zeissikonveb.de
Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Pronto, presto, subito!
Zentralverschlüsse im DDR-Kamerabau
Eigentlich sollte das nur ein kleiner Text über den Prestor Zentralverschluß werden. Das stellte sich aber bald als unbefriedigend heraus, weil ja der Prestor als Endergebnis einer Situation anzusehen ist, die dessen Existenz überhaupt erst notwendig gemacht hatte. Also war es unumgänglich, auf eine Vorgeschichte einzugehen, die bis auf ein halbes Jahrhundert vor dem Erscheinen des Prestor zurückreicht. Ich hoffe, daß mir das in einigermaßen prägnanter und trotzdem lesenswerter Form gelungen ist.
Doch wie das so ist: Wenn man sich erst einmal auf ein Thema „eingeschossen“ hat, dann gibt man sich mit ersten Antworten nicht so schnell zufrieden. Und so ergab es sich, daß die Durchsicht der verfügbaren Zentralverschluß-Patente zu Einblicken führte, die weit über rein technische Aspekte hinausreichten und wertvolle Hinweise über das schleichende Ende des VEB Zeiss Ikon liefern konnten. Über den Niedergang dieses Dresdner Betriebes, den ich nur als das ehemalige Gravitationszentrum des deutschen Photogerätebaus bezeichnen kann, ist bislang erschütternd wenig Handfestes, Detailliertes zu lesen. Bei Jehmlich finden sich nur vage Andeutungen, bei Blumtritt gar nichts. Ich hoffe, in diesem Hinblick mit dem Abschnitt 5 neue Anhaltspunkte für eine weitere Aufarbeitung aufzeigen zu können.
Die Wirtschaftsgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik ist die Geschichte fortwährender Beschaffungskrisen. Das sollte nicht verwundern: Beginnend mit der Trennung der Währungen im Jahre 1948 und endgültig mit der Gründung der beiden deutschen Staaten im Verlaufe des Jahres 1949 war eine über mehr als einhundert Jahre hinweg etablierte und zu einer großen Komplexität herangewachsene Industrienation aufgespalten worden. Eingespielte Lieferbeziehungen zwischen Unternehmen, die Bereitstellung von Grundstoffen und Rohmaterialien, die Energieversorgung, der Handel usw. waren zu großen Teilen gekappt worden bzw. unterlagen den ständigen Unbilden der gerade vorherrschenden "politischen Großwetterlage".
Im Geschichtsunterricht lernt man, daß sich Deutschland im Jahre 1949 in zwei separate Staaten getrennt habe. Das war aber nur der Schlußpunkt einer langwierigen Aufspaltung, die nicht allein aufgrund der unvermeidlichen politischen Auseinanderentwicklung der von den beiden Machtblöcken beherrschten Zonen vorangetrieben wurde. Allen vier Besatzungsmächten war klar geworden, daß auch die alte, völlig wertlos gewordene Reichsmark abgelöst werden müsse, doch konnte auch hier keine Einigung auf eine gesamtdeutsche Lösung erzielt werden. Nachdem in den drei westlichen Besatzungszonen zum 20. Juni 1948 überraschend die D-Mark eingeführt worden war, fühlte sich die Sowjetzone gezwungen, drei Tage später überstürzt eine eigene Währungsreform durchzuführen [Bild: Roger Rössing, Deutsche Fotothek, Datensatz 88880595], um nicht in die bodenlose Inflation durch Zufluß der alten Reichsmark aus den Westzonen abzugleiten. Plötzlich befanden sich Industriebetriebe in der Trizone und der SBZ jeweils im währungspolitischen Ausland zueinander, was die Trenung in wirtschaftlicher Hinsicht zementierte – Monate bevor dies in administrativer Hinsicht nachgeholt wurde.
Für die Sowjetische Besatzungszone und die frühe DDR wird oftmals angeführt, wie schwer es gerade dieser Teil Deutschland gehabt habe, weil hier erstens kaum Rohstoffquellen vorhanden waren und zweitens so gut wie keiner der großen deutschen Konzerne hier seinen Sitz hatte. Drittens wird – und das natürlich ganz zurecht – die große Last der sowjetischen Demontagen betont. Die Sowjetzone hatte schlichtweg den Hauptanteil der deutschen Reparationen zu leisten.
Andererseits darf nicht übersehen werden, daß gerade das ehemalige Mitteldeutschland nach 1945 die besseren Startbedingungen für das Wiederanlaufen einer Friedenswirtschaft gehabt hat. Zum Beispiel deshalb, weil eben keiner der riesigen, durch die Verstrickung in die NS-Herrschaft und die Einbindung in den Totalen Krieg völlig diskreditierten Großkonzerne hier beheimatet war. Im Vergleich dazu konnte die großteils mittelständisch geprägte Industrie der SBZ mit ihren flexibel agierenden Mittel- und Kleinbetrieben dahingehend viel besser auf die neue Situation reagieren. Ferner erwiesen sich die industriellen Strukturen im Süden der SBZ, aber beispielsweise auch im Berliner Raum, mit ihren traditionellen Ausrichtungen auf die Elektrotechnik, die Textilindustrie, den Maschinenbau, Nahrungs- und Genußmittel, Verpackungsmittel, Werkzeugmaschinenbau usw. allesamt geradezu als essentiell für eine wiederanlaufende Friedensproduktion. Und nicht einmal Kriegszerstörungen oder Demontagen konnten diese wirtschaftliche Wiederbelebung längerfristig verhindern.
Es hat indes vielfältige Gründe, weshalb es trotzdem nicht diese junge DDR gewesen ist, die sich zum deutschen Wirtschaftswunderland entwickeln sollte. Daran mögen die politisch-dirigistischen Eingriffe der SED die schwerwiegendsten Anteile gehabt haben. Diese zielten darauf ab, die oben beschriebenen historischen wirtschaftlichen Strukturen dahingehend umzugestalten, die DDR als Zulieferland für die Bedürfnisse der Sowjetunion zu ertüchtigen. Die dazu notwendige totale Kontrolle über die Wirtschaft durch die SED resultierte bereits nach wenigen Jahren in einer Auslöschung fast jeglicher privatwirtschaftlicher Initiative – mit langfristig katastrophalen Folgen für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung in der DDR. Es sei daran erinnert, daß es nicht zuletzt die vielen privaten Unternehmer und Ingenieure gewesen sind, die von der jungen DDR in die Bundesrepublik geflüchtet waren und dort genau diejenigen Klein- und Mittelbetriebe aufbauten, für die der mitteldeutsche Raum vor 1945 bekannt war.
Es ist also eine Mischung aus geerbten industriellen Strukturen, die eben zu großen Teilen noch auf das 19. Jahrhundert zurückgingen, und von denen sich die ostdeutsche Wirtschaft nach 1945 nicht so einfach freimachen konnte plus den massiven staatsdirigistischen Eingriffen, die ein Reagieren auf neue Erfordernisse nur dann möglich machten, wenn dies von der Führung in Berlin explizit so angeordnet worden war. Das bekannteste Beispiel dafür kommt aus dem sächsischen Automobilbau: Die Tatsache, daß fast bis zum Schluß in der DDR nur Klein- und Mittelklassewagen mit Zweitaktmotor gefertigt wurden, läßt sich hauptsächlich darauf zurückführen, daß zum Zeitpunkt der Gründung des Staates hier nur eine Fertigungstradition für genau diese Motorbauart vorhanden war. Diese historische Prägung nachträglich zu überwinden, hat sich als sehr schwierig erwiesen. Nicht daß die Ingenieure des Industrieverbandes Fahrzeugbau keine eigenen Viertaktmotoren entwickelt hätten – doch fehlende ökonomische Potenz des Staates und Desinteresse in der Wirtschaftsführung verhinderten die Einführung in die Produktion über Jahrzehnte. Es sagt viel aus, daß ein Überwinden dieser historischen Fertigungstradition und das Aufholen fehlender technischer Konkurrenzfähigkeit letzten Endes nur durch Hilfe aus der Bundesrepublik erreicht werden konnte, wo Firmen wie Opel oder Volkswagen eben schon vor 1945 Klein- und Mittelklassewagen mit Viertaktmotor gefertigt hatten.
Die wirtschaftlichen Strukturen in Deutschland waren bereits vor Gründung zweier unabhängiger Staaten durch Zonengrenzen und währungspolitische Spaltung in großen Teilen zerrissen worden. Bild: Abraham Pisarek, Deutsche Fotothek, Datensatz 90130874.
Auf diese wirtschaftsgeschichtlich bedeutsamen industriellen Strukturprobleme, die sich aus der deutschen Teilung nach 1945 ergeben haben, verweise ich an dieser Stelle deshalb so nachdrücklich, weil ich mich in der Folge mit einem ganz engen Teilbereich des Photogerätebaus beschäftigen will: dem Zentralverschluß. Die Photoindustrie ist geradezu paradigmatisch für die oben beschriebenen mittelständischen industriellen Strukturen in der Sowjetischen Besatzungszone. Demzufolge hatte sie auch einen bedeutenden Anteil am Wiederaufbau der Konsumgüterproduktion nach dem Kriege. Gleichzeitig läßt sich anhand der Problematik des Zentralverschlusses aber auch ein gutes Beispiel für derartige langfristigen Verwerfungen aufzeigen, wie sie das Auseinanderreißen der traditionellen Verknüpfungen zwischen Unternehmen in Folge der deutschen Teilung von 1948/49 mit sich gebracht haben. Gleichsam ist der Zentralverschluß ein beredtes Beispiel für die besagten ständigen Beschaffungskrisen in der DDR Wirtschaft, weil sich die stets fragliche Verfügbarkeit dieses wichtigen Zulieferproduktes sowohl auf die Produktionsziffern bereits bestehender genauso wie auf neu zu entwickelnde Kameratypen mit Zentralverschlüssen auswirkte – ein Grundproblem der Zentralverwaltungswirtschaft, das die DDR bis zum Schluß nicht in den Griff bekommen konnte.
1. Schlüsselprodukt Zentralverschluß
Der Wirtschaftszweig der Photoindustrie läßt sich seit dem späten 19. Jahrhundert traditionell in drei große Teilbereiche gliedern: Die photochemische Industrie, den Objektivbau und den Kamerabau. Der historische Zufall hat dafür gesorgt, daß zwischen Jena, Wolfen, Dresden und Görlitz der überwiegende Hauptteil dieses deutschen Industriezweiges auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone angesiedelt war. Mit Ausnahme der großen Kamerabaustandorte Braunschweig und Wetzlar, sowie einiger kleinerer photochemischer Werke und optischer Anstalten, gab es in der jungen Bundesrepublik kaum nennenswerte photoindustrielle Traditionen. Die großen Fertigungskapazitäten, die einstmals dort vorhanden waren, wurden nach 1945 überwiegend neu geschaffen – zu einem großen Teil übrigens durch Verlagerung von materieller Substanz und wissenschaftlichen Know Hows aus der SBZ.
Eine Ausnahme läßt sich aber angeben: Das ausgesprochene Spezialgebiet der Zentralverschluß-Fertigung. In diesem Segment der Photobranche lagen auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone so gut wie keine Fertigungstraditionen vor. Obwohl das eigentlich nicht stimmt. Sie lagen einstmals vor, wurden aber zerstört. Zerstört von einem Optikkonzern namens Carl Zeiss Jena, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit zunehmender Vehemenz versuchte, in den sprunghaft wachsenden Markt der Amateurphotographie einzusteigen. Hatte Zeiss Jena auf dem Gebiet der Photooptik durch das konzerninterne Know How bereits eine qualitative Spitzenposition inne, so versuchte man im Bereich des Kamerabaus durch Aufkaufen bzw. feindlichen Übernahmen von etablierten Fertigungsstätten eine vergleichbare Position zu erreichen. Die gesamte Geschichte der Zeiss Ikon AG muß vor dem Hintergrund dieser Jenaer Aktivitäten gesehen werden. Und zu dieser Geschichte gehört auch die feindliche Übernahme der Heinrich Ernemann AG und die Zerschlagung derjenigen Fertigungsbereiche Ernemanns, die für Zeiss jahrelang eine unerwünschte Konkurrenz darstellten. Neben dem Ernemannschen Objektivbau („Ernostare“) gehörten dazu eben auch die Zentralverschlüsse mit Räderhemmwerk, die diese Firma fabrizierte („Cronos“).
Der „Cronos B“, ein hochwertiger Selbstspannverschluß mit Räderhemmwerk der Heinrich Ernemann Aktiengesellschaft Dresden, der problemlos mit dem „Ibsor“ von Alfred Gauthier konkurrieren konnte. Auch mit dem hervorragend korrigierten Tessartyp „Ernolplast“ aus eigenem Hause trat Ernemann in die direkte Konkurrenz zum Zeisskonzern. Übrigens gab es noch einen Cronos C, der zusätzlich die 1/250s besaß. Diese Verschlußzeit - und nur diese - wurde durch eine Zusatzfeder angetrieben. Damit behielt der Cronos für alle längeren Verschlußzeiten die praktische Handhabung des Automatenverschlusses und nur für die kürzeste Verschlußzeit wurde er zum Spannverschluß. Auf diese Weise trat der Cronos C der Ernemann-Werke sogar in Konkurrenz zum bislang unerreichten Compur!
Und neben den Objektiven gehören nun mal die Verschlüsse zu den komplexen Schlüsseltechnologien des Photogerätebaus. Lange bevor es schließlich zu einer Zusammenführung zahlreicher bedeutender Kamerabaufirmen in der Konzerntochter Zeiss Ikon kam, hatte sich der Zeisskonzern eine feste Position auf diesem Gebiet der Zentralverschlüsse gesichert. Ein beachtlicher Teil der Geschichte der deutschen Photoindustrie sowohl in der Zwischenkriegszeit, als auch in den beiden deutschen Staaten nach 1945 muß vor dem Hintergrund des Eingreifens des Zeisswerks in das Marktsegment der Zentralverschlüsse wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg betrachtet werden. Die Schlüsselpersonen dafür waren Friedrich Deckel mit seiner Firma in München sowie ein Konstrukteur namens Christian Bruns. Dieser hatte ab 1903 einen hochwertigen Spannverschluß entwickelt, der zuerst mit der sog. Lederbremse als Hemmwerk ausgestattet war, aber kurze Zeit später auf die deutlich präziser arbeitende Luftbremse umkonstruiert wurde. Letzteres geschah während einer kurzen Phase, in der Bruns für die Friedrich Deckel AG arbeitete. Der fertige Verschluß wurde unter der Bezeichnung „Compound“ auf den Markt gebracht (Deutsche Patente Nrn. 148.663; 195.913; 212.320 und 225.003).
Diese Deckel AG muß wohl als eine geheime Tochterfirma des Zeisskonzerns angesehen werden, zumal Friedrich Deckel ursprünglich selbst „Zeissianer“ gewesen war. Diese Vermutung von mir wird noch durch einen anderen Umstand bekräftigt: Anders als der getreue Friedrich Deckel, stellte sich Christian Bruns als unsteter Geist heraus. Nach kurzer Zeit schied dieser findige Konstrukteur wieder aus der Deckel AG aus und entwickelte quasi privat den per Luftbremse gesteuerten Compound zum bahnbrechenden Spannverschluß mit Räderhemmwerk weiter, der später unter dem Namen „Compur“ weltbekannt wurde. Dabei war das zugehörige Reichspatent Nr. 258.646 vom 7. Juni 1910 mit seiner ausrückbaren Ankerhemmung so weitgreifend, daß es lange Zeit einem wahren Monopol im Bereich hochwertiger Objektivverschlüsse gleichkam. Umso interessanter, daß dieses Patent der Christian Bruns & Co. GmbH auf eine noch nicht genauer geklärte Weise in den Besitz von Zeiss gelangt. Von diesen wurde es sodann an die Friedrich Deckel AG lizensiert, die jenen Verschlußtyp bekanntermaßen sechs Jahrzehnte lang gefertigt hat. Das brisante daran: Diese Zusammenhänge und Besitzverhältnisse waren den Mitbewerbern von Zeiss bzw. Zeiss Ikon unbekannt. Firmen wie Voigtländer oder Franke & Heidecke, die in großem Umfange Compurverschlüsse einsetzten, hatten keinen blassen Schimmer davon, daß sie die hochwertigen Verschlüsse in Wahrheit von ihrem Konkurrenten kauften, der dadurch verdeckt auch die Hand auf Liefermengen und Preise für dieses unverzichtbare Schlüsselprodukt des Kamerabaus hatte.
Diese lange Vorgeschichte muß erzählt werden, wenn man verstehen will, wieso zwar Zeiss Jena vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit seinen geheimen Tochterfirmen Friedrich Deckel in München sowie Alfred Gauthier in Calmbach quasi ein Monopol im Sektor hochwertiger Zentralverschlüsse innehatte, dieses einstmalige Monopol sich aber plötzlich vollständig in Luft auflöste, als die entsprechenden Firmen nach 1945 nun in den westlichen Besatzungszonen lagen. Die „We Take The Brain“ Strategie der US-Besatzungsmacht tat ein Übriges, indem sie dem Jenaer Werk nicht nur die Konstrukteure, sondern auch die Konstruktionsunterlagen und Schutzrechte entrissen. Das führte dazu, daß in der jungen DDR fast keine Fertigungskompetenz für hochwertige Zentralverschlüsse vorhanden war – im Prinzip genau so, wie der sächsische Automobilbau keine Traditionen in der Herstellung kleinerer und mittlerer Viertaktmotoren zu bieten hatte. Wir wissen heute, daß sich im Gegensatz zum Automobilbau der Mangel an Zentralverschlüssen langfristig gesehen als ein großer Segen für die DDR-Kameraindustrie herausstellte, denn auf diese Weise geriet man nicht in dieselbe technische Sackgasse, in der bundesdeutsche Kamerahersteller wie Zeiss Ikon, Agfa, Carl Braun und Kodak festsaßen, weil ihre einäugigen Reflexkameras mit Zentralverschlüssen arbeiteten. Vielmehr war man in der DDR regelrecht dazu gezwungen, Schlitzverschlüsse weiterzuentwickeln. Und in diesem Bereich konnte die mitteldeutsche Photoindustrie durchaus auf eine lange Fertigungstradition zurückblicken.
