen Plattenkamera ging gerade erst vorüber. Und selbst an den neuen Rollfilmkameras wäre ein solches Biotar 1:1,4 untragbar gewesen – sowohl in Hinblick auf den Preis wie auch auf das hohe Gewicht. Hinzu kam das Problem, daß für die Photokameras größere Bildwinkel um die 50 Grad verlangt wurden, was das Biotar 1:1,4 nicht leisten konnte. Doch diese hohe Lichtstärke wurde bei den neuen Kleinbild- oder Mittelformatkameras schon aus Gründen der Schärfentiefen gar nicht verlangt.

Doch die Maßstäbe dafür, was möglich und was wünschenswert ist, die veränderten sich seit dem Anbruch der 1930er Jahre mit großer Geschwindigkeit: Die Leica hatte gezeigt, daß das neue Kleinbild 24x36 mm – ein zwischen dem winzigen Schmalfilmbildchen und dem Großformat liegender Kompromiß – die Anwendung extrem lichtstarker Objektive auch für den Stillbildbereich sinnvoll machte. Willy Merté begann daher im Jahre 1931, ein neues Biotar 1:2,0 zu schaffen. Die ersten Musterobjektive waren ein Versuch V5 für ein Biotar 2/4,75 cm vom 1. April und ein Versuch V6 für ein Biotar 2/4,5 cm vom 14. April 1931. Zum 17. Oktober 1931 wurde dann die Rechnung für das oben zu sehende Biotar 2/5 cm fertiggestellt [Bild : Stefan Baumgartner], das für die neue Contax der Zeiss Ikon AG und für die Leica konzipiert war. Es wurden drei Prototyp-Objektive fertiggestellt, doch eine Serienproduktion erfolgte nicht . Stattdessen wurde die Contax dann serienmäßig mit dem Sonnar 2/5 cm von Ludwig Bertele ausgestattet, das zwar von Zeiss Jena hergestellt wurde, für das aber die Zeiss Ikon AG die Patente besaß (siehe auch den Abschnitt ganz am Ende des Artikels).

Die Anwendung der Biotare an Stillbildkameras hatte also einen schleppenden Anfang genommen. Das lag auch daran, daß anfangs noch wenige Kameras im Markt waren, die präzise genug gefertigt waren. Auch stellte sich bald heraus, daß man bei diesen hohen Lichtstärken auch im Kleinbild nicht mehr ohne gekuppelte Entfernungsmesser auskam, wenn man die volle Öffnung wirklich ausnutzen wollte. Dazu kam, daß der Begriff Kleinbild damals noch nicht die Festlegung auf das Format 24x36 mm kannte, die wir heute darunter verstehen. Zum Kleinbild zähle man damals nämlich auch das Nennformat 3x4 cm, wie es u.a. in der oben zu sehenden Zeiss Ikon Kolibri verwendet wurde. Ein am 27. November 1931 abgeschlossenes Biotar 2/4,5 cm war deshalb auf einen vergrößerten Bildwinkel von 55 Grad ausgelegt worden, wodurch ein Bildkreis von 47 mm Durchmesser mit guter Schärfe ausgezeichnet wurde [Vgl. Zeiss Katalog 1933, S. 13/14.]. Dabei konnte ein Blendendurchmesser eingehalten werden, der es erlaubte, dieses Biotar 4,5 cm gerade noch im kleinsten damaligen Compurverschluß C24 unterzubringen, der Verschlußzeiten bis zur 1/300 Sekunde erlaubte und einen guten Wirkungsgrad besaß. Trotzdem wurden nur ein paar hundert Stück u.a. auch für Balda und Krauss gefertigt. Ohne präzisen Entfernungsmesser war dieses Objektiv kaum sinnvoll auszunutzen.

Eine zweite Perspektive für lichtstarke Objektive brachten die neuartigen Kleinbild-Reflexkameras. Wie bei den althergebrachten Platten-Reflexkameras wechselte auch hier das Objektiv kurz vor der Öffnung des Verschlusses von seiner Rolle als Sucher- zu der des Aufnahmeobjektives. Neu war die Kupplung des Spiegels und der Verschlußmechanik mit dem Fortschalten des Filmbandes, was die Anfertigung von mehreren Aufnahmen in kurzen Zeitabständen ermöglichte. Prototyp für diese neue Kamerabauweise war die Exakta 4x6,5 des Ihagee Kamerawerkes in Dresden. Für sie wurde zum 17. Oktober 1933 die Rechnung für ein Biotar 2/8 cm fertiggestellt, wovon dann zwischen Januar 1934 und Januar 1938 wurden knapp 1500 Stück gefertigt wurden und das spezielle Modell der sogenannten Nacht-Exakta ermöglichten. Das oben gezeigte Exemplar stammt aus der vorletzten Serie vom Mai 1937 [Bild: Larry Gubas].

Für die neue Exakta 6x6 wurde im Jahre 1938 ein Biotar 2/10 cm konstruiert, von dem anschließend immerhin etwa 400 Stück gefertigt wurden. Auch von diesem Biotar 2/10 cm hat sich ein Datenblatt erhalten, das genaue Angaben möglich macht. Daraus geht hervor, daß dieses Biotar 2/10 cm vom Grundaufbau her als beispielhaft für die anderen Brennweiten der Biotare 1:2,0 hergenommen werden kann. Auch wenn die verwendeten Glasarten bei den einzelnen Brennweiten geringfügig abweichen, so läßt sich grundsätzlich sagen, daß Merté beim Biotar 1:2,0 von der starken Asymmetrie des Biotares 1:1,4 abgegangen ist. So haben nun beide innere Kittglieder denselben Glasaufbau mit einer Sammellinse aus Schwerkron und einer Zerstreuungslinse aus Leichtflint. Man sieht auch gut, wie beim Biotar 1:2,0 beide Kittflächen mit fast demselben Betrag Richtung Blende gewölbt sind.

