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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Certo Six
Die letzte Spitzen-Kamera dieses kleinen Photogerätewerks
Mit der Marke "Certo" verbinden sicherlich Viele die "Plastik-Phantastik"-Kameras des SL-Systems aus den 70er und 80er Jahren, mit denen sie vielleicht ihre ersten photographischen Gehversuche gemacht haben. Es gab aber einen Zeitabschnitt in der Geschichte des Certo-Kamerawerkes Fritz von der Gönna & Söhne, da hatte dieser Betrieb ausschließlich zwei ambitionierte Faltkameras im Sortiment. Die eine war die Super Dollina II für Kleinbildaufnahmen, die andere die Certo Six für den Rollfilm 6x6. Erstere ging auf eine Vorgängerin aus der Zwischenkriegszeit zurück, die Certo Six war hingegen eine völlige Neuentwicklung. Für den damals noch rein privat geführten Betrieb, der mit seinen etwa 75 Arbeitskräften [im Jahre 1954, nach CIA-RDP79-01093A001000080001-9] im Vergleich zu den anderen Dresdner Kameraherstellern geradezu winzig war, ist das eine große Leistung gewesen.
Die Grundprinzipien, die man oben an der Super Dollina erkennt, die sollten auch bei der neuen Certo Six übernommen werden: Zum einen der mit der Scharfstellung gekuppelte Entfernungsmesser und zweitens die Standartenverstellung des Objektivauszugs. Beides sind Merkmale für die hochwertigste Bauart unter den Sucherkameras. Der Hintergrund ist folgender: Bei einer Faltkamera mit Balgen gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten scharfzustellen. Meist wird die sogenannte Frontlinsenverstellung gewählt, bei der die Frontlinse des Objektivs um ganz geringe Beträge herausgeschraubt wird, wodurch sich die Brennweite des Gesamtobjektivs verkürzt, weshalb man man trotz unveränderter Bildweite näher ans Motiv herangehen kann.
Das ist toll für den Kamerahersteller (weil er sich viel Aufwand spart), aber läßt dem Objektivkonstrukteur die Haare zu Berge stehen. Dieser hat nämlich die Abstände von Linsen und Gruppen in seinem Objektiv genauestens berechnet und ihre präzise Einhaltung ist von großer Wichtigkeit. Werden diese Abstände angetastet, so verschlechtert sich insbesondere bei lichtstarken Objektiven die Bildqualität immens. Und das Tessar 1:2,8 war damals lichtstark! Der bessere Weg lag stets darin, die Bildweite zu verlängern, um die Gegenstandsweite verkürzen zu können. Dazu muß die vordere Standarte einer Balgenkamera längs der optischen Achse verstellbar sein. Bei Certo schlug man mit dieser Klappe gleich noch eine zweite Fliege: Die Aufhängung der Standarte mithilfe mehrerer Hebelarme war bei der Certo-Six nämlich so gewählt, daß diese sich beim Naheinstellen leicht nach oben (Richtung Sucher) bewegte und damit ein Anwachsen der Sucherparallaxe verhindert wurde. Da bei Naheinstellung der nutzbare Bildwinkel des Objektivs anwächst, geschah diese "Shiftbewegung" des Objektives ohne qualitative Nachteile.
Dabei ergaben sich bei der Certo Six gegenüber der Super Dollina zwei Weiterentwicklungen. Der Wesentlichere ist der Mischbild-Entfernungsmesser in Form eines sogenannten Meßsuchers. Sucher und Entfernungsmesser waren also einblicksgleich zusammengelegt und es mußte nicht mehr zwischen beiden Okularen hin- und hergewechselt werden. Als zweite Veränderung geschah das Scharfstellen nicht mehr über eine fummelige Schraube an der Seite des Gehäuses, sondern mithilfe eines großen Hebels an der Unterseite der Kamera. Leider ist dieser Hebel aber mit den starken Federn des Springmechanismusses belastet und läßt sich oftmals nur mit viel Kraftaufwand ruckartig und wenig präzise bewegen. Das wurde damals auch kritisiert.
