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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Flektogon 4/20
Mit diesem Weitwinkelobjektiv gelang es Carl Zeiss Jena als erstem Hersteller der Welt, den Bildwinkel einer Retrofokuskonstruktion auf über 90 Grad auszudehnen.
Mit dem Flektogon 4/25 mm hatte Zeiss Jena im Frühjahr 1960 den Anschluß an den internationalen Trend auf dem Gebiet moderner Weitwinkelsysteme gefunden. Nach fünf Jahren Entwicklungsarbeit war es gelungen, die bisherige Grenze der üblichen 35 mm Brennweite deutlich zu unterschreiten und den Bildwinkel auf über 80 Grad anzuheben. Mit Objektiven wie dem Isco Westrogon 4/24 mm [DE1.063.826 vom 10. November 1956] oder dem Angénieux-Retrofocus R61 3,5/24 mm [FR1.214.945 vom 9. Oktober 1958] standen aber bereits Konkurrenzerzeugnisse zur Verfügung, die einen noch größeren Bildwinkel boten. Bei Zeiss Jena arbeitete daher Wolf Dannberg zusammen mit Eberhard Dietzsch an einem Retrofokusobjektiv, dessen Bildwinkel die 90° Marke übertreffen sollte. Das bedeutete aber, daß die Schnittweite eines solchen Objektives fast doppelt so lang sein mußte, wie die avisierten 20 mm Brennweite.
Eine derartig extreme Verlängerung der Schnittweite konnte nur dadurch erreicht werden, indem dem Grundobjektiv eine entsprechend stark zerstreuende Gruppe vorangestellt wurde, die angesichts des großen Bildwinkels auch noch einen ziemlich großen Durchmesser aufweisen mußte. Außerdem war es notwendig, den dingseitig sehr aufgeweiteten Strahlengang stark einzuschnüren, damit das Grundobjektiv im Durchmesser klein gehalten werden konnte. Diese Aufgabe erledigte das Kittglied zwischen der zerstreuenden Frontgruppe und Grundobjektiv. Es besitzt selbst kaum Brechkraft, aber die Kittfläche wirkt sich zusätzlich sehr positiv auf die Bildfehlerkorrektur aus. Als große Leistung ist auch anzuerkennen, daß das Gesamtobjektiv durch starke Verkittung bei zehn Linsen nur zwölf Glas-Luft-Grenzflächen aufzuweisen hat. Das war zu Zeiten einschichtiger Vergütungen ein großer Vorteil im Hinblick auf Reflexfreiheit und Transmission. Auch hat sich die Baugröße gegenüber dem Flektogon 25 mm nicht verändert, sodaß das 20 mm quasi in derselben Fassung Platz fand. Das war allerdings nur durch Einsatz der damals modernsten Glastechnologie zu erreichen. Der gesamte vordere Teil des Flektogons 4/20 ist durch lanthanhaltige Schwerkron und lanthan- und thoriumhaltige Schwerstkrongläser dominiert.
Für das Flektogon 4/20 konnte im Prinzip genau derselbe moderne Fassungsaufbau mit der Vollautomatischen Springblende weiterverwendet werden, der bereits 1959 für das Flektogon 4/25 entwickelt worden war, wie dieser Umbau eines 20er Flektogons auf Praktina-Bajonett zeigt.
Das Flektogon 4/20 mm war eine Meisterleistung, die von manch namhaften japanischen Hersteller erst während der 70er Jahre eingeholt werden konnte. Der Vorsprung der Jenenser lag wohl auch darin begründet, daß mit dem Zeiss Rechenautomat ZRA1 bereits eine zweite Generation an Großcomputern genutzt werden konnte, die sich durch gesteigerte Geschwindigkeit aber allem voran viel bessere Programmierbarkeit auszeichnete [Vgl. Dietzsch: Retrofokusobjektive, 2002, S. 117]. In der Folgezeit konnten so erstmals im Ansatz Programme zur automatischen Korrektur und zur automatischen Optimierung optischer Systeme verwirklicht werden. Im vollen Umfange kamen diese dann freilich erst dem Nachfolger Flektogon 2,8/20 zugute.
Die überwiegende Zahl der Flektogone 4/20 mm sind in einer Fassung untergebracht worden, die dieser auffälligen Gestaltung nach als "Zebra-Design" bezeichnet wird. Offiziell wurde sie bei Zeiss "Flachnutenrändel" genannt.