Mit der Abbildung oben ist der Versuch unternommen, diese Rückkehr zur höheren Symmetrie im Aufbau deutlich zu machen, indem beispielhaft das Biotar 1,4/2,5 cm einem Biotar 2/3,5 cm gegenübergestellt wird, das Merté für die Arriflex geschaffen hatte. Beim Biotar 1:1,4 findet sich – wie in Abschnitt 4.2 bereits erwähnt – im ersten Kittglied eine Glaspaarung, bei der sehr hochbrechendes Schwerkron mit einem gering brechenden Leichtflint kombiniert wurde. Auf diese Weise ließ sich die Petzvalbedingung erfüllen, womit Merté nach dem Rudolph'schen Prinzip der sammelnd wirkenden Kittfläche die Wölbung des Bildes und den Astigmatismus seines Objektives kontrollieren konnte. Im bildseitigen Kittglied ist hingegen die Zerstreuungslinse aus dem stärker brechenden Schwerflint SF5 einer Sammellinse aus dem niedriger brechenden Barit-Flint BaF9 gegenübergestellt, was eine stark gekrümmte, zerstreuend wirkende Kittfläche ergibt, mit der Merté die sphärischen Abweichungen korrigieren konnte. Im Gegensatz dazu sind beim Biotar 1:2,0 jedoch die zwei inneren Kittglieder so aufgebaut wie beim Biotar 1:1,4 dingseitig, das heißt beide Kittflächen sind hier also sammelnd. Die bildseitige Sammellinse bestand nun jedoch aus dem erst ab 1930 eingeführten, noch höher brechenden Barit-Flint BaF10. Mit diesen Maßnahmen konnte Merté den Bildwinkel von zuvor nur etwa 30 auf über 50 Grad erweitern. Das oben gezeigte Biotar 2/3,5 cm von 1937 deckt auf diese Weise problemlos das gesamte Bildfeld des Stummfilmformates 18x24 mm ab.

Während des Krieges hatte Willy Merté sogar ein Biotar 2/2,5 cm entwickelt, das das Tonfilm-Format 16x22 (Diagonale 27,2 mm) abzudecken vermochte. Es war zweifellos für die Kriegsberichterstatter gedacht. Bei diesem Objektiv bestand die Frontlinse nicht aus SK16 sondern aus dem älteren SSK1, das bei gleicher Brechzahl mit einem ny-Wert von etwa 53,9 etwas stärker dispergierte. Das SSK1 hat aber die Besonderheit, daß es eine geringe, im Positiven liegende anomale Teildispersion im blauen Spektralbereich bietet, was zusätzliche Möglichkeiten bei der Korrektur der chromatischen Fehler bietet. Übrigens weisen auch die Leichtflint-Gläser LF3 und LF5 ein geringes Delta zur "Normalgeraden" auf, das jedoch im Negativen liegt und den Gläsern damit die Charakteristik von Kurz-Flint gibt.

Von diesem Biotar 2/2,5 cm hat sich in Willy Mertés Datenblattsammlung eine Eintragung erhalten, die uns einen Eindruck über die herausragende Korrektur dieser Biotare 1:2,0 vermittelt. Die Kurve für die sphärische Aberration im Koordinatensystem a) schmiegt sich eng an die y-Achse an und ist bis zur Einfallshöhe von 20 mm (immer bezogen auf 100 mm Brennweite!) deckungsgleich mit der Kurve für die Abweichung von der Sinusbedingung, was auf eine sehr gute Beherrschung der komatischen Fehler schließen läßt. Bildfeldwölbung und Astigmatismus (b) sind quasi überhaupt nicht vorhanden. Die Verzeichnung (c) ist ebenfalls für ein Universalobjektiv vernachlässigbar. Es handelte sich bei diesem Biotar 2/2,5 cm also um ein ganz hervorragendes Objektiv und es sei hier schon vorweggenommen, daß man nach 1945 mehrere Anläufe gebraucht hat, um es durch eine modernere Konstruktion und ersetzen. Merté beherrschte sein Metier so gut, daß es ihm gelang, aus seiner Grundkonstruktion das Optimale herauszuholen.

Für die Kleinformate des Normal- und Schmalfilmes sowie der neuen Präzisionskameras des Kleinbildes und Mittelformates bedeuteten die neuen hochlichtstarken Objektive wie das Biotar einen immensen Fortschritt. Wie weit man damals in der Zwischenkriegszeit bereits war, erkennt man auch daran, daß später in der Praxis nur selten über das Öffnungsverhältnis 1:1,4 hinausgegangen wurde, weil beispielsweise die Schärfentiefe im Bereich der Nahdistanzen auf wenige Zentimeter zusammenschrumpft. Noch viel krasser werden diese Zusammenhänge bei größeren Aufnahmeformaten. Eine Objektiv der Öffnung 1:1,4 für eine Plattenkamera 9x12 wäre für die normale bildmäßige Photographie einfach nicht sinnvoll. Auch das Gewicht der großen Glasmassen würde ein solches Objektiv kaum händelbar werden lassen. In diesem Zusammenhang sei noch auf einen anderen Aspekt hingewiesen, den Willy Merté in seinem im Abschnitt 4.2 wiedergegebenen Aufsatz zum neuen Biotar angesprochen hat: die Lichtverschluckung im Glase nämlich, die erst bei längeren Brennweiten als größeres Problem auftrete. Dazu muß man wissen, daß Schwerkron-, Baritflint- und Schwerflint-Gläser zu den optischen Materialien gehören, die im Glaskatalog als gelbgefärbt gekennzeichnet sind. Man muß sich nun vor Augen führen, daß bei kurzbrennweitigen Objektiven nur entsprechend kleine und vor allem dünne Linsen benötigt werden, bei längerbrennweitigen Objektiven diese Linsen aber rasch sehr massiv werden. Erst bei diesen großen Glasstücken macht sich aber bemerkbar, daß in ihnen das Licht in Form von Absorption verloren geht. Solche langbrennweitigen Biotare hätten dann zwar auch rein rechnerisch dasselbe Öffnungsverhältnis, doch der Wirkungsgrad wäre beispielsweise gegenüber einem Biotar für den 8-mm-Film erheblich schlechter, was den gesamten Aufwand für die teure Konstruktion infrage stellen könnte. Als längste Brennweite beschränkte man sich daher beim Biotar 1:1,4 vorerst auf 7 cm. Biotare 1,4/10 und 1,4/14 cm wurden zwar gerechnet, gelangten jedoch nicht in die Serienfertigung. Und selbst beim Biotar 1:2,0 wurden für den regulären photographischen Einsatz keine längeren Brennweiten als 10 cm hergestellt. Eine Ausnahme bildet das oben zu sehende Biotare 2/13 cm, von dem es zwei verschiedene Rechnungen von 1939 und 1940 gibt, und das an den Luftbild-Handkameras von Fritz Völk Verwendung fand. Von diesem Objektiv wurden in den Jahren 1939/40 immerhin etwa 200 Stück montiert und später noch einmal etwa 50 Stück für Victor Hasselblad in Göteborg. Das Bildformat war 7x9 cm [Bild: Baumgartner].