Allerdings war es bis dahin ein langer Weg. Bekannt ist, daß beispielsweise der VEB Zeiss Ikon im Falle der Schlitzverschlußkamera vom Typ Spiegelcontax erst ungefähr im Jahre 1951 eine stabile Produktion erreichen konnte. Und auch bei den übrigen Dresdner Kamerabaufirmen wurden Schlitzverschlüsse nur in den jeweiligen Spitzenmodellen eingesetzt. Für alle anderen Kameras benötigte man Zentralverschlüsse. Und dahingehend geriet das folgende Jahrzehnt nach dem Kriegsende oftmals zu nicht mehr als einer Verwaltung der ganz oben bereits angesprochenen Beschaffungskrisen. Zum einen bedeutete dies ein je nach Situation mal mehr, mal weniger sporadischer Import hochwertiger westdeutscher Spann- und Selbstspannverschlüsse von Deckel (Compur) und Gauthier (Prontor). Diese wurden wegen der damit verbundenen Devisenabhängigkeit vorwiegend in jene Kameras montiert, die ihrerseits wiederum für den Export vorgesehen waren. Das deckt sich auch mit der Beobachtung, daß mit schwindender Exportträchtigkeit von Zentralverschlußkameras während der 1950er Jahre auch der Einsatz der teuren West-Verschlüsse sukzessive zurückgeht.
2. Selbstspannverschlüsse
2.1 Der Velax
Die zweite Strategie der DDR-Kameraindustrie, der Beschaffungskrise im Bereich der Zentralverschlüsse zu entkommen, lag darin, zunächst solche Typen einfacher und einfachster Bauart selbst neu zu entwickeln und entsprechende Herstellungskapazitäten zu schaffen. Der früheste dieser Nachkriegs-Zentralverschlüsse dürfte wohl der Velax für die Mimosa sein. Die Besonderheit dieser kleinen Kamera liegt darin, daß sie nicht von der etablierten Dresdner Kameraindustrie, sondern von dem gleichnamigen Photopapier- und Filmhersteller herausgebracht wurde – und zwar sehr früh nach dem Zweiten Weltkrieg, als noch kaum eine andere Firma in Deutschland neue Kameras liefern konnte. Das macht die Mimosa zu einem ungewöhnlichen Fall. Es fragt sich, ob diese Kleinbildkamera mit ihrem Spritzgußgehäuse nicht in Wahrheit von Leuten der Zeiss Ikon AG entwickelt worden ist, deren Betrieb schließlich ausgebombt und anschließend demontiert worden war. Über die genauen Hintergründe kann man nur spekulieren, aber es ist denkbar, daß auf diese Weise ein Teil der Belegschaft Zeiss Ikon Werkes in der schweren Zeit der Nachkriegsjahre auf diese Weise ihr Brot verdient haben [Vgl. dazu auch Jehmlich, Pentacon, 2009, S. 53].
Die Währungsreform von 1948 sorgte auch in der Sowjetischen Besatzungszone für eine starke Belebung des Konsums, wie hier beim kurz zuvor beschlagnahmten Kaufhaus Althoff in Leipzig [Bild: Roger Rössing, Deutsche Fotothek, Datensatz 88880945.]. Insofern kam die Mimosa als erste Neuentwicklung auf dem Kameramarkt eigentlich zur rechten Zeit. Luxusgüter wie Kameras spielten aber zunächst angesichts der herrschenden Not nur eine untergeordnete Rolle auf dem heimischen Markt.
Der zunächst exklusiv für die Mimosa entwickelte Velax geht auf eine Bauart zurück, die von der Firma Alfred Gauthier im Jahre 1910 eingeführt wurde, um die Dominanz billiger amerikanischer Einfachst-Verschlüsse zu brechen [Vgl. Pritschow, Karl: Die photographische Kamera und ihr Zubehör; in: Hay, Alfred (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band II, Wien, 1931; S 415ff.]. Diese sogenannten Zweisektoren-Verschlüsse zeichnen sich nun dadurch aus, daß diese beiden Sektoren gewissermaßen wie Scherenblätter gemeinsam gelagert sind und dadurch auch sehr einfach von einem einzigen Punkt aus angesteuert werden können. Auf aufwendige Sektorentreibringe usw. konnte dadurch verzichtet werden.
Unter Markennamen wie Derval, Vario, Pronto, Telma und Embezet oder auch ohne jegliche Herkunftsbezeichnung wurden diese Zweisektorenverschlüsse seit der Zwischenkriegszeit in großen Stückzahlen und zu günstigen Preisen in die Massenkameras fast aller Hersteller eingebaut.
Der Velax jedoch sticht aus dem Reigen der üblichen Zweisektorenverschlüsse deutlich hervor: Wie am oben gezeigten Innenaufbau erkennbar ist, verfügt der Velax trotz des einfachen Grundaufbaus über ein kleines Räderhemmwerk. Dieses sorgt zum einen dafür, daß als längste Verschlußzeit immerhin eine 1/10 Sekunde erreicht wird. Zum anderen werden durch solch ein Hemmwerk auch die kürzeren Verschlußzeiten prinzipiell präziser gesteuert, als mit der sonst bei Zweisektorenverschlüssen üblichen bloßen Veränderung einer Federspannung. Auch noch ein zweiter Nachteil wird dadurch weitgehend vermieden: Wird nämlich beim einfachen Selbstspannverschluß die Belichtungszeit nur durch die Veränderung einer Federspannung variiert, dann verlängert sich bei Einstellung auf eine längere Belichtungszeit auch die Zeitspanne, die zur Öffnung und zum Schließen der Verschlußsektoren gebraucht wird. Das führt bei einfachen Automatverschlüssen zu einem durchweg schlechten Wirkungsgrad. Der Velax vermeidet diesen Nachteil durch dessen Hemmwerk weitgehend. Er muß also als ein besonders aufwändiger Vertreter unter diesen einfachen Typen angesehen werden. Sein Räderhemmwerk läßt ihn deutlich als eigenständige Konstruktion aus der Masse der übrigen Zweisektorenverschlüsse hervorstechen. Daraus könnte man folgern, daß in Anbetracht der geschickten Ausführung der Mimosa und insbesondere ihres Verschlusses diese außergewöhnliche Kamera zwar von einem Photopapierwerk auf den Markt gebracht worden sein mag, wohl aber kaum von dessen Mitarbeiterstamm allein konstruiert und fabriziert worden sein kann.
2.2 Junior, Junior II und Binor
Demgegenüber ein ganzes Stück einfacher aufgebaut waren die Zweisektoren-Selbstspannverschlüsse der Firma Gebrüder Werner in Tharandt. Hier wurden die drei Verschlußzeiten, wie bei dieser Gattung üblich, lediglich durch eine Variation der Federspannung erreicht – ein Räderhemmwerk war nicht vorgesehen. Damit konnten diese Verschlüsse freilich nur die bescheidensten Ansprüche abdecken. Unter dem Markennamen Junior und Binor (Baugröße 0) wurden sie anfänglich für die mannigfaltigen Rollfilm-Faltkameras hergestellt. Etwas später folgte die Verschlußgröße 00, die sich für alle möglichen Kleinbildkameras eignete. Diese wurde als "Junior II" oder einfach auch nur als "Automat" bezeichnet. Dieser Verschlußtyp wurde lt. Sortimentskatalog noch bis in die 1970er Jahre als günstigste Variante in einfache Kleinbildkameras wie den "Beiretten" verbaut.
2.3 Priomat und Juniormat
Diese ganze Thematik ist allerdings etwas verwirrend, weil in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ein zweiter, dem Junior II sehr ähnlicher Automatverschluß namens Priomat auf dem Markt erscheint, der aber nach neuen Erkenntnissen definitiv vom VEB Zeiss Ikon entwickelt wurde [Vgl. Kretzschmar, Gerhard: Möglichkeiten der Blitzsynchronisation mit Zentralverschlüssen des VEB Zeiss Ikon, Dresden; in: Fotografie 11/1955, S. 288]. Verwirrend ist das deshalb, weil beide Erzeugnissen technisch gleichwertig sind. Ein nenneswertes äußerliches Unterscheidungsmerkmal liegt allenfalls darin, daß die B-Einstellung beim Priomat neben der längsten, statt wie beim Junior II neben der kürzesten Verschlußzeit liegt. Fakt ist, daß diese einfachen Automatverschlüsse millionenfach in preisgünstigen Tubuskameras verschiedenster Provenienz verbaut worden sind. Am bekanntesten dürften die Beirette-Typen des SL-Systems sein, für die die zur Verfügung stehenden drei Verschlußzeiten meist genügten. Wurde eine breitere Verschlußzeitenreihe verlangt, mußte man zu Spannverschlüssen greifen. Selbstspannverschlüsse mit Räderhemmwerk wurden nach dem Velax in der DDR nicht mehr gefertigt. Erst der elektromagnetisch gesteuerte Priomat der Pentacon electra schaffte in dieser Richtung Abhilfe. 1960 gab es übrigens von GW mit dem Juniormat einen Verschluß, bei dem Zeit UND Blende in Abhänigkeit von der Motivleuchtdichte automatisch gesteuert wurden [Vgl. z.B. Bild & Ton 5/1960, S. 151; Dreizner, Walter: Ein Druck - Ein Dreh - Ein Bild, Fotofalter, Heft 8/1960, S. 242ff.]. Sehr erfolgreich scheint die damit ausgestattete Beier-matic allerdings nicht gewesen zu sein, sie wurde bereits nach kurzer Zeit komplett überarbeitet und verschwand dann rasch vom Markt. Anders als man selbst auf seriösen Internetseiten lesen kann, arbeitete diese Kamera nicht mit einer Halb-, sondern einer Belichtungsvollautomatik!
Etwas seltsam scheint wie gesagt, daß mit dem Junior II- und dem Priomat-Verschluß in der DDR zwei kaum unterscheidbare Erzeugnisse noch lange Zeit parallel produziert und wahlweise in den Kameras der niederen Preisklassen verbaut wurden. So finden sich im Sortimentskatalog von 1975 zum Beispiel für die Beirette 200 eine Version mit Automat (vormals Junior II) für 54,- Mark und eine mit Priomat für 60,- Mark. Später gibt es nur noch den Priomat. Aber es bleibt daher fraglich, ob dieser Priomat nicht später ebenfalls im (mittlerweile verstaatlichten) Werner-Werk hergestellt wurde und die Reste der DDR- Zentralverschlußfertigung gewissermaßen hier in Tharandt "gebündelt" wurde.
Links das Innenleben des Junior 0 und rechts das des Priomat 00. Gut zu sehen sind die beiden Verschlußblätter, die sich scherenförmig öffnen und schließen. Die dadurch mögliche einseitige Lagerung der beiden Sektoren vermeidet aufwendig herzustellende Treibringe und dergleichen.
Dieses Bild stammt aus einer Serie von Aufnahmen aus der Zeit um 1950, mit denen Erich Höhne und Erich Pohl die Frühzeit der Fertigung der 6x9-Rollfilmkamera Ercona, dokumentiert haben. Wie man sieht, werden hier Junior-Verschlüsse mit den entsprechenden Blendenwert-Gravuren versehen. Auf der Frontplatte kann man zwischen "Zeiss Ikon" das GW-Symbol der Gebrüder Werner erahnen. [Deutsche Fotothek, Datensatz 70606278].
3. Spannverschlüsse
Denn genau solche weiteren Verschlußtypen waren dringend notwendig. Das eigentliche Problem für die junge DDR-Photoindustrie war nämlich die Bereitstellung hochwertiger Spannverschlüsse. Erfolgt beim Automatverschluß das Spannen während des Auslösens, so muß ein Spannverschluß vor dem Auslösen gesondert gespannt werden. Das bietet prinzipiell den Vorteil, daß hier mit wesentlich kräftigeren Federspeichern gearbeitet werden kann und daher auch kürzere Verschlußzeiten erreicht werden. Allerdings verlangte ein solcher Verschluß einen ungleich höheren Konstruktionsaufwand. Ab einem bestimmten Punkt waren erfolgversprechende Konstruktionswege aber schlichtweg durch die Schutzrechte etablierter Hersteller verbaut.
3.1 Der Ovus
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb der erste eigene Spannverschluß der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der jungen DDR auch auf dem technischen Stand der 1930er Jahre ausfiel. Der Ovus wurde vom Balda-Werk in Dresden entwickelt und hergestellt, um die Kleinbildkameras aus dem eigenen Hause bestücken zu können. Dieser Betrieb wird erst 1951 in VEB Belca umbenannt werden, nachdem der vormalige Besitzer und Rüstungslieferant Max Baldeweg schon längst ein neues Balda-Werk in Westphalen gegründet hatte [Vgl. Blumtritt, Fotoindustrie, 2000, S. 149]. Die Tatsache, daß Balda in Dresden gleich zwei Produktionsstandorte gehabt hat – einmal in der Wilischstraße 1 in Tolkewitz und zweitens in der Klagenfurter Straße 52 in Laubegast – sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich in Wirklichkeit um einen ganz kleinen Betrieb gehandelt hat, der mit der Aufgabe der Entwicklung und großserienmäßigen Herstellung hochwertiger Spannverschlüsse allem Anschein nach ziemlich überfordert gewesen sein muß.
Der "Ovus" ist vom äußerlichen Erscheinungsbild sofort als vollwertiger Zentralverschluß erkennbar, was unter anderem an der vollständigen Zeitenreihe liegt. Diese Zeiten konnten bequem an einem umlaufenden Ring eingestellt werden, wie es Jahre zuvor vom Compur der Deckelwerke eingeführt worden war. Dieser äußerlichen Augenhöhe standen aber deutliche Rückstände im Bereich Materialgüte und Fertigungsniveau gegenüber, die auf eine deutliche Überforderung des Balda-Werkes mit diesem Verschluß hinweisen.
Angesichts des mangelnden Erfahrungswissens einerseits und der schwierigen Patentlage auf der anderen Seite, sollte es nicht verwundern, daß dieser Ovus bei genauer Betrachtung beinah als ein sklavischer Nachbau des Deckel'schen Compur 00 mit Ringeinstellung angesehen werden muß, wie er in München seit etwa 1930 gebaut wurde. Auch die typische Zusatzfeder, die nur bei der kürzesten Verschlußzeit wirksam wird, ist vorhanden. Als einzige erkennbare Vereinfachung gegenüber dem Ring-Compur ist auf eine zusätzliche Spiralfeder im Hemmwerk verzichtet worden, ansonsten verblüfft die bis ins Detail gehende Ähnlichkeit. Allerdings fällt auf, daß weder das Fertigungsniveau des Compur, noch dessen kinematische Leistungen erreicht wurden. Unser Leser Stefan Lange berichtet, wie die anfänglich gravierte kürzeste Verschlußzeit von 1/300 Sekunde nach und nach erst auf 1/250 und später gar auf 1/200 herunter korrigiert werden mußte. Mit seinen drei Sektoren konnte der Ovus ohnehin nicht an den hohen Wirkungsgrad heranreichen, wie ihn die Deckelwerke mittlerweile mit dem Compur-Rapid erzielten. Dieser hatte fünf Sektoren, was insbesondere bei höherwertigen Kameras mit ihren lichtstarken Objektiven eine Voraussetzung dafür war, diese hohen Lichtstärke bei kurzen Belichtungszeiten überhaupt auszunutzen. Für Mittelklassekameras wie der Welti- und der Beltica-Reihe und ihren dreilinsigen Objektiven der Marke Trioplan und Meritar hätte der Ovus aber vollauf genügt. Wenn nur nicht die ständigen Qualitätsprobleme gewesen wären. Sitzungsprotokolle des "Fachausschuß Foto" lassen immer wieder erkennen, daß dieser Verschluß notorisch zu Ausfällen neigte und bereits in großem Umfang dementsprechende Reklamationen der mit ihm ausgestatteten Kameras nach sich gezogen hatte. Anhand der Quellenüberlieferung läßt sich schlußfolgern, daß der Grundstein für solche Ausfälle aber bereits durch die qualitativ inadäquate Fertigung gelegt wurde. So hatte der kleine Betrieb sogar mit dem Einhalten essentieller Präzisionsanforderungen, wie zum Beispiel an die Maßhaltigkeit der Einschraubgewinde, zu kämpfen. Grund dafür sei vor allem der "verhältnismäßig schlechte Maschinenpark" [Tagung vom 27. Juli 1948; in: Thiele, Photoindustrie SBZ, S. 28]. Derartige grundsätzliche Probleme könnten auch der Ausschlag dafür gewesen sein, weshalb ein ähnlich ambitionierter, unter dem Dach des Mimosa-Werkes entwickelter Spannverschluß "Corona" trotz Vorankündigung gar nicht erst auf den Markt kam.
