Biotar

Planar und Biotar

Inbegriffe des lichtstarken Gaußtyps

Biotar 1,4/2,5cm

Hochlichtstarke Normalobjektive wie das Biotar oder das zeitgenössische Xenon von Schneider sorgten ab etwa 1930 für neue Impulse in der Photographie und in der Kinematographie. Die damals sprunghafte Verkleinerung der Aufnahmeformate durch das Aufkommen des Kleinbildes und des Schmalfilmes ließ eine Verwendung derart lichtstarker Systeme für die bildmäßige Photographie überhaupt erst sinnvoll werden. Galt seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein anastigmatisch auskorrigiertes Objektiv mit einer maximalen Öffnung um 1:4 als ausgesprochen lichtstark, so hatte sich drei Jahrzehnte später diese Grenze mit Lichtstärken bis 1:1,4 um ganze drei Größenordnungen nach oben verschoben. Daß dies quasi auch heute noch der Oberwert für praktisch verwendbare Photoaufnahmeobjektive ist, zeigt, wie weit man vor etwa 100 Jahren bereits gekommen war.

1. Rudolphs Planar und der Kampf gegen die Sphärochromasie

Dabei war das Fundament für eine derartige Anhebung der Lichtstärken bereits um das Jahr 1900 gelegt worden. Wenn auch in den 20er und 30er Jahren das Erzielen sehr lichtstarker Objektive zunächst anhand der Weiterentwicklung des Triplettyps versucht wurde (Ernemann Ernostar, Leitz Hektor, Astro Pantachar u.a.), so haben sich in der Folgezeit auf diesem Gebiet fast ausschließlich Abwandlungen des sogenannten Doppel-Gauß als Grundlage durchgesetzt. Und für diese Objektivbauform spielt historisch gesehen das Planar-Objektiv von Paul Rudolph eine zentrale Rolle. Mit seinem Reichspatent Nr. 92.313 vom 14. November 1896 fällt Rudolph nämlich die Priorität zu, als erster das sogenannte Gaußobjektiv mit seinen vielversprechenden Korrektionsmöglichkeiten im Hinblick auf die Beseitigung der Farbfehler für den Einsatzfall des photographischen Objektivs brauchbar gemacht zu haben, indem er gleichzeitig den bei diesem Typus bislang nicht beherrschbaren Astigmatismus korrigieren konnte.

Paul Rudolph Zeiss Jena

Doch was bedeutet dieser in der Phototechnik oft vorkommende Begriff "Gauß-Objektiv" eigentlich? Er steht zunächst für eine besondere Bauform eines der wichtigsten Konstruktionselemente der Optik: den Achromaten. Dieser gestattet, die stets mit der Brechung des Lichtes einhergehende Zerlegung in dessen Spektralfarben im Zaume zu halten. Achromate waren schon lange vor der Verbreitung der Photographie bekannt und wurden insbesondere beim Bau von Fernrohren eingesetzt, da hier Farbsäume aufgrund der starken Vergrößerung der Abbildung besonders störend in Erscheinung traten. Dabei lassen sich diese Achromate grob in zwei große Gruppen einteilen: Einmal in solche nach Joseph von Fraunhofer und zweitens in diejenigen nach Carl Friedrich Gauß [Vgl. Rohr, Moritz von: Ueber das Planar; in: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 12/1898, S. 70ff].

Fraunhofer-Achromat und Gauß-Achromat

Der Fraunhofer-Achromat, bei dem durch geeignete Glaswahl die beiden Linsen miteinander verkittet werden konnten, war die Grundlage für den Aplanat-Typus gewesen, der die Photoaufnahmeobjektive in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stark dominiert hatte. Mit zwei symmetrisch zu einer Mittelblende gegeneinander gestellten derartigen Achromaten konnten Farblängs- und Farbquerfehler sehr gut behoben werden, es blieben jedoch Reste an sphärischen Fehlern. Ferner ergaben sich eklatante Randverzerrungen aufgrund von Bildfeldwölbung und Astigmatismus, die den ausnutzbaren Bildwinkel stark einschränkten. Paul Rudolph war es in den Jahren 1889/90 gelungen, mit einem völlig asymmetrisch aufgebauten Objektiv zum ersten Male dieses problematische Auseinanderlaufen der Bildschalen zu eliminieren sowie beide Bildschalen stark abzuflachen. Doch so revolutionär sein Protar-Anastigmat auch gewesen war bald zogen konkurrierende Firmen mit sogenannten Doppelanastigmaten nach. Dabei handelte es sich gewissermaßen um auf Beseitigung des Astigmatismus getrimmte Aplanate. Paul Rudolph mußte die Erfahrung machen, daß Konkurrenten wie namentlich Emil von Höegh zum Teil unter Ausnutzung seiner Korrekturprinzipien Doppelanastigmate wie das Dagor entwickelt hatten und sich die Herstellerfirma Goerz damit sogar erfolgreicher am Markt placieren konnte. Besonders schwerwiegend scheint aber gewesen zu sein, daß dadurch die weitere patentrechtliche Absicherung dieses Objektivtyps für das Zeisswerk verbaut war.

Sphärochromasie

Für Paul Rudolph scheint dies der Anlaß gewesen zu sein, Mitte der 1890er Jahre den Fraunhofer-Typ des Achromaten als Grundlage eines Doppelobjektives gänzlich zu verlassen und das Augenmerk dagegen auf den besagten Gauß-Achromaten zu richten. Dieses im Jahre 1817 erstmals veröffentlichte Fernrohrobjektiv zeichnete sich durch das äußerliche Charkteristikum aus, daß sowohl die Sammel- als auch die Zerstreuungslinse jeweils meniskenförmig durchbogen waren. Carl Friedrich Gauß' großes Verdienst lag aber vielmehr darin, daß er mit seinem Achromaten erstmals das Ausbrechen des Kugelgestaltsfehlers über das Lichtspektrum hinweg in den Griff bekommen hatte. Dieses schwerwiegende Problem der farbabhängigen Abweichung der sphärischen Aberration hatte die Anhebung der Lichtstärke von Objektiven über ein gewisses Maß hinaus bislang stets vereitelt. Das Problem wird in Fachkreisen Sphärochromasie oder auch Gaußfehler im engeren Sinne genannt. Wenn auch der Öffnungsfehler eines lichtstarken Objektivs für den sichtbaren Bereich im Gelbgrün gut auskorrigiert sein mag, so kann gleichzeitig die Korrektion für rotes oder blaues Licht vollkommen unzureichend ausfallen. Auch die sphärische Aberration schiefer Büschel kann bei unterschiedlichen Lichtfarben stark ausbrechen. Diese als Farbquerkoma bezeichnete Erscheinung gehört daher zum Gaußfehler im weiteren Sinne. Die hinter diesen Abbildungsfehlern stehenden Zusammenhänge sind für den Laien kaum noch verständlich, müssen aber vom Konstrukteur sehr genau beachtet werden, wenn er lichtstarke Objektive schaffen möchte.

Zeiss Planar 1:3,8

Der phototechnischen Entwicklung um etwa zwei Jahrzehnte voraus: Ein Planar 3,8/160 mm mit der Seriennummer 26.728 aus dem Jahre 1898. Bild: Sebastian Philipp Manke

Genau diese Aussicht auf eine Anhebung der Lichtstärke weit über das bei Anastigmaten bislang erreichte Niveau hinaus muß der Ansporn für Paul Rudolph gewesen sein, seine bisherigen Arbeiten zum Protar und zu den Satz-Anastigmaten ruhen zu lassen und sich gänzlich auf das Gauß-Objektiv zu konzentrieren. Freilich war Paul Rudolph nicht der erste, der auf die Idee gekommen war, zwei zu einer Mittelblende symmetrische Gauß-Achromate als Grundlage für ein Photoobjektiv herzunehmen. Nennenswerte Erfolge waren jedoch bislang damit nicht erzielt worden. Schließlich lag die Schwierigkeit darin, gleichzeitig die für Photoobjektive nötige anastigmatische Bildfeldebnung zu erreichen. Während mit einem Fernrohrobjektiv dem speziellen Verwendungszweck entsprechend nur ein sehr enger Feldwinkel visuell betrachtet wird, muß in der Photographie der Gegenstand unter einem möglichst großen Bildwinkel mit gleichmäßiger Schärfe bis in die äußeren Randbereiche des Bildfeldes auf die ebene Photoplatte geworfen werden.  Paul Rudolph gelang es, trotz der hohen Lichtstärke seines neuen Planars perfekter als je zuvor die sogenannte meridionale und sagittale Bildschale einander anzunähern und gleichzeitig das Bild so abzuflachen, daß es gewissermaßen plan auf der Bildebene zu liegen kam. Daher schließlich auch der Name dieses neuartigen Objektives.

Paul Rudolph Planar 1896

Diese beiden Zeichnungen stammen aus Rudolphs Planar-Patent Nr. 92.313 von 1896. Links die Grundform des Gauß'schen Fernrohrobjektivs (Anmerkung: Beim ursprünglichen Gauß-Achromaten hatten sowohl Positiv- wie Negativlinse Meniskenform.) Rechts das zum Doppelobjektiv erweiterte Planar Rudolphs.

Damit hatte Paul Rudolph erstmals das Gauß-Objektiv sowohl auf eine ausgezeichnete anastigmatische Bildfeldebnung, als auch auf eine gute sphärische Korrektur gebracht. Die Erfüllung der Sinusbedingungen, die in den Einzelhälften zunächst außer Acht gelassen worden war, erreichte er dadurch, daß er zwei solcher identischen Gauß'schen Achromate symmetrisch zu einer Mittelblende anordnete [Vgl. Rohr, Moritz von: Theorie und Geschichte des photographischen Objektives, 1899, S. 390.]. In der Fachsprache werden dafür die Ausdrücke homologe Glieder bzw. holosymmetrische Anordnung verwendet. Damit waren die Voraussetzungen für das Erreichen eines für photographische Zwecke ausreichenden Bildwinkels gegeben sowie die Anhebung der Lichtstärke auf ein bei Anastigmaten bislang nicht gekanntes Maß. Eine einigermaßen zufriedenstellende Ausnutzung des großen Potentials des Gauß-Doppelobjektives in bezug auf die sphärochromatische Korrektur gelang Rudolph jedoch erst, als er eine von ihm kurz zuvor entwickelte spezielle Korrekturmethode in den Gaußtyp implementierte: seine hyperchromatische Zerstreuungslinse [DRP Nr. 88.889 vom 17. März 1896].

Planar 4,5/5cm

Ein Planar 4,5/50 mm etwa im Frühjahr 1900 hergestellt. Diese für damalige Verhältnisse sehr kurze Brennweite deutet auf eine Anwendung beispielsweise im mikrophotographischen Gebiet hin.

Die Einführung einer Vielzahl neuartiger Glasarten durch die Schott'sche Fabrik in den 1890er Jahren hatte zu der glücklichen Lage geführt, daß auf einmal für eine gegebene Brechzahl Gläser mit unterschiedlichen Farbzerstreuungen verfügbar waren und umgekehrt. Um sein Gauß-Doppelobjektiv achromatisieren zu können, ohne jedoch dabei die für die sphärische und astigmatische Korrektur gefundene Linsenform der inneren Zerstreuungslinsen antasten zu müssen, zerlegte Paul Rudolph diese jeweils in eine Sammel- und eine Zerstreuungslinse, die miteinander verkittet wurden. In dem dabei gewonnenen Kittglied kombinierte er zwei Glasarten, die zwar dieselbe Brechzahl aufwiesen, aber völlig unterschiedliche Farbzerstreuungen. Das führte dazu, daß sich dieses Kittglied in bezug auf die Brechkraft wie eine Einzellinse verhielt, mit einer Änderung der Durchbiegung der entstehenden Kittfläche sich jedoch dessen chromatische Wirkung in weiten Grenzen variieren ließ.

Planar sphärochromatische Korrektur

Wie in der obigen Abbildung zu erkennen, konnte auf diese Weise beim neuen Planar die farbabhängige Variation des Öffnungsfehlers für damalige Verhältnisse stark zurückgedrängt werden. Einerseits war dies die Grundvoraussetzung für das Erzielen eines mit Öffnungen von 1:3,8 oder gar 1:3,6 seinerzeit ungewöhnlich lichtstarken Anastigmates. Wurde aber andererseits auf übermäßige Lichtstärke verzichtet, so konnte der neue Planar-Typ durch ein Zurückdrängen des sogenannten sekundären Spektrums auf ein Maß der Farbkorrektur gebracht werden, das erstmals apochromatische Objektive für die damals äußerst bedeutsamen Reproduktionszwecke ermöglichte.