Im Kriege wurde auch noch ein Biotar 2/15 cm gerechnet, das sogar das 9x12-Format ausgezeichnet hätte, von dem aber nur wenige Stück gebaut wurden. Die Rüstungsindustrie des Hitlerregimes trat bald mit ganz anderen Forderungen an die Abteilung Photo heran. Es waren Objektive gefragt, die eine Bobachtung und Aufklärung auch in der Nacht ermöglichen sollten. Dazu arbeitete man mit Restlichtverstärkern auf Röhrenbasis, die nach Objektiven verlangten, die speziell auf den infraroten Spektralbereich getrimmt waren, statt für den sichtbaren Bereich. Auch hier hat Willy Merté intensiv auf den Biotar-Typus zurückgegriffen.
Liste ausgewählter Biotar-Rechnungen
(Nur tatsächlich gefertigte Typen. Der Übersichtlichkeit halber sind alle Brennweiten in Millimeter angegeben)
Biotar 1,4/10 mm | 01. 08. 1955 |
Biotar 1,4/17 mm | 11. 06. 1928 |
Biotar 1,4/20 mm | 23. 10. 1928; 21. 01. 1929; 19. 03. 1948 |
Biotar 1,4/25 mm | 16. 03. 1928; 01. 09. 1955 |
Biotar 1,4/30 mm | 06. 10. 1948 |
Biotar 1,4/40 mm | 21. 07. 1927; 03. 01. 1929 |
Biotar 1,4/50 mm | 15. 03. 1928; 06. 05. 1929; 02. 05. 1950; 10. 09. 1955 |
Biotar 1,4/70 mm | 29. 05. 1929 |
Biotar 1,5/12,5 mm | 29. 04. 1935 |
Biotar 1,5/75 mm | 20. 04. 1938 |
Biotar 1,6/70 mm | 22. 11. 1957 |
Biotar 2/10 mm | 16. 04. 1962 |
Biotar 2/12,5 mm | 13. 03. 1954 |
Biotar 2/20 mm | 05. 12. 1949 |
Biotar 2/25 mm | 03. 11. 1941; 24. 04. 1948; 19. 02. 1954 |
Biotar 2/30 mm | 30. 05. 1956; 17. 04. 1962 |
Biotar 2/35 mm | 09. 02. 1937 |
Biotar 2/40 mm | 28. 12. 1932 (später als Biotar 2/42,5 mm); 07. 12. 1937 (Robot) |
Biotar 2/45 mm | 27. 11. 1932 |
Biotar 2/50 mm | 05. 10. 1954 (Flexon/Pancolar) |
Biotar 2/58 mm | 19. 10. 1936 |
Biotar 2/80 mm | 17. 10. 1933 |
Biotar 2/100 mm | 28. 09. 1938 |
Biotar 2/130 mm | 29. 11. 1939; 09. 07. 1940 |
Biotar 2,8/10 mm | 16. 04. 1962 |
Biotar 4/10 mm | 01. 08. 1955; 16. 04. 1962 |
4.3.1. Das Biotar 2/5,8 cm – Der Gaußtyp wird zum Massenobjektiv
Erst im Laufe der 1930er Jahre entstanden nach und nach neuartige Präzisionskameras, die eine sinnvolle Anwendung solch hoch-lichtstarker Objektive wie das Biotar überhaupt ermöglichten. Ein Beispiel dafür war die oben bereits erwähnte Spiegelreflex-Filmkamera Arriflex, die ein genaues Einstellen der Entfernung auch während der Aufnahme ermöglichte. Für die konzerneigene Kleinbildkamera "Contax" hatten sich jedoch die Sonnare durchgesetzt, die gleiche Öffnungen erreichten und dabei aber deutlich kompakter gebaut waren sowie zwei Glas-Luft-Grenzflächen weniger aufwiesen.
Für die Kameras der Zeiss Ikon AG kamen die Biotare daher kaum zum Einsatz, sondern absurderweise eher für Kameras fremder Hersteller. Ein neues Einsatzfeld dieser Spitzenobjektive tat sich daher auf, als im Jahre 1936 mit der Kiné-Exakta eine Einäugige Reflexkamera den Markt der Stillbildphotographie bereicherte. Sie arbeitete mit dem durch die Leica eingeführten Bildformat 24x36 mm und bot mit ihrer präzisen Mattscheibeneinstellung einerseits die Gewähr für ein sinnvolles Ausnutzen der großen Objektivlichtstärke. Auf der anderen Seite erwies sich ein möglichst helles Sucherbild mit einer "springenden" Scharfstellung als sehr vorteilhaft, weshalb für Reflexkameras solch besonders lichtstarke Objektive bevorzugt wurden, auch wenn sie für die eigentlichen Aufnahmen meist ziemlich weit abgeblendet wurden.

Die Kiné-Exakta war zur Frühjahrsmesse 1936 auf den Markt gebracht worden. Die Abteilung Photo reagierte umgehend auf diese aufsehenerregende Neuerscheinung, indem bereits zum 19. Oktober 1936 die Rechnung für ein lichtstarkes Normalobjektiv fertiggestellt werden konnten, das auf dem Biotar-Typ basierte. Das Optik-Datenblatt oben zeigt uns, daß hier derselbe Glasaufbau angewandt wurde, der fast allen Biotaren 1:2,0 zu Grunde lag. Insbesondere das niedrig dispergierende Schwerkron SK16 und das sehr hoch brechende Barit-Flint BaF10 zählten zu den Spitzengläsern der damaligen Zeit.