3.2 Der Cludor
Als Reaktion auf diese Qualitätsprobleme, die mittlerweile bereits zu Scherereien auf den Exportmärkten geführt hatten, kündigte das Balda-Werk auf einer weiteren Sitzung des Fachausschusses vom 23. Januar 1950 einen Nachfolger für den Ovus an [Vgl. Thiele, Photoindustrie SBZ, S. 43]. Wie das unten gezeigte Exemplar eines frühen Cludor auf seiner Frontplatte eindeutig erkennen läßt, wurde dieser noch im VEB Balda-Werk gefertigt. Doch vermutlich noch vor der Umbenennung von Balda in Belca wurde die Verantwortung für die Konstruktion und Fertigung des Cludor vom VEB Zeiss Ikon übernommen [Vgl. Thiele, Photoindustrie SBZ, S. 103]
Prinzipiell war dieser vom Balda-Werk weiterentwickelte Cludor vom gleichen Schlage, wie der vorige Ovus. Oder konkreter ausgedrückt: Es ist weder eine grundlegende Änderung der Konstruktion, noch der Verarbeitung erkennbar. Die tatsächlichen Weiterentwicklungen betrafen hingegen drei ganz dezidierte Punkte: Erstens wurde an derjenige Stelle, bei der beim Compur und beim Ovus der Drahtauslöseranschluß lag, eine Synchronkontakteinrichtung eingebaut. Damit konnte mit dem Cludor nun endlich ein Blitzlichtgerät auf rein elektrischem Wege gezündet werden. Zweitens hat man auf die T-Funktion verzichtet, was allerdings eine unmittelbare Folge der dritten Veränderung ist, da man den dazu notwendigen Einbauraum benötigte.
Diese dritte Konstruktionsänderung, die von außen nicht einmal erkennbar ist, aber in der Praxis eine große Verbesserung mit sich brachte, ist bislang völlig unbeachtet geblieben. Der Cludor bekam nämlich einen Sperrmechanismus, der verhinderte, daß sich bei abgelaufenem Verschluß der Auslösehebel eindrücken ließ. Auf den ersten Blick mag diese Funktion wenig erheblich erscheinen, hatte sie doch auf die Arbeitsweise des Verschlusses selbst keinerlei Auswirkungen. Diese Wirkung machte sich aber sofort bei mit ihm ausgestatteten Kameras bemerkbar.
Insbesondere die immer beliebter werdenden Kleinbildmodelle wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nun durchweg mit einer sogenannten Doppelbelichtungssperre versehen, die dafür sorgte, daß auf ein und demselben Filmstück stets nur eine Aufnahme belichtet werden konnte. Leider war es aber genau dieser Mechanismus, der im ungünstigen Fall dafür sorgte, daß es zu ärgerlichen Leerschaltungen kam. Hatte man nämlich bei mit dem Cludor ausgerüsteten Exemplaren beispielsweise der Altix III oder der Mimosa vor dem Auslösen das Spannen des Verschlusses vergessen, so konnte man den Gehäuseauslöser dennoch durchdrücken, ohne daß freilich aufgrund des nicht betriebsfähigen Verschlusses eine Belichtung stattfand. Wollte man nun, um diesen Bedienungsfehler wieder gut zu machen, den Cludor nachträglich spannen, dann half das gar nichts, denn aufgrund der Doppelbelichtungssperre war erst dann ein Durchdrücken des Auslösers wieder möglich, nachdem ein vollständiger Filmtransport durchgeführt worden war. Das hatte zur Folge, daß auf diese Weise ein unbelichtetes Filmstück zwangsweise wegtransportiert und damit verschwendet werden mußte. Durch die Mithilfe des Verschlußherstellers konnten nun diese ärgerlichen Fehlbedienungen auf einfache Weise dadurch verhindert werden, indem die Bewegung des kleinen Auslösehebels blockiert wurde, solange der Verschluß nicht auslösebereit war.
Oben ist links ein Compur 00 aus der Mitte der 30er Jahre einem Cludor auf der rechten Seite gegenübergestellt. Gut zu sehen ist der quasi identische Grundaufbau, der den Ovus und seine Nachfolger deutlich als einen Nachbau ausweisen. Es fehlen lediglich Bauteile im Bereich um den Auslösehebel, die beim Compur zur Gewährleistung der T-Funktion nötig waren. Oberhalb des Auslösehebels liegt beim Compur (und auch beim Ovus) der Drahtauslöseranschluß, während beim Cludor hier der Synchronkontakt eingebaut wurde. Dazwischen befindet sich ein Hebel, der beim Compur den Drahauslöserdruck überträgt. Beim Cludor hat dieser Hebel aber eine gänzlich andere Funktion: Er gewährleistet die besagte Auslösesperre bei ausgelöstem Verschluß.
Leider läßt ein "Perspektivplan der Photo-Industrie der DDR für 1953" vom Oktober 1952 aber erkennen, daß der Cludor immer wieder zu Ausfällen und entsprechenden Reklamationen geführt hat, auch nach dem Entwicklungsverantwortung und Produktion von dem winzigen Belca-Werk an den VEB Zeiss Ikon übergegangen waren [Vgl. Thiele, Photoindustrie SBZ, S. 103]. Als Grund wird schlichtweg die mangelhafte Konstruktion benannt. Als einziger Spannverschluß der wichtigen Baugröße 00 kam dem Cludor aber eine derart zentrale Bedeutung für den gesamten Kamerabau der DDR zu, daß auf ihn einfach nicht zu verzichten war. Unter der Ägide des VEB Zeiss Ikon hat dieser Cludor daher in der Folgezeit eine wichtige Umkonstruktion erfahren, um offenbar seine seine Zuverlässigkeit deutlich zu verbessern. Die beim Ovus vom Compur übernommene Zusatzfeder, die das Öffnen des Sektorenpaketes bei der kürzesten Verschlußzeit beschleunigen sollte, wurde schlicht und einfach "herauskonstruiert". Spitzenwerte in der kürzesten Verschlußzeit wurden von diesem einfachen Verschluß nun ohnehin nicht mehr verlangt. Durch den Verzicht auf diese Feder konnten die ohnehin bei Zentralverschlüssen stets sehr großen Materialbelastungen aufgrund der hohen Beschleunigungswerte nun aber etwas abgemildert werden.
Wie man oben in der direkten Gegenüberstellung sieht, wurde bei späten Exemplaren des Cludor die Zusatzfeder einfach weggelassen und die Nase im Zeitenring, die diese Feder bei der Einstellung auf 1/200s spannte, wurde ausgefräst. Diese Version des Cludor stellt damit bereits den Übergang zum nachfolgenden Vebur dar. Offenbar war man zu der Erkenntnis gelangt, daß die Zusatzfeder ohnehin kaum zur Verkürzung der Verschlußzeit betrug.
Eigene Messungen mit einem speziellen Meßgerät für Zentralverschlüsse haben diese Erkenntnis bestätigt. Dabei hatten die Cludor-Verschlüsse Nr. 1 und 2 die besagte Zusatzfeder, bei Nummer 3 fehlte sie. Die Abweichungen zwischen den einzelnen Modellen liegen im Bereich der normalen Streuung. Sie sind auch durch das hohe Alter der Verschlüsse von bis zu sieben Jahrzehnten bedingt. Wichtig ist: Ein prinzipiell anderes Verhalten des Cludor ist durch den Wegfall der Zusatzfeder nicht festzustellen. Generell ist eine solche Zusatzfeder ja auch nur imstande, die Öffnungszeit T1 zu verkürzen; eine Wirkung auf die Hauptzeit T2 und die Schließzeit T3 ist nicht mehr möglich. Darin mag auch der Grund liegen, weshalb auch die Friedrich Deckel AG später beim Compur-Rapid auf solche Zusatzfedern verzichtet hat.
Cludor 1 | Cludor 2 | Cludor 3 | Vebur 1 | Vebur 2 | |
Totale Zeit | 13,6 | 9,4 | 14,9 | 15,3 | 18,2 |
Hauptzeit | 8,1 | 7,1 | 6,0 | 7,0 | 7,0 |
3.3 Der Vebur
In Anbetracht der oben dargelegten Tatsache, daß nämlich der Umbau des Spannverschlusses der Baugröße 00 bereits abgeschlossen war, als dieser noch Cludor hieß, muß man doch die erst im Nachhinein erfolgte Umbenennung in Vebur dahingehend interpretieren, daß dies deshalb geschehen ist, weil man von dem angeschlagenen Ruf des Cludors wegkommen wollte. Der direkte Vergleich der beiden Verschlüsse zeigt auch, daß der Vebur mit dem späten Cludor mechanisch identisch ist. Lediglich die mit dem Cludor eingeführte Auslösesperre im abgelaufenen Zustand wurde überarbeitet, weil sie sich als sehr anfällig erwiesen hatte.
Ansonsten gibt es zu diesem Vebur wenig Erhebendes zu berichten. Die neue Angabe der kürzesten Verschlußzeit von 1/250 statt bislang 1/200 Sekunde war angesichts der realen Leistung dieses Verschlusses reine Augenwischerei. Andere Hersteller haben das in dieser Preisklasse freilich auch so gemacht. Im fertigen Photo konnte man diese Abweichungen von den realen Werten ohnehin nicht ausmachen. Wenn aber beispielsweise für bestimmte Lieferserien der Werra-Reihe bessere Leistungen gewünscht wurden, dann hat man lange Zeit noch den Synchro-Compur aus der Bundesrepublik importiert. Dieser lieferte mit der 1/500 s nicht nur nominell eine kürzere Verschlußzeit, sondern hatte mit seinen fünf Sektoren und deren höherer Ablaufgeschwindigkeit einen deutlich besseren Wirkungsgrad. Er war einfach auf einem ganz anderen technischen Niveau gefertigt. Entsprechend teuer war er aber auch.
Gerade im Zusammenhang mit der Werra trat aber im Laufe der 50er Jahre ein ganz anderes Defizit des Vebur immer deutlicher zutage: Es war unmöglich, auf seiner Basis eine sogenannte Lichtwertkopplung hinzubekommen. Weder hatte er eine geometrische Zeitenreihe mit der jeweiligen Verdoppelung der Belichtungszeiten von einer Stufe zur nächsten anzubieten. Was aber noch schlimmer war: Die Abstände zwischen den einzelnen Zeitwerten waren ungleich lang. Im Angesicht der raschen Weiterentwicklung der Kameratechnik auf dem internationalen Markt war damit die DDR-Photoindustrie in den späten 50er Jahren im Grunde genommen wieder in derselben Sackgasse angelangt, in der sie zehn Jahre zuvor schon einmal gesteckt hatte. Nun brauchte man einen Befreiungsschlag auf einem ganz anderen Niveau – so meinte man jedenfalls. Ich kann an dieser Stelle schon einmal vorausschicken, daß sich die Ablösekonzeption für den Vebur noch zur größten Zerreißprobe der DDR-Photoindustrie entwickeln sollte (siehe Abschnitt 4).
3.4 Der Tempor
Noch wesentlich schlechter als bei der Baugröße 00 sah es mit der Versorgung an hochwertigen Zentralverschlüssen der Baugröße 0 aus. Hier gab es bis Anfang der 50er Jahre aus eigener Produktion nur die bereits beschriebenen, extrem simplen Verschlüsse des Typs Junior bzw. Binor. Dabei ist diese Verschlußgröße mit dem maximalen Blendendurchmesser von etwa 25 mm unentbehrlich für fast alle Optikausstattungen des Mittelformates. So werden zum Beispiel alle Normalobjektive des 6x9- Formates mit den üblichen Brennweiten um 105 mm in diesen Verschlüssen gefaßt. Gleiches gilt für Objektive 2,8/80 mm für das 6x6-Format. Auch die Objektive 3,5/75 mm, die eigentlich gerade noch in der Verschlußbaugröße 00 unterzubringen sind, müssen in der Baugröße 0 gefaßt werden, sobald sie per Frontlinsenverstellung fokussiert werden sollen. Diesem enormen Bedarf stand ein eklatanter Mangel an hochwertigen Verschlüssen dieser Größe gegenüber. Also mußte immer wieder der Prontor aus der Bundesrepublik importiert werden, wenn man mehr als nur den einfachen Junior bieten wollte.
Fertigung des Tempor-Zentralverschlusses im VEB Kamera- und Kinowerke im Sommer 1960 [Höhne,/Pohl, Deutsche Fotothek, Datensatz 70606278].
Erst im Laufe der 1950er Jahre wurde – offenbar von Anfang an unter dem Dach des VEB Zeiss Ikon – ein zeitgemäßer Spannverschluß der Baugröße 0 entwickelt und unter der Bezeichnung Tempor auf den Markt gebracht. Er zeichnete sich durch einen übersichtlichen Aufbau, und dank der fünf Sektoren durch einen einigermaßen guten Wirkungsgrad bei einer kürzesten nominellen Verschlußzeit von 1/250 s aus. Außerdem war serienmäßig ein Vorlaufwerk integriert. Nach dem Vorbild des Ring-Compur 0 mußte der Spannhebel nach Aufheben einer Sperre noch ein Stück weiter bewegt werden, um zusätzlich zum Verschluß auch noch das Vorlaufwerk zu spannen und damit den Selstauslöser zu aktivieren. Im Gegensatz zum älteren Compur-Rapid war jedoch das dazu notwendige zweite Hemmwerk gleich in der Verschlußsteuerung integriert worden (statt als separates Aggregat). Dadurch wurde der Aufbau des Tempor sehr übersichtlich und gut montierbar.
Spitzentechnologie war dieser Verschluß freilich nicht. Umschaltbare Synchronkontakte und die Lichtwerteinstellung des Prontor SVS suchte man am Tempor vergeblich. Deutlich fällt oben die größere Lücke zwischen der 1/100 und der 1/250 Sekunde auf, was diesen Verschluß nicht für die Lichtwerkupplung geeignet machte und die damals aufkommende Verknüpfung mit dem Belichtungsmeßsystem von vornherein unmöglich machte. Daß diese 1/250 Sekunde zudem auch nur leidlich erreicht wurde, war für eine Spitzenkamera wie die Certo Super mit ihrem Tessar 2,8/80 weit unter Niveau. Für diese Kamera mußte daher immer wieder der schandteure Synchro-Compur mit seiner 1/500 Sekunde eingekauft werden, wenn man sie noch auf den westlichen Exportmärkten losbekommen wollte. Doch selbst mit dem einfacheren Prontor aus Calmbach konnte der DresdnerTempor in der Praxis nicht immer mithalten:
Tempor Nr. 1 | Tempor Nr. 2 | Tempor Nr. 3 | Tempor Nr. 4 | Prontor Nr. 1 | Prontor Nr. 2 | |
Totale Verschlußzeit | 7,3 | 9,1 | 13,6 | 13,8 | 9,9 | 7,8 |
Hauptzeit | 3,0 | 3,5 | 5,0 | 4,3 | 1,9 | 2,3 |
Um die Leistungsfähigkeit des Tempor abschätzen zu können ist er oben mal im Vergleich zum bundesdeutschen Prontor S gegenübergestellt worden. Die angegebenen Zeiten in Millisekunden sind arithmetische Mittelwerte aus zehn Messungen und gelten für die 1/250 Sekunde, also 4 Millisekunden nominell. Die Hauptzeit T2 wurde mittels einer Zentralblende von 23,5 mm Durchmesser bei voller Öffnung der Irisblende ermittelt. Aus diesen Zahlenwerten können mehrere Erkenntnisse herausgelesen werden. Erstens treten bei Verschlüssen desselben Modells erhebliche Datenabweichungen zwischen einzelnen Exemplaren auf. Das kann freilich auch mit der Vorgeschichte der meist über 50 Jahre alten Verschlüsse zusammenhängen. Zweitens läßt sich feststellen, daß der Prontor S eine sichtlich kürzere Hauptzeit aufzuweisen hat. Zur Erinnerung: Die Hauptzeit ist diejenige Zeitspanne, in der der Verschluß seine volle Öffnung freigibt. Je schneller die Sektoren ihre Bewegungsrichtung wechseln, umso kürzer kann diese Hauptzeit ausfallen. Eine kurze Hauptzeit ist erwünscht, weil sie ausschlaggebend für eine bewegungsscharfe Abbildung ist. Andererseits dürfen Hauptzeit und totale Belichtungszeit nicht allzu sehr auseinanderklaffen, wenn der Verschluß einen guten Wirkungsgrad haben soll. In diesem Bereich sind sowohl Tempor als auch Prontor S nur Mittelmaß. Zum Vergleich: Ein japanischer Seikosha S aus den 1960er Jahren mit einer kürzesten nominellen Verschlußzeit von 1/500 s erreicht auch „nur“ eine Hauptzeit von etwas über 2 ms. Allerdings liegt bei einer Einstellung auf 1/250 s die totale Belichtungszeit mit durchschnittlich 4,2 ms nur unwesentlich über dem geforderten Wert. Das ist natürlich eine erstklassige Leistung. Es gilt also: Ein aufwändiger, schneller Verschluß hat bei einer Einstellung auf die 1/250s einen deutlich besseren Wirkungsgrad, als ein Verschluß der von vornherein nur für eine 1/250s konstruiert wurde. In diesem Umstand ist der Grund zu sehen, wieso für eine Spitzenkamera wie der Certo Six immer wieder Serien mit dem Synchro-Compur ausgerüstet wurden.
Allerdings löste sich ein Teil dieses Beschaffungsproblems in der zweiten Hälfte der 1950er ganz von allein: Für Faltkameras der Rollfilmformate brach zu jener Zeit der Markt fast vollkommen ein, ganz gleich welche Sonderausstattung sie noch zusätzlich zu bieten hatten. Ein Vierteljahrhundert hatte diese Bauart den Amateurmarkt beherrscht – jetzt galten die „Falter“ nurmehr als „Opas Kamera“. Offenbar wurde auch die DDR Photoindustrie durch den unvermittelt drastisch eintretenden Nachfragerückgang an dieser Kamerabauart überrascht, denn noch jahrelang waren in Tempor-Verschlüssen gefaßte Trioplane, Bonotare und sogar Tessare in den Bastelläden des Landes erhältlich. Als nach 1960 auch die Herstellung der Altix-Reihe auslief, brach das Interesse des Kamerabaus am Tempor jäh in sich zusammen. Auch bei dieser Spezialbauform, die ohne Blende geliefert wurde, weil bei der Altix der Verschluß hinter dem Objektiv saß, sollen die Lagerbestände hoch gewesen sein – ein Glücksfall übrigens für die Reparaturwerkstätten, denn noch 30 Jahre später konnten hier bei Bedarf fabrikneue Austauschverschlüsse aus den Regalen geholt werden.