Die Kamera wurde als Certo-Super-Six bereits 1953 das erste Mal auf der Leipziger Herbstmesse vorgestellt [Vgl. Fotografie, 10/1953, S289.]. Durch einen Artikel in der Berliner "Neuen Zeit" vom 1. Dezember 1954 (unten), aus dem wir erfahren, daß der Konstrukteur dieser Kamera Erhard Hempel gewesen ist und dieser am 23. November 1954 vom Minister für Handel und Versorgung Curt Wach mit einer Auszeichnung für seine Leistungen geehrt worden war, bekommen wir auch die Information, daß die Fertigung der Certo-Super-Six noch in diesem Quartal anlaufe, sie aber ausschließlich für den Export bestimmt sei.
Schon zuvor, im Laufe des Jahres 1954 waren 1250 Stück des Tessares 2,8/80 mm an Certo geliefert wurden. Im Spätsommer 1955 folgten weitere 1000 Stück. Dieses Tessar 2,8/80 mm war erst kurz zuvor bei Zeiss Jena völlig neu entwickelt worden. Es war das erste Normalobjektiv dieser Firma, das in seinem Aufbau eine Linse aus den neuartigen Lanthan-Thorium-Schwerkrongläsern enthielt. Charakteristisch für diese Neukonstruktion ist zudem, daß die Positionierung von Sammel- und Zerstreuungslinse im bildseitigen Systemteil gegenüber dem bisherigen Tessar vertauscht ist und deshalb die sammelnde Kittfläche nicht Richtung Bild, sondern Richtung Blende durchbogen ist.
Eine wirkliche Großserienfertigung der Certo-Six scheint allerdings erst ab 1956 in Gang gekommen zu sein. Fast 11.000 Tessare 2,8/80 mm wurden zwischen Januar 1956 und Oktober 1957 nachweislich an Certo geliefert. Und auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1957 wurde die Certo-Six regelrecht ein zweites Mal vorgestellt [Vgl. dazu Brauer, Egon: Leipziger Frühjahrs-Messe 1957; in: Bild & Ton, Heft 3/1957, S.59.]. Das könnte den Hintergrund haben, daß diese Kamera erstmals in größeren Stückzahlen auf dem DDR-Inlandsmarkt vertrieben wurde. Das kann man auch daran ablesen, daß nun fast nur noch der DDR-Verschluß "Tempor" verwendet wurde. Teure Compurverschlüsse wurden meist nur dann importiert, wenn Aussicht auf Deviseneinnahmen durch den Export der fertigen Kamera ins NSW bestand.
Auf dieses Tessar 2,8/80 mm schauen wir hier deshalb so genau, wenn wir die Herstellungszeiträume und die produzierten Mengen der Certo-Six abschätzen wollen, weil es ohne jeden Zweifel das am meisten in dieser Kamera eingesetzte Objektiv gewesen ist. In nicht näher zu beziffernden Mengen ist die Certo-Six aber auch mit einem Meyer Primotar 3,5/80 mm ausgeliefert worden. Sehr interessant wird es auch, wenn man sich unten die beiden (in der DDR-Presse geschalteten!) Werbeanzeigen anschaut. In beiden ist auf dem Objektiv "Rodenstock" zu lesen. Es könnte also sein, daß für den Westexport auch ein bislang nicht näher bekanntes Objektiv dieses Herstellers verwendet worden ist.
Wenn Ihre Certo-Six mit einem Tessar ausgestattet ist, dann läßt sich deren Entstehungszeit anhand der Seriennummer des Objektivs auf folgende Zeiträume abschätzen:
Seriennummernbereich | ungefähre Herstellungszeit |
3.903.701 - 3.903.950 4.016.301 - 4.017.300 | 1954 |
4.379.001 - 4.380.000 | 1955 |
4.765.651 - 4.766.000 4.863.401 - 4.863.495 4.863.665 - 4.863.669 5.053.701 - 5.056.100 | 1956 |
5.074.401 - 5.075.900 5.133.401 - 5.135.100 5.213.001 - 5.216.000 5.327.101 - 5.328.950 | 1957 |
Die tatsächliche Montage der Kamera und vor allem ihr Verkauf im Handel kann natürlich sehr viel später erfolgt sein. Und falls Ihr Tessar eine Seriennummer hat, die hier nicht vorkommt, dann melden Sie sich bitte bei uns!