Planar Zeiss

Mit diesen Eigenschaften war das Planar jedoch seiner Zeit weit voraus. Als Universalobjektiv eignete es sich damals an der Wende zum 20. Jahrhundert aus verschiedenen Gründen nicht. Moritz von Rohr urteilte im Jahre 1899 in seiner etwas verklausulierten Art: "Theoretisch bedeutet die Konstruktion des Planars eine gleich einschneidende Neuerung, wie es die der Anastigmatdoublets [vom Dagor-Typ] war; nur praktisch wird sich das nicht derartig fühlbar machen, da sich in der Zwischenzeit durch die Einführung der Anastigmatkonstruktionen die Qualität der besseren marktfähigen Objektive ganz ungemein gehoben hat" [Rohr, Moritz von: Theorie und Geschichte des photographischen Objektives, 1899, S. 391.]. Mit anderen Worten: Es war damals schon klar, daß das Planar nicht als Massenobjektiv insbesondere für den aufkommenden Markt der Amateurphotographie geeignet ist. Als Anzeichen für die herausragende Stellung Paul Rudolphs innerhalb der damaligen Photooptik steht die Tatsache, daß er diese Marktlage richtig zu analysieren vermochte und bereits im Jahre 1902 mit dem Tessar den nächsten Meilenstein schuf, der sich in den folgenden Jahrzehnten als ausgezeichnetes Universalobjektiv erweisen sollte.

Planar

In Eders Jahrbuch 1898, wo das neue Planar erstmals vorgestellt worden war, fand sich auch diese Meldung, wonach es in den Handel gekommen sei. Der zweite Satz macht deutlich, daß über die begrenzte ökonomische Verwertbarkeit der Neukonstruktion von Anfang an völlige Klarheit herrschte und die Herstellerfirma nicht erst aus schleppenden Verkaufszahlen heraus darauf zu schließen brauchte. [aus: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Nr. 12/1898, S. 343.].

2. Das Apochromat-Planar

Aber noch bevor das Tessar den Höhepunkt seiner Schaffensperiode bei Zeiss einläutete, hatte Paul Rudolph bereits um das Jahr 1900 auf Basis seines Planartyps einen Erfolg in der Beseitigung der sphärochromatischen Fehler erreichen können, der heute leider beinah vergessen ist. Zu den herausragenden Eigenschaften des Planars als Prototyp für den Doppelgauß mit verkitteten inneren Zerstreuungslinsen gehörte, wie oben bereits gezeigt, daß sich eine sehr schlanke Kurve für die sphärische Aberration erzielen ließ mit einer sehr geringen Ausprägung der sonst oft zu verzeichnenden sphärischen Zwischenfehler (der sogenannten "Zonen"). Das war die Voraussetzung dafür, daß mit diesem Doppelgauß jene außergewöhnlich hohen Lichtstärken zu erzielen waren, ohne daß derartige Zonenfehler das überöffnete Objektiv zu einem bloßen Weichzeichner machten. Dieses Potential zur Begrenzung der sphärische Aberration führte dazu, daß bereits das "normale" Planar bei leichter Abblendung als Reproduktionsobjektiv eingesetzt werden konnte, weil es Einzelheiten im Original mit einer hohen Strichschärfe wiedergeben konnte. Dieses Spezialgebiet der Photographie hatte bis zum allmählichen Durchsetzen der elektronischen Bildverarbeitung in den 1960er und 70er Jahren eine enorme Bedeutung, da die photomechanische Reproduktion quasi die Grundvoraussetzung für die gesamten Druckverfahren bildete. Diesem Anwendungsbereich kam auch die ausgezeichnete astigmatische Bildfeldebnung des Planars zugute, denn schließlich mußten die flachen Vorlagen auch bis in die äußersten Randzonen kompromißlos scharf wiedergegeben werden.

Apo-Planar 1902 Glasarten

Bei den extremen Anforderungen, welche die Reproduktionsphotographie an die Abbildungsgüte der damaligen Objektivs stellte, machte sich aber ein verbliebener Restfehler bemerkbar: Normalerweise wurden Objektive für zwei Farben des sichtbaren Spektrums streng korrigiert und die verbliebenen Farben führten im Bild zu leichten Farbsäumen, die sekundäres Spektrum genannt werden. Dieser Restfehler ergab sich daraus, daß bei bisher üblichen Glaspaaren die Farbzerstreuung der gegensätzlich brechenden Linsen eines Achromaten nicht proportional zueinander verlief. Diese Situation änderte sich schlagartig, als die Schott'sche Glasfabrik Ende der 1890er Jahre sogenanntes Fernrohr-Flint liefern konnte, das einen stark abweichenden Verlauf der Dispersion zeigte [Vgl. Rudolph, Paul: Das Planar mit vermindertem secundären Spectrum; in: Photographische Correspondenz, 1902, S. 193.]. Später wurde für diese Glasarten die Gruppe der Kurz-Flinte neu geschaffen. Mit ihnen wurde es nun möglich, das Planar apochromatisch auszukorrigieren. Nach der von Ernst Abbe im Jahre 1886 geschaffenen Begriffsdefinition wurde von einem Apochromat nicht nur die Beseitigung des sekundären Spektrums (also der chromatischen Längs- und Querabweichung) abverlangt, sondern auch die Korrektur der farbabhängigen Variation der sphärischen Aberration (Sphärochromasie) für wenigstens zwei Farben.

Apo-Collinear und Apo-Planar

Diese Apochromat-Planare wurden aber zunächst nicht offiziell, sondern lediglich auf besondere Bestellung gefertigt, weil die regelmäßige Versorgung mit den neuen Gläsern nicht sogleich sichergestellt werden konnte. Nachdem dieses Hindernis jedoch beseitigt worden war, erfolgte ab dem Frühjahr 1901 die reguläre Aufnahme dieses Objektivs in den Katalog der Firma Zeiss [Vgl. Harting: Ueber die Theorie des Apochromatcollineares; in: Photographische Korrespondenz, 1901, S. 522ff.]. Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, daß der Konkurrent Voigtländer ab Herbst 1900 ein von Hans Harting konstruiertes Apo-Colliniear 1:9 lieferte [Vgl. ebenda S. 195.]. Als Reaktion auf die Vorstellung dieses Apo-Collinears im Jahre 1901 folgte daher diejenige des Apo-Planars gleich im Jahr darauf. Oben sind diese beiden Objektive im Hinblick darauf gegenübergestellt, wie die Behebung der Sphärochromasie gelungen war [Nach Rudolph, Paul: Das Planar mit vermindertem secundären Spectrum; in: Photographische Correspondenz, 1902, S. 201.]. Trotz des bereits für damalige Verhältnisse sehr guten Leistungsstandes des Apo-Collinears konnte Paul Rudolph mit seinem Apo-Planar ein Konkurrenzerzeugnis schaffen, das gewissermaßen gänzlich von sphärischen Zwischenfehlern befreit werden konnte. Die Brennpunkte aller vier Farben drängten sich in einem Bereich zusammen, der nicht mehr als 1 Promille von der besten Einstellebene in Achsennähe abwich. Bis zu einer Einfallshöhe von etwa 6 mm entsprechend einer Abblendung auf f/8 blieb das auch so, um bei voller Öffnung bis auf 3 Promille anzuwachsen. Das war bei einem anastigmatisch auskorrigierten Objektiv bislang unerreicht.

Apo-Planar 1902

Neben der Reproduktionsphotographie fand das neue Apo-Planar 1:6,3 aber auch in der Astrophotographie nun eine bevorzugte Anwendung, da hier das Erzielen allerfeinster Zerstreuungsfiguren die Voraussetzung zur meßtechnischen Auswertung der Sternaufnahmen bildete. Im Bereich der astronomischen Beobachtung waren bei Zeiss unter Max Pauly zuvor schon große Fortschritte durch apochromatisch korrigierte Fernrohrobjektive erzielt worden. Es ist verständlich, daß in der Astro-Photographie keine hohen Stückzahlen dieser Apo-Planare absetzbar waren und selbst für die Repro-Photographie wurden kurze Zeit später die deutlich günstigeren Apo-Tessare geschaffen, die bei Zeiss Jena bis Ende der 60er Jahre gefertigt wurden und im Gegensatz zum Apo-Planar ganz beachtliche Stückzahlen erreichten.


Planare hingegen, die in Form von achromatischen und apochromatischen Aufnahmesystemen an die Grenzen des damals Machbaren gingen, fanden zunächst kaum Verbreitung. Es sollten weitere drei Jahrzehnte vergehen, bis das Doppelgaußobjektiv mit verkitteten inneren Zerstreuungslinsen, wie es Paul Rudolph in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts geschaffen hatte, sukzessive zum zentralen Konstruktionsprinzip aller lichtstarker Hochleistungs-Anastigmate werden wird.

3. Zwischen Planar und Biotar – auf der Suche nach dem Anschluß an die Spitzenposition

Auf diese sehr bescheidene Marktbedeutung seines Doppelgauß reagierte Paul Rudolph also unmittelbar nach Fertigstellung des Apo-Planars mit der Entwicklung seines Tessars. Doch zu jenem Zeitpunkt, als sich mit dieser Triplet-Variante endlich der große wirtschaftliche Durchbruch für das Zeisswerk auf dem Sektor der Photoaufnahmeobjektive einstellte, war das Verhältnis zwischen dem Begründer der Abteilung Photo und seinem Arbeitgeber bereits zerrüttet. Schon das Planar hatte Paul Rudolph klar werden lassen, daß es für ihn keine finanzielle Teilhabe mehr an den Markterfolgen seiner Objektive geben wird, so wie dies bislang für all seine Protar-Abwandlungen explizit in seinem noch mit Ernst Abbe geschlossenen Arbeitsvertrag vereinbart war. Mit dem Tessar wurde diese Erkenntnis nun endgültig zementiert. Zwischen den Entwicklungsarbeiten von Planar und Tessar lag zudem das mit dem kurzlebigen Unar verbundene großes Wagnis Paul Rudolphs, seine Einnahmen durch ein Engagement im Kamerabau verbessern zu wollen. Der für damalige Verhältnisse sagenhaft kostspielige Bankrott des Palmos-Kamerawerkes mußte letztlich von Rudolphs Arbeitgeber aufgefangen werden, was das Verhältnis beider Parteien naturgemäß weiter verschlechterte. Die folgenden fast zehn Jahre müssen dann eine Qual für beide Seiten gewesen sein, die darin zum Ausdruck kommt, daß der wohl innovativste Objektivkonstrukteur seiner Epoche seine Innovationstätigkeit fast vollständig verweigerte. Erst zum Jahresende 1910 gelang es schließlich, die unglückselige vertragliche Bindung zwischen Carl Zeiss Jena und Dr. Paul Rudolph endgültig zu lösen.


Während also zur selben Zeit konkurrierende Firmen ihre Objektivkonstrukteure zu Betriebsdirektoren emporsteigen ließen, gefiel sich der knausrige und wenig dankbare Zeiss-Konzern darin, diesen genialen Mann, der die hauseigene Photoabteilung gegründet und immerhin zwanzig Jahre geleitet hatte, nicht nur gänzlich loszuwerden, sondern ihn auch erfolgreich kaltzustellen. Sein mit Zeiss im Sommer 1889 abgeschlossener Arbeitsvertrag untersagte Paul Rudolph schlichtweg jede Beschäftigung bei irgendeinem Konkurrenzunternehmen auf zehn Jahre nach dem Ausscheiden bei Zeiss und die Jenaer Unternehmensleitung pochte auch vehement auf die Einhaltung dieser Vertragsklausel. Dem gerade erst 52-jährigen Paul Rudolph blieb daher nichts weiter übrig, als sich mit seiner bescheidenen Pension ins Privatleben zurückzuziehen, und zwar auf das Gut "Grün" bei Lengenfeld im Vogtland, das er im selben Jahr erworben hatte. Daß Zeiss in den folgenden Jahrzehnten den weltweit bekannten Markennamen Planar für Weiterentwicklungen des Doppelgauß-Typs gänzlich fallen ließ und stattdessen den Markennamen Biotar einführte, kann durchaus als Anzeichen dafür interpretiert werden, wie sehr für Paul Rudolph für die Firma zur regelrechten Persona non grata geworden war. Über diese ziemlich schäbigen Hintergründe wird man aus den offiziellen Zeiss-Publikationen freilich kaum etwas erfahren.

Moritz von Rohr

Dabei dürfte selbst Experten heute kaum noch bekannt sein, welchen verworrenen Ursprung wiederum der Markenname Biotar in sich birgt. Der Konstrukteur Moritz von Rohr (1868 bis 1940), der bei Zeiss eigentlich der Fachmann für medizintechnische Geräte und Brillen war, hatte bereits 1906 ein lichtstarkes Mikroskopobjektiv 1:1,8 entwickelt, das er vom Petzvaltyp abgeleitet hatte und das er auf einen vergleichsweise geringen Astigmatismus trimmen konnte [DRP Nr. 186.473 vom 10. Juli 1906]. Es ergibt sich nun der Eindruck, daß der Zeiss-Konzern gerne Moritz von Rohr als nahtlosen Ersatzmann für den geschassten Paul Rudolph gesehen hätte. Doch Ausnahmetalente fallen nicht einfach vom Himmel – zumal zu jener Zeit für die Schaffung photographischer Objektive ein heute nicht mehr vorstellbares Maß an Erfahrung und Einfühlungsvermögen nötig war. Paul Rudolph war mindestens so sehr ein kunstvoller Schöpfer wie er mathematischer Handwerker gewesen ist.