Bleibt noch zu erwähnen, daß speziell für die Taxona ein Tempor 00 geschaffen wurde, der trotz Ausführung mit lediglich drei Sektoren eine nominelle Verschlußzeit von 1/300 s erreichte. Auf eine Irisblende konnte auch hier verzichtet werden, weil der Tempor in der Taxona hinter dem Objektiv saß, das seinerseits eine eigene Blende hatte. Bereits nach kurzer Zeit wurde dieser Tempor 00 in der Taxona dann durch den weiter oben schon beschrieben Vebur abgelöst, der im VEB Zeiss Ikon mittlerweile in großen Mengen hergestellt und für die Firmen Welta, Belca sowie für das Zeiss-Werk Eisfeld (Werra) vertrieben wurde. Auf einen speziellen Verschluß für eine einzige Kamera wollte man daher bei Zeiss Ikon wohl verzichten.
Bei genauerer Betrachtung ergibt sich aber noch ein etwas anderes Bild. Denn dieser Tempor 00 muß wohl als ein Überbleibsel der Verschlußentwicklung in der Mimosa AG Ende der 1940er Jahre eingeordnet werden. So wie der Vebur letztlich aus dem Ovus der Balda-Werke hervorgegangen ist, so ist der Tempor 00 offenbar aus den Bemühungen bei Mimosa entsprungen, dem einfachen Selbstspannverschluß Velax einen hochwertigen Spannverschluß gegenüberzustellen. Angekündigt war jener unter dem Namen Corona, doch im Entwicklungsstadium scheint er noch die Bezeichnung Heliax getragen zu haben.
Zu den Merkmalen dieses Corona-Verschlusses gehörte, daß er mit einem integrierten Vorlaufwerk versehen war, das wie beim Compur 0 durch ein Weiterbewegen des Verschlußspannhebels über den Spannpunkt hinaus "aufgezogen" wurde. Bei frühen Exemplaren des Tempor 00 war auch noch die Aussparung für den verlängerten Spannweg vorhanden, wie die Abbildung oben links zeigt [Photo: Stefan Lange]. Doch der Tempor 00, der schließlich nur für die Taxona Verwendung fand, wurde nie mit dem entsprechenden Hemmwerksbauteilen für das Vorlaufwerk bestückt, weil die Taxona einen im inneren gekapselt ablaufenden, mit dem Filmtransport gekuppelten Verschlußaufzug besaß und sich damit der Selbstauslöser gar nicht händisch spannen ließ. Bei späteren Exemplaren wurde die verlängerte Aussparung daher konsequenterweise weggelassen. Die Lagerstellen für die Zahnräder des Vorlaufwerkes wurden mal gebohrt und mal nicht.
Wir müssen wohl davon ausgehen, daß dieser Heliax- bzw. Corona-Verschluß vom VEB Zeiss Ikon übernommen wurde, als dessen Konstruktion schon abgeschlossen war. Möglicherweise wurden für die Mimosa bereits hergestellte Exemplare nun in der Tenax bzw. Taxona verbaut, nachdem der Spannhebel angepaßt worden war. Das würde den Übergang zum Vebur erkären, nachdem die Teile für den Tempor 00 aufgebraucht waren.
4. Der Prestor-Durchschwingverschluß
4.1 Schlüsselprodukte werden zum Politikum
Aber war denn die Zeit des Zentralverschlusses generell vorüber? Nein, natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. Nie wieder gab es weltweit eine solche Vielfalt an Zentralverschlußkameras, wie in den Jahren um 1960 herum. Es wurden lediglich andere Typen verlangt, als bislang. Denn mit dem Niedergang der alten Rollfilmkamera hörten die Amateure ja nicht auf zu knipsen. Sie wechselten vielmehr zu den immer ausgefeilteren Kleinbildkameras hinüber. War vorher lange Jahre der schwarzweiße 6x9 Kontaktabzug Standard, so projizierte man nun gern repräsentative Farbdias im Kleinbildformat an die Wand. Und sollte es doch einmal der preiswertere Schwarzweißfilm sein, dann ließen die neu auf den Markt gekommenen Dünnschichtemulsionen erstaunliche Vergrößerungsmaßstäbe zu. Contina und Contessa, Vito und Vitessa, Silette und Paxette, Retina und Retinette usw. hießen hochwertige Zentralverschlußkameras der Bundesrepublik. Und am Horizont des internationalen Marktes tauchten bereits erste Namen wie Olympus, Yashica, Ricoh, Minolta auf. Alles hochwertige Amateurkameras mit hochwertigen Zentralverschlüssen vom Typ Compur, Prontor, Seikosha und Copal. Die 1/500 s als kürzeste Verschlußzeit war zum Standard in dieser Preisklasse geworden, es wurden verstellbare Synchronkontakte für Röhren- und Lampenblitzgeräte sowie Lichtwertkupplung erwartet und erste per Selenzelle gesteuerte Programmverschlüsse tauchten auf. Abgesehen vom offensichtlich etwas glücklosen "Juniormat" hatte die DDR-Photoindustrie in diesem Bereich nichts zu bieten.
Diese Situation muß also als eine Spätfolge der Zerschlagung der Ernemann AG durch den Zeisskonzern in den Jahren 1926/27 und der Monopolisierung des Baues hochwertigster Objektivverschlüsse im Deckelwerk München angesehen werden. In der Bundesrepublik waren die Folgen dieser Konzernpolitik übrigens genauso zu spüren, nur im Prinzip diametral entgegengesetzt. Dort herrschte kein Mangel an hochwertigen Zentralverschlüssen; im Gegenteil: Dort galt es für einen solch hochspezialisierten Industriezweig genügend Absatz zu erzielen. Bereits aus den 30er Jahren ist ein Briefwechsel eines irritierten Friedrich Deckel mit der Jenaer Konzernleitung erhalten geblieben, wo dieser den immer stärkeren Einsatz des Schlitzverschlusses in den Spitzenkameras der Konzerntochter Zeiss Ikon beklagt (Vgl. Thiele, Hartmut: Aufstieg und Niedergang der deutschen Photoindustrie am Beispiel der Monopolisierung des Objektiv-Verschlußbaus von Carl Zeiss Jena und Zeiss Ikon Dresden; in: Technische Sammlungen der Stadt Dresden (Hrsg.): Zeiss Ikon AG Dresden, Aspekte der Entwicklung des 1926 gegründeten Industrieunternehmens, Thesaurus 3, 2001, S. 72.). Im Zuge des Aufbaues einer westdeutschen Zeiss Ikon AG nach dem Kriege wurde daher konsequent der Einsatz des Zentralverschlusses auch bei einäugigen Amateur-Reflexkameras durchgesetzt. Und nach der Übernahme des Voigtländer-Werkes wurde diese Konzernpolitik auch auf die Produkte der neuen Tochter übertragen. Von Voigtländer wurden sogar Spiegelreflexkameras der Mittel- und Oberklasse auf Basis der Zentralverschlußtechnologie auf den Markt gebracht – bekanntermaßen mit langfristig gesehen fatalen Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Konzernes.
Wie gesagt war man im Gegensatz dazu in der DDR quasi als Spätfolge dieser Jahrzehnte zurückreichenden Strukturentscheidung dazu gezwungen, nach 1945 hochwertige Kameras mit Schlitzverschlüssen auszustatten. Aber was war mit den darunterliegenden Marktsegmenten? In diesem Bereich hatte der DDR-Photogerätebau stets mit dem Problem zu kämpfen, daß nicht nur für die Fabrikation vorhandener Kameratypen Verschlüsse besorgt werden mußten, sondern auch die angestrebte Neukonstruktion hochwertiger Kameras von den Beschaffungsschwierigkeiten an hochwertigen Zentralverschlüssen ausgebremst wurde. Meiner Ansicht nach brach diese Diskrepanz zum ersten Male so richtige zutage, als infolge des „Neuen Kurses“ nach dem 17. Juni 1953 der VEB Carl Zeiss JENA dazu verpflichtet worden war, eine hochwertige Kleinbildkamera für den Massenbedarf zu entwickeln. Solange diese Kamera noch mit einem fest eingebauten Tessar und einem einfachen Durchsichtssucher auskam, genügte der einfache Vebur für den Inlandsmarkt. Und für besser ausgestattete Serien importierte man halt eine blendenlose Variante des Compur aus der Bundesrepublik.
Überholen ohne einzuholen - dieses heute noch bekannte Schlagwort war schon 1957 zum ersten Mal von Walter Ulbricht verwendet worden. So widersinnig es auch auf den ersten Blick klingen mußte, so verstand die Parteiführung darin, sich nicht erst langwierig mit dem Aufholen des im Westen bereits erreichten Standes zu beschäftigen, sondern mit völlig neuen Herangehensweisen komplett eigenständige Lösungen zu finden. Wenn man so will, ist der Prestor ein Exempel für diese Zielsetzung. Und auch die immensen Schwierigkeiten, die eine solche Vorgehensweise zwangsläufig mit sich brachte, sind beim Prestor exemplarisch. Bild: Benjamin Kotter
Doch genau diese Strategie war ziemlich problematisch, denn mit dem Import solch essentieller Zulieferprodukte geriet der DDR-Kamerabau in eine von den jeweilig vorherrschenden wirtschaftlichen und politischen Wetterlagen überschattete Abhängigkeit. Das zeigte sich, als nach der zweiten Berlin-Krise, die durch das Chrustschow-Ultimatum vom Herbst 1958 ausgelöst worden war, der innerdeutsche Handel empfindlich gestört wurde und im Jahre 1960 sogar kurzfristig gänzlich zum Erliegen kam. Die DDR-Wirtschaft geriet damals durch fehlende Zulieferprodukte in eine ernste Lage und in der Folge wurde unter dem Begriff der Störfreimachung rasch ein Gegenkurs initiiert, um derartige Importabhängigkeiten aus der Bundesrepublik so weit wie möglich zu minimieren.
Gerade durch diese politische Lage wurden nun aber die vielen Lücken im Hinblick auf Zulieferprodukte aus dem NSW sichtbar gemacht. So zeigte sich beispielsweise, daß eine "Verdieselung" des Fahrbetriebs bei der Deutschen Reichsbahn auf lange Zeit nicht ohne das aus der Bundesrepublik zu beziehende Schlüsselprodukt Strömungsgetriebe machbar wäre. Und das was das Strömungsgetriebe für eine Diesellok darstellt, das war gewissermaßen der Zentralverschluß für eine Sucherkamera. Das Fehlen eines dem hochwertigen Compur vergleichbaren Verschlusses hatte zur Folge, daß dadurch mittelbar die Weiterentwicklung der gesamten DDR-Sucherkameras gehemmt wurde. Denn die Höherwertigkeit des Synchro-Compur war ja nicht allein darauf beschränkt, daß er eine kürzere Verschlußzeit und die beiden umschaltbaren Synchronkontakte zu bieten hatte. Vielmehr erlaubte dieser Verschluß eine sogenannte Lichtwertkupplung, die Voraussetzung dafür war, den Belichtungsmesser einer Kamera mit der Blenden- und Zeiteinstellung zu verknüpfen. Der in dieser Hinsicht völlig überholte Vebur mit seinen ungleichen Abständen zwischen den Einstellwerten von Zeit und Blende und der alten, nicht-geometrischen Zeitenreihe schloß eine Kupplung mit irgendeiner kameraseitigen Belichtungsautomatik von vornherein aus.
Zentralverschlüsse als Beispiel für regelrechte Autarkiebestrebungen der DDR im Bereich hochwertiger Zulieferprodukte aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, die zeitgenössisch gern als „Störfreimachung“ bezeichnet wurde.
4.2 Suche nach einem konstruktiven Ausweg
Es drängt sich also der Eindruck auf, daß insbesondere diese Werra-Reihe den Mangel an hochwertigen Zentralverschlüssen in der DDR erst so richtig hat eklatant werden ließ. Bald zeigte sich eine Diskrepanz, als diese preiswerte, einfache Massenkamera nun mit Meßsucher und Wechselobjektiven zu einem immer höheren Niveau ausgebaut wurde und der Verschluß der Kamera demgegenüber deutlich qualitativ zurücklag. Doch ein irgendwie gearteter Nachbau des Synchro-Compur war aufgrund des tiefgreifenden Patentschutzes (auf den hier nicht näher eingegangen werden kann) von vornherein ausgeschlossen. Die Ingenieure des VEB Zeiss Ikon Dresden sahen sich also immensen Schwierigkeiten gegenüber, als sie Mitte der 50er Jahre ganz offensichtlich mit dem Auftrag konfrontiert wurden, mit dem Prestor ein vergleichbares Produkt zu entwickeln. „Woher nehmen, wenn nicht stehlen“ müssen sie wohl angesichts der internationalen Patentlage damals ausgerufen haben.
Entwicklergruppe für das Prestor-Projekt im VEB Zeiss Ikon im Jahre 1958: Gerhard Kretschmar, Kurt Uhlig, Helmut Tillig, Werner Hahn, Wolfgang Riedel, Johannes Weise, Rolf Noack und Paul Hillmann (von links nach rechts, nach Jehmlich, Pentacon, 2009, S. 62).
Anders als es beispielsweise Jehmlichs Einlassung suggeriert, beschritt man in Dresden meiner Ansicht nach zur Lösung dieses Problems nicht deshalb ein völlig neues Konstruktionsprinzip, weil man die bessere Lösung gefunden hatte [Vgl. Jehmlich, Pentacon, 2009, S. 63.] oder gar um den Westen zu überholen, ohne ihn einholen zu müssen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Konstrukteure mußten deshalb diesen aufwendigen Umweg gehen, weil ihnen konventionelle Lösungsmöglichkeiten durch westdeutsche und übrigens auch erste japanische Schutzrechte verbaut waren. Eine irgendwie geartete Verletzung von Schutzrechten hätte unmittelbar die Exportfähigkeit der entsprechenden Kameras zunichte gemacht. Aber gerade was die Werra betrifft, so wurde diese mittlerweile aber längst nicht mehr nur allein dafür gebaut, um die Konsumbedürfnisse der DDR-Bevölkerung zufriedenzustellen, sondern auch um auf Westmärkten Devisen zu verdienen.
Feilgebotene Werras in einem Katalog der britischen Handelsfirma Cine-Equipment aus dem Jahr 1962
Auch kann Jehmlichs Aussage nicht unwidersprochen bleiben, der Prestor arbeite nach „einem bisher nicht angewandten kinematischen Prinzip“ [Jehmlich, Pentacon, 2009, S. 63]. Ein Blick in die Literatur läßt erkennen, daß das Funktionsprinzip, das dem Prestor zugrundelag, weder neu war, noch daß es nicht bereits ausgeführt worden sei. Am bekanntesten dürfte der „Multispeed - Shutter“ gewesen sein, den sich Gustav Dietz unter den Nummern 203.455 und 214.423 auch im Deutschen Reiche hat schützen lassen und den er in seiner Fabrik in Yonkers, USA, auch fabrizierte [Vgl. Pritschow, Photographische Kamera, 1931, S. 407f.].
Ausführungsform des Multispeed-Shutters (nach Pritschow)
Was stimmt ist, daß dieses Funktionsprinzip freilich nicht UMFÄNGLICHER angewendet worden ist. Und daß das seine berechtigten Gründe hatte, ist leicht einzusehen, wenn man sich ein wenig mehr mit dem Funktionsprinzip des Prestor-Zentralverschluß auseinandersetzt: Der Prestor arbeitet nämlich mit sogenannten durchschwingenden Verschlußsektoren. Man könnte eigentlich auch von Rotationssektoren sprechen. Bei fast allen Zentralverschlüssen des Marktes – wie auch beispielsweise beim Compur – führen die Sektoren eine hin- und herschwingende Bewegung aus. Das bedeutet, daß die Sektoren im Moment der vollen Öffnung des Verschlusses wenigstens einmal ganz kurzzeitig stillstehen, anschließend ihre Bewegungsrichtung umkehren und den Lichtpfad wieder verschließen. Bei längeren Verschlußzeiten wird das Innehalten der Sektoren im Prinzip auf das Maß der eingestellten Belichtungszeit hinausgezögert. Das ganze Know How eines hochwertigen Zentralverschlusses liegt also darin, den Anteil des Öffnens und Schließens der Sektoren an der Gesamtverschlußzeit so gering wie möglich zu halten. Der Grund ist leicht einzusehen: Solange die Sektoren nicht voll geöffnet sind, wirken sie wie eine künstliche Abblendung des Objektives und verschlechtern dessen Wirkungsgrad immens. Spitzenverschlüsse wie der Compur basierten daher auf einer ausgeklügelten Antriebsmechanik und einer ganz speziellen Formgebung der Sektoren um die unerwünschte Abblendung so klein wie möglich werden zu lassen.
Vergleich der Bauformen von Zentralverschluß-Sektoren eines Compur (links) und eines Prestor (rechts).