Es sei hier vorweggenommen, daß Willy Merté mit diesem Objektiv ein Optimum gefunden hatte, das sich nur schwer übertreffen ließ. Nach 1945 durch Harry Zöllner durchgenommene Versuche, das Biotar 2/5,8 cm bei gleichem Glasaufbau durch Abändern von Radien, Dicken und Abständen –V55 vom 10. Januar 1949 –, oder durch Einführung anderer Glasarten –V58 vom 26. Februar und V65 vom 12. August 1949 –zu verbessern, schlugen allesamt fehl. Selbst der Einsatz der neuen Lanthan-Thorium-Schwerkrongläser in allen Sammellinsen sowie anomal dispergierenden Tief-Flints –V109 vom 20. August 1951 –führten zunächst zu enttäuschenden Resultaten. Dies sollte uns einen Eindruck davon vermitteln, welch eine herausgehobene Stellung im Bereich der Objektivkonstruktion Willy Merté in den 1930er Jahren erreicht hatte.

Als ein Problem beim Einsatz des Doppelgauß an der Kleinbild-Spiegelreflexkamera erwies sich nun jedoch das Gewähren der notwendigen Schnittweite, damit der Spiegel beim Hochklappen nicht anstößt. Weiter oben wurde bereits angedeutet, daß beim Biotar die Baulänge der Optik beträchtlich größer ist als beispielsweise beim Tessar. Speziell beim Biotar 1:2 fällt zudem der außergewöhnlich große erste Luftraum auf, den man bei modernen Gaußtyp-Normalobjektiven so nicht findet. Die Baulänge der Optik war mit 39 mm sogar größer als die reale Brennweite von etwa 58,3 mm. Es fällt zudem auf, daß beim Biotar 2/5,8 cm im Gegensatz zu den anderen Biotaren 1:2,0 die hintere Hauptebene vor der Blende liegt.

Hinter diesen Zusammenhängen verbirgt sich der Grund, weshalb das neue Biotar für die Kiné-Exakta und ähnliche Kleinbild-Reflexkameras diese ungewöhnliche Brennweite von 58 mm aufwies. Allein von der Bildwinkelleistung hätte das Biotar problemlos die nötigen 46 oder 47 Grad erreichen können, die bei einer für das Kleinbild üblichen Brennweite von 50 mm abverlangt werden. Das Problem lag aber darin, daß für den Ablaufweg des Spiegels etwa 37...38 mm Luftraum eingehalten werden mußte. Für 50 mm Brennweite hätte die Schnittweite über 70 Prozent der Brennweite liegen müssen, das Biotar 2/5,8 erreichte aber nur 65 Prozent. Doch anders war das mit der Glas-Technologie der 1930er Jahre nicht zu erreichen. Auch konkurrierenden Herstellern ging es nicht anders. So gab es zwar vor dem Kriege schon ein Schneider Xenon 2/50 mm für die Exakta, aber hier bildete wirklich der hinterste Linsenscheitel den mechanischen Abschluß des Objektivs und war dadurch auch den entsprechenden Beschädigungsgefahren ausgesetzt. Erst mit der Weiterentwicklung dieser lichtstarken Normalobjektive in den 1950er Jahren gelang es, die Brennweite auch für Spiegelreflexkameras allgemein auf den Nennwert 50 mm zu senken. Diesem Trend folgend wurde bei Zeiss Jena im Jahre 1954 ein Biotar 2/50 gerechnet, das später als Flexon und Pancolar für die Praktina und Exakta geliefert wurde. Neue hochbrechende Gläser und eine meniskenförmige Umgestaltung des vorderen Objektivteiles ermöglichten diesen Fortschritt.

Ein prinzipieller Nachteil des Biotare-Typs lag im Vergleich zu einfachen dreigliedrigen Objektiven in der deutlich größeren Streulichtanfälligkeit. Die acht Glas-Luft-Grenzflächen brachten nicht weniger als 28 Spiegelbilder mit sich, die nicht nur zu Lichtverlusten führten, sondern auch die Aufnahme durch falsches Licht völlig verderben konnten [Vgl. Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929, 1943, S. 64.]. Der ganz große Durchbruch des Doppelgauß-Typs fand daher erst nach 1945 statt, nachdem alle Hersteller die Glasoberflächen ihrer Objektive mit den Entspiegelungsschichten belegten.
Bei Zeiss Jena hatte man daher einen interessanten Weg zur deutlichen Milderung dieses Problems gefunden: Beim oben gezeigten, noch in Messing gefaßten frühen Biotar 1:2 f = 5,8 cm aus dem Jahre 1938 fällt nämlich auf, daß dessen Irisblende eine eigentümlich gewölbte Form annimmt, wenn man sie schließt. Und den Hintergrund dafür habe ich zufällig bei Patent-Recherchearbeiten gefunden: Das Deutsche Reichspatent Nr. 591.304 vom 17. März 1933 (Abb. unten) beschäftigt sich mit dem Problem, daß, wenn man lichtstarke Objektive abblendet, das durch das Objektiv durchtretende Licht mit immer kleinerer Apertur abgebildet wird, während der Flächeninhalt der Blende mit verhältnismäßig großer Apertur zur Abbildung gelangt. Durch Reflexion des Lichtes insbesondere an konkaven Oberflächen von Objektivlinsen wird diese hell erleuchete Blende dann wie ein Spiegel auf die lichtempfindliche Schicht projiziert, wo sie mehr oder weniger scharf begrenzte helle Flecke erzeugt. Um diese lästige Erscheinung zu mildern, kam man bei Zeiss Jena auf die Idee, die Öffnung der Blende nicht mehr in einer gleichbleibenden Ebene zu anzuordnen, sondern ihre verschiedenen "Öffnungsstadien" entlang der optischen Achse wandern zu lassen.