Ende der 50er Jahre brach für das Certo-Werk eine neue Zeit an. Zunächst verstarb der langjährige Firmeninhaber Fritz von der Gönna 1958 [Vgl. Blumtritt, Fotoindustre, S. 151.]. Seine beiden Söhne Armin und Eckard (in anderen Quellen Eckart) übernehmen daraufhin die technische bzw. die kaufmännische Leitung der Firma. Im Jahr darauf gingen sie eine staatliche Beteiligung ein, um weiterexistieren zu können. Als Gegenleistung für verläßliche Materiallieferungen und Kredite für Betriebserweiterungen mußten die Inhaber ein Mitspracherecht staatlicher Institutionen bei strategischen Richtungsentscheidungen hinnehmen. In dieser Zeit geht es für den Betrieb durchaus voran: Auf der Leipziger Herbstmesse 1958 konnte die ungewöhnlich hochwertig gebaute Boxkamera Certo-Phot vorgestellt werden. Auf der Frühjahrsmesse 1960 folgte die mit einem Belichtungsmesser versehene Certo-matic. Und der obige Bericht aus der "Neuen Zeit" vom 21. April 1960 deutet bereits die Entwicklung der vollautomatischen Kleinbildkamera Certi an.
Doch in Wahrheit läutete diese Umwandlung des Certo-Werks in eine Kommanditgesellschaft bereits ihr Ende als Hersteller hochwertiger Markenkameras ein. Die Firma wurde in der Folgezeit mehr und mehr zum Opfer staatlicher Entscheidungen. Und diese Entscheidungen führten sukzessive weg aus dem Spitzensegment in Richtung billiger Massenware. Zwar hatte die Ausweitung der Produktion der Certo-Six in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zur Folge gehabt, daß diese hochwertig verarbeitete Kamera nun auch endlich in den Photogeschäften der DDR anzutreffen war. Hier stellte sie mit einem Verkaufspreis von 455,- Mark die mit Abstand teuerste Rollfilm-Faltkamera dar. Doch diese Situation hielt nicht lange an. Die große Preissenkung vom Mai 1960 hatte zur Folge, daß dieser Verkaufspreis durch behördliche Entscheidung auf 313,30 Mark herabgesetzt wurde. Ab diesem Punkt wird sich eine Produktion dieser aufwendigen Präzisionskamera für den Hersteller nicht mehr gelohnt haben. Nach einem Abverkauf verschwand sie rasch aus dem Angebot der Fachgeschäfte.
Als Mittelformatkamera und auch aufgrund ihrer wertigen Ausführung ist die Certo Six eine ziemlich große und auch schwere Kamera. Doch im zusammengeklappten Zustand ist sie aufgrund ihrer konstruktiven Auslegung als Faltkamera außerordentlich flach und daher gut transportabel.
Noch eine Anmerkung: Für diese Kamera finden sich in der zeitgenössischen Literatur drei Schreibweisen, die abwechselnd vorkommen: Certo-Six, Certo Six und Certosix. Die Variante "Certo 6", die im Internet anzutreffen ist, hat jedoch keinen historischen Ursprung in Dresden und sollte deshalb besser nicht verwendet werden.
Besondere Konstruktionsmerkmale der Certo-Six
Was meiner Beobachtung nach Kamerafreunde auch heute noch an der Certo Six auf den ersten Blick begeistert, ist die Tatsache, daß sie einen Transporthebel aufweist. Aber damit nicht genug: sie hat sogar eine automatische Filmlängensteuerung. Diese ist zwar technisch sehr einfach gelöst, funktioniert aber in der Praxis ausreichend genau. Die Zunahme der Spulendicke auf der Aufwickelseite wird registriert und auf diese Weise der Schwenkwinkel des Transporthebels in drei Stufen begrenzt. Nach zwei Schwenkbewegungen liegt ein frisches Filmstück im Bildfenster und das Zählwerk zeigt die nächste Bildnummer an. Erst dann läßt sich der Verschluß auslösen – eine Doppelbelichtungssperre. Nur eines hat man leider nicht hinbekommen: Der Filmtransport ist nicht mit dem Verschlußaufzug gekuppelt. Man muß den Verschluß gesondert spannen.