Bei einem Durchschwingverschluß mit rotierenden Sektoren, wie die des Prestor, fällt die Richtungsumkehr der Sektoren im Moment der größten Öffnung weg. Der gesamte Vorteil dieser Verschlußbauart liegt also darin, daß die Sektoren im Moment der größten Öffnung des Verschlusses auch die größte Geschwindigkeit besitzen, da sie ja nicht ihre Bewegungsrichtung umkehren müssen, sondern sich einfach nur weiterdrehen, um den Lichtpfad wieder zu verschließen. Dazu sind die Sektoren des Durchschwingverschlusses spiegelsymmetrisch zur Rotationsachse ausgeführt. Durch den fehlenden „Zwischenstopp“ lassen sich zumindest theoretisch wesentlich kürzere Verschlußzeiten erreichen, als bei herkömmlicher Bauart.
Dem aufmerksamen Leser wird nun aber sofort ins Auge gefallen sein, welche Schattenseite dieses Funktionsprinzip mit sich bringt. Diese war auch der Grund dafür, wieso sich diese Bauart nicht durchsetzen konnte und wieso Firmen wie die Friedrich Deckel AG kein Interesse an ihr zeigten. Wenn sich nämlich die Sektoren weiterdrehen, um nach erfolgter Belichtung den Lichtpfad wieder zu verschließen, dann wird genau dieser Lichtpfad für einen kurzen Moment erneut geöffnet, sobald der Verschluß wieder gespannt und die Sektoren in ihre Ausgangslage zurückgeführt werden. Beim Multispeed - Shutter aus der „Plattenzeit“ war das unproblematisch, denn bis dieser wieder für die nächste Aufnahme gespannt wurde, war die Kassette längst wieder mit dem Schieber verschlossen und die Platte vor Belichtung geschützt. Für das durchgängige Band des Filmes in einer Kleinbildkamera war eine solche Lösung natürlich nicht anwendbar. An genau diesem Punkt begannen die großen konstruktiven Schwierigkeiten, die das auf den ersten Blick einfache Funktionsprinzip des Durchschwingverschlusses in der Praxis so stark verkomplizierten. Es mußte im Verschluß nämlich ein zweiter Satz Sektoren vorgesehen werden, dessen einzige Aufgabe lediglich darin bestand, den Lichtdurchtritt während des Spannvorganges verschlossen zu halten und damit ein Verderben der Aufnahmen zu verhindern. Natürlich ging mit der Notwendigkeit für einen solchen Hilfsverschluß sogleich die Forderung einher, daß dieser mit dem Hauptverschluß gekoppelt sei und damit vollautomatisch arbeite. Es stellte sich heraus, daß diese Forderungen gar nicht so einfach zu realisieren waren und daß der fertige Prestorverschluß in seinem Funktionsablauf wesentlich komplexer ausfiel, als alle bisherigen Typen dieser Qualitätsklasse.
Schema für den Spannvorgang und den Ablauf eines Prestor RVS 00 aus der Montagevorschrift des VEB KKW.
Dieser Weg mußte aber beschritten werden, wenn man ein Plagiieren bekannter Lösungen umgehen wollte. Und aus diesem Zwang heraus ergaben sich sogleich neue Lösungsansätze, mit denen die Konstrukteure darauf abzielten, den leider unumgänglichen Hilfsverschluß mit einer weiteren Funktion zu verknüpfen, um nicht auf engstem Raume ganze DREI Lamellensätze unterbringen zu müssen. Denn um es noch einmal klarzumachen: Der Prestor wurde entwickelt, um sich generell von westdeutschen Verschlußimporten freizumachen. Er mußte also universell einsetzbar sein. Das bedeutete aber nichts anderes, als daß neben den Verschluß- und Hilfsverschlußsektoren auch ein weiteres Lamellenpaket für die Irisblende vorzusehen war. Für die Werra-Reihe, bei der der Prestor ja ausschließlich als Hinterlinsenverschluß fungierte, war eine Blende im Verschluß ja prinzipiell entbehrlich. Aber es ist eben gerade nicht der Fall, daß der Prestor speziell für diese Kamera konstruiert wurde. Und sobald er in der üblichen Weise zwischen den Linsen eines Objektivs eingesetzt werden sollte, dann brauchte er zwingend eine Blende.
Meopta Flexaret: Einziger mir bekannter Einsatzfall des Prestor-Durchschwingverschlusses, bei dem von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, daß die Lamellen des Hilfsverschlusses gleichzeitig die Aufgabe der Objektivblende übernehmen. Bild von Helmut Sigismund.
Um das zu gewährleisten, aber gleichzeitig den Aufwand zu reduzieren, hatten die Konstrukteure um Werner Hahn den Hilfsverschluß so ausgelegt, daß er funktionell mit der Irisblende vereinigt und letztere dadurch als selbständige Einheit eingespart werden konnte. Fungieren die Sektoren als Hilfsverschluß, dann sind sie nach dem Auslösen des Hauptverschlusses vollständig geschlossen und bleiben es auch, während der Verschluß gespannt wird. Erst am Ende des Spannvorganges wird der Hilfsverschluß vollständig geöffnet. Beim Einsatz des Prestor-Verschlusses an der Werra bleibt dieser Hilfsverschluß auch so lange vollständig geöffnet, bis der Hauptverschluß abgelaufen ist. Anschließend schließt der Hilfsverschluß wieder vollständig, damit beim nächsten Spannvorgang der Lichtpfad abgedeckt bleibt. So weit so gut. Wäre der Prestor aber statt als Hinterlinsenverschluß als herkömmlicher Zwischenlinsenverschluß angewendet worden, dann hätte die Möglichkeit bestanden, nach Beendigung des Spannvorganges den Hilfsverschluß nicht auf volle Öffnung springen zu lassen, sondern auf eine von außen veränderbare, mehr oder weniger kleinere Öffnung. Aus dem Hilfsverschluß wäre in diesem Stadium eine Blende geworden, die ihre Funktion so lange ausgeführt hätte, bis sie am Ende des Belichtungsvorganges vollständig zugesprungen wäre, um wieder als Hilfsverschluß zu dienen. Meines Wissens ist von der Photoindustrie der Deutschen Demokratischen Republik nie eine Kamera serienmäßig gefertigt worden, die von dieser zweiten „Betriebsart“ des Prestor als Zwischenlinsenverschluß hätte Gebrauch gemacht.
Der ursprüngliche Hilfsverschluß des Prestor RVS 00, der in der mittleren Abbildung seine Eignung als Springblende zeigt. Der Blendenring mit seiner Steuerkurve, der für diese Ausführungsform notwendig gewesen wäre, ist zwar in der Montageanweisung des Prestor 871 00 (1/500s) noch als Baugruppe G14 abgebildet, aber schon nicht mehr in den Teilelisten aufgeführt. Kleinere Serien dieses Typs 871 00 wurden aber offenbar an Meopta für deren Flexaret geliefert.
4.3 Prestor: Ein teures Prestige-Erzeugnis
Das bedeutete aber, daß eine der wichtigsten Ideen, die einen Einsatz des aufwendigen Prestor RVS 00 ökonomisch gemacht hätte, nämlich daß die Funktion des Hilfsverschlusses und der Irisblende durch ein und denselben Sektorensatz abgedeckt worden wäre, nie praktisch genutzt wurde. Damit wurde aber auch der gesamte Herstellungs- und Justageaufwand, den dieser komplexe Verschluß zwangsläufig mit sich brachte, höchst fragwürdig. Der Prestor RVS 00 war sehr teuer in der Fertigung. Als auch die 1/1000 s, die man eigentlich anvisiert hatte, in der Praxis nicht erreicht wurde, war die Ernüchterung groß. Nachdem die Entwicklung des Durchschwingverschlusses im VEB Zeiss Ikon begonnen wurde, ging sie um 1956/57 mit der gesamten Entwicklungsabteilung des Stehbildsektors an den VEB Kamerawerke Niedersedlitz über. Hier wurde die Entwicklung zwar zuende geführt, aber meiner Wahrnehmung nach war das Interesse der Leute um Siegfried Böhm an diesem Zentralverschluß mehr als begrenzt. Er wurde offenbar als Klotz am Bein angesehen, der unheimlich viel Fertigungskapazität raubte. Ich habe ganze Kartons fertiger Prestorverschlüsse gesehen, die einst in der Endkontrolle ausgesondert wurden, bloß weil einer der zahlreichen Meß- und Kontrollwerte nicht eingehalten wurde. Das Schließen und Öffnen des Hilfsverschlusses, die Einhaltung der Schließzeiten der Synchronkontakte, der Ablauf des Vorlaufwerkes und nicht zuletzt die Einhaltung der Verschlußzeiten erforderten viel Erfahrung im Montageprozeß. Außerdem konnten keinerlei Kompromisse bei der Material- und Verarbeitungsqualität zugelassen werden. Viele der Verschlüsse wurden einfach nur ausgesondert, weil die Rastung der Verschlußzeitenverstellung nicht leichtgängig genug oder der geöffnete Synchronkontakt nicht ausreichend hochohmig war. Wiederum ein Glücksfall für die Reparaturwerkstätten, denn dieser sorgsam verpackte „Ausschuß“ mit den genau vermerkten Fehlerdiagnosen konnte noch jahrzehntelang zur Ersatzteilversorgung genutzt werden.
Sogenannte TKO-Ware – vom Hersteller aussortierte Mängelexemplare zur Ersatzteilversorgung. Trotz aller hier vorgebrachter Kritik, die sich ja hauptsächlich auf Fragen der Wirtschaftlichkeit beziehen, ist ein Prestor RVS 00 vom Typ 871.53 (Werra I und II) bzw. 871.52 (Werra III; IV und V) mit 1/750s kürzester Verschlußzeit natürlich ein hochwertiger Zentralverschluß mit sehr gutem Wirkungsgrad. Nicht zu Unrecht trägt er das Gütezeichen Q als Spitzenprodukt des Weltmarktes.
Ursprünglich war geplant, den Prestor Durchschwingverschluß auch in größeren Durchmessern herauszubringen und damit unter anderem die tschechische Photoindustrie zu beliefern, die innerhalb des RGW Fertigungsaufgaben im Bereich Großformat zugewiesen bekommen hatte. Es ist bekannt, daß diese Projekte („Grandina“) allesamt gestoppt worden sind – mit allen dahingehenden Folgen für Berufs- und Fachphotographen des Ostblocks. In der DDR ging man zu jener Zeit gerade dazu über, Großformatkameras mit Schlitzverschlüssen zu entwickeln (Mentor Studio und Panorama), um sich vom Zentralverschluß unabhängig zu machen. Ich habe bereits an vielen anderen Stellen unserer Internetseite darüber geschrieben, in welcher Situation sich der Dresdner Kamerabau um 1960 befand. Die neugegründeten Kamera- und Kinowerke hatten von der Zeiss Ikon eine Contax F geerbt, die derart veraltet war, daß sie keiner mehr kaufen wollte. Offensichtlich hatte man aber so viele Teile auf Lager, daß man diese Kamera auf Gedeih und Verderb weitermontieren mußte. Zum Ausgleich mußte man die gerade erst zur Weltspitzenklasse entwickelte Praktina IIA einstellen, weil sich auch diese nicht verkaufen ließ, da sie schlichtweg zu teuer ausfiel. In dieser Situation kann ich es mehr als nachvollziehen, daß man im ohnehin gescholteten VEB Kamera- und Kinowerke offenbar nur wenig Ambitionen zeigte, nun auch noch auf der Hochzeit arbeitsaufwendiger und störanfälliger Zentralverschlüsse zu tanzen. Für die Werra waren sie unentbehrlich, da kam man nicht dran vorbei. Aber die Verpflichtung zu weiteren Varianten konnte man offensichtlich erfolgreich abwehren.
Denn es darf nicht verschwiegen werden, daß der Prestor RVS nicht der zuverlässigste Verschluß ist. Das liegt an seinem komplexen Funktionsablauf, dessen Umsetzung andere etablierte Hersteller nicht ohne Grund gescheut hatten. Als neuralgischer Punkt erwies sich der Hilfsverschluß. Ist es Ihnen schon einmal passiert, daß Sie mit ihrer Werra fleißig geknippst haben und als der Film von der Entwicklung zurückkam war nichts weiter drauf als die Randnummerierung? Wenn ja, dann hat der Hilfsverschluß versagt. Der wird nämlich durch recht geringe Federkräfte angetrieben. Weil der Prestor bei der Werra aber nicht zwischen den Linsen des Objektives liegt, kann dieser Hilfsverschluß von der Rück- und bei den Werratypen mit Wechselobjektiven auch von der Vorderseite her verschmutzen. Als Folge kann es passieren, daß sich der Hilfsverschluß nicht mehr öffnet. Der Kameranutzer merkt davon meist nichts, weil der eigentliche Hauptverschluß ja weiterhin ungestört seinen Dienst verrichtet und hörbar „klick“ macht. Eine Belichtung des Filmes findet indes nicht statt. Auch andersherum kann der Hilfsverschluß in seiner Öffnungsposition verharren, sodaß bei jedem Spannvorgang das Bild durch einfallendes Licht verschleiert wird. Als Erfahrung aus der Werkstattpraxis kann ich sagen, daß solche Fehlfunktionen des Hilfsverschlusses immer besonders dann auftreten, wenn die Kamera unbenutzt einige Wochen liegen gelassen wurde.
Diese Fehlerscheinungen waren offenbar schon zur Zeit der Produktion des Prestor bekannt. Von einem gewissen Zeitpunkt an wurde daher die Anzahl der Sektoren des Hilfsverschlusses einfach von fünf auf zwei reduziert. Dazu wurde die Formgebung der verbliebenen Lamellen umgestaltet, die nun etwa so aussahen, wie die Verschlußsektoren des Junior und Priomat. Diese Änderung war auch deshalb möglich, weil wie gesagt von der Funktion des Hilfsverschlusses als Irisblende in der Praxis ohnehin kein Gebrauch gemacht wurde. An den immer wieder auftretenden Fehlfunktionen des Hilfsverschlusses änderte allerdings auch die Konstruktionsänderung nur wenig.
Bei späteren Serien auf zwei Lamellen reduzierter Hilfsverschluß
Aber damit nicht genug. Als hätten die Scherereien mit dem Bau von Zentralverschlüssen – für den schließlich seit mehr als drei Jahrzehnten in Dresden keinerlei Fertigungstradition mehr vorlag – noch nicht genügt, so hatten die Kamera- und Kinowerke von der Zeiss Ikon obendrein auch noch ein Projekt für eine Spiegelreflexkamera geerbt, die rund um diesen Zentralverschluß konzipiert worden war. Plötzlich hatte man in Niedersedlitz ein halbfertiges Konstrukt Walter Hennigs auf dem Tisch, das überhaupt nicht ins Fertigungskonzept dieses Betriebes paßte und wohl großes Kopfzerbrechen verursacht haben muß. Die seit jeher problematische Kupplung eines Zentralverschlusses mit der übrigen Kameramechanik verschlang aufgrund der zusätzlichen Verkomplizierung durch die Verknüpfung des Verschlusses mit dem Reflexsucher erheblichen Entwicklungsaufwand. Bei der Pentina – wie das Modell letztlich genannt wurde – waren für den eingesetzten „Prestor 00 weit“ keine Sektoren für den Hilfsverschluß notwendig. Das machte den Funktionsablauf allerdings nicht weniger kompliziert. Im ausgelösten Zustand war der Verschluß geschlossen und der Spiegel nach oben geklappt. Beim Spannen bewegte sich zunächst erst der Spiegel nach unten und schloß zusammen mit einer zusätzlichen Klappe aus dem Bodenbereich der Kamera den Film gegen Lichteinfall ab. Beim Weiterbewegen des Spannhebels öffneten sich die Verschlußsektoren und blieben in geöffneter Stellung stehen, damit das Sucherbild sichtbar war. Wurde nun ausgelöst, dann sprangen zunächst die Sektoren auf die verschlossene Position, und zwar auf jene, die der übliche Prestor 00 am Ende des Spannvorganges einnahm. Gleichzeitig mit dem Zuspringen des Verschlusses verschloß ein direkt hinter dem Sucherokular angebrachter Schieber dessen Lichtpfad. Das war notwendig, weil nun im Anschluß der Spiegel nach oben klappte. Da nämlich bei einer Zentralverschlußkamera der Verschluß nicht vor dem Film, sondern vor dem Spiegel angebracht ist, hätte andernfalls Licht über das Sucherokular am hochklappenden Spiegel vorbei auf den Film fallen und diesen verschleiern können. Erst jetzt, da der Spiegel oben an der Mattscheibe angekommen war, konnte der „Prestor 00 weit“ wie gewohnt ablaufen.
In diese Zentralverschlußreflex Pentina mußten also gegenüber den bekannten Typen mit Schlitzverschluß jede Menge neue Funktionsabläufe eingebaut werden, ohne daß sich daraus irgendein nennenswerter Vorteil ergab. Aus heutiger Sicht fragt man sich, ob die richtungsweisende Praktina nicht ein Opfer dieser überkonstruierten Pentina geworden ist. Jedenfalls geriet die Pentina zum Flop, weil sie auf der falschen Technologie basierte – einer Technologie, mit der gerade die bundesrepublikanische Kameraindustrie in die Katastrophe zu schlittern begann. Einäugige Spiegelreflexkameras mit Zentralverschlüssen stellten immer dann die falsche Lösung dar, wenn der Verschluß fester Bestandteil des Kameragehäuses war. Dann war man prinzipiell in der Variationsbreite der Wechselobjektive beschränkt. Und genau das wurde vom Photoamateur nicht geduldet, auch wenn er sich in der Praxis nur selten tatsächlich ein Supertele mit 300 mm Brennweite kaufte. Aber bei einer Praktica oder einer Pentax Spotmatic hätte er zumindest die theoretische Möglichkeit gehabt, solch ein Objektiv an die Kamera anzusetzen. Es stellte sich nun heraus, daß dieser Aspekt für den Amateur eine viel größere Priorität hatte, als es die Kamerahersteller wahrhaben wollten. Und aus diesem Grunde blieben sie mehr und mehr auf ihren Zentralverschlußreflexen sitzen. So erging es letztlich auch dem Hersteller der Pentina, deren gewöhnungsbedürftige Formgestaltung dabei dem ganzen noch die Krone aufsetzte. Am Ende ließ man gar die Belichtungsautomatik weg, um die herum sie eigentlich konzipiert war, nur um die vorhandenen Teile noch in einer preisgesenkten Version loszubekommen. Nach diesem Debakel wurde in der DDR nie wieder eine Spitzenkamera mit Zentralverschluß entwickelt.