Diese aufwendige mechanische Konstruktion konnte nach dem Zweiten Weltkrieg ad acta gelegt werden, als nun die Glasoberflächen von Objektiven generell entspiegelt wurden. Dieses oben gezeigte Exemplar des Biotars 2/5,8 cm gibt sogar ein Beispiel dafür, daß damals auch vor 1945 hergestellte Objektive noch nachträglich mit dem Entspiegelungsbelag versehen wurden. Deutlich ist die charakteristische bläulich schimmernde Glasoberfläche dieser sogenannten Vergütung sichtbar. Aufgrund einer Mitteilung Robert Richters wissen wir zwar, daß zum Zeitpunkt der Herstellung dieses Biotars die Linsenentspiegelung nach dem Verfahren Alexander Smakulas bereits patentiert war und auch praktisch durchgeführt wurde, sie allerdings "jahrelang nur in den wertvollsten Geräten angewandt" worden ist. [Richter, Robert.: Die Bedeutung der Zeiss-T-Optik für die Photographie und Projektion; in: Zeiss-Nachrichten, Sonderheft 5, Dezember 1940, S.1.] Jetzt aber, da das Verfahren erprobt und vollständig durchgebildet worden sei, solle die Linsenentspiegelung "allgemeiner in jedem Gerät verwendet werden, in dem sie von Nutzen sein kann." [Ebenda]. Und bei einem Objektiv mit vielen Linsengruppen und zudem etlichen gegeneinandergestellten konkaven Flächenformen, die sich das Licht quasi wie Hohlspiegel gegeneinander zuspielten, war eine derartige Entspiegelung von geradezu bahnbrechendem praktischen Nutzen.

Das ist die Apparatur, mit der im VEB Carl Zeiss JENA in den 1950er Jahren die Vergütung auf den Glasoberflächen aufgebracht wurde. Das Aufsublimieren des Belags im Vakuum war sichtlich arbeits- und zeitaufwendig und mußte ganz genau kontrolliert werden. [phot. Wolfgang Schröter (1928-2012), Deutsche Fotothek]
Als Normalobjektiv an der damals neuartigen Kleinbild-Reflexkamera dürfte dieses Biotar 2/5,8 cm bzw. 2/58 mm wohl die erfolgreichste Biotar-Schöpfung Willy Mertés gewesen sein. Mit dem Konstruktionsdatum 19. Oktober 1936 wurde es von Carl Zeiss Jena ziemlich genau 25 Jahre lang optisch unverändert hergestellt. Es behielt lange Zeit seine Stellung als Spitzenausstattung für die Exakta, die Praktica und die Spiegel-Contax. Zwischen 1945 und 1961 konnte Zeiss Jena auf diese Weise mindestens 328.000 Exemplare des Biotars 2/58 mm absetzen. Das waren für die damaligen Verhältnisse enorme Mengen angesichts der Tatsache, daß es sich beim Biotar nach wie vor um ein aufwendiges Objektiv handelte. Seine absolute Hochphase hatte es dabei übrigens fast am Ende dieser Erfolgsgeschichte: Allein in den beiden Jahren 1958/59 wurden über 50.000 Stück des Biotars in Springblendenfassung gebaut. Es war halt gleichsam die letzte große Zeit, in der sich insbesondere die Exakta noch als Spitzenkameras auf dem internationalen Markt verkaufen ließ.

Oben ein frühes Nachkriegs-Objektiv mit Normalblende, unten ein Exemplar des in großen Stückzahlen hergestellten Modells mit Halbautomatischer Springblende.

In der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten wurde das Biotar 2/58 übrigens als preisgünstiges Normalobjektiv bis in die Jahrtausendwende hinein in extrem hohen Stückzahlen unter der Bezeichnung „Helios“ gefertigt und in dieser Konfiguration ist es trotz schwankender Fertigungsqualität auch heute noch wegen seiner Abbildungscharakteristik geschätzt. Wenn das keine Anerkennung für die Konstruktionsleistung eines Willy Mertés ist …


Oben: Ein Biotar 2/5,8 cm aus dem Jahre 1950 mit einer schwarz lackierten Aluminiumfassung an einer Kiné-Exakta II. Es gehört zu den letzten Serien, bei denen die Brennweite noch in Zentimetern angegeben war. Ungefähr im Jahresverlauf 1950 wurde diese Größe bei Zeiss Jena alsdann in Millimetern aufgraviert.
Speziell zum Biotar 58 mm dürfte auch noch die folgende Mitteilung des VEB Carl Zeiss JENA von Interesse sein:
„Wußten Sie schon…
... daß zur mathematischen Berechnung des bekannten Foto-Objektivs ‚Biotar‘ 1:2, f = 58 mm 480 Berechnungsgänge notwendig waren, die ein Manuskript von 3200 eng mit Zahlen beschriebene Seiten ergaben, an dem 2 Rechner 3 Jahre lang gearbeitet haben? [...]
… daß das bekannte Foto-Objektiv ‚Biotar‘ 1:2, f = 58mm, in der Ausführung mit Springblende für die ‚Exakta Varex‘ aus 85 Teilen besteht?
… daß zur Herstellung dieses Objektivs 1243 Arbeitsgänge und 336 Kontrollarbeitsgänge erforderlich sind?
… daß bei diesem Objektiv für die Lamellen der Irisblende Schräubchen und Niete verwendet werden, von denen etwa 600 Stück in einem normalen Fingerhut Platz finden?
… daß die Schichtdicke des Transparenzbelages vergüteter Foto-Objektive fast 0,0001 mm beträgt?
… daß die durchschnittliche optische Schleifgenauigkeit bei 0,0006 mm liegt?
… daß durchschnittlich etwa 9 Monate vergehen, ehe ein Foto-Objektiv im Rahmen einer Serie fertiggestellt wird?“
[aus: Steiner, Johannes: Fototaschenbuch 1959, Halle, 1958, S. 156 und 256.]
Für uns heute ist besonders interessant, wie lange der Herstellungsprozeß der Objektive in den 50er Jahren gedauert hat – also vom Schmelzen der Gläser bis zur Auslieferung. Die Angaben bei Thiele beziehen sich immer auf das Fassen des ersten Objektivs der Serie bzw. den Beginn der Endmontage. Von den oben angegebenen 1243 Arbeitsgängen wären das also stets die ziemlich späten.
In den 50er Jahren wurde in der Sowjetunion eine Kleinbild-Spiegelreflexkamera namens Zenit entwickelt, die ebenso wie die Sorki-Sucherkameras auf der technischen Basis der Leica beruhte. Für diese Kamera wurde das in den Jahren 1946/47 nach Krasnogorsk mitgebrachte Biotar 2/58 als Helios-44 gefertigt. Ab den 1970er Jahren wurde diese Optik auch in einer erstaunlich hochwertigen Fassung mit einer kugelgelagerten Druckblende angeboten. Ab den 1980er Jahren wurden die Glasoberflächen dieses Helios-44-M zudem mit einer Mehrschicht-Entspiegelung versehen. Anders als auf vielen russischen Internetseiten angegeben, endete die Produktion des von verschiedenen Werken ausgestoßenen Helios-44-M nicht im Jahre 1999, denn das obige Exemplar trägt eine Seriennummer aus dem Jahre 2001. Damit ist dieser Objektivtyp also mindestens 65 Jahre lang gefertigt worden.
6. Die Entwicklung des Biotars nach 1945
Dieser Abschnitt befindet sich derzeit in Bearbeitung. Es ist umfangreiches Material vorhanden, das erst gesichtet und ausgewertet werden muß.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Schmalfilm ein wichtiges Anwendungsgebiet des Biotars. Als Standardbestückung für die neue 16-mm-Schmalfilm-Spiegelreflexkamera AK16 waren neben einem Flektogon 2,8/12,5 mm ein Biotar 1,4/25 (unten) und ein Biotar 1,4/50 mm vorgesehen. Interessant ist die Verwendung verschiedener Objektivrechnungen. Für das Biotar 1,4/25 mm wurde zunächst auf die weiter oben an der Siemens FII bereits gezeigte Rechnung von Willy Merté vom 16. März 1928 (!) zurückgegriffen. Zum 1. September 1955 war aber eine neue Version abgeschlossen worden, die bereits wenige Wochen später in die Serienfertigung ging. Es wurden etwa 1800 Stück des Biotar 1,4/25 mit der Rechnung von 1928 und reichlich 6700 Stück mit der Rechnung von 1955 hergestellt.