3.1 Das Biotar (II) (ab 1911)

Der Zeiss-Konzern erwartete nun offenbar von Moritz von Rohr, daß dieser sein vielversprechendes Mikroskopobjektiv zu einem lichtstarken Universalobjektiv für das neue Lichtspielwesen weiterentwickeln würde, denn dieses Spezialgebiet erlebte damals – kurz vor dem Ersten Weltkrieg – einen enormen Aufschwung. Für derartige Anwendungen in Aufnahme und Projektion mußte jedoch ein ausreichend großer Bildwinkel erreicht werden, was durch den verbleibenden Restbetrag an Bildfeldwölbung bei seinem Mikroskop-Objektiv von 1906 vereitelt wurde. Um diesen Fehler zu beheben, griff von Rohr nun im Jahre 1911 auf eine sogenannte Smyth'sche Linse zurück, mit der er das Bildfeld der Petzval-Konstruktion ebnen konnte. Und dieses neue, vielversprechende lichtstarke System wurde jetzt Biotar genannt [Vgl. Rohr, Moritz von: Das Biotar, ein Projektionssystem mit besonders großer Öffnung und ebenem Felde, Zeitschrift für Instrumentenkunde, 9/1911, S. 265-270.]. Doch das Bestreben, dieses Biotar zur Zeiss'schen Universallösung für Kinoprojektoren und Kinokameras umzumünzen, stellte sich schon bald in der Praxis als illusorisch heraus, da diese Konstruktion aufgrund der Smith'schen Linse eine viel zu kurze Schnittweite hatte, um mit den entsprechenden Geräten kompatibel zu sein. [Vgl. dazu Merté, Willy: Bauarten der photographischen Objektive, in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band I, Das photographische Objektiv, Wien, 1932, S. 325 sowie Merté, Willy: Zeiss Index of Photographic Lenses, 1948, S. 29.].

Die mehr als verwirrende Nomenklatur bei Zeiss, daß die zweite Besetzung des Namens "Biotar" ausgerechnet als Biotar III bezeichnet wurde (siehe Abschnitt 3.2), läßt als einzige logische Schlußfolgerung zu, daß das erste Biotar von 1911 später als Biotar II angesehen wurde. Dies wiederum ergibt nur vor dem Hintergrund einen Sinn, daß diese Nummerierung erst im Nachhinein geschaffen wurde, nachdem allein das Gaußtyp-Biotar (siehe Abschnitt 3.3) erfolgreich geworden war. Auf der oben gezeigte Karte Nr. 225 aus der Zeiss'schen Datenblattsammlung mit dem Titel "Biotar 1:1,8 f = 8,5 cm mit Zusatzlinse" ist gut die Smith'sche Linse zur Bildfeldebnung zu sehen. Leider sind jedoch durch die Mikroverfilmung die Kurven für Kugelgestaltsfehler und Astigmatismus nicht mehr erkennbar.


Ziemlich genau zehn Jahre später ist die unten gezeigte Karte Nr. 564 der Zeiss-Datensammlung entstanden, die uns vor Augen führt, daß Willy Merté (es kommt sonst kaum ein anderer in Frage) im Jahre 1921 immernoch an diesem Biotar auf Petzval-Basis laboriert hat, um zu einem lichtstarken Objektiv 1:1,8/5 cm zu gelangen, wobei bemerkenswerter Weise auf die bildebnende Zusatzlinse wieder verzichtet wurde.

Biotar I ohne Zusatzlinse
Biotar Moritz von Rohr 1911

Oben das von Moritz von Rohr im Jahre 1911 in seinem Aufsatz veröffentlichte Achsenschnittbild seines Biotars. Ihm war es zwar seinerzeit gelungen, den Petzval-Typ endlich vom Astigmatismus zu befreien, doch die zusammengelegten sagittalen und meridionalen Schalen waren nach wie vor durchwölbt (siehe Koordinatensystem links). Das war für die Verwendung als Mikroskopobjektiv verschmerzlich. Durch Nachschalten einer sogenannten Smith'schen Linse, die er in unmittelbarer Nähe zur Bildebene anordnen mußte, um wirksam zu sein, war die für photographische Zwecke unabdingliche Behebung dieser Bildfeldwölbung erreicht (Koordinatensystem rechts). Das schränkte jedoch die praktische Anwendung an Kinogeräten stark ein, denn dort wo die Zusatzlinse hätte placiert werden müssen, befanden sich bei den Kameras und Projektoren zwangsläufig die Greifersysteme und die Sektorenblenden.

3.2 Das Biotar III von 1923

Die Bezeichnung Biotar verweist eindeutig auf den diesem Objektiv zugedachten Verwendungszweck für lebendige Bilder (so wie sie durch das Bioskop von Max Skladanowsky eingeführt worden war). Und da dieses Problem akut blieb, daß nämlich speziell für Kinoaufnahmezwecke aufgrund der durch die Bildwechselzahl der Kamera festgelegten Belichtungszeit ganz besonders lichtstarke Objektive nötig waren, wurde nach dem Ersten Weltkrieg auch bei Zeiss weiter in diesem Segment geforscht. In der Abteilung Photo hatte mittlerweile Willy Merté (1889 bis 1948) die Lücke gefüllt, die Paul Rudolph seit 1910 offengelassen hatte. Auch wenn wir heute wissen, daß Merté zu den talentiertesten Objektivkonstrukteuren aller Zeiten zu zählen ist, hatte er zunächst mit starken Schwierigkeiten zu kämpfen, den richtigen Ansatz für ein solches Objektiv zu finden. Während sich Paul Rudolph zur gleichen Zeit mit seinem Plasmat-Typus wieder dem (quasi)symmetrischen Doppelobjektiv zuwandte, versuchte sich Willy Merté zunächst am Grundtyp des Cooke-Triplets, das er mit Verkittungen und Zusatzgliedern erweiterte. In seiner letzten Zusammenfassung der Zeiss'schen Sammlung an Photoobjektiven, die noch in seinem Todesjahr 1948 veröffentlicht (und 1949 vom damaligen "Air Documents Research Center" der britischen und amerikanischen Armee ins Englische übersetzt) wurde, ordnete Willy Merté selbst seine Neuentwicklung unter der Rubrik Hektor-Typus ein.

Biotar - Zeiss Index of Photographic Lenses

Aus diesem "Zeiss Index of Photographic Lenses" geht hervor, daß dieser Triplet-Abkömmling mit der Lichtstärke 1:1,8 bei Zeiss nun als Biotar III bezeichnet wurde. Leider sind ausgerechnet die oben genannten Karten 670ff nicht in der Archivüberlieferung des heutigen "Defense Technical Information Centers" (DTIC) erhalten geblieben, wohl aber diejenige eines Versuchsobjektivs Nr. 6 aus dem Jahre 1922 auf Karte Nr. 599 (s.u.), sowie zwei Versuchsobjektive Nr. 2 und Nr. 3 aus dem Jahre 1923 auf den Karten 606 und 607.

Zeiss Biotar III Versuche
Biotar III Versuchsobjektiv 1922

Ein Versuchsobjektiv V1922/6 für das Biotar III mit den Daten 1,95/7,5 cm, das von den Arbeiten Willy Mertés aus dieser Zeit zeugt. Unten die Zeichnung aus dem Patent DE404.805.

DE404805 Merté Biotar III

Aus den hier zu sehenden Linsenschnittbildern läßt sich eindeutig der Schluß ziehen, daß dieses Biotar III identisch mit dem im Reichspatent Nr. 404.805 vom 2. August 1923 geschützten Aufbau ist. Über diesen berichtete Merté im Jahre 1924 auch in einem seiner ersten Aufsätze in der Fachpresse [Merté, Willy: Mitteilungen über einige neue Lichtbildlinsen, Centralzeitung für Optik und Mechanik, Nr. 45/1924, S.63.]. Doch dieses Biotar III, dessen Bildwinkel kaum 30 Grad zu überschreiten vermochte, war weit entfernt von einer adäquaten Antwort des Zeisswerkes auf hochlichtstarke Objektive jener Zeit wie Plasmat und Ernostar und kam daher nie in den Handel. Der Ansatz, Tripletobjektive zu erweitern um zu höheren Lichtstärken zu gelangen, führte Merté zwar ab 1925 noch einmal bei seinem Biotessar fort, das als Normalobjektiv 1:2,8 für großformatige Kameras gedacht war, aber auch diese Konstruktion verschwand sehr bald wieder vom Markt.

3.3 Das Biotar (I) ab 1927

Der große Durchbruch im Bereich lichtstarker, kurzbrennweitiger Systeme gelang erst, nachdem Willy Merté in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auf das hochkomplexe Doppelgauß-Objektiv wechselte, das er dann freilich gleich auf ein ganz neues Niveau bringen konnte (siehe folgenden Abschnitt). Jetzt wurde der Produktname Biotar erneut mit einer völlig anderen Objektivbauform belegt. Doch erst mit diesem dritten Anlauf erlangte dieses bald weltbekannte Objektiv erstmals tatsächliche Marktwirksamkeit. Darin liegt wiederum der Grund, weshalb die beiden Vorgängerkonstruktionen anschließend als Biotar II und Biotar III gelistet wurden, was zu der etwas seltsamen Konstellation führt, daß das am spätesten geschaffene Objektiv der obigen Nomenklatur folgend eigentlich streng genommen als Biotar I bezeichnet werden müßte. Und die zweite Merkwürdigkeit in diesem Zusammenhang liegt wie gesagt darin, daß Zeiss trotz seiner eindeutigen Zugehörigkeit zum Typus des Gauß-Doppelobjektives dieses neue Objektiv bewußt nicht als Planar, sondern eben als Biotar vermarktete.

Biotar/Planar - Zeiss Index

Doch bevor hier dieses Biotar als Inbegriff des modernen Gaußobjektivs näher beschrieben wird noch ein Wort dazu, weshalb man sich bei Zeiss damals so schwer tat, dem Stand der Technik nachzukommen und weshalb die Entwicklung derart verzögert erscheint. Das ganze Problem kreist wiederum um die Person Paul Rudolphs und dessen zwischenzeitlich erfolgten Weiterentwicklungen des Doppelgauß-Aufbaus, die in der Fachwelt bislang wenig thematisiert worden sind. Dabei klaffte doch bei Zeiss lange Zeit eine kaum zu verbergende konzeptionelle Lücke, die mit dem Laborieren an Petzval-Typen und Triplett-Abkömmlingen wie den oben genannten Biotaren II und III ausgefüllt sind.


Daß dabei durchaus der Schatten eines Paul Rudolphs eine Rolle gespielt hat, geht aus dem Abschnitt "Biotar-Type Lenses" in Willy Mertés Datenblattsammlung "Zeiss Index of Photographic Lenses" hervor. Dort ist unter der Nummer 539 ein Planar verzeichnet, von dem es heißt, dieses Gauß-Objektiv falle nicht in Konflikt mit dem (Merté'schen) Biotar-Patent, weil die beiden äußeren sammelnd wirkenden Komponenten Meniskenform aufwiesen [Merté, Willy: The Zeiss Index of Photographic Lenses, 1948, Übersetzung von 1949, S. 19.]. Leider fehlen in der oben genannten archivalischen Überlieferung alle Seiten Seiten zwischen 481 und 536, und damit ausgerechnet sämtliche Karten zum Biotar-Typ, wodurch nicht nur die Biotar-Entwicklung Mertés nicht nachvollzogen werden kann, sondern auch der Startpunkt für einen neuen Entwicklungsschub im Bereich der Doppelgauß-Systeme, der im Jahre 1918 verortet werden muß und der eindeutig durch Paul Rudolph angestoßen wurde.

DE322506 Planar mit meniskenförmigen Sammellinsen

Allen vorausgegangenen Differenzen zum Trotz war nämlich seit 1917 [Gronow, Harald von: Paul Rudolph zu seinem 70. Geburtstag; in: Photographische Korrespondenz, 11/1928, S. 325f.] Paul Rudolph wieder für Zeiss tätig, da er offenbar in der Endphase des Krieges von höherer Stelle dienstverpflichtet worden ist [Vgl. Hofmann, Christian, Rudolph, Paul; in: Neue Deutsche Biographie 22, 2005, S. 201-202.]. Hier entwickelte er zwei Ansätze für Doppelgaußobjektive weiter: Einmal den Typ mit einem äußeren, zerstreuend wirkenden Kittglied und einem inneren sammelnd wirkenden Meniskus [nach Goerz 1899, DRP 107.358 sowie Ernst Arbeit 1901 DRP 135.742 und 1911 DRP 250.781], aus dem der spätere Plasmat [DRP Nr. 310.615 vom 15. März 1918] hervorging und von dem anhand der Karten 454 und 454a nachweisbar ist, daß im Hause Zeiss noch im Jahre 1918 die Fabrikation von Versuchsobjektiven für dieses Rudolph'sche Objektiv stattfand. Der zweite Ansatz war eine Doppelgauß-Abwandlung, bei der ebenfalls die zerstreuend wirkende Komponente außen lag, aber durch einen einzelnen Meniskus gebildet wurde, während die innere sammelnde Komponente aus einem Kittglied bestand. Dieser Aufbau wurde in dem oben gezeigten Reichspatent Nr. 322.506 vom 27. März 1918 geschützt. Ferner gab es in dieser Zeit eben noch ein Gaußobjektiv auf der bereits erwähnten Karte Nr. 539, das mit äußeren Sammellinsen arbeitete und zeissintern daher noch als Planar bezeichnet worden ist. Und die zentrale Ursache dafür, weshalb bei Zeiss die Weiterentwicklung der Doppelgaußobjektive in der folgenden Zeit derart gehemmt wurde, liegt nun darin begründet, daß bereits bevor die oben genannten Versuchsfertigungen stattfanden Paul Rudolph diese beiden essentiellen Erfindungen ohne Wissen des Zeisswerks unter eigenem Namen zum Patent angemeldet hatte. Als Hintergrund dafür müssen wir heute wohl annehmen, daß Paul Rudolph in den letzten acht Jahren, die er zurückgezogen im abgelegenen Vogtland verbrachte, dazugelernt hatte. Diesmal wollte er das Zeisswerk endlich in eine für ihn lukrative Lizenzfertigung zwingen. Als man ihm dies bei Zeiss ein zweites Mal verweigerte, brach die Zusammenarbeit mit Jena nun endgültig ab. Während Rudolph aber kurz darauf in der Firma Meyer-Optik Görlitz einen Lizenznehmer für seine Objektive fand, waren die auf neuen Glasarten beruhenden Weiterentwicklungen des Doppelgaußobjektivs für Zeiss Jena auf Jahre hin verbaut. Denn bei diesem Konkurrenten setzte er nahtlos seine Doppelgauß-Entwicklungen fort, wie im folgenden Abschnitt gleich gezeigt werden wird.