Aber anders als man befürchten könnte, geriet dieses Debakel für die DDR-Photoindustrie aber letztlich nicht zum Beinbruch. Im Gegenteil. Von jetzt ab besann man sich auf eigene Stärken und hörte auf, ständig nach dem Westen zu schauen. Außerdem war die technische Entwicklung im Dresdner Kamerabau unterdessen nicht stehengeblieben. Ein reichliches Jahr nach dem Aus für die Pentina brachte Pentacon mit der PRAKTICAmat eine der ersten Spiegelreflexkameras der Welt mit Innenlichtmessung auf den Markt. Und für die übrigen Praktica-Typen begann die Großserienfertigung am Fließband. Letztlich stellten sich die Strukturentscheidungen, die der Zeisskonzern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts getroffen hatte, nun langfristig als Glücksfall für den Dresdner Kamerabau heraus. Ganz anders bei den entsprechenden Konkurrenzfirmen in Stuttgart und Braunschweig, für die sich die jahrzehntelange Zeiss-Konzernpolitik jetzt als derjenige Sargnagel entpuppte, der dafür sorgte, daß die dortige Kamerabautradition nun in erschreckender Geschwindigkeit zur Ruhe gebettet wurde.
Synchro-Compur 00 Nr.1 | Synchro-Compur 00 Nr.2 | Prestor 871.51 (1/500) | Prestor 871.53 (1/750) | |
Totale Zeit | 4,7 | 4,5 | 4,3 | 4,2 |
Hauptzeit | 2,3 | 2,3 | 1,9 | 1,9 |
Um überhaupt einmal praktisch abschätzen zu können, ob sich der enorme Aufwand mit dem Durchschwingverfahren in irgendweiner Weise ausgezahlt hat, sind in der obigen Gegenüberstellung einmal je ein Prestor RVS Modell 871.51 (1/500s) und ein Prestor 871.53 (1/750s) mit zwei verschiedenen Exemplaren eines Synchro-Compur 00 verglichen worden. Diese vier Verschlüsse stammen aus der Werra-Reihe. Anhand der Werte läßt sich abschätzen, daß beide Fabrikate grundsätzlich auf sehr hohem Niveau konstruiert sind – mit einem leichten Vorsprung des durchschwingenden Prestors. Beide Verschlußtypen haben gemein, daß die totale Belichtungszeit mit der Hauptzeit in einem Verhältnis von etwa 2:1 steht. Das deutet auf einen sehr hohen Wirkungsgrad beider Typen hin. Beim Prestor ist im Vergleich zum Compur die Hauptzeit im Durchschnitt sogar noch ein wenig kürzer. Das rechtfertigt, die kürzeste Nominalzeit mit einer 1/750s statt einer 1/500s anzugeben. Interessant, daß auch das Modell 871.51 dieselben guten Zeitwerte erreicht. Die Meßwerte bestätigen somit, was auch die Montageanleitung des Herstellers bereits schlußfolgern ließ: Diese beiden Modelle des Prestor sind mechanisch identisch. Der Prestor erreichte bei seiner kürzesten Verschlußzeit solch gute Werte, daß eine Angabe von lediglich einer 1/500s reine Tiefstapelei gewesen wäre. Leider waren die Werte aber auch nicht gut genug, um die 1/1000s auf den Einstellring gravieren zu können, weshalb man den „krummen“ Zwischenwert 1/750s angab. Nichtsdestoweniger wurden mit diesen schnellen Zentralverschlüssen vom Modell Prestor nun tatsächlich Aufnahmen schnellster Vorgänge ohne Bewegungsunschärfe möglich, wie sie bislang nur mit Schlitzverschlüssen zu realisieren gewesen waren.
Diese Aufnahmen haben die Bildberichterstatter Erich Höhne und Erich Pohl mit großer Wahrscheinlichkeit kurz nach Anlauf der Serienfertigung des Prestor Zentralverschlusses gemacht. [Deutsche Fotothek, Datensätze 70602586 und 70606278]. Die Bilder sind zwar mit Juni 1960 datiert, da weitere Aufnahmen auf diesem Streifen jedoch noch die Fertigung der Praktina zeigen, ist diese Angabe freilich etwas unsicher.
5. Zentralverschluß-Patente als Erkenntnisquelle für die Geschichte des VEB Zeiss Ikon
Die obigen Ausführungen über die Zentralverschlußfertigung in der DDR waren eher aus einer wirtschaftsgeschichtlichen Perspektive heraus geschrieben. Auf technikgeschichtliche Aspekte wurde nur in soweit eingegangen, wie es die einigermaßen überschaubare Bandbreite der tatsächlich fabrizierten Zentralverschlußtypen verlangte. In den darauffolgenden Jahren habe ich mich aber immer tiefer mit der diesbezüglichen Patentliteratur beschäftigt, wobei sich bei der Recherche ein Bild ergab, dessen Informationsgehalt weit über rein technische Gesichtspunkte hinausging. So zum Beispiel kann man aus einer ziemlich umfangreichen Anzahl an Zentralverschlußpatenten ablesen, daß im VEB Zeiss Ikon den Jahren 1954/55 an deutlich mehr gearbeitet wurde, als tatsächlich in die Serienfertigung kam. Zweitens ergaben sich bei der Durchsicht dieser Patentliteratur neue Einblicke auf damalige interne Vorgänge bei Zeiss Ikon, die unmittelbaren Einfluß auf das nachfolgende Schicksal dieses Betriebes gehabt haben dürften. Da über das Ende dieses vormaligen Gravitationszentrums der Mitteldeutschen Photoindustrie nach wie vor viel weniger bekannt ist, als es der Bedeutung dieses Betriebes gerecht wird, wollte ich meine Erkenntnisse nicht vorenthalten. Vielleicht vermögen sie, zu einem Gesamtbild beizutragen.
Schaut man sich die Patente bezüglich der Zentralverschlüsse in ihrer Gesamtheit an, so fällt wie gesagt sofort die rege Konstruktionstätigkeit in den Jahren um 1954/55 auf. Der Hintergrund scheint politischer Natur gewesen zu sein. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der die Machtposition der Führungselite um Walter Ulbricht ernsthaft in Gefahr gebracht hatte, versuchte der Ministerrat als Gegenreaktion mit der »Verordnung über die Erhöhung und Verbesserung der Produktion von Verbrauchsgütern« vom 17. Dezember 1953 auf die vermeintlichen Ursachen für die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu reagieren. Infolgedessen wurde im Bereich Feinmechanik/Optik eine Produktionssteigerung von 30% eingefordert. Dieser Forderung stand im Januar 1954 freilich eine tatsächliche Erfüllung des bestehenden Plans von lediglich 75% gegenüber [Vgl. Kresse, Walter: Entwicklung der Fotoindustrie im neuen Kurs; in: Die Fotografie, 6/1954, S. 153f.]. Unverhohlen angeprangert wurden daraufhin die verschleppte Neuentwicklung von Photogeräten (namentlich im VEB Welta-Werke) und „die mangelhafte Tätigkeit vieler Werkleitungen“. Solcherlei öffentlich formulierte Kritik und direkte Schuldzuweisung lassen darauf schließen, daß der politisch-ideologische Druck, der auf den Funktionären lastete, bis herab zu den Verantwortlichen in den Konstruktionsabteilungen des Kamerabaus durchgereicht wurde. Vor diesem Hintergrund muß daher wohl auch die ab der zweiten Jahreshälfte 1954 sehr auffällig ansteigende Umtriebigkeit in der Konstruktionsabteilung des VEB Zeiss Ikon gesehen werden. Allein bezogen auf das enge Feld der Zentralverschlüsse findet diese Umtriebigkeit ihren Ausdruck in der besagten Vielzahl an in rascher Abfolge angemeldeten Grundsatzpatenten. Die offenbar von höchsten politischen Kreisen ausgehenden Forderungen nach schnellen Produktneuentwicklungen ließen die Konstrukteure nun plötzlich unter einen eklatanten Zeitdruck geraten. Vielleicht ist dem Leser ja die dahingehende Anspielung im Titel dieses Aufsatzes aufgefallen.
Die unmittelbaren Ergebnisse dieser Kampagne fielen eher bescheiden aus. Am ehesten waren mit Kameras wie der Werra, der Pentona, der Penti und beispielsweise der Beirette Fortschritte im mittleren Marktsegment zu verzeichnen. Diese Modelle arbeiteten aber mit altbekannten Zentralverschlüssen. Früchte aus der Entwicklungstätigkeit an neuen Typen von Zentralverschlüssen konnten erst geerntet werden, als es den VEB Zeiss Ikon als solchen schon nicht mehr gab. Die ersten Muster des Prestor RVS wurden auf der Herbstmesse 1958 vorgestellt [Vgl. Bild & Ton 10/58, S. 254]. Die noch auf Entwicklungsarbeiten des VEB Zeiss Ikon zurückgehenden Kameras mit diesem Verschluß, wie die Prakti oder die Pentina, kamen gar erst nach 1960 auf den Markt – mehr als sechs Jahre nach Verkündung des „Neuen Kurses“.
Diese Phase um 1954/55 erscheint mir für die DDR-Photogeschichte aber besonders interessant, weil sie zehn Jahre nach Kriegsende eine Periode des Umbruchs verkörpert, in der insbesondere das kommende Schicksal des VEB Zeiss Ikon Dresden vorentschieden wird. Wertvolles, authentisches Quellenmaterial zu dieser Epoche liegt in den Patentschriften jener Zeit verborgen, die meines Wissens noch nirgends auf diesen Gesichtspunkt hin untersucht worden sind. Insbesondere birgt die Entwicklungsgeschichte des Prestor neue Erkenntnisse in Bezug darauf, welche zukünftige Produktlinie man in der Schandauer Straße 76 dazumal ins Auge gefaßt hatte. Da man sich offenbar auf diese Linie versteift hatte, sich aber weder hier, noch in anderen Entwicklungsprojekten wie der „Pentax“ oder der „Pentaplast“ markträchtige Erfolge einstellen wollten, scheint der allmähliche Niedergang dieses Betriebes letztlich eine Folge dieser Richtungsentscheidungen gewesen zu sein. Wie ich noch zeigen werde, läßt die Patentüberlieferung aber auch noch eine ergänzende oder gar alternative Erklärung dafür in den Bereich des Möglichen eintreten. Bevor ich also auf die besondere Rolle des Prestor Durchschwingverschlusses innerhalb dieses Prozesses eingehe, möchte ich der Vollständigkeit halber kurz zwei Beispiele eines einfachen Zweisektorenverschlusses und eines Objektivverschlusses der Mittelklasse vorstellen, weil auch hier vielversprechende Entwicklungspfade betreten wurden, die zum Nachteil des gesamten DDR-Kamerabaus leider zu keinen verwertbaren Produkten geführt haben.
5.1 Zentralverschlüsse der einfachen und mittleren Qualitätsklasse
So habe ich beispielsweise oben geschrieben, nach Auslaufen der Mimosa wäre ein hochwertiger Zweisektorenverschluß wie der „Velax“ nicht weiterentwickelt worden. Ganz stimmt das jedoch nicht. Das Erfinderkollektiv um Werner Hahn (mit Johannes Weise, Oskar Fischer, Karl Krömer und Rolf Noack) haben in der ersten Hälfte der 1950er Jahre durchaus an verbesserten Varianten dieses Typs gearbeitet. Ein Beispiel, das unter der Nummer 14.418 am 24. September 1954 in der DDR zum Patent angemeldet wurde, zeichnete sich dadurch aus, daß zum Antrieb der Sektoren und zum Antrieb es Hemmwerkes je zwei getrennte Kraftspeicher verwendet wurden, die allerdings bei der kürzesten Verschlußzeit – wo ja kein Hemmwerk benötigt wird – dazu eingesetzt werden, gemeinsam die Sektoren anzutreiben. Mit dieser Maßnahme versprach man sich, trotz der einfachen Ausführung mit lediglich zwei Lamellen, zu einigermaßen kurzen Verschlußzeiten zu gelangen.
Ebenfalls keine Umsetzung fand ein Entwurf für einen guten Objektivverschluß der Mittelklasse, den Rolf Noack am 14. Januar 1954 beim Amt für Erfindungs- und Patentwesen der DDR angemeldet hatte (Nr. 13.904). Der grundlegende Zweck dieser Konstruktion lag darin, den Spannweg zu verkürzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich zunehmend die sogenannten Tubuskameras durch, bei denen das Objektiv samt Verschluß fester Bestandteil des Kameragehäuses war und nicht mehr durch einen Klappmechanismus und einen zwischenliegenden Lederbalg vom Gehäuse getrennt wurde. Diese veränderte Bauart brachte die Möglichkeit mit sich, den Transport des Filmes mit dem Spannen des Verschlusses zu verknüpfen und dadurch die Kamera schneller Aufnahmebereit zu machen. Hinderlich dabei war immer der lange Weg, den der Spannhebel bei herkömmlichen Verschlüssen zurückzulegen hatte. Das verursachte große Schwierigkeiten für den Kamerahersteller, der diese ausladende Schwenkbewegung irgendwie mit dem Filmtransport kuppeln mußte. Rolf Noack hatte mit seinem Patent 13.904 die Verkürzung dieses Spannweges dadurch erreicht, daß er den Antrieb der Sektoren auf zwei sogenannte Sektorentreibringe aufspaltete – einer der die Sektoren öffnet, ein zweiter der sie nach Ablauf der Offenzeit wieder schließt. Das hätte nicht nur eine grundsätzliche Halbierung des Spannweges bedeutet, sondern sicherlich auch zu einem guten Wirkungsgrad des Verschlusses geführt. Serienmäßig ausgeführt wurde diese Lösung allerdings nicht. Bei der Werra behalf man sich damit, den langen Spannweg des bekannten Vebur zu kaschieren, indem man die bisherige Art und Weise des Spannens mit einem um den Verschluß angeordneten Ring beibehielt, und „einfach“ den Filmtransport an diese Bewegung ankuppelte. Erkauft wurde das dadurch, daß die Mechanik für den Filmtransport entsprechend komplizierter ausfiel.
5.2 Der Weg zum Prestor RVS
Die meisten Patentanmeldungen der DDR-Photoindustrie in Bezug auf Zentralverschlüsse betreffen denjenigen Typ, aus dem später der Prestor wurde. Das ist nicht verwunderlich, denn nur aus diesen Entwicklungsarbeiten gingen wirklich schützenswerte Neuerungen hervor. Für uns ist das deshalb ein Glücksfall, weil Patente immer wertvolle Primärquellen darstellen, die untrügliche Fakten wie die Namen der Urheber und das Datum der Anmeldung liefern und daher auch noch Jahrzehnte später interessante Rückschlüsse auf den genauen Ablauf zulassen. Daraus folgt aber leider auch, daß Verschlüsse, die keine technischen Neuerungen mit sich brachten, wie der Cludor, Vebur und Tempor, ihre Hintergründe leider nicht so leicht offenbaren. Das ist insbesondere auch dann problematisch, wenn dahingehendes Archivgut vom vormaligen Herstellerbetrieb nur unvollständig überliefert ist, wie dies im Hinblick auf den VEB Zeiss Ikon offenbar leider der Fall zu sein scheint.
Um so fruchtbarer ist es, den ausgezeichnet dokumentierten Werdegang des Prestor anhand seiner zahlreichen Schutzanmeldungen nachzuvollziehen. Diese Analyse zu schreiben, war nicht ganz einfach, da an vielen Lösungen gleichzeitig gearbeitet wurde. Man steht dann vor dem Problem, eine möglichst übersichtliche, logisch konsistente und nachvollziehbare Darstellung liefern zu wollen, mit der man dann aber die ursprüngliche Chronologie der Patentanmeldungen zerstören würde. Der große Wert solcher Patentschriften liegt ja insbesondere darin, uns ein unverfälschtes Bild vom tatsächlichen historischen Ablauf der Entwicklungsarbeiten zu überliefern. Ich habe versucht, beides miteinander in Einklang zu bringen.
Allem voran kann man aus der Patentliteratur zwei allgemeine Aussagen zu diesem Thema ableiten: Erstens steht – soweit ich es überblicken kann – hinter allen, die Zentralverschlüsse betreffenden Anmeldungen, der VEB Zeiss Ikon; auch wenn in DDR-Patenten überhaupt kein Betrieb genannt wird und in den bekanntgemachten Bundesdeutschen Patentschriften der Name »VEB Zeiss Ikon Dresden« nicht mehr vorkommt. Hier ist meist vom VEB Feinmeß Dresden oder der Elbe Kamera GmbH die Rede.