Auch für das Biotar 1,4/50 mm gab es zwei verschiedene Rechnungen. Eine vom 2. Mai 1950, die abe bereits am 10. September 1955 durch eine Neurechnung ersetzt wurde. Auch hier wurden etwa 1900 Stück mit der ersten Rechnung und etwa 6500 Stück mit der zweiten Rechnung produziert. Damit ist auch die Gesamtmenge der gefertigten AK16 und Pentaflex 16 Kameras mit etwa 8500 Stück abschätzbar, da im Prinzip jede Kamera mit jeweils einem dieser beiden Biotare versehen wurde. Auch die Anzahl der Flektogone 2,8/12,5 bestätigt diese Dimension.
Für den 8-mm-Schmalfilm war mit dem Versuch V120 zum 23. Februar 1952 ein Biotar 1,5/10 mm abgeschlossen worden. Da der VEB Zeiss Ikon jedoch zunächst nur eine sehr einfache 8-mm-Kamera herausbrachte, wurde dieses aufwendige Objektiv wieder auf Eis gelegt.

Im Sommer 1956 taucht dasselbe Objektiv wieder auf, allerdings als Biotar 4/10 mm. Wieso ein derart aufwendiges Objektiv für eine so kleine Maximalöffnung? Der Grund lag darin, daß eine hohe Bildleistung gefragt war, denn das Objektiv sollte an einer "Miniatur-Reproduktionskamera" verwendet werden, wo Dokumente auf das kleine Format 2,4 x 3,2 mm verkleinert werden sollten, um dann wieder rückvergrößert zu werden. Dazu wurde bei diesem Biotar 4/10 mm eine feste Blende für das Öffnungsverhältnis 1:4,0 eingebaut. Wie man auf dem Datenblatt sieht gab es später auch noch Abblendungen auf 1:5,6 und 1:8.
Freilich ging es hier nicht um irgendwelche Reproduktionen. Das derart abgeblendete Biotar 4/10 mm wurde in den Mikratkameras vom Typ Uranus eingesetzt, die der Operativ-Technische Sektor des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (OTS) für die Auslandsspionage entwickelt hatte. Es wurden winzige scheibenförmige Filme verwendet, auf denen die Bilder nur 1,4 x 2 mm groß waren. Weil dafür die Brennweite von 10 mm viel zu lang war, wurde später ein Flektogon 2,8/5 mm entwickelt, mit dem man nur noch 75 cm Aufnahmeabstand benötigte. Wichtig für uns ist aber die Bestätigung, daß der Doppelgauß mit verkitteten Innenlinsen zu extrem hohen Bildleistungen getrieben werden kann, wenn man auf die sehr hohe Lichtstärke verzichtet. Daher sind auch Makroobjektive fast ausschließlich nach dem Panar-Biotar-Typus aufgebaut.


Es gab übrigens auch noch ein Biotar 1,8/10 mm, das – mit einer Irisblende versehen – ebenfalls in den ersten Mikratkameras zum Einsatz kam. Interessant ist auch zu sehen, wie die Verwendungszwecke betriebsintern verschlüsselt wurden, damit Unbefugte nicht mitbekamen, daß die Objektive in Wahrheit an die Stasi geliefert wurden. Die Nummern 546133 und 34 beim Biotar 1,8/10 mm stehen also für die ersten Uranus-Modelle ab 1962. Und der Verwendungszweck "SF" beim Biotar 4/10 mm für Schmalfilmkamera ist eine reine Lüge. Weder das originale Biotar 1,5/10 mm noch die abgeblendeten Varianten wurden je serienmäßig in Doppelachtkameras verwendet.

Zu den absolut letzten Biotaren – zumindest unter diesem traditionellen Namen – ist dieses Biotar 1,6/70 mm zu zählen. Es wurde am 22. November 1957 gerechnet und ist lediglich für einen Bildkreis von 17 mm Durchmesser vorgesehen bzw. für einen Bildwinkel von 14 Grad. Zusammen mit einem Biotar 1,4/30 mm war es ursprünglich für den Einsatz an einer Röntgenkamera entwickelt worden. Dieses Anfang der 70er Jahre hergestellte Exemplar war jedoch für einen Restlichtverstärker vorgesehen, der sicherlich militärischen Zwecken diente [Bild: Espen Susort.].