Oben sieht man, wie der Transportmechanismus der Certo-Six mit dem Bildzählwerk und der Doppelbelichtungssperre gekuppelt ist. Diese Bauweise hat sich der Konstrukteur dieser Kamera Erhard Hempel am 30. März 1952 mit dem DDR-Patent Nr. 8831 schützen lassen.
Auf dem Photo oben aus dem Innenleben der Certo-Six sieht man vorn rechts auch den Schwenkhebel, der mit der Abtastung der Aufwickelspule verbunden ist. Er bildet einen veränderlichen Anschlag für den Filmtransporthebel, wodurch eine einfache Bildlängensteuerung erreicht wird. Auch diesen Mechanismus hat sich Herr Hempel in einem Patent Nr. 7874 vom 9. Dezember 1952 schützen lassen. Die Zeichnungen aus dem Patent verdeutlichen das einfache, aber wirkungsvolle Funktionsprinzip.
Auch die oben schon angesprochenen Besonderheiten des Spreizensystems für die Frontstandarte der Certo Six sind in einem Schutzrecht verankert worden [Nr. DD9869 vom 19. März 1952]. Durch die Verwendung von Knickspreizen (an Stelle einer Schlittenführung, wie noch bei der Super Dollina) konnte der Fertigungsaufwand verringert werden, ohne daß sich dies auf die Präzision des Unendlichanschlages auswirkte. Als Besonderheit verweist Hempel in seinem Patent auch darauf, daß durch diese Bauart die Kamera geschlossen werden kann, ohne daß sich die Entfernungseinstellung verändert. Wird der Balgen wieder ausgefahren, ist wieder auf dieselbe Entfernung fokussiert, wie vor dem Einklappen des Laufbodens. Die Bildweite wird durch einen Exzenter verstellt, der unten in einer Zeichnung dargestellt ist. Die Realisierung an der Kamera sieht etwas anders aus, läuft technisch gesehen aber auf dasselbe hinaus.
Eine zweite Zeichnung dieses Patents Nr. 9869 verdeutlicht uns noch einmal den Knickspreizenmechanismus. Besonders hinweisen möchte ich auf die strichpunktierte Kurve, die den Verstellweg der Frontstandarte darstellt. Wesentlich für uns ist der Teil der Kurve links vom Drehpunkt der Standarte, der den besagten Ausgleich der Sucherparallaxe aufzeigt.
Ein weiteres Patent Hempels mit der Nummer DD9076 vom 21. November 1950 wurde hingegen nicht verwirklicht. Statt des hier beschriebenen Entfernungsmessers mittels Schwenkkeil wurde, wie oben auf dem Bild vom Innenleben der Certo Six zu sehen, ein viel einfacheres System mit einem feststehenden teilversilberten und einem schwenkbaren vollversilberten Planspiegel umgesetzt.
Als besonders interessantes Detail möchte ich noch erwähnt haben, daß laut einer Urschrift zu einer Patentanmeldung Herr Ingenieur Erhard Hempel eine Zeit lang wohhaft in Pöcking bei Starnberg gewesen ist – also in der Bundesrepublik. Später ist aber Dresden Wachwitzer Bergstraße 20b angegeben. Er scheint also noch vor dem Mauerbau in die DDR gegangen zu sein. Hempel hat noch bis weit in die späten 70er Jahre Entwicklungen für das Certo Kamerawerk beigesteuert. Er war der Patentliteratur zufolge auch an Grundlagenarbeiten zu den SL-Kameras dieses Werkes beteiligt.
Die hier zu sehenden Aufnahmen wurden von Roger Rössing auf der Leipziger Herbstmesse 1954 angefertigt [Bildquelle: Deutsche Fotothek]. Zu sehen ist eine Certo-Six mit zusätzlichem Balgen für Nahaufnahmen. Über die dargestellten Personen kann man indes nur spekulieren. Ich halte es aber für sehr wahrscheinlich, daß auf dem ersten Photo rechts der Firmeninhaber Fritz von der Gönna zu sehen ist. Auf den Bildern darunter könnte es sich um einen seiner Söhne handeln. Und links? Ist das der Certo-Chefkonstrukteur Erhard Hempel?
Marco Kröger
letzte Änderung: 17. April 2025
Yves Strobelt, Zwickau
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