Evolution Biotar

Diese Zusammenstellung verdeutlicht noch einmal, daß ein Mann wie Paul Rudolph für den Zeisskonzern nicht kurzerhand ersetzbar war.

Welche langfristige Bedeutung dieser abermalige Bruch mit Paul Rudolph am Ende des Ersten Weltkrieges hatte, erkennt man daran, daß bei Zeiss Jena der Markenname Planar für Neuentwicklungen von Doppelgaußobjektiven nie wieder Verwendung fand. Selbst nach 1945 wurde die Bezeichnung Biotar konsequent beibehalten und sie mußte erst im Zuge der Auseinandersetzung mit der Zeiss AG in Heidenheim zugunsten der neu geschaffenen Objektivnamen Flexon bzw. Pancolar aufgegeben werden. Hier, bei "Zeiss West", wo nach 1945 ein sehr leistungsfähiger Objektivbau neu geschaffen wurde, besann man sich jedoch auf die Ursprungsbezeichnung Planar für lichtstarke Systeme nach dem Doppelgauß und verwendete ihn bis in die jüngste Zeit, sodaß heute die eigenartige Situation eingetreten ist, daß der Markenname Biotar als Startpunkt für den extrem lichtstarken Doppelgauß zugunsten desjenigen des Planars bereits fast wieder in Vergessenheit geraten ist.

4. Mertés Biotar als Vervollkommnung des Doppelgauß zum lichtstarken Universalobjektiv

4.1 Zeiss im Hintertreffen

Die Entscheidung zum erneuten Bruch mit Paul Rudolph im Jahre 1918 hat sich bereits nach einer kurzen Zeit als eine schwere taktische Fehlentscheidung des Zeisskonzerns herausgestellt. Offenbar hatte man bei Zeiss nicht bedacht, daß die ihm vertraglich auferlegte zehnjährige Zwangspause schon zwei Jahre später auslaufen wird und es damit abzusehen war, daß Paul Rudolph noch einmal in sein Fachgebiet zurückkehren und er sich dann zwangsläufig der Konkurrenz zuwenden würde. Und tatsächlich fand er mit der Optisch-Mechanischen Industrie-Anstalt Hugo Meyer in Görlitz sogleich einen dankbaren Lizenznehmer für sein Plasmat-Objektiv. Diese Firma war nach ihrem raschen Aufstieg zu Beginn des Jahrhunderts sukzessive in einen eklatanten wissenschaftlich-technischen Rückstand geraten. Paul Rudolph hingegen, dessen Jahrespension von 5000 Reichsmark in den letzten acht Jahren aufgrund der Kriegsinflation 90 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt hatte, sah sich im Jahre 1922 gar gezwungen, sein Gut im Tal der Göltzsch zu veräußern und im Alter von fast 64 Jahren noch einmal seinen Wohnsitz zu wechseln. Er ging nach Görlitz, um wieder als angestellter Optikrechner zu arbeiten. Hier gelang es ihm, seinen von ihm als Sphäro-Achromaten bezeichneten neuen Objektivtyp zum Kino-Plasmat 1:2,0 weiterzuentwickeln [DRP Nr. 401.630 vom 31. Dezember 1922]. Es darf dabei nicht unterschätzt werden, welche immense Bedeutung gerade die Kinematographie damals im Hinblick auf die Entwicklung der Phootooptik hatte. Erstens nahm sie die bevorstehende starke Formatverkleinerung in der Stillbildphotographie vorweg und zweitens verlangte sie aus technischen Gründen nach bis ins Extreme gesteigerten Lichtstärken. Zunächst versuchte Rudolph, die hervorragende sphärochromatische Korrektur seines Plasmattyps als besonders positiv für die "plastische Tiefe der Aufnahme" zu vermarkten, was in der Fachliteratur teils unter Hohn als bloße Behauptung bezweifelt wurde. Doch schon bald zeigte sich, daß Rudolph mit der starken Verminderung von sphärochromatischen Fehlerresten bereits die beste Grundlage dafür geschaffen hatte, um seine Doppelgauß-Entwicklungen auf immer höhere Lichtstärken zu treiben.

DE420223 Rudolph Planar Weiterentwicklung

In Hinblick auf Paul Rudolphs Tätigkeit bei Meyer-Görlitz dominiert der Plasmat-Typus. Wenig bekannt ist jedoch, daß Rudolph mit dem oben gezeigten Reichspatent Nr. 420.223 vom 7. Februar 1924 auch an der Weiterentwicklung seines Planars arbeitete. Hier schöpfte er nach seiner Ansicht nicht nur erstmals das Potential des Doppelgauß zur Eliminierung der farbabhängigen Abweichung der sphärischen Aberration (Sphärochromasie) voll aus, sondern beseitigte zugleich die beim Planar von 1896 noch vorhandenen sogenannten sphärischen Zonen. Das war eine wichtige Voraussetzung, um die Lichtstärke anheben zu können bzw. um bei voller Öffnung der Blende keine allzu starke Weichheit des Bildes zu riskieren. Ganz im Gegensatz zum Patent von 1896 gestaltete Rudolph daher in seinem Patent Nr. 420.223 die innere Kittgruppe aus Gläsern mit stark abweichenden Brechungsexponenten, um bei einer schwachen Krümmung der Kittfläche zu einer erheblichen zerstreuenden Wirkung zu gelangen. Schließlich war Paul Rudolph der große Pionier der Bildfehlerkorrektur mittels Kittflächen. Hatte er mit seinem Protar zerstreuend wirkende Kittflächen mit starker Krümmung zur Korrrektur des Kugelgestaltsfehlers eingeführt sowie sammelnde, schwach gekrümmte Kittflächen zur astigmatischen Bildfeldebnung, so erfand er mit seinem Planar von 1896 "neutrale Kittflächen", die allein zur Steuerung der chromatischen Aberration verwendet wurden. Bei seinem Doppelgauß nach dem Patent 420.223 führte er jetzt aber zum ersten Mal eine gering gekrümmte, zerstreuend wirkende Kittfläche ein. Bemerkenswert an diesem Patent 420.223 ist zudem, daß Rudolph im Gegensatz zu den vorgenannten Patenten den Doppelgauß auf eine Lichtstärke von 1:3 bringen konnte, indem er gleichzeitig dessen strengen symmetrischen Aufbau fallen ließ. Dieser Weg wurde kurz darauf auch von anderen Konstrukteuren eingeschlagen und eröffnete dem Planartyp ein völlig neues Zeitalter.

Und was diesen deutlich sichtbaren Trend innerhalb der Photooptik anbetraf, hatte der Zeisskonzern in der ersten Hälfte der 1920er Jahre quasi nichts entgegenzusetzen. In der Konkurrenzfirma Ernemann in Dresden hatte der junge Ludwig Bertele ein Ernostar 2,0 und 1,8 entwickelt [DRP Nr. 436.260 vom 6. Dezember 1924] und Paul Rudolph gelang es 1926, seinen Kino-Plasmaten gar auf die Lichtstärke 1:1,5 zu bringen. Die Abteilung Photo des Zeisswerkes schien dagegen den Anschluß verpaßt zu haben. Über das klägliche Scheitern des Biotars III aus dem Jahre 1923 wurde bereits im vorausgegangenen Abschnitt berichtet. Willy Merté versuchte aus dieser mißlichen Lage zu entkommen, indem er ab 1924 ein spezielles Kino-Tessar 1:2,7 schuf, das zwar bei den Kameramännern durchaus beliebt war und in der Stummfilmzeit auch viel verwendet wurde, von den oben genannten Spitzenobjektiven der Mitbewerber war es jedoch weit entfernt.

Lee -  Taylor-Hobson f2 Anastigmat 1924

Unterdessen waren auch andere Optikkonstrukteure auf das große Potential des Doppelgaußobjektivs mit verkitteten inneren Zerstreuungslinsen aufmerksam geworden. Der im selben Jahr und im selben Monat wie Willy Merté geborene Engländer Horace William Lee hatte im Jahre 1920 einen solchen Doppelgauß mit einer Lichtstärke von 1:2,0 gerechnet [GB 157.040]. In seinem Aufsatz zur Vorstellung dieses neuen Objektives [Lee, H.W.: The Taylor-Hobson F/2 Anastigmat, Transactions of the Optical Society, 5/1924, S. 240ff.] deutet Lee an, daß für ihn deshalb die Wahl auf den Gaußtyps fiel, weil jener am vielversprechendsten bezüglich Zonenarmut und der Varianz des Kugelgestaltsfehlers bei unterschiedlichen Farben ausschlaggebend gewesen sei, sowie das symmetrische Doppelobjektiv am wenigsten Arbeitsaufwand bei der Durchrechnung erwarten ließ. Erst habe er die Objektivhälfte für sich weitgehend auskorrigiert und dann das System als Ganzes optimiert. Dabei sei er jedoch am Ende ziemlich vom symmetrischen Aufbau abgekommen. Und obwohl der Taylor-Hobson-Company das Verdienst zukommt, mit ihrem später "Opic" genannten Erzeugnis als erste ein Gaußobjektiv 1:2,0 auf den Markt gebracht zu haben, waren sie damit nur wenig kommerziell erfolgreich. In der praktische Anwendung konnte die Bildleistung noch nicht befriedigen, was durch falsches Licht hervorgerufen wurde, das aus Reflexen und Komaerscheinungen herrührte. [Vgl. Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 60.]. Erst mit seinem Speed-Panchro 1:2,0 aus den 30er Jahren konnte Lee diese Probleme weitgehend überwinden [GB377.537 vom 14. November 1931].

US2019985 Lee Leitz Xenon

Erwähnt werden muß aber auch Lees US-Patent 2.019.985 vom 26. Dezember 1930, bei dem er die hintere Sammellinse des Doppelgauß auf zwei einzelne Elemente aufspaltete, womit er eine Anhebung der Lichtstärke auf 1:1,4 erreichte und so den Anschluß an Mertés Biotar fand. Diese Erfindung ist deshalb erwähnenswert, weil einerseits das ab 1936 gefertigte Leitz Xenon 1,5/5 cm auf diesem Patent fußte (was für den Verkauf auf dem anglo-amerikanischen Markt auch auf der Objektivfassung angegeben wurde). Zweitens findet sich dieser Aufbau mit der auf zwei dünne Elemente aufgespaltenen hinteren Sammellinse bis heute quasi bei allen Normalobjektiven der Lichtstärke um 1:1,4. Die damals verwendeten moderaten Glasarten (in diesem Falle hauptsächlich SK4 und LF5) erlaubten freilich nur eine bescheidene Bildleistung im Vergleich zu modernen Nachfolgern. Und die Probleme mit dem Streulicht wurden aufgrund der zusätzlichen zwei Flächen nun derart verschärft, daß photographische Praktiker solche Objektive vor der allgemeinen Einführung der Entspiegelungsschichten in Bausch und Bogen ablehnten.

DE439556 Tronnier Doppelgauß 1925

Auch die immer wieder an verschiedenen Stellen zu lesende Behauptung, Albrecht Tronnier habe bereits mit seinem Reichspatent Nr. 439.556 vom 30. April 1925 sein späteres Xenon entwickelt gehabt, entbehrt jeder Grundlage. Zwar hatte er damit ein bestimmtes Korrekturprinzip für den Doppelgauß für sich gesichert, aber mit diesem vollsymmetrischen Aufbau war er noch weit entfernt von den während der 30er Jahre so erfolgreichen Kino- und Schmalfilm-Xenons der Lichtstärke 1:1,9. Dennoch darf kein Zweifel bestehen, daß ab Mitte der 20er Jahre in jeder führenden Objektivbauanstalt Klarheit darüber herrschte, welches enorme Potential im Doppelgauß liegt und was für eine Marktbedeutung dieser Objektivtyp bald haben würde.