Apropos Röntgen: Nicht für die bildmäßige Photographie, sondern für die Aufnahme des Schirmbildes eines Röntgenapparates sind diese R-Biotare 1:0,85 geschaffen worden [DRP Nr. 607.631 vom 31. Dezember 1932, Bild: Larry Gubas.] Dazu gibt es zwei Dinge zu bemerken: erstens hat der Aufbau mit dem Gaußtyp-Biotar nichts zu tun, sondern es handelt sich um eine eigenständige Konstruktion. Zweitens stammt dieselbe ursprünglich nicht von Zeiss, sondern vom Röntgenlogen Robert Janker aus Bonn, wie man aus der von Willy Merté geführten Zeiss-Datenblattsammlung hervorgeht. In der Fachliteratur gab sich Merté hingegen selbst als Errechner an [Vgl. dazu Merté: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929, 1943, S. 71]. Möglicherweise bezog sich letzteres nur auf die Durchrechnung der einzelnen Varianten – wie hier für die Brennweite 5,5 cm.

Da mit diesem ultra-lichtstarken Objektiv nur eine flache Ebene abgebildet wurde, spielte die nicht vorhandene Schärfentiefe keine Rolle. Auch chromatisch war keine weitgetriebene Korrektion nötig, da nur die Farbe des Leuchtstoffes des Schirmbildes zählte. Der Durchmesser des Bildkreises entsprach etwa ein Viertel der Brennweite. Auch die nach 1945 gerechneten Röntgen-Biotare können nicht durchweg dem Doppelgauß zugerechnet werden.
7. Biotar versus Sonnar – konzerninterne Rivalitäten
Abschließend vielleicht noch ein paar Worte zur Bedeutung des Biotartypus im Zeisskonzern schlechthin. Das berühmte Biotar 2/58 sticht ja vor allem deshalb hervor, weil es in mehr als 20 Jahren in solch großen Stückzahlen gefertigt wurde. Doch seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre waren Bestrebungen erkennbar, den Biotartyp generell als neuen Standard für lichtstarke Normalobjektive bei Zeiss Jena durchzusetzen und damit ein Gegengewicht zum zunächst zahlenmäßig stark dominierenden Sonnartyp zu schaffen.
An dieser Stelle habe ich versucht, den Werdegang des konkurrierenden Sonnars in knapper Form aufzuzeigen. Dieser Objektivtyp mitsamt seinem Konstrukteur Ludwig Bertele müssen stets vor dem Hintergrund des Konzerngefüges Zeiss Jena – Zeiss Ikon gesehen werden sowie der Geschichte deren Vorgängerfirmen. Denn trotz der Tatsache, daß die Zeiss Ikon eine Kamerabauanstalt "von Jenaer Gnaden" gewesen ist, behielt sich Dresden doch lange Zeit noch eine erstaunliche Selbständigkeit vor. Ablesen kann man das eben unter anderem daran, daß Zeiss-Ikon-Kameras bevorzugt mit den firmeneigenen Sonnaren ausgerüstet wurden – das gilt gleichermaßen für Kleinbild- wie für Schmalfilmkameras. Biotare gab es hier allenfalls zusätzlich. Auffallend ist jedoch, daß, abgesehen vom professionellen Einsatz im Bereich der Kinematographie, Sonnare als Standardbestückung nur in seltenen Fällen für Kameras anderer Firmen geliefert wurden. Was also lichtstarke Normalobjektive betrifft, wurden für Kamerahersteller außerhalb des Zeisskonzerns bevorzugt speziell gerechnete Biotare geschaffen. Solche externen Kamerahersteller waren in der Zwischenkriegszeit allem voran naturgemäß die Ihagee mit ihren Exaktas, ab 1938 aber auch gefolgt von den aufstrebenden Kamera-Werkstätten Niedersedlitz mit ihrer Praktiflex.

Aber auch das oben gezeigte Biotar 2/4 cm für den (nicht "die") Robot aus dem Jahre 1938 ist ein Beispiel für diese Praxis. Obgleich ein Sonnar-Objektiv für diese Kleinbildkamera mit seinen drei Glas-Luft-Grenzflächen damals vielleicht günstiger gewesen wäre, lieferte Zeiss Jena selbstverständlich ein Biotar aus dem eigenen Konstruktionsbüro, statt ein in Dresden entwickeltes Sonnar. Diese Zusammenhänge – man könnte quasi von konzerninternen Animositäten sprechen, die größtenteils noch aus Zeiten der Vorgängerbetriebe herrührten – sind mir erst in den letzten Wochen so recht bewußt geworden. Man kann auf jeden Fall den Eindruck gewinnen, daß man in Jena ungern als bloße Linsenschleiferei für in Dresden entwickelte Objektive gedient hat.

Das gesamte, aus heutiger Sicht verquer anmutende Verhältnis zwischen Dresden und Jena, läßt sich nun besonders plastisch anhand des oben abgebildeten Sonnares 2/4 cm aufzeigen, das doch sehr den Eindruck eines konzerninternen Konkurrenzobjektives hinterläßt. Mit einer Lichtstärke von 1:2,0 und einer Brennweite von 4 cm bot es nicht nur dieselben optischen Daten, sondern erfüllte darüber hinaus auch noch denselben Einsatzzweck: Das Biotar 2,0/4 cm und das Sonnar 2,0/4 cm waren beide Normalobjektive für Kleinbildkameras des Aufnahmeformates 24x24 mm. Das Sonnar wurde für die Tenax II geschaffen, das Biotar für den Robot II. Beide Objektive wurden im selben Jahr konstruiert; das Sonnar am 16. April 1937, das Biotar am 7. Dezember 1937. Zwei Spitzenobjektive also, die quasi dieselbe Aufgabe erfüllten. Ich kann leider nicht umhin, aus diesen Fakten eine eindeutige Rivalität zwischen dem Jenaer und dem Dresdner Konstruktionsbüro des Zeisswerkes herauszulesen. Dazu muß man sich auch noch einmal vergegenwärtigen, wie unglaublich aufwendig das Errechnen eines Objektives in den 30er Jahren gewesen ist. Aber Prestige und Vormachtstellung gegenüber dem konzerninternen Konkurrent scheinen wichtiger gewesen zu sein, als Aufwand und Kosten. Erst äußerer Druck von höchster politischer Seite unter dem Zustand der Kriegswirtschaft hat dazumal diesem Spiel ein Ende setzen können (vergleiche wiederum hier).