Contaflex der Zeiss Ikon AG Stuttgart
Zweitens muß die oben geäußerte Vermutung relativiert werden, die Werra-Reihe habe die Entwicklung des Prestor initiiert. Vielmehr hat sich nach Durchsicht der Patentliteratur das Bild ergeben, daß die Konstruktion eines Durchschwingverschlusses von Anfang an (auch) darauf abgestellt war, dem VEB Zeiss Ikon Dresden das Herausbringen einer Zentralverschlußspiegelreflexkamera nach westdeutschem Vorbild zu ermöglichen. Die Zeiss Ikon AG Stuttgart hatte seit 1953 eine solche Kleinbildspiegelreflexkamera »Contaflex« mit fest eingebautem Zentralverschluß und automatischer Springblende am Markt. Offenbar wetteiferten die Dresdner, nun auch solch einen Kameratyp herauszubringen. Wie ich gleich zeigen werde, offenbart die Naivität erster dahingehender Patentanmeldungen, wie sehr man in Dresden anfänglich die Komplexität unterschätzt hatte, die eine Verknüpfung des Zentralverschlusses mit dem Einäugigen Spiegelreflexprinzip mit sich brachte. Man erhoffte sich wohl, mit dem Zentralverschluß zu einer einfacheren, klareren Konstruktion zu gelangen. Angesichts der langwierigen Probleme mit dem Schlitzverschluß der Spiegelcontax, welche man schließlich gerade erst mit dem Modell Contax D einigermaßen überwunden hatte, mag diese Hoffnung einigermaßen plausibel erscheinen. Es muß sich aber recht bald herausgestellt haben, daß eine Zentralverschlußreflex vom Typ Contaflex insgesamt einen sehr komplexen Aufbau verlangte und daß der umfassende Patentschutz des Vorbildes so manchen eigenen Lösungsweg verbaute.
5.2.1 Die zusätzliche Öffnungsfunktion für eine Spiegelreflexanwendung
Die besagte anfängliche Naivität wird verkörpert durch das früheste Patent zu diesem Thema, das auf den 13. Juli 1954 datiert ist (Nr. DD14.803). Werner Hahn und Oskar Fischer strebten mit dieser Erfindung an, „[…] einen üblichen Objektivverschluß in einen für einäugige Spiegelreflexkameras geeigneten Spezialverschluß ohne großen Aufwand überführen zu können“. Bei Einäugigen Reflexkameras ist es ja notwendig, bei gespanntem Verschluß und heruntergeklapptem Spiegel die Sektoren in eine Öffnungsposition zu bewegen, um nämlich das Sucherbild betrachten zu können. Wie genau die Lösung nach Patent Nr. 14.803 funktionierte, ist hier nicht von Belang, da sie ohnehin nicht praktisch umgesetzt wurde. Die Konstrukteure um Werner Hahn haben wohl rasch einsehen müssen, daß die Ertüchtigung eines „üblichen“ Zentralverschlusses für die Spiegelreflexkamera „ohne großen Aufwand“ ein aussichtsloses Unterfangen darstellte.
Das kann man auch daran ablesen, daß vom 21. August 1955 – also mehr als ein Jahr später – ein DDR Patent Nr. 14.868 (Werner Hahn und Heinz Schulze) vorliegt, das immernoch an demselben Problem laborierte. Das Patent 14.868 legt uns nun Zeugnis darüber ab, zu welchem Erkenntnisgewinn man binnen dieses Jahres in Dresden gekommen ist. Zum einen hatte man erkannt, daß es für den Bau einer Zentralverschlußreflex nicht genügt, einen herkömmlichen Zentralverschluß bloß mit einer zusätzlichen Öffnungseinrichtung zu versehen. Vielmehr ist es zwingend notwendig, den Ablauf des Zentralverschlusses mit der sonstigen Kameramechanik zu kuppeln. Genauer gesagt müssen sich nach dem Auslösen der Kamera die Verschlußsektoren erst schließen, bevor sich der Spiegel (sowie ein zusätzlicher Hilfsverschluß) in die Ruhelage bewegen können und damit den Lichtpfad freigeben. Erst jetzt darf der Verschluß mit der eingestellten Belichtungszeit ablaufen. Um diese kinematische Kette im Ablauf des gesamten Mechanismus überhaupt gewährleisten zu können, erweiterte das Patent vom Sommer 1955 dasjenige vom Sommer 1954 um ein zusätzliches Hemmwerk, mit dessen Hilfe der Verschluß zwischen dem Beenden der Sucherbildbetrachtung und dem Beginn der Belichtung die nötige Zeitspanne bereitstellte, in der sich der Spiegel und der Hilfsverschluß aus dem Lichtpfad herausbewegen konnten. Um es kurz zu machen: Auch das war Murks und bot kaum eine Plattform für eine konkurrenzfähige Spiegelreflexkamera mit Zentralverschluß.
Um den Aufwand zu verdeutlichen, den allein diese zusätzliche Öffnungsfunktion mit sich brachte, scheint es angebracht, sich einmal den tonangebenden Synchro-Compur Reflex des Deckelwerks München näher anzuschauen. Hier wurde die zusätzliche Öffnungsfunktion dadurch realisiert, daß die Drehzapfen, auf denen die Verschlußsektoren gelagert sind, nicht als fester Bestandteil des Verschlußgehäuses ausgeführt wurden, sondern Teil eines Ringes waren, der abgekoppelt vom Sektorentreibring verstellt werden konnte. Wurde dieser „Lagerring“ verdreht, dann konnten die Sektoren unabhängig vom Spannzustand des Verschlusses geöffnet werden.
Lagerring beim Compur Reflex
Selbst jemand, der sich nicht intensiv mit Phototechnik befaßt, wird nun einsehen, wie umfassend ein „üblicher“ Zentralverschluß umgebaut werden mußte, um ihn für den Einsatz an einer Einäugigen Reflexkamera zu ertüchtigen. Und solche Umbauten können niemals „ohne großen Aufwand“ über die Bühne gebracht werden. Manchmal ist es sogar vorteilhaft, gänzlich neue Konstruktionswege einzuschlagen.
Und an genau diesem Punkt tritt mit dem Stichtag 2. November 1954 das erste Mal der spätere Prestor Durschwingverschluß auf den Plan. Dabei hat diese bundesdeutsche Schutzschrift mit dem Titel „Photographischer Objektivverschluß mit einer zusätzlichen Öffnungseinrichtung“, die erst acht Jahre später unter der Nummer 1.138.621 veröffentlicht wurde, zwei interessante Aspekte zu bieten: Einmal basiert hier die Öffnungsfunktion auf genau jenem Prinzip des drehbaren Lagerrings, das ich oben in Bezug auf den Compur Reflex beschrieben habe. Offenbar war nur die genaue Ausführung des Lagerrings geschützt, nicht dessen grundlegendes Funktionsprinzip. Für genauere Aussagen dazu müßten die dahingehenden Patentschriften der Friedrich Deckel AG durchgearbeitet und verglichen werden.
Oben ist die Zeichnung aus dem Patent 1.138.621 gezeigt, in der auch die typische Sektorenbauform des Prestor bereits zu erkennen ist. Darunter der verstellbare Lagerring am späteren Prestor Reflex der Pentina.
Zweitens zeigt die Zeichnung im Patent 1.138.621 zwar zum ersten Mal die typischen Sektoren des Prestor Durchschwingverschlusses; von ihm ist aber in diesem Patent noch gar nicht die Rede. Das wird erst in einem Deutschen Bundespatent Nr. 1.024.793 vom 28. Dezember 1954 nachgeholt (Rolf Noack, Karl Krömer, Johannes Weise und Werner Hahn). Obwohl es mit „Photographischer Objektivverschluß mit durchschwingenden Sektoren“ betitelt ist, sind es nicht diese durchschwingenden Sektoren, die durch dieses Patent geschützt werden. Diese hatte sich ja bereits ein halbes Jahrhundert vorher Gustav Dietz schützen lassen. Zwar waren dessen Patente längst abgelaufen und konnten daher natürlich auch nicht mehr verletzt werden; trotzdem mußten die Leute vom VEB Zeiss Ikon natürlich eine neue Erfindungshöhe erreichen, um ihre eigenen Weiterentwicklungen international patentfähig zu machen. Diese neue Erfindungshöhe lag darin, den Antrieb des Verschlusses von dessen Steuerung baulich zu trennen. Dazu ist beim Prestor ein Sektorentreibring vorgesehen und unabhängig von ihm ein Steuerring. Beide werden durch eigene Federspeicher angetrieben. Der Sektorentreibring wird im gespannten Zustand von einer ersten Klinke festgehalten und in der mittleren Öffnungsposition durch eine zweite Klinke. Der unabhängig von der Sektorenbewegung ablaufende Steuerring teilt über die Betätigung der beiden Klinken mit, wann sich der Verschluß öffnen und wann er sich wieder schließen soll. Das war ein sehr modernes Konzept.
Oben die getrennten Treib- und Steuerringe in der Patentzeichnung und unten die tatsächliche Ausführung im Prestor Reflex.
Im Patent ist als Grund für diese Anordnung vorgebracht, daß der Antrieb für die Steuerung des Verschlusses von der Kraft, die die Sektoren bewegt, unabhängig gemacht werden soll. Das sei eine Voraussetzung dafür, um wirklich kurze Verschlußzeiten zu erreichen. Darüber hinaus muß die Trennung von Antrieb und Steuerung aber als ein sehr zukunftsträchtiger Schritt für den Verschlußbau angesehen werden – und zwar nicht allein beschränkt auf Objektivverschlüsse. Ich habe schon in meinen Ausführungen zum Schlitzverschluß der Spiegelcontax darauf verwiesen, welche Vorteile sich ergeben, wenn der Antrieb eines Verschlusses von dessen Steuerung baulich getrennt wird. Denn auch bei dieser Kamera werden die beiden Verschlußvorhänge durch Klinken festgehalten und nacheinander durch ein unabhängig davon ablaufendes Zeitsteuerwerk ausgelöst. In den 40er und 50er Jahren waren diese Zeitsteuerwerke freilich noch rein mechanischer Natur. Aber mein Hinweis, daß es von der Spiegelcontax zur Praktica electronic technisch nur noch ein kleiner Schritt gewesen ist, gilt analog auch für den Prestor Zentralverschluß. Denn solche Klinken lassen sich nämlich auch elektromagnetisch auslösen, wodurch die ganzen Probleme, die mechanische Hemmwerke verursachen, von bloßen Impulsdauerabständen einer elektronischen Schaltung abgelöst werden können. Dieses Potential hätte also auch prinzipiell der Prestor in sich getragen. Bis solche Entwicklungen zur elektronischen Verschlußzeitensteuerung aber tatsächlich in Angriff genommen wurden, sollte noch ein ganzes Jahrzehnt ins Land gehen. Bis dahin waren die Weiterentwicklungen am Prestor freilich längst abgebrochen und der Dresdner Kamerabau hatte seine Konzentration auf hochwertige Schlitzverschlußkameras verlegt.
Mitte der 50er Jahre konnte eine präzise Verschlußzeitensteuerung nur über ausgeklügelte mechanische Hemmwerke erreicht werden. Ein großer Durchbruch für die Genauigkeit der kurzen Verschlußzeiten beim Prestor wurde übrigens durch Einführung eines Zusatzhemmwerkes erreicht (DBP Nr. 1.029.222 vom 10. Juni 1955, Rolf Noack). Eigentlich wäre für die Verschlußzeit nur der zeitliche Abstand maßgeblich gewesen, mit dem die beiden Halteklinken geöffnet werden. In der Praxis sind diese Zeitabstände bei kurzen Verschlußzeiten so klein, daß mit einem einzigen Hemmwerk keine präzise Steuerung mehr möglich ist. Deshalb wurde ein kleines Zusatzhemmwerk vorgesehen, das den Sektorentreibring verzögert. Das Zusatzhemmwerk wird bei der kürzesten Verschlußzeit (1/500 bzw. 1/750s) abgeschaltet, weil ja hier generell ohne Hemmwerk gearbeitet wird, bei der 1/250s aber mit reduzierter und bei längeren Zeiten mit voller Hemmwirkung zugeschaltet.
Zusatzhemmwerk des Prestor
Dieser sinnreichen Einrichtung ist es zu verdanken, daß der Prestor auch bei den kurzen Zeiten 1/250 und 1/125 Sekunde so präzise arbeitet und auch zwischen einzelnen Exemplaren dieses Typs kaum eine nennenswerte Streuung der Verschlußzeiten zu verzeichnen ist. Dieses Zusatzhemmwerk trägt aber leider auch dazu bei, wieso der Aufbau des Verschlusses insgesamt so kompliziert und aufwändig in der Herstellung bzw. im Abgleich ausfiel. Dieser Umstand machte sich natürlich besonders von da ab negativ bemerkbar, als die Kameraindustrie zwischen dem Hochleistungsverschluß Prestor und dem Einfachverschluß Priomat keine Zwischenstufe mehr zu Verfügung hatte. Im Endeffekt führte das dazu, daß ein Betrieb wie die Kamera- und Kinowerke regelrecht dazu gezwungen waren, einen eigentlich nur für Spitzenkameras gedachten Verschluß wie den Prestor als Massenprodukt auszustoßen. An diesem Nadelöhr scheiterte letztlich das Marktsegment der Zentralverschlußkameras innerhalb Photoindustrie der DDR.
Um diese Thematik der zusätzlichen Öffnungsfunktion des Zentralverschlusses für Einäugige Reflexkameras abzuschließen, möchte ich noch erwähnen, daß vom 21. August 1955 ein DDR Patent Nr. 14.928 vorliegt, mit dem Heinz Schulze sogar ein wiederkehrendes Sucherbild umsetzen wollte. Dafür wurden die Verschlußsektoren im Anschluß an die Belichtung wieder geöffnet. Da diese Funktion freilich nur dann einen Sinn ergeben hätte, wenn die damit ausgestattete Kamera mit einem Rückkehrspiegel versehen worden wäre, wurde dieses Patent nicht angewendet. Ein rückkehrender Reflexspiegel hätte ja bedeutet, daß auch der Hilfsverschluß vorher hätte zurückkehren müssen. Von einer solchen weiteren Verkomplizierung des Kameramechanismus hat man in Dresden in weiser Voraussicht lieber die Finger gelassen. In Braunschweig hingegen wagte man es, eine solche Reflexkamera mit rückkehrendem Sucherbild herauszubringen – und man hatte anschließend großen Ärger damit.
5.2.2 Springblende und Hilfsverschluß
Also abgesehen von der kurzen Beschreibung des Zusatzhemmwerkes ging es bislang um die besondere Öffnungsfunktion, die einen Zentralverschluß erst für die Spiegelreflexkamera geeignet macht. Aus der Tatsache, daß die Patentanmeldungen zum Prestor mit einer Erfindung bezüglich dieser Öffnungsfunktion begannen, habe ich geschlossen, daß die Schaffung einer Zentralverschlußreflexkamera ein wichtiges auslösendes Moment für die Entwicklung des Prestors gewesen sein muß. Es gibt aber noch ein zweites Bauteil, mit dem sich ein Konstrukteur intensiv beschäftigen muß, um einen Zentralverschluß für die Spiegelreflexanwendung tauglich zu machen: die Blende nämlich. Vor dem Hintergrund betrachtet, daß man in Dresden offenbar eine zur Contaflex konkurrenzfähige Reflexkamera entwickeln wollte, verlangte sogar die Blende nach einer intensiven Konstruktionstätigkeit.
Weshalb das? Nun, man muß der westdeutschen Contaflex die Ehre zusprechen, die erste serienmäßig hergestellte Spiegelreflexkamera der Welt mit einer Vollautomatischen Springblende gewesen zu sein (zumindest bezogen auf ein fest eingebautes Objektiv). Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß es diese neuartige Springblende der Contaflex gewesen ist, die in Dresden großen Eindruck gemacht und das Verlangen hervorgebracht hat, auch so eine Kamera zu entwickeln. Bedenken Sie, daß bis dahin die Einäugige Reflexkamera von vielen photographischen Praktikern abgelehnt wurde, weil sie umständlich zu bedienen war. Wollte man nämlich scharfstellen, mußte man die Blende voll öffnen, um im Sucher überhaupt etwas erkennen zu können und eine springende Schärfe zu haben. Photographiert wurde aber fast immer mit einem abgeblendeten Objektiv. Das lief dann darauf hinaus, daß im praktischen Gebrauch die Blende ständig auf und zu gedreht werden mußte, um zwischendurch nachfokussieren zu können und anschließend wieder zur Aufnahmebereitschaft zurückzukehren. Vor Einführung der Vorwahlblende mußte man dazu sogar jedesmal die Kamera vom Auge absetzen, um den richtigen Blendenwert wiederzufinden. Von all diesen Problemen wurde der Nutzer einer Contaflex gänzlich befreit. Beim Spannen des Verschlusses öffnete sich hier die Blende auf die volle Öffnung und sie schloß sich erst mit Betätigung des Auslösers auf den voreingestellten Wert. Vorwahl-Springblende nannte sich diese Einrichtung deshalb. Und die Herren in Dresden dürften deren Wert sofort erkannt und ihr eine ziemliche Priorität zugebilligt haben.
Darauf läßt sich deshalb schließen, weil noch einmal ganze anderthalb Monate vor dem Patent zur zusätzlichen Öffnungsfunktion eine Erfindung Rolf Noacks angemeldet wurde, die sich mit dem Konzept einer Springblende befaßt (DBP Nr. 1.103.753 vom 14. September 1954). Das bedeutet also, daß man bei der Entwicklung des Prestors von Anfang an dessen Ertüchtigung für eine Vollautomatische Springblende im Blick hatte, wie sie für eine Zentralverschlußreflexkamera so erstrebenswert ist.