4.2 Mertés Durchbruch von 1927

Über die Kunstfertigkeit, die Bildfehler beinah beliebig klein werden zu lassen

Im Angesicht dieses massiven wettbewerblichen Rückstandes, in den der Zeisskonzern nach dem Ersten Weltkrieg im Bereich der hochlichtstarken Objektive geraten war, ist es als Zeugnis für das Ausnahmetalent eines Willy Merté zu werten, daß er mit dem neuen Gaußtyp-Biotar 1:1,4 schließlich doch noch einen Weg aus dieser Situation gefunden hat und seinen Arbeitgeber in die Riege der Spitzenhersteller zurückbringen konnte. Allerdings: So wie drei Jahrzehnte zuvor Paul Rudolphs Planar zwar Allen vorauseilte, aber letztlich nur wenig gekauft wurde, so war freilich auch dieses Biotar 1:1,4 zunächst nur ein Nischenprodukt für absolute Spezialanwendungen. Doch dies änderte sich in der Folgezeit sukzessive und das Biotar geriet regelrecht zum Prototyp für alle hochlichtstarken Photoaufnahmeobjektive, in dessen Folge die vom Triplet abgeleiteten Typen in diesem Sektor rasch verdrängt wurden und sich stattdessen das moderne Gauß-Doppelobjektiv zu einem Standard etablierte, der bis zum heutigen Tag Bestand hat. Selbst der historisch so bedeutsame Sonnartyp konnte dieser Entwicklung langfristig nicht entgehen. Allzu verlockend sind bis heute die von Paul Rudolph gefundenen Korrekturmöglichkeiten für die Sphärochromasie sowie weiterer, von der Lichtwellenlänge abhängiger "Gaußfehler" bei diesem Objektivtyp, und selbst bei vielen Variationen, die in den 50er oder 60er Jahren geschaffen worden sind, entdeckt man in zumindest einer der beiden inneren Kittglieder immer wieder einmal Rudolphs Kunstgriff der hyperchromatischen Linse.

Dr. Willy Merté Zeiss Jena

Willy Merté war es nun gelungen, gleich mehrere der oben erläuterten verbleibenden Schwächen des vielversprechenden Doppelgauß auzumerzen, indem er nicht nur eine bessere Korrektur der Queraberrationen leisten konnte, sondern auch die für diesen Objektivtyp typischen Reflexe so dirigierte, daß sie nunmehr außerhalb des Bildfeldes lagen oder aber nur als großflächiger, diffuser Schimmer auftraten, der seinerseits zu keiner störenden Schwärzung der Schicht mehr führen konnte. Außerdem ging er nun vollends von dem Verständnis des Gaußobjektivs als symmetrisches Doppelobjektiv ab und korrigierte sein Biotar als Gesamtsystem, wodurch er es auf die Lichtstärke 1:1,4 mit einer für damalige Maßstäbe nicht für möglich gehaltenen Abbildungsleistung trimmen konnte. Dazu war insbesondere auch eine Beherrschung der Koma mit ihren sehr störenden, weil stark asymmetrischen Zerstreuungsfiguren, nötig. Mit seinem Reichspatent Nr. 485.798 vom 30. September 1927 hatte die Firma Zeiss nunmehr den Anschluß sowohl an Berteles Ernostar, als auch an Rudolphs Kino-Plasmat geschafft.

DE485.798 Merté Biotar 1927

Der zentrale Inhalt dieses Biotar-Patentes ist, wie man oben herauslesen kann, die vollständige Abkehr vom symmetrischen Aufbau, indem die dingseitige Sammellinse meniskenförmig durchbogen ist, während die bildseitige Sammellinse deutlich bikonvexe Gestalt hat. Von der Ausführung Letzterer als Kittglied (Patentbeispiel 1) wurde in der Praxis kein Gebrauch gemacht. Merté selbst schrieb über die Praxis, das Biotar und seine Konkurrenzerzeugnisse als Verwandte oder Abkömmlinge des Gauß-Doppelobjektivs zu bezeichnen:


"... so bezieht sich diese Ausdrucksweise lediglich auf die äußere Erscheinungsform. In Wirklichkeit erhält man eine gute optische Leistung bei einem großen Öffnungsverhältnis nur dann, wenn das Doppelobjektiv als in sich geschlossenes Ganzes korrigiert ist, von einer Symmetrie, Hemisymmetrie oder auch gestörten Symmetrie aber keineswegs gesprochen werden kann, und wenn insbesondere die beiden Teilglieder für sich allein keine ausreichende Fehlerberichtigung haben. Das bedeutet natürlich nicht, daß mit abgeblendeten Teilgliedern überhaupt keine brauchbaren Aufnahmen gemacht werden könnten." [Merté: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929, 1943, S. 64.]


Man beachte im obigen Patent den Einsatz des neuen Barit-Flintglases BaF9 in drei der sechs Linsen. Durch sorgfältige Korrekturarbeit, die angesichts der damals zur Verfügung stehenden Rechenmethoden gar nicht hoch genug beurteilt werden kann, gelang es Merté, den Kugelgestaltsfehler auf ein bis dahin ungekanntes Maß zu reduzieren und damit selbst bei voller Öffnung eine ungewöhnlich brillante Abbildung zu erzielen. Darüber legen in der Abbildung unten die außerordentlich schlanken Kurven der sphärischen Aberration und der Abweichung von der Sinusbedingung (a) dieses Biotars 1:1,4 Zeugnis ab [nach: Merté, Willy: Bauarten der photographischen Objektive, in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band I, Das photographische Objektiv, Wien, 1932, S. 334.], die zur Einordnung der Leistung Mertés mit den im selbem Maßstab gezeichneten Kurven des zeitgenössischen Sonnars 1:1,5 und des Primoplans 1:1,5 verglichen werden sollten. Es sei freilich darauf hingewiesen, daß bei lichtstarken Objektiven die sogenannte Koma eine immer größere Rolle spielt und diese als "sphärische Aberration der schiefen Büschel" genau so bildwinkelabhängig ist wie der Astigmatismus, aber dieselbe bei der klassischen Darstellung, die durch Moritz von Rohr Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt worden ist, in den b-Kurven nicht mit zum Ausdruck kommt. Darstellungen jedoch, die diese Queraberrationen berücksichtigen, sind wiederum für den Laien kaum zu beurteilen.

Biotar 1,4 Korrektionszustand

Diese Baritflintgläser BaF8 bis BaF10, die gerade erst von der Schott'schen Glashütte zur Verfügung gestellt worden waren, müssen dem Objektivbau Ende der 20er Jahre noch einmal neue Türen geöffnet haben. Mit Brechzahlen bis 1,67 bei ny-Werten, die nur knapp unterhalb der Grenze zu den Krongläsern lagen, ergaben sich Korrekturmöglichkeiten, die dann nach dem Zweiten Weltkrieg mit den ähnlich gelagerten, aber noch höher brechenden Lanthan-Flintgläsern weiter fortgeführt wurden. Daß jedoch das immense Potential des Doppelgaußtyps für diesen Erfolg eine zentrale Rolle gespielt hat, erkennt man daran, daß Willy Merté mit seinem Reichspatent Nr. 603.325 vom 18. Juli 1930 auch das Tessar auf Basis dieser neuen Glastechnologie neu berechnete und dabei die Lichtstärke bis auf 1:2,8 trieb. Diese neuen Tessare 2,8/5 und 2,8/8 cm waren aber längst nicht so perfekt auskorrigiert wie sein Biotar, was die beschränkten Möglichkeiten des Tessartyps erstmals deutlich zum Ausdruck brachte. In seinem unten gezeigten Artikel [ursprünglich aus Kinotechnik, Nr. 17/1928, S. 452f.] zu diesem neuen Biotar 1:1,4 konnte Willy Merté trotz aller Bemühung um Objektivität nicht ganz seine Genugtuung darüber verbergen, daß er mit einem Male zum Spitzenkonstrukteur des weltweiten Objektivbaus emporgestiegen war.

Willy Merté -  Das Zeiß-Biotar 1:1,4

Die erste nennenswerte Anwendung fand das neue Biotar 1:1,4 zunächst ausschließlich bei 35-mm- und 16-mm-Filmkameras. Diese Konzentration auf das Metier des Normal- und Schmalfilms hatte, wie bereits mehrfach erwähnt, ernste technische Hintergründe, die mit der Einführung des Tonfilmes nun noch drängender wurden. Jetzt war erstmals eine verbindliche Bildwechselzahl festgelegt worden, die bei der Aufnahme und Wiedergabe sehr genau eingehalten werden mußte. War beim Stummfilm noch durchschnittlich mit etwa 18...20 Bilder je Sekunde gedreht worden, so wurde dieser Wert nun auf 24 Bilder hochgesetzt – nicht zuletzt, um eine einigermaßen akzeptable Tonqualität zu erreichen. Da die Öffnung der Sektorenblende wegen der Filmfortschaltung auf maximal 180 Grad begrenzt war, lief dies darauf hinaus, daß jedes Phasenbild nie länger als 1/50 Sekunde belichtet werden konnte. Das war damals eine sehr kurze Momentbelichtungszeit, die angesichts der noch sehr geringempfindlichen Aufnahmematerialien das Drehen sehr erschwerte. Ein Objektiv, dessen maximales Öffnungsverhältnis von 1:1,4 auch wirklich praktisch angewandt werden konnte, brachte angesichts dessen eine große Arbeitserleichterung.

Biotar 1927 Glasarten

Schaut man sich oben noch einmal die Glasarten in Mertés Biotar-Patent an, dann kann man einigermaßen herausinterpretieren, wie sein Verfahren funktioniert hat, die "Bildfehler fast beliebig klein machen" zu können, wie er es in seinem Aufsatz von 1928 zwar benennt, aber nicht näher ausführt. Im ersten Kittglied findet sich eine Glaspaarung, bei der sehr hochbrechendes Schwerkron mit einem sehr gering brechenden Leichtflint kombiniert wurde. Die Petzvalsumme dieser Kombination tendiert gegen Null, womit Merté nach dem Rudolph'schen Prinzip der sammelnd wirkenden Kittfläche den Astigmatismus seines Objektives kontrollieren konnte. Im bildseitigen Kittglied sind hingegen zwei ähnlich hoch brechende Gläser kombiniert, die aber stark unterschiedliche Farbzerstreuungen aufweisen. Mit der entstehenden Kittfläche ließen sich nach der weiter oben schon beschriebenen Rudolph'schen Methode der hyperchromatischen Linse die farbabhängigen Bildfehler berichtigen. In der Praxis war das freilich alles viel komplizierter insbesondere die für das Austarieren der Gesamtkonstruktion nötige Rechenarbeit erreichte ein unvorstellbares Ausmaß. Ganze Stöße an eng beschriebenem Papier ergab die Durchrechnung einer einzigen Ausführung dieser Biotare.


Es sei an dieser Stelle auch noch auf einen anderen Aspekt hingewiesen, den man sich meist nicht klar macht. Oben spricht Merté von der Lichtverschluckung im Glase, die erst bei längeren Brennweiten auftrete. Dazu muß man wissen, daß mit dem Baritflint und dem Schwerflint vier der sechs Linsen einem Material angehören, das im Glaskatalog als gelbgefärbt gekennzeichnet ist. Man muß sich nun vor Augen führen, daß bei kurzbrennweitigen Objektiven nur entsprechend kleine und vor allem dünne Linsen benötigt werden, bei längerbrennweitigen Objektiven diese Linsen aber rasch in große Glasmassen ausarten. Erst bei diesen großen Glasstücken macht sich aber bemerkbar, daß in ihnen das Licht in Form von Absorption verloren geht. Solche langbrennweitigen Biotare hätten dann zwar auch rein rechnerisch dasselbe Öffnungsverhältnis, doch der Wirkungsgrad wäre beispielsweise gegenüber einem Biotar für den 8-mm-Film erheblich schlechter, was den gesamten Aufwand für die teure Konstruktion infrage stellen könnte. Als längste Brennweite beschränkte man sich daher vorerst auf 7 cm.

Biotar 1,4 Siemens FII

Als das Biotar Ende der 20er Jahre herauskam, wurden zwar sehr viele Varianten für unterschiedliche Formate gerechnet, die hergestellten Stückzahlen waren aber im Vergleich zu beispielsweise den Tessaren zunächst äußerst gering. Zu den zahlenmäßig am meisten hergestellten Biotaren gehörte damals sicherlich das oben gezeigte Biotar 1,4/2,5 cm als Normalobjektiv für 16-mm-Kameras, dessen Rechnung am 16. März 1928 abgeschlossen worden war und das bereits im Mai desselben Jahres in Fertigung ging. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden etwas über 1300 Stück fabriziert, die zu großen Teilen an Bell & Howell oder Kodak geliefert wurden, aber unter anderem auch an Siemens.

Biotar 1,5/1,25 cm Nizo

Auch für den 8-mm-Schmalfilm wurde ein Biotar entwickelt mit der Lichtstärke 1:1,5 bei einer Brennweite von 1,25 cm. Da aber der Doppelachtfilm überhaupt erst Anfang der 30er Jahre neu eingeführt worden war, ist diese Variante auch erst am 29. April 1935 gerechnet worden. Es sind dann zwischen 1936 und 1941 nicht einmal 1400 Stück hergestellt worden, die fast alle an Niezoldi & Krämer zur Bestückung deren Nizo-Kameras geliefert wurden.