Zum Biotar 2,0/4 cm möchte ich abschließend noch ein Wort verlieren; es existieren nämlich zwei grundverschiedene Varianten. Das oben gezeigte, das wie gesagt für den Robot mit seinem kleineren Bildformat 24x24 mm ausgelegt gewesen ist und das am 7. Dezember 1937 gerechnet worden war, sollte keinesfalls mit einem namensgleichen Biotar 2,0/4 cm verwechselt werden, das als Rechnungsabschluß den 28. Dezember 1932 hat und das als eine Art lichtstarkes Weitwinkel für die Contax angeboten wurde. Mehr als 350 Stück wurden von Letzterem aber bis 1935 nicht fabriziert. Das Robot-Biotar war hingegen mit mehr als 16.000 Stück für damalige Verhältnisse ein regelrechtes Massenobjektiv – ja es war bis 1945 noch vor dem Biotar 2/5,8 cm (ca. 4000 Stück) das am meisten hergestellte Biotar für die Kleinbildkamera. Man sieht auch daran wieder, daß sich das Biotar erst nach und nach durchsetzen konnte. Daran hatte, wie bereits erwähnt, die Einführung der Entspiegelungsschichten einen ganz bedeutenden Anteil.

Außerdem: Viele Contax-Anwender und Sammler sind verwirrt, weil es später noch ein Biotar 2/4,25 cm (bzw. Biotar 2/4¼ cm, Bild: Anton Haasnoot) gegeben hat. Lassen Sie sich nicht durcheinander bringen! Es handelt sich um haargenau dasselbe Biotar vom 28. Dezember 1932, das ich oben bereits als Contax-Weitwinkel erwähnt habe. Zeiss war nur gezwungen, ab dem 1. Januar 1938 den tatsächlichen Wert der Brennweite dieses Objektives anzugeben, nachdem dieser Nennwert jetzt nicht mehr als 6% vom tatsächlichen Meßwert der Brennweite abweichen durfte [Vgl. Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 15f.]. Aus diesem Umstand heraus ist leicht erklärbar, weshalb die letzten 250 im Jahre 1938 hergestellten Contax-Biotare nunmehr mit der "ehrlichen" Angabe 4,25 cm graviert worden sind, obgleich sich am optischen Aufbau nichts geändert hatte.

Die Rivalität "Sonnar versus Biotar" ist übrigens sogar in der Nachkriegszeit noch einmal aufgeflammt. Für die neue Spiegelcontax war um 1948 in Dresden eigentlich ein passendes Sonnar 2/57 mm geschaffen worden. Es wurde offenbar unter Robert Geißler konstruiert [DD4228 vom 24. November 1951] und auch in der Zeiss-Ikon-eigenen Optikfertigung im Betriebsteil Dresden-Reick (Mügelner Straße 40) in kleinen Stückzahlen hergestellt. Die Argumentation des VEB Zeiss Ikon lag seinerzeit darin, daß mit dem Namen "Contax" seit langer Zeit auf dem Weltmarkt der Name "Sonnar" verbunden sei und man aus Sicht der Werbung nur schwer den Umstieg auf das Biotar vermitteln könne. [Vgl. Thiele, Fotoindustrie, 2013, S. 27]. Das Problem lag aber darin, daß Harry Zöllner in einem Aufsatz von 1949 ohne großen Interpretationsspielraum bereits nachgewiesen hatte, daß für Spiegelreflexkameras das Biotar dem Sonnar weit überlegen ist. Damit war für Zeiss Ikon das Projekt Sonnar 2/57 mm gestorben. Trotz seines sehr hohen Preises, der aufgrund entsprechender Zollaufschläge selbst den US-Export der DDR-Kameras nachteilig beinflußte, wurde das Biotar 2/58 mm in der Folgezeit auch für die Spiegelcontax zur hochwertigsten Objektivausstattung.
Daran, daß ab den späten 40er Jahren die Sonnare als Normalobjektiv bei Zeiss Jena quasi keine Rolle mehr spielten, dürften nicht zuletzt die Entscheidungen Harry Zöllners entscheidend beigetragen haben, der den Leistungsvorsprung des Biotares stets betont und (wie wir heute wissen) in Hinblick auf zukünftige Entwicklungen auch korrekt eingeschätzt hat. Schon kurz darauf beginnt eine geradezu stürmische Leistungssteigerung des lichtstarken Doppelgauß statt, über die man in den einleitenden Bemerkungen zum Flexon 2/50 mm Näheres lesen kann.

Oben: Eine Aufnahme mit dem Biotar 2/58 mm bei Blende 2,8 und 1/1000 Sekunde. Die verwendete Contax F war 1956 mit einer im Spiegelkasten untergebrachten Übertragung versehen worden, die beim Durchdrücken des Auslösers die Halbautomatische Springblende des Biotars kurz vor der Aufnahme zuspringen ließ. Das war in der Praxis ein sehr angenehmer Fortschritt.
Wiederum gilt unser Dank dem Diplom-Mathematiker Günther Benedix, der im Jahre 1992 die Unterlagen des Zeiss-Photo-Rechenbüros aus dem Chaos der Liquidation des Werkes gerettet hat. Speziell danken möchte ich zudem meinen Kollegen Hao Liang, der mir völlig uneigennützig seine Recherchen zu Willy Merté in den National Archives der USA zur Verfügung gestellt hat.
Marco Kröger
letzte Änderung: 31. Oktober 2025

Yves Strobelt, Zwickau
zeissikonveb@web.de

Wir bitten, von Reparaturanfragen abzusehen. Auch geben wir keine Anleitungen zum Nachbau der hier gezeigten Geräte. Die Seiten zur historischen Entwicklung der Phototechnik geben den derzeitigen Stand der Erkenntnis wieder, der ggf. ergänzt und erweitert wird.