Die eigentliche Konstruktionsidee, die in diesem Patent 1.103.753 geschützt ist, halte ich für einigermaßen bemerkenswert, weil sie so simpel und klar erdacht ist und echte Vorteile bietet. Beim westdeutschen Compur Reflex öffnet sich die Blende am Ende des Spannvorganges. Deshalb muß zusätzlich zu der ohnehin schon großen Kraft, die zum Spannen des Verschlusses notwendig ist, noch eine zusätzliche Federkraft überwunden werden, mit deren Wirkung dann beim Auslösen die Blende zuspringt. Rolf Noack hatte nun den Konstruktionseinfall, dieses Prinzip einfach umzukehren und damit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Beim Prestor wird die Feder zum Schließen der Springblende nicht beim Spannen des Verschlusses, sondern bei dessen Ablauf gespannt. Das heißt also, die Kraft zum Schließen der Blende wird bereits am Ende eines vorausgegangenen Verschlußablaufes für die nächste Belichtung „abgezweigt“ und so lange in einem Federspeicher „aufbewahrt“. Damit erreichte Noack zum einen die erwähnte Verringerung des Kraftaufwandes beim Spannen des Verschlusses. Zweitens wirkte diese Einrichtung wie eine Verschlußbremse, die half, die noch vorhandene Energie am Ende des Verschlußablaufs aus dem Mechanismus abzuleiten und ihn dadurch vor übermäßiger Abnutzung zu bewahren.
Geniale Idee könnte man sagen. Aber wieso ist grade dieses Patent für uns heute noch so von Bedeutsamkeit? Erstens ist dieses Patent der deutliche Beweis dafür, daß der VEB Zeiss Ikon damals tatsächlich eine Zentralverschlußreflex vom Typ Contaflex im Sinne hatte. Wieso das so sicher ist, wird klar, wenn man sich die erst wesentlich später erschienene Pentina noch einmal vor Augen führt. Bis die endlich herauskam, war in Dresden so einiges über den Haufen geschmissen worden. So war unter anderem diese Pentina nach dem Vorbild der Voigtländerschen Bessamatic letztlich mit Wechselobjektiven ausgestattet worden. Wie uns dieses Patent 1.103.753 nahelegt, ging das ursprüngliche Konzept des VEB Zeiss Ikon aber von einem fest eingebauten Objektiv nach Vorbild der Contaflex aus, denn bei der Pentina saß die Springblende im Wechselobjektiv und eine Springblende im Verschluß wäre obsolet gewesen.
Zweitens – und an diesem Punkt schließt sich der Kreis: In diesem Patent 1.103.753 ist dezidiert davon die Rede, daß dieselbe Einrichtung, die die Springblendenfunktion gewährleistet, so ausgelegt ist, daß sie alternativ auch als Hilfsverschluß eingesetzt werden kann. Was das bedeutet, dürfte jetzt klar sein. Beide Annahmen treffen zu. Etwa in der zweiten Jahreshälfte 1954 wurde im VEB Zeiss Ikon ein Projekt für einen hochwertigen Zentralverschluß mit durchschwingenden Sektoren in Gang gesetzt, dessen eine Zielrichtung darauf abgestellt war, eine Einäugige Spiegelreflexkamera mit Zentralverschluß zu schaffen. GLEICHZEITIG sollte aus diesem Projekt aber auch ein universell einsetzbarer, hochwertiger Zentralverschluß für allgemeine Anwendungen hervorgehen; denn für alle Anwendungen außerhalb des Spiegelreflexprinzips wurde unbedingt ein Hilfsverschluß benötigt. Es bleibt also dabei: Der VEB Zeiss Ikon wurde mit Sicherheit im Zuge der wirtschaftspolitischen Maßnahmen nach dem 17. Juni dazu verpflichtet, den DDR-Kamerabau vom Nadelöhr importierter westdeutscher Zentralverschlüsse freizumachen. Garantiert auch für die gerade angelaufene Werra-Reihe.
5.3 Die unvermittelte Tilgung des VEB Zeiss Ikon Dresden aus dem öffentlichen Leben
Dieser Verpflichtung konnte der VEB Zeiss Ikon aber nicht mehr nachkommen. Wohl einer der bemerkenswertesten Vorgänge der DDR-Wirtschaftsgeschichte ist der regelrechte Kollaps dieses einstmaligen Gravitationszentrums des deutschen Photogerätebaus ab der zweiten Jahreshälfte 1956. Wie genau das damals abgelaufen ist, ist meiner Ansicht nach noch lange nicht befriedigend aufgearbeitet. Was das Prestor-Projekt des VEB Zeiss Ikon angeht, kann ich hier zumindest das Indiz angeben, daß im Oktober 1956 die letzten diesbezüglichen Patente und Gebrauchsmuster angemeldet wurden. Weiter ging es dann erst etwa anderthalb Jahre später – mit dem Unterschied, daß nun das Signet der Kamera-Werke Niedersedlitz die Briefköpfe zierte.
Mittlerweile war die Konstruktionsverantwortung im Stehbildbereich nämlich an diesen Betrieb übergegangen. Und auch eine Vielzahl westdeutscher Patente und Gebrauchsmuster wurden in der Folgezeit (namentlich 1958) auf die Kamera-Werke umgeschrieben. Nebenbei bemerkt, kann ich auch mittlerweile den „offiziellen Umbruch“ vom einen zum anderen Betrieb zeitlich ziemlich genau verorten. Bislang scheint wohl niemandem das Kuriosum aufgefallen zu sein, daß Egon Brauers Vorberichterstattung zur Leipziger Frühjahrsmesse 1957 in der »Bild & Ton«, Ausgabe 3/1957 S. 59, die Contax F noch als Produkt des VEB Zeiss Ikon auflistet. In der eigentlichen Berichterstattung der Zeitschrift »Die Fotografie« zu DERSELBEN Messe, die aber erst in deren Juniausgabe erfolgte, kann man auf Seite 179 zum VEB Kamera-Werke Niedersedlitz nun folgenden Satz lesen:
„Zu diesem Betrieb gehört neuerdings ein sehr wesentlicher Teil der Dresdner Kameraproduktion, so also u. a. auch die Contax“.
Auf Seite 182 heißt es dann zum VEB Zeiss Ikon:
„Unter diesem Betriebsnamen läuft auch weiterhin die Produktion von Schmalfilm- und Kinogeräten.“
Wie wir heute wissen, blieb auch das nicht mehr lange so; weder was den Namen dieses Betriebs-Überbleibsels betraf, noch dessen Eigenständigkeit. An seine Stelle trat alsbald der bereits erwähnte Interimsbetrieb "VEB Kinowerke". Der VEB Zeiss Ikon wird in der Folgezeit völlig aus dem öffentlichen Bewußtsein getilgt.
In der Konstruktionsabteilung für Stehbildgeräte des VEB Zeiss Ikon schien man sich um 1955/56 schlichtweg verzettelt zu haben. Keines der Projekte konnte fertiggestellt und in die Produktion überführt werden. In Bezug auf die völlig überambitionierte Systemkamera »Pentax« sowie die wenig massentaugliche Stereospiegelreflexkamera »Pentaplast« könnte man das ja noch nachvollziehen. Aber wieso aus den mehrjährigen Entwicklungsarbeiten an den Zentralverschlüssen – die ja bereits sehr weit gediehen waren – brauchbare Produkte erst nach einer Übernahme der Konstruktionsverantwortung durch die Kamera-Werke Niedersedlitz hervorgingen, das ist nach wie vor schwer zu begreifen. Unter Umständen wurden die Entwicklungsarbeiten zu einem Zeitpunkt jäh abgebrochen, als die Betriebsleitung (oder gar noch höhere Organe) feststellen mußten, daß alle bisherigen Entwicklungen lediglich auf ein fest in den Verschluß eingebautes Objektiv hinausliefen, eine solche Spiegelreflexkamera aber mittlerweile kaum noch vom Markt akzeptiert worden wäre. Zudem dürfte es wohl auch den Verantwortlichen in der DDR nicht verborgen geblieben sein, zu welchen technischen Kompromissen die Firma Carl Zeiss Oberkochen auf einmal gezwungen war, als es galt, der Contaflex doch noch zu verschiedenen Brennweiten zu verhelfen. Mit einem unsäglichen Materialeinsatz mußten für diese Kamera Vorsatzsysteme geschaffen werden, deren resultierende optische Daten in keinem Verhältnis zu Aufwand, Baugröße und Kosten standen.
Vielleicht war es diese ernüchternde Perspektive, die dafür gesorgt hat, daß das Projekt Zentralverschlußreflex zunächst einmal auf Eis gelegt werden mußte. Es wurde erst wieder hervorgeholt, nachdem die gesamten betrieblichen Strukturen im Dresdner Kamerabau einmal komplett durchgemischt worden waren. Die Kamera mußte daraufhin auf Wechselobjektive umgestellt werden, um einigermaßen konkurrenzfähig zu bleiben; was freilich gleich wieder ein Bündel neuer Probleme mit sich brachte.
Das erklärt aber noch lange nicht, wieso nicht einmal die universell einsetzbare Version des Prestor, die bereits um 1955 fertig entwickelt vorlag, verwirklicht wurde. Für die Werra hätte man sie dringend benötigt. Deshalb muß es noch eine andere Perspektive auf diese Problematik geben. Und tatsächlich: bei genauerer Untersuchung der Quellenlage ergibt sich das Bild, daß so gut wie alle auf die Zentralverschlüsse bezogenen Patente des VEB Zeiss Ikon in der Bundesrepublik angemeldet worden waren. Das darf grundsätzlich nicht verwundern, denn aufgrund der damals vorherrschenden Hallstein-Doktrin nahm die Bundesrepublik den Alleinvertretungsanspruch für Deutschland für sich in Anspruch und zumindest für Betriebe, die bereits im Deutschen Reich bestanden hatten, war es in Hinblick auf eine internationale Rechtssicherheit des Patenschutzes notwendig, denselben in München zu beantragen, anstatt nur in Ostberlin. Auffällig ist nun aber, daß keines dieser bundesrepublikanischen Patente vor dem 7. August 1958 erteilt wurde (DBP Nr. 1.024.793, Prestor Grundsatzpatent). Die meisten Erteilungen finden gar erst zwischen 1960 und 1963 statt. Ist es möglich, daß der VEB Zeiss Ikon seine ambitionierten Zentralverschlußprojekte nicht umsetzen konnte, weil er sich nicht sicher sein konnte, wirklich Eigentümer seiner Erfindungen zu sein? Ich habe oben gesagt, daß die Auslegungen und die Ausgaben (also die Veröffentlichungen und Erteilungen) der Patente fast durchweg entweder auf die besagte Elbe Kamera GmbH oder den VEB Feinmeß Dresden lauten. ANGEMELDET aber wurden sie – soweit ich es recherchieren konnte – noch auf den VEB Zeiss Ikon. Daraus muß man doch schließen, daß die rechtliche Stellung des VEB Zeiss Ikon Dresden gegenüber der bundesdeutschen Zeiss Ikon AG Stuttgart im Laufe der 50er Jahre derart aussichtlos geworden war, daß dieser Betrieb erst zerschlagen werden mußte, bevor die Dresdner Kameraindustrie die Produktentwicklungen der letzten Jahre rechtssicher umsetzen konnte. Schon im Zusammenhang mit der Exakta habe ich zeigen können, wie die von der Ihagee Dresden in der Bundesrepublik angemeldeten Patente um 1960 einfach auf eine neugegründete Ihagee Frankfurt/Main umgeschrieben und damit den Dresdnern entrissen worden waren. Es gibt zumindest handfeste Indizien dafür, daß sich eine vergleichbare Katastrophe auch schon für den VEB Zeiss Ikon anzubahnen schien.
Das würde natürlich das tragische Ende der Dresdner Zeiss Ikon in ein ganz anderes Licht stellen. Demnach wäre es nicht mehr gerechtfertigt, die Tatsache, daß während der 1950er Jahre keine hochwertigen Produkte mehr nachfolgten, allein der Unfähigkeit der Zeiss Ikon Konstruktionsabteilung anzulasten, ihre Erfindungen zu einer Fabrikationsreife zu bringen. Vielmehr hätte der auf dem Rücken der deutschen Industrie ausgetragene Kalte Krieg diesen fatalen Beitrag dazu geleistet. Damit ließe sich erklären, weshalb manche bereits fertig vorliegende Konstruktion erst in die Produktion überführt werden konnten, als die Markenbezeichnung „Zeiss Ikon“ vollständig aus der Volkseigenen Kameraindustrie getilgt worden war.
Links die Auslegeschrift des Prestor Grundsatzpatentes vom 20. Februar 1958, mit der der Inhalt der Erfindung nach gründlicher Prüfung durch das Patentamt bekanntgemacht wurde, damit Dritte vor Erteilung des Patentes ggf. Einspruch einlegen konnten. Die Anmeldung erfolgte wie ersichtlich unter dem Firmennamen VEB Zeiss Ikon. Keine der Patenterteilungen zum Prestor lautete aber auf jenes Markenzeichen, sondern auf die erwähnten Alibifirmen, die sich der Dresdner Kamerabau teils extra für diesen Zweck erschaffen hatte. In diesem speziellen Fall wurde die Patentschrift vom 7. August 1958 ausnahmsweise und einmalig für den VEB Kinowerke erteilt, der mit seinen Kinoprojektoren und Schmalfilmkameras für dieses Segment eigentlich gar nicht zuständig war. Wer weiß welches Durcheinander und welche Unsicherheiten im Hintergrund abliefen. Diese schlußendliche Erteilung der für den Prestor geradezu essentiellen Schutzansprüche machte es möglich, daß der Prestor wenige Wochen später auf der Herbstmesse 1958 herausgebracht werden konnte.
Bis dahin war dann allerdings viel Zeit ins Land gegangen. Entwicklungsansätze, die vielleicht 1954 noch als vielversprechend angesehen werden konnten, hatten sich 1960 entweder als falsch herausgestellt, oder aber die entsprechende Marktnische war bereits ausgefüllt. Der technische wie wirtschaftliche Mißerfolg der Pentina bekräftigt diese Sicht. Trotzdem muß die Gesamtbilanz für den Prestor natürlich differenzierter ausfallen. Grundsätzlich war die Verfahrensweise, den Prestor von Anfang an sowohl speziell für die Reflexanwendung sowie gleichzeitig auch als „allgemeinen“ Hochleistungsverschluß zu konzeptionieren – also zweigleisig zu fahren – weitsichtig und zeitgemäß. Geht man zugunsten des VEB Zeiss Ikon davon aus, daß der Prestor nur deshalb nicht eher in die Produktion überführt werden konnte, weil aufgrund der Auseinandersetzungen mit der Zeiss Ikon AG Stuttgart die Verfügungsgewalt über die zugehörigen Schutzrechte unsicher war, dann muß auch das Urteil über den Prestor entsprechend milder ausfallen. Schließlich wurde dieser hochwertige Verschluß später noch zehntausendfach erfolgreich in der Werra eingesetzt. Die Frage allerdings, ob der Prestor angesichts der Produktionsschwierigkeiten, mit denen er die Dresdner Kameraindustrie in der Folge noch belasteten sollte, nicht doch ein von Anfang an überambitioniertes Projekt darstellte; die muß am Ende jeder für sich selbst beantworten.
An dieser Stelle möchte ich noch auf etwas verweisen, das bislang in der Fachwelt kaum bekannt ist: Noch bevor die Arbeiten im VEB Zeiss Ikon zu einer Contaflex-artigen Kamera aufgenommen wurden, war bereits im Sommer 1954 ein Prototyp einer solchen Zentralverschluß-Spiegelreflex im VEB Carl Zeiss Jena fertiggestellt worden. Wie aus einem CIA-Bericht hervorgeht, war diese Kamera als Volks-Spiegelreflex vorgesehen und muß wohl ebenso wie die Werra-Sucherkamera als Teil der Konsumgüter-Initiative des Ministerrates im Zuge des Neuen Kurses angesehen werden. Diese parallel zur Werra-Sucherkamera und ebenso federführend durch den Konstrukteur Kurt Wagner entwickelte WERRAFLEX läßt meiner Ansicht nach ihre Eigenständigkeit gegenüber den Arbeiten in Dresden dadurch erkennen, daß sie sichtlich auf der technologischen Basis des Vebur-Verschlusses aufbaut. Auch eine spätere Weiterentwicklung hin zu Wechselobjektiven nach dem Bessamatic-Prinzip ist nachweisbar. Eine ganz besondere Brisanz erfährt die Geschichte dieser Kamera aber dadurch, daß sich bereits eine Beteiligung des späteren Konstrukteurs der Voigtländer'schen Bessamatic Walter Swarofsky an den Vorarbeiten Zeiss Jenas zu dieser Werraflex nachweisen läßt.
Unser Leser Karl Heinz Münter hat uns auf den oben abgebildeten Zentralverschluß der Firma Junghans aufmerksam gemacht, der mit der ungewöhnlich kurzen Verschlußzeit von 1/1200 Sekunde graviert ist. Nach einer Patentrecherche hat sich ergeben, daß diese Schwarzwälder Uhrenmanufaktur Anfang der 1950er Jahre ebenfalls an einem Verschluß mit durchschwingenden Sektoren gearbeitet hat. Als Schutz- bzw. Auslegeschriften sind die Nummern DE973.640; 976.929; 1.074.970 und 1.211.934 zu nennen. Gefertigt wurden diese Verschlüsse aber offenbar nur als Nullserie; nur wenige Exemplare haben sich bis heute erhalten.
Die Patentüberlieferung deutet zudem darauf hin, daß diese Entwicklungsarbeiten von dem Schweizer Ingenieur Jacques Wolf angestoßen und anschließend von Junghans übernommen und mit eigenen Technikern weitergeführt wurden. Wolf hatte schon in den 20er und 30er Jahren an Zentralverschlüssen gearbeitet.
Marco Kröger M.A.
letzte Änderung 8. Dezember 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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