Biotar 1,5/1,25 cm
Biotar 1,4/4 cm

Das oben gezeigte Biotar 1,4/4 cm, kann als das zentrale mittelbrennweitige Objektiv für Normalfilm-Aufnahmekameras 18x24 mm gesehen werden. Und mit dem Rechnungsabschlußdatum vom 21. Juli 1927 (also bereits Monate vor der Patentanmeldung des Biotars) stellt es zudem das erste Biotar 1:1,4 dar. Eine zweite Rechnung wurde am 3. Januar 1929 abgeschlossen. Von beiden Versionen wurden nur wenige hundert Stück gefertigt, was angesichts des eingeschränkten Anwendungsbereiches beim professionellen Film nicht verwundern sollte [Bild: Stefan Baumgartner].

4.3 Das universelle Biotar 1:2,0

Die Konzentration des neuen Biotar-Objektivs auf Filmkameras hatte für natürlich noch einen weiteren unschwer nachvollziehbaren Grund: Ein Objektiv der Lichtstärke 1:1,4 wäre für die Ende der 20er Jahre noch dominierende Plattenkamera 9x12 cm schlichtweg unsinnig gewesen. Mit einer für dieses Format notwendigen Brennweite von mindestens 150 mm wäre ein Scharfstellen unmöglich geworden, zumal die große Glasmasse ein solches Objektiv untragbar hätte werden lassen – und zwar sowohl in Hinblick auf das Gewicht, wie auf den Preis. Doch auch diese Situation änderte sich jetzt mit großer Geschwindigkeit: Das ab etwa 1930 aufkommende Kleinbild, als ein zwischen dem winzigen Schmalfilmbildchen und dem Großformat liegender Kompromiß, brachte für derartige extrem lichtstarke Objektive auch auf dem Gebiet der Stehbildphotographie eine Perspektive. Speziell für diese Anwendungen, bei der auch deutlich größere Bildwinkel von teils über 50 Grad nötig wären, hatte Willy Merté ab 1931 das Biotar 1:2,0 geschaffen [Versuch V1931 Nr. 5.]. Die Anwendung dieser Objektive verlief jedoch zunächst äußerst schleppend, weil man rasch feststellte, daß man für sie nicht nur deutlich präzisere Kamera benötigte, sondern man selbst beim Kleinbild nicht mehr ohne gekuppelte Entfernungsmesser auskam, wenn man die volle Öffnung wirklich ausnutzen wollte.

Zeiss Ikon Kolibri Biotar

Für Stillbildkameras spielte das Biotar zunächst quasi überhaupt keine Rolle. Einzige Ausnahme war ein am 27. November 1931 gerechnetes Biotar 2/4,5 cm, das ab etwa 1932/33 für die aufkommenden Kleinbildkameras zur Verfügung gestellt wurde. Zum Kleinbild zähle man damals auch das 3x4 cm Nennformat, wie es u.a. in der oben zu sehenden Zeiss Ikon Kolibri verwendet wurde. Dem Biotar 2/4,5 cm war deshalb ein vergrößerter Bildwinkel von 55 Grad mitgegeben worden, wodurch ein Bildkreis von 47 mm Durchmesser mit guter Schärfe ausgezeichnet wurde [Vgl. Zeiss Katalog 1933, S. 13/14.]. Dabei konnte ein Blendendurchmesser eingehalten werden, der es erlaubte, dieses Biotar 4,5 cm gerade noch im kleinsten damaligen Compurverschluß C24 unterzubringen, der Verschlußzeiten bis zur 1/300 Sekunde erlaubte und einen guten Wirkungsgrad besaß. Trotzdem wurden nur ein paar hundert Stück u.a. auch für Balda und Krauss gefertigt. Ohne präzisen Entfernungsmesser war dieses Objektiv kaum sinnvoll auszunutzen.

Zeiss Biotar 2/13 cm

Wie bereits erwähnt, hatten hochlichtstarke Objektive wie das Biotar nur einen Sinn bei kleinen Aufnahmeformaten. Für die Luftbild-Handkameras von Fritz Völk wurden in den Jahren 1939/40 aber etwa 200 Stück Biotare 2/13 cm montiert und später noch einmal etwa 50 Stück für Victor Hasselblad in Göteborg. Das Bildformat war 7x9 cm. Bild: Baumgartner.

Daher konnte sich der Gaußtyp als standardmäßige Ausrüstung für die Kleinbildkamera zunächst nicht durchsetzen. Das hatte natürlich auch seinen Grund im hohen Preis dieser Objektive und einer nach wie vor beträchtlichen Anfälligkeit gegenüber dem Phänomen des Lichtflecks. Nur nach und nach vermochte sich die Kameratechnik an die neuen Herausforderungen anzupassen. Die Unentbehrlichkeit von Scharfstellhilfen führte dazu, daß sich zwei neuartige Kameratypen herausbildeten: Die moderne Entfernungsmesserkamera nach Barnack und die moderne Spiegelreflexkamera vom Typ Nüchterlein. Wie kein anderes Kamerasystem zuvor waren nun gerade diese Kleinbildkameras prädestiniert für die Verwendung solch lichtstarker Objektive. Selbst bei schlechten Lichtverhältnissen waren nun noch Schnappschüsse möglich. Von besonders großem Vorteil war zudem, daß in den neuesten Kameraentwicklungen der 30er Jahre fast ausschließlich Schlitzverschlüsse Anwendung fanden, bei denen es wesentlich weniger Beschränkungen gab zum Beispiel was den Durchmesser des Objektivs in Blendennähe betrifft (wie das bei Zentralverschlüssen meist der Fall ist). Außerdem ermöglichten diese Schlitzverschlüsse im Gegenzug bei guten Lichtverhältnissen extrem kurze Verschlußzeiten, mit denen auch schnellste Bewegungen eingefroren werden konnten. Nicht nur für Schnappschüsse bei vorhandenem Licht brachten die hochlichtstarken Objektive völlig neue Perspektiven, sondern auch beispielsweise in der Sportphotographie, wo bislang bewegungsscharfe Aufnahmen nur schwer zu erreichen waren.

Biotar 2/5 cm Contax

Oben: Für die neue Contax der Zeiss Ikon AG wurde am 17. Oktober 1931 die Rechnung für ein Biotar 2/5 cm fertiggestellt und in den Jahren 1931/32 drei Prototyp-Objektive fertiggestellt [Bild: Stefan Baumgartner]. Serienmäßig ausgestattet wurde die Contax dann aber mit dem Sonnar 2/5 cm von Ludwig Bertele, das zwar von Zeiss Jena hergestellt wurde, für das aber die Zeiss Ikon AG die Patente besaß (siehe auch den Abschnitt ganz am Ende des Artikels).



Unten: Zu den längsten Brennweiten, in denen der Biotartyp in großen Stückzahlen hergestellt wurde, zählt das Biotar 2/8 cm für die Exakta 4x6,5. Die Rechnung zu dieser Version wurde am 17. Oktober 1933 fertiggestellt. Zwischen Januar 1934 und Januar 1938 wurden knapp 1500 Stück für die sogenannte Nacht-Exakta gefertigt. Das unten gezeigte Exemplar stammt aus der vorletzten Serie vom Mai 1937 [Bild: Larry Gubas]. Für die Exakta  6x6 wurden zudem etwa 400 Stück eines Biotars 2/10 cm gefertigt.

Biotar 2/8cm Exakta 4x6,5

Liste ausgewählter Biotar-Rechnungen

(Nur tatsächlich gefertigte Typen. Der Übersichtlichkeit halber sind alle Brennweiten in Millimeter angegeben)

Biotar 1,4/10 mm

01. 08. 1955

Biotar 1,4/17 mm

11. 06. 1928

Biotar 1,4/20 mm

23. 10. 1928; 21. 01. 1929; 19. 03. 1948

Biotar 1,4/25 mm

16. 03. 1928; 01. 09. 1955

Biotar 1,4/30 mm

06. 10. 1948

Biotar 1,4/40 mm

21. 07. 1927; 03. 01. 1929

Biotar 1,4/50 mm

15. 03. 1928; 06. 05. 1929; 02. 05. 1950; 10. 09. 1955

Biotar 1,4/70 mm

29. 05. 1929

Biotar 1,5/12,5 mm

29. 04. 1935

Biotar 1,5/75 mm

20. 04. 1938

Biotar 1,6/70 mm

22. 11. 1957

Biotar 2/10 mm

16. 04. 1962

Biotar 2/12,5 mm

13. 03. 1954

Biotar 2/20 mm

05. 12. 1949

Biotar 2/25 mm

03. 11. 1941; 24. 04. 1948; 19. 02. 1954

Biotar 2/30 mm

30. 05. 1956; 17. 04. 1962

Biotar 2/35 mm

09. 02. 1937

Biotar 2/40 mm

28. 12. 1932 (später als Biotar 2/42,5 mm); 07. 12. 1937 (Robot)

Biotar 2/45 mm

27. 11. 1932

Biotar 2/50 mm

05. 10. 1954 (Flexon/Pancolar)

Biotar 2/58 mm

19. 10. 1936

Biotar 2/80 mm

17. 10. 1933

Biotar 2/100 mm

28. 09. 1938

Biotar 2/130 mm

29. 11. 1939; 09. 07. 1940

Biotar 2,8/10 mm

16. 04. 1962

Biotar 4/10 mm

01. 08. 1955; 16. 04. 1962

Above: my attempt to make an English version of Willy Mertés historically significant article about his momentous innovation trying not to adulterate his specific diction.

5. Das Biotar 2/5,8 cm Der Gaußtyp wird zum Massenobjektiv

Erst in der zweiten Hälfte der 30er Jahre sollte sich erweisen, daß für die Durchsetzung des lichtstarken Doppelgaußobjektivs die neuartige Kleinbild-Spiegelreflexkamera eine zentrale Rolle spielen würde. Ihre präzise Mattscheibeneinstellung erlaubte einerseits ein außerordentlich gutes Ausnutzen der großen Objektivlichtstärke. Auf der anderen Seite erwies sich ein möglichst helles Sucherbild mit einer "springenden" Scharfstellung als sehr vorteilhaft, weshalb schon deshalb möglichst lichtstarke Objektive bevorzugt wurden; und zwar selbst dann, wenn für die eigentlichen Aufnahmen die volle Öffnung kaum einmal zum Einsatz kam. 

Biotar F2 5.8cm

Als ein Problem beim Einsatz des Doppelgauß an der Spiegelreflexkamera erwies sich nun jedoch das Gewähren der notwendigen Schnittweite, damit der Spiegel beim Hochklappen nicht anstößt. Das ist der Grund, weshalb das Biotar für die 1936 erschienene Kiné-Exakta eine Brennweite von ungewöhnlichen 58 mm aufwies. Anders war es mit der Technologie der 1930er Jahre bei einem so viellinsigen Objektiv wie dem Biotar nicht möglich, die mechanischen Erfordernisse der Spiegelreflexkamera einzuhalten. Es gab zwar vor dem Kriege schon ein Schneider Xenon 2/50 mm für die Exakta, aber hier bildete wirklich der hinterste Linsenscheitel den mechanischen Abschluß des Objektivs und war dadurch auch den entsprechenden Beschädigungsgefahren ausgesetzt. Erst mit der Weiterentwicklung dieser lichtstarken Normalobjektive in den 1950er Jahren gelang es, die Brennweite auch für Spiegelreflexkameras allgemein auf den Nennwert 50 mm zu senken. Diesem Trend folgend wurde bei Zeiss Jena im Jahre 1954 ein Biotar 2/50 gerechnet, das später als Flexon und Pancolar für die Praktina und Exakta geliefert wurde. Neue hochbrechende Gläser und eine meniskenförmige Umgestaltung des vorderen Objektivteiles ermöglichten diesen Fortschritt.

Contax-S und Biotar Schnitt

Der zweite große Nachteil des Biotares lag im Vergleich zu einfachen dreigliedrigen Objektiven in der deutlich größeren Streulichtanfälligkeit. Die acht Glas-Luft-Grenzflächen brachten nicht weniger als 28 Spiegelbilder mit sich, die nicht nur zu Lichtverlusten führten, sondern auch die Aufnahme durch falsches Licht völlig verderben konnten [Vgl. Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929, 1943, S. 64.]. Solange die Glasoberflächen der immer höher brechenden Gläser so stark spiegelten, wurde der völlige Durchbruch des Biotartyps als allgemeines Normalobjektiv ebenfalls noch verzögert.

Biotar 2/5,8cm

Bei Zeiss Jena hatte man daher einen interessanten Weg zur deutlichen Milderung dieses Problems gefunden: Beim oben gezeigten, noch in Messing gefaßten frühen Biotar 1:2 f = 5,8 cm aus dem Jahre 1938 fällt nämlich auf, daß dessen Irisblende eine eigentümlich gewölbte Form annimmt, wenn man sie schließt. Und den Hintergrund dafür habe ich zufällig bei Patent-Recherchearbeiten gefunden: Das Deutsche Reichspatent Nr. 591.304 vom 17. März 1933 (Abb. unten) beschäftigt sich mit dem Problem, daß, wenn man lichtstarke Objektive abblendet, das durch das Objektiv durchtretende Licht mit immer kleinerer Apertur abgebildet wird, während der Flächeninhalt der Blende mit verhältnismäßig großer Apertur zur Abbildung gelangt. Durch Reflexion des Lichtes insbesondere an konkaven Oberflächen von Objektivlinsen wird diese hell erleuchete Blende dann wie ein Spiegel auf die lichtempfindliche Schicht projiziert, wo sie mehr oder weniger scharf begrenzte helle Flecke erzeugt. Um diese lästige Erscheinung zu mildern, kam man bei Zeiss Jena auf die Idee, die Öffnung der Blende nicht mehr in einer gleichbleibenden Ebene zu anzuordnen, sondern ihre verschiedenen "Öffnungsstadien" entlang der optischen Achse wandern zu lassen.

DRP 591.304 Gewölbte Blende

Diese aufwendige mechanische Konstruktion konnte nach dem Zweiten Weltkrieg ad acta gelegt werden, als nun die Glasoberflächen von Objektiven generell entspiegelt wurden. Dieses hier gezeigte Exemplar des Biotars 2/5,8 cm gibt sogar ein Beispiel dafür, daß damals auch vor 1945 hergestellte Objektive noch nachträglich mit dem Entspiegelungsbelag versehen wurden. Deutlich ist die chrakteristische bläulich schimmernde Glasoberfläche dieser sogenannten Vergütung sichtbar. Aufgrund einer Mitteilung Robert Richters wissen wir zwar, daß zum Zeitpunkt der Herstellung dieses Biotars die Linsenentspiegelung nach dem Verfahren Alexander Smakulas bereits patentiert war und auch praktisch durchgeführt wurde, sie allerdings "jahrelang nur in den wertvollsten Geräten angewandt" worden ist. [Richter, Robert.: Die Bedeutung der Zeiss-T-Optik für die Photographie und Projektion; in: Zeiss-Nachrichten, Sonderheft 5, Dezember 1940, S.1.] Jetzt aber, da das Verfahren erprobt und vollständig durchgebildet worden sei, solle die Linsenentspiegelung "allgemeiner in jedem Gerät verwendet werden, in dem sie von Nutzen sein kann." [Ebenda]. Und bei einem Objektiv mit vielen Linsengruppen und zudem etlichen gegeneinandergestellten konkaven Flächenformen, die sich das Licht quasi wie Hohlspiegel gegeneinader zuspielten, war eine derartige Entspiegelung von geradezu bahnbrechendem praktischen Nutzen.

Linsenvergütung im VEB Carl Zeiss Jena

Das ist die Apparatur, mit der im VEB Carl Zeiss JENA in den 1950er Jahren die Vergütung auf den Glasoberflächen aufgebracht wurde. Das Aufsublimieren des Belags im Vakuum war sichtlich arbeits- und zeitaufwendig und mußte ganz genau kontrolliert werden. [phot. Wolfgang Schröter (1928-2012), Deutsche Fotothek]

Als Normalobjektiv an der damals neuartigen Kleinbild-Reflexkamera dürfte dieses Biotar 2/5,8 cm bzw. 2/58 mm wohl die erfolgreichste Biotar-Schöpfung Willy Mertés gewesen sein. Mit dem Konstruktionsdatum 19. Oktober 1936 wurde es von Carl Zeiss Jena ziemlich genau 25 Jahre optisch unverändert hergestellt. Es behielt lange Zeit seine Stellung als Spitzenausstattung für die Exakta, die Praktica und die Spiegel-Contax. Zwischen 1945 und 1961 konnte Zeiss Jena auf diese Weise etwa 328.000 Exemplare des Biotars 2/58 mm absetzen. Das waren für die damaligen Verhältnisse enorme Mengen für ein derart aufwendiges Objektiv. Seine absolute Hochphase hatte es dabei übrigens fast am Ende dieser Erfolgsgeschichte: Allein in den beiden Jahren 1958/59 wurden über 50.000 Stück des Biotars in Springblendenfassung gebaut. Es war halt gleichsam die letzte große Zeit, in der sich insbesondere die Exakta noch als Spitzenkameras auf dem internationalen Markt verkaufen ließ.

Biotar 2/58 Schnitt

In der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten wurde das Biotar 2/58 übrigens als preisgünstiges Normalobjektiv bis in die Jahrtausendwende hinein in extrem hohen Stückzahlen unter der Bezeichnung „Helios“ gefertigt und in dieser Konfiguration ist es trotz schwankender Fertigungsqualität auch heute noch wegen seiner Abbildungscharakteristik geschätzt. Wenn das keine Anerkennung für die Konstruktionsleistung eines Willy Mertés ist …

Biotar 2/58 Normalblende

Oben ein frühes Nachkriegs-Objektiv mit Normalblende, unten ein Exemplar des in großen Stückzahlen hergestellten Modells mit Halbautomatischer Springblende.

Biotar 58 Springblende

Für Aufnahmen unter den aller-ungünstigsten Lichtverhältnissen wurde im April 1938 noch ein Biotar 1,5/75 mm geschaffen, das allerdings erst nach dem Kriege wirklich in größeren Stückzahlen gefertigt wurde und heute zur Legende unter den Portraitobjektiven geworden ist. Wie das Biotar 2/58 mm wurde auch das Biotar 1,5/75 nun wieder aufgelegt, wie unten der erste große Nachkriegs-Prospekt vom Februar 1951 zeigt.

Biotar 58mm an Kine Exakta

Oben: Ein Biotar 2/5,8 cm aus dem Jahre 1950 mit einer schwarz lackierten Aluminiumfassung an einer Kiné-Exakta II. Es gehört zu den letzten Serien, bei denen die Brennweite noch in Zentimetern angegeben war. Ungefähr im Jahresverlauf 1950 wurde diese Größe bei Zeiss Jena alsdann in Millimetern aufgraviert.

Speziell zum Biotar 58 mm dürfte auch noch die folgende Mitteilung des VEB Carl Zeiss JENA von Interesse sein:


„Wußten Sie schon…


... daß zur mathematischen Berechnung des bekannten Foto-Objektivs ‚Biotar‘ 1:2, f = 58 mm 480 Berechnungsgänge notwendig waren, die ein Manuskript von 3200 eng mit Zahlen beschriebene Seiten ergaben, an dem 2 Rechner 3 Jahre lang gearbeitet haben? [...]


… daß das bekannte Foto-Objektiv ‚Biotar‘ 1:2, f = 58mm, in der Ausführung mit Springblende für die ‚Exakta Varex‘ aus 85 Teilen besteht?


… daß zur Herstellung dieses Objektivs 1243 Arbeitsgänge und 336 Kontrollarbeitsgänge erforderlich sind?


… daß bei diesem Objektiv für die Lamellen der Irisblende Schräubchen und Niete verwendet werden, von denen etwa 600 Stück in einem normalen Fingerhut Platz finden?


… daß die Schichtdicke des Transparenzbelages vergüteter Foto-Objektive fast 0,0001 mm beträgt?


… daß die durchschnittliche optische Schleifgenauigkeit bei 0,0006 mm liegt?


… daß durchschnittlich etwa 9 Monate vergehen, ehe ein Foto-Objektiv im Rahmen einer Serie fertiggestellt wird?“


[aus: Steiner, Johannes: Fototaschenbuch 1959, Halle, 1958, S. 156 und 256.]



Für uns heute ist besonders interessant, wie lange der Herstellungsprozeß der Objektive in den 50er Jahren gedauert hat – also vom Schmelzen der Gläser bis zur Auslieferung. Die Angaben bei Thiele beziehen sich immer auf das Fassen des ersten Objektivs der Serie bzw. den Beginn der Endmontage. Von den oben angegebenen 1243 Arbeitsgängen wären das also stets die ziemlich späten.

Helios-Biotar Praktica

In den 50er Jahren wurde in der Sowjetunion eine Kleinbild-Spiegelreflexkamera namens Zenit entwickelt, die ebenso wie die Sorki-Sucherkameras auf der technischen Basis der Leica beruhte. Für diese Kamera wurde das in den Jahren 1946/47 nach Krasnogorsk mitgebrachte Biotar 2/58 als Helios-44 gefertigt. Ab den 1970er Jahren wurde diese Optik auch in einer erstaunlich hochwertigen Fassung mit einer kugelgelagerten Druckblende angeboten. Ab den 1980er Jahren wurden die Glasoberflächen dieses Helios-44-M zudem mit einer Mehrschicht-Entspiegelung versehen. Anders als auf vielen russischen Internetseiten angegeben, endete die Produktion des von verschiedenen Werken ausgestoßenen Helios-44-M nicht im Jahre 1999, denn das obige Exemplar trägt eine Seriennummer aus dem Jahre 2001. Damit ist dieser Objektivtyp also mindestens 65 Jahre lang gefertigt worden.

6. Die Entwicklung des Biotars nach 1945

Nach dem Kriegsende 1945 und der weitgehenden Demontage der Produktionsanlagen im Winter 1946/47 wurde die Abteilung Photo des Zeisswerkes durch Dr. Harry Zöllner wiederaufgebaut. Zu den ersten Objektiven, die neu entwickelt wurden (genau gesagt das Achte), gehört das unten zu sehende Biotar 2/5 cm für die Contax-Meßsucherkamera. Das Rechnungsabschlußdatum ist der 1. Juli 1947  [Bild: Baumgartner]. In die Fertigung gelangte dieses Objektiv noch nicht, was auch mit der anschließenden Verlagerung der Fertigung der Contax-Meßsucherkameras in die Sowjetunion zu tun hat. Erst ab 1952/53 wurde an einem Biotar 2/50 mm gearbeitet, das das bisherige Biotar 2/58 mm ablösen sollte und daher für die Reflexkamera geeignet sein mußte. Über das letztlich als Flexon 2/50 mm herausgebrachte Normalobjektiv existiert eine gesonderte Abhandlung.

Biotar 2/5 cm Versuch 8

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Schmalfilm ein wichtiges Anwendungsgebiet des Biotars. Als Standardbestückung für die neue 16-mm-Schmalfilm-Spiegelreflexkamera AK16 waren neben einem Flektogon 2,8/12,5 mm ein Biotar 1,4/25 (unten) und ein Biotar 1,4/50 mm vorgesehen. Interessant ist die Verwendung verschiedener Objektivrechnungen. Für das Biotar 1,4/25 mm wurde zunächst auf die weiter oben an der Siemens FII bereits gezeigte Rechnung von Willy Merté vom 16. März 1928 (!) zurückgegriffen. Zum 1. September 1955 war aber eine neue Version abgeschlossen worden, die bereits wenige Wochen später in die Serienfertigung ging. Es wurden etwa 1800 Stück des Biotar 1,4/25 mit der Rechnung von 1928 und reichlich 6700 Stück mit der Rechnung von 1955 hergestellt.

Biotar 1,4/25 mm

Auch für das Biotar 1,4/50 mm gab es zwei verschiedene Rechnungen. Eine vom 2. Mai 1950, die abe bereits am 10. September 1955 durch eine Neurechnung ersetzt wurde. Auch hier wurden etwa 1900 Stück mit der ersten Rechnung und etwa 6500 Stück mit der zweiten Rechnung produziert. Damit ist auch die Gesamtmenge der gefertigten AK16 und Pentaflex 16 Kameras mit etwa 8500 Stück abschätzbar, da im Prinzip jede Kamera mit jeweils einem dieser beiden Biotare versehen wurde. Auch die Anzahl der Flektogone 2,8/12,5 bestätigt diese Dimension.

Für den 8-mm-Schmalfilm war mit dem Versuch V120 zum 23. Februar 1952 ein Biotar 1,5/10 mm abgeschlossen worden. Da der VEB Zeiss Ikon jedoch zunächst nur eine sehr einfache 8-mm-Kamera herausbrachte, wurde dieses aufwendige Objektiv wieder auf Eis gelegt.

Biotar 1,5/10 mm bzw. 4/10 mm

Im Sommer 1956 taucht dasselbe Objektiv wieder auf, allerdings als Biotar 4/10 mm. Wieso ein derart aufwendiges Objektiv für eine so kleine Maximalöffnung? Der Grund lag darin, daß eine hohe Bildleistung gefragt war, denn das Objektiv sollte an einer "Miniatur-Reproduktionskamera" verwendet werden, wo Dokumente auf das kleine Format 2,4 x 3,2 mm verkleinert werden sollten, um dann wieder rückvergrößert zu werden. Dazu wurde bei diesem Biotar 4/10 mm eine feste Blende für das Öffnungsverhältnis 1:4,0 eingebaut. Wie man auf dem Datenblatt sieht gab es später auch noch Abblendungen auf 1:5,6 und 1:8.

Biotar 4/10 mm MfS

Freilich ging es hier nicht um irgendwelche Reproduktionen. Das derart abgeblendete Biotar 4/10 mm wurde in den Mikratkameras vom Typ Uranus eingesetzt, die der Operativ-Technische Sektor des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (OTS) für die Auslandsspionage entwickelt hatte. Es wurden winzige scheibenförmige Filme verwendet, auf denen die Bilder nur 1,4 x 2 mm groß waren. Weil dafür die Brennweite von 10 mm viel zu lang war, wurde später ein Flektogon 2,8/5 mm entwickelt, mit dem man nur noch 75 cm Aufnahmeabstand benötigte. Wichtig für uns ist aber die Bestätigung, daß der Doppelgauß mit verkitteten Innenlinsen zu extrem hohen Bildleistungen getrieben werden kann, wenn man auf die sehr hohe Lichtstärke verzichtet. Daher sind auch Makroobjektive fast ausschließlich nach dem Panar-Biotar-Typus aufgebaut.

Biotar 1,8/10 mm
Biotar 4/10 mm

Es gab übrigens auch noch ein Biotar 1,8/10 mm, das mit einer Irisblende versehen ebenfalls in den ersten Mikratkameras zum Einsatz kam. Interessant ist auch zu sehen, wie die Verwendungszwecke betriebsintern verschlüsselt wurden, damit Unbefugte nicht mitbekamen, daß die Objektive in Wahrheit an die Stasi geliefert wurden. Die Nummern 546133 und 34 beim Biotar 1,8/10 mm stehen also für die ersten Uranus-Modelle ab 1962. Und der Verwendungszweck "SF" beim Biotar 4/10 mm für Schmalfilmkamera ist eine reine Lüge. Weder das originale Biotar 1,5/10 mm noch die abgeblendeten Varianten wurden je serienmäßig in Doppelachtkameras verwendet.

Zu den absolut letzten Biotaren – zumindest unter diesem traditionellen Namen – ist dieses Biotar 1,6/70 mm zu zählen. Es wurde am 22. November 1957 gerechnet und ist lediglich für einen Bildkreis von 17 mm Durchmesser vorgesehen bzw. für einen Bildwinkel von 14 Grad. Zusammen mit einem Biotar 1,4/30 mm war es ursprünglich für den Einsatz an einer Röntgenkamera entwickelt worden. Dieses Anfang der 70er Jahre hergestellte Exemplar war jedoch für einen Restlichtverstärker vorgesehen, der sicherlich militärischen Zwecken diente [Bild: Espen Susort.].

R-Biotar 0,85/5,5 cm

Apropos Röntgen: Nicht für die bildmäßige Photographie, sondern für die Aufnahme des Schirmbildes eines Röntgenapparates sind diese R-Biotare 1:0,85 geschaffen worden [DRP Nr. 607.631 vom 31. Dezember 1932, Bild: Larry Gubas.] Dazu gibt es zwei Dinge zu bemerken: erstens hat der Aufbau mit dem Gaußtyp-Biotar nichts zu tun, sondern es handelt sich um eine eigenständige Konstruktion. Zweitens stammt dieselbe ursprünglich nicht von Zeiss, sondern vom Röntgenlogen Robert Janker aus Bonn, wie man aus der von Willy Merté geführten Zeiss-Datenblattsammlung hervorgeht. In der Fachliteratur gab sich Merté hingegen selbst als Errechner an [Vgl. dazu Merté: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929, 1943, S. 71]. Möglicherweise bezog sich letzteres nur auf die Durchrechnung der einzelnen Varianten wie hier für die Brennweite 5,5 cm.

DE607.631 R-Biotar 0,85

Da mit diesem ultra-lichtstarken Objektiv nur eine flache Ebene abgebildet wurde, spielte die nicht vorhandene Schärfentiefe keine Rolle. Auch chromatisch war keine weitgetriebene Korrektion nötig, da nur die Farbe des Leuchtstoffes des Schirmbildes zählte. Der Durchmesser des Bildkreises entsprach etwa ein Viertel der Brennweite. Auch die nach 1945 gerechneten Röntgen-Biotare können nicht durchweg dem Doppelgauß zugerechnet werden.

7. Biotar versus Sonnar – konzerninterne Rivalitäten

Abschließend vielleicht noch ein paar Worte zur Bedeutung des Biotartypus im Zeisskonzern schlechthin. Das berühmte Biotar 2/58 sticht ja vor allem deshalb hervor, weil es in mehr als 20 Jahren in solch großen Stückzahlen gefertigt wurde. Doch seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre waren Bestrebungen erkennbar, den Biotartyp generell als neuen Standard für lichtstarke Normalobjektive bei Zeiss Jena durchzusetzen und damit ein Gegengewicht zum zunächst zahlenmäßig stark dominierenden Sonnartyp zu schaffen.


An dieser Stelle habe ich versucht, den Werdegang des konkurrierenden Sonnars in knapper Form aufzuzeigen. Dieser Objektivtyp mitsamt seinem Konstrukteur Ludwig Bertele müssen stets vor dem Hintergrund des Konzerngefüges Zeiss Jena – Zeiss Ikon gesehen werden sowie der Geschichte deren Vorgängerfirmen. Denn trotz der Tatsache, daß die Zeiss Ikon eine Kamerabauanstalt "von Jenaer Gnaden" gewesen ist, behielt sich Dresden doch lange Zeit noch eine erstaunliche Selbständigkeit vor. Ablesen kann man das eben unter anderem daran, daß Zeiss-Ikon-Kameras bevorzugt mit den firmeneigenen Sonnaren ausgerüstet wurden – das gilt gleichermaßen für Kleinbild- wie für Schmalfilmkameras. Biotare gab es hier allenfalls zusätzlich. Auffallend ist jedoch, daß, abgesehen vom professionellen Einsatz im Bereich der Kinematographie, Sonnare als Standardbestückung nur in seltenen Fällen für Kameras anderer Firmen geliefert wurden. Was also lichtstarke Normalobjektive betrifft, wurden für Kamerahersteller außerhalb des Zeisskonzerns bevorzugt speziell gerechnete Biotare geschaffen. Solche externen Kamerahersteller waren in der Zwischenkriegszeit allem voran naturgemäß die Ihagee mit ihren Exaktas, ab 1938 aber auch gefolgt von den aufstrebenden Kamera-Werkstätten Niedersedlitz mit ihrer Praktiflex.

Biotar 2/4cm

Aber auch das oben gezeigte Biotar 2/4 cm für den (nicht "die") Robot aus dem Jahre 1938 ist ein Beispiel für diese Praxis. Obgleich ein Sonnar-Objektiv für diese Kleinbildkamera mit seinen drei Glas-Luft-Grenzflächen damals vielleicht günstiger gewesen wäre, lieferte Zeiss Jena selbstverständlich ein Biotar aus dem eigenen Konstruktionsbüro, statt ein in Dresden entwickeltes Sonnar. Diese Zusammenhänge – man könnte quasi von konzerninternen Animositäten sprechen, die größtenteils noch aus Zeiten der Vorgängerbetriebe herrührten – sind mir erst in den letzten Wochen so recht bewußt geworden. Man kann auf jeden Fall den Eindruck gewinnen, daß man in Jena ungern als bloße Linsenschleiferei für in Dresden entwickelte Objektive gedient hat.

Sonnar 2/4cm

Das gesamte, aus heutiger Sicht verquer anmutende Verhältnis zwischen Dresden und Jena, läßt sich nun besonders plastisch anhand des oben abgebildeten Sonnares 2/4 cm aufzeigen, das doch sehr den Eindruck eines konzerninternen Konkurrenzobjektives hinterläßt. Mit einer Lichtstärke von 1:2,0 und einer Brennweite von 4 cm bot es nicht nur dieselben optischen Daten, sondern erfüllte darüber hinaus auch noch denselben Einsatzzweck: Das Biotar 2,0/4 cm und das Sonnar 2,0/4 cm waren beide Normalobjektive für Kleinbildkameras des Aufnahmeformates 24x24 mm. Das Sonnar wurde für die Tenax II geschaffen, das Biotar für den Robot II. Beide Objektive wurden im selben Jahr konstruiert; das Sonnar am 16. April 1937, das Biotar am 7. Dezember 1937. Zwei Spitzenobjektive also, die quasi dieselbe Aufgabe erfüllten. Ich kann leider nicht umhin, aus diesen Fakten eine eindeutige Rivalität zwischen dem Jenaer und dem Dresdner Konstruktionsbüro des Zeisswerkes herauszulesen. Dazu muß man sich auch noch einmal vergegenwärtigen, wie unglaublich aufwendig das Errechnen eines Objektives in den 30er Jahren gewesen ist. Aber Prestige und Vormachtstellung gegenüber dem konzerninternen Konkurrent scheinen wichtiger gewesen zu sein, als Aufwand und Kosten. Erst äußerer Druck von höchster politischer Seite unter dem Zustand der Kriegswirtschaft hat dazumal diesem Spiel ein Ende setzen können (vergleiche wiederum hier).

Biotar 2/4 cm Contax

Zum Biotar 2,0/4 cm möchte ich abschließend noch ein Wort verlieren; es existieren nämlich zwei grundverschiedene Varianten. Das oben gezeigte, das wie gesagt für den Robot mit seinem kleineren Bildformat 24x24 mm ausgelegt gewesen ist und das am 7. Dezember 1937 gerechnet worden war, sollte keinesfalls mit einem namensgleichen Biotar 2,0/4 cm verwechselt werden, das als Rechnungsabschluß den 28. Dezember 1932 hat und das als eine Art lichtstarkes Weitwinkel für die Contax angeboten wurde. Mehr als 350 Stück wurden von Letzterem aber bis 1935 nicht fabriziert. Das Robot-Biotar war hingegen mit mehr als 16.000 Stück für damalige Verhältnisse ein regelrechtes Massenobjektiv – ja es war bis 1945 noch vor dem Biotar 2/5,8 cm (ca. 4000 Stück) das am meisten hergestellte Biotar für die Kleinbildkamera. Man sieht auch daran wieder, daß sich das Biotar erst nach und nach durchsetzen konnte. Daran hatte, wie bereits erwähnt, die Einführung der Entspiegelungsschichten einen ganz bedeutenden Anteil.

Biotar 2/4¼ cm Contax III

Außerdem: Viele Contax-Anwender und Sammler sind verwirrt, weil es später noch ein Biotar 2/4,25 cm (bzw. Biotar 2/4¼ cm, Bild: Anton Haasnoot) gegeben hat. Lassen Sie sich nicht durcheinander bringen! Es handelt sich um haargenau dasselbe Biotar vom 28. Dezember 1932, das ich oben bereits als Contax-Weitwinkel erwähnt habe. Zeiss war nur gezwungen, ab dem 1. Januar 1938 den tatsächlichen Wert der Brennweite dieses Objektives anzugeben, nachdem dieser Nennwert jetzt nicht mehr als 6% vom tatsächlichen Meßwert der Brennweite abweichen durfte [Vgl. Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 15f.]. Aus diesem Umstand heraus ist leicht erklärbar, weshalb die letzten 250 im Jahre 1938 hergestellten Contax-Biotare nunmehr mit der "ehrlichen" Angabe 4,25 cm graviert worden sind, obgleich sich am optischen Aufbau nichts geändert hatte.

Biotar 58 mm/Sonnar 57 mm

Die Rivalität "Sonnar versus Biotar" ist übrigens sogar in der Nachkriegszeit noch einmal aufgeflammt. Für die neue Spiegelcontax war um 1948 in Dresden eigentlich ein passendes Sonnar 2/57 mm geschaffen worden. Es wurde offenbar unter Robert Geißler konstruiert [DD4228 vom 24. November 1951] und auch in der Zeiss-Ikon-eigenen Optikfertigung im Betriebsteil Dresden-Reick (Mügelner Straße 40) in kleinen Stückzahlen hergestellt. Die Argumentation des VEB Zeiss Ikon lag seinerzeit darin, daß mit dem Namen "Contax" seit langer Zeit auf dem Weltmarkt der Name "Sonnar" verbunden sei und man aus Sicht der Werbung nur schwer den Umstieg auf das Biotar vermitteln könne. [Vgl. Thiele, Fotoindustrie, 2013, S. 27]. Das Problem lag aber darin, daß Harry Zöllner in einem Aufsatz von 1949 ohne großen Interpretationsspielraum bereits nachgewiesen hatte, daß für Spiegelreflexkameras das Biotar dem Sonnar weit überlegen ist. Damit war für Zeiss Ikon das Projekt Sonnar 2/57 mm gestorben. Trotz seines sehr hohen Preises, der aufgrund entsprechender Zollaufschläge selbst den US-Export der DDR-Kameras nachteilig beinflußte, wurde das Biotar 2/58 mm in der Folgezeit auch für die Spiegelcontax zur hochwertigsten Objektivausstattung.

Daran, daß ab den späten 40er Jahren die Sonnare als Normalobjektiv bei Zeiss Jena quasi keine Rolle mehr spielten, dürften nicht zuletzt die Entscheidungen Harry Zöllners entscheidend beigetragen haben, der den Leistungsvorsprung des Biotares stets betont und (wie wir heute wissen) in Hinblick auf zukünftige Entwicklungen auch korrekt eingeschätzt hat. Schon kurz darauf beginnt eine geradezu stürmische Leistungssteigerung des lichtstarken Doppelgauß statt, über die man in den einleitenden Bemerkungen zum Flexon 2/50 mm Näheres lesen kann.

Oben: Eine Aufnahme mit dem Biotar 2/58 mm bei Blende 2,8 und 1/1000 Sekunde. Die verwendete Contax F war 1956 mit einer im Spiegelkasten untergebrachten Übertragung versehen worden, die beim Durchdrücken des Auslösers die Halbautomatische Springblende des Biotars kurz vor der Aufnahme zuspringen ließ. Das war in der Praxis ein sehr angenehmer Fortschritt.

Marco Kröger


letzte Änderung: 6. Oktober 2024