Die erste Rechnung für das Flektogon 4/20 lag zwar bereits im Oktober 1961 vor, es wurde aber erst auf der Frühjahrsmesse 1963 vorgestellt und ab Sommer 1963 in größeren Stückzahlen produziert. Patentiert wurde es am 19. Februar 1963 unter der Nummer DD30.477. Im November 1964 wurde es neu berechnet (Seriennummern über 7.206.500). Die erste Version von 1961 wurde nur in 7600 Exemplaren gefertigt, die zweite von 1964 41.400 mal, also insgesamt 49.000 Stück (nach neueren Erkenntnissen existieren es noch weitere reichlich 1500 Stück in der Version von 1964, also insgesamt etwa 50.500 Stück, siehe weiter unten). Für ein solches Spezialobjektiv sind das recht beachtliche Stückzahlen. Immerhin war es mit 487,- Mark für die damalige Zeit ein ziemlich teurer Spaß. Die eigentliche Herstellung des Flektogon 4/20 lief zum Jahresende 1975 aus und es machte quasi natlos dem Flektogon 2,8/20 mm platz, das jetzt endlich auch mit Blendenelektrik lieferbar war. Im Sommer 1978 wurden allerdings noch einmal 150 Stück in M42-Fassungen montiert, erkennbar an den Seriennnummern über zehn Millionen und der schwarzen Fassung.
Mitte der 70er Jahre wurde bei Zeiss Jena und auch im Feinoptischen Werk Görlitz eine neue Fassungsgestaltung eingeführt, die nach dem charakteristischen Muster auf dem Entfernungseinstellring als "Kreuzrändelfassung" bezeichnet wurde. Mit dieser Designänderung war aber eigentlich ein kompletter Umbau des Fassungsaufbaus verknüpft, mit dem endlich gewährleistet werden sollte, daß alle Zeiss-Objektive wahlweise mit elektrischer Blendenwertübertragung geliefert werden konnten. Im Falle des 20-mm-Objektives sollte dieser Schritt eigentlich mit dem neuen Flektogon 2,8/20 erfolgen, dessen Produktionsablauf aber durch die Einführung der Mehrschichtvergütung verzögert wurde. Also mußte für das alte Flektogon 4/20 im Jahre 1975 noch kurzfristig eine schwarze Kreuzrändelfassung geschaffen werden, um das einheitliche Erscheinungsbild der Objektivpalette zu wahren. In dieser Gestalt ist das Flektogon 4/20 mm sehr selten. Bild: Henryk Ditze
Der Hintergrund zu diesen Flektogonen in schwarzer Fassung scheint sich nun auch ein wenig mehr gelichtet zu haben. Das obige Exemplar trägt nämlich eine Seriennummer, die innerhalb eines Nummernkreises liegt, die im "Thiele" aus welchem Grund auch immer als Flektogon 11/20 mm gelistet ist. In Wahrheit handelt es sich aber um das serienmäßige Flektogon 4/20 (was auch am identischen Rechnungsdatum zu erkennen ist). Da es eines von 1500 Stück auf der Karte Nummer 1856 ist, muß man davon ausgehen, daß es immerhin eine solche Anzahl vieses Objektiv in Kreuzrändelfassung gibt.
Oben ein Vergleich zu einem der wenigen Mitbewerber des damaligen Weltmarktes. Firmen wie Nikon oder Canon hatten zu Anfang "normal gebaute" Superweitwinkel für ihre Reflexkameras im Angebot, die noch aus deren Phase der Meßsucherkameras stammten. Diese Objektive konnten allerdings nur bei Kameratypen verwendet werden, bei denen der Spiegel hochgeklappt werden konnte, ohne daß sofort der Verschluß ablief. Bei Kameras wie der Exakta, Praktica, Praktina, Edixa usw. war dies ausgeschlossen. Deshalb waren offenbar die französischen und deutschen Objektivbauer regelrecht gezwungen, eine derartige Ponierrolle bei der Hervorbringung von Retrofokusweitwinkeln einzunehmen. Japanische Hersteller wie Nikon oder Canon hatten durch ihr langes Festhalten an der Sucherkamera in diesem Metier fast zehn Jahre Rückstand; holten im Verlaufe der 1960er Jahre aber um so rascher auf.
Eines der frühesten dieser Konkurrenzerzeugnisse dürfte um 1967 das Nikkor 3,5/20 mm gewesen sein. Der obige Vergleich der Kontrastübertragung weist das Nikkor als Spitzenkonstruktion der damaligen Zeit aus. Sowohl in der Bildmitte, als auch am Bildrand werden bessere Werte erreicht als beim Flektogon. Leider war Letzteres noch die alte Version vor der Überarbeitung, sodaß der Test 1969 eigentlich nicht mehr ganz aktuell gewesen ist. Beim Flektogon fällt aber sehr positiv auf, daß es quasi nichts ausmacht, ob man mit offener Blende oder abgeblendet auf 1:8 photographiert. Diese nah beieinander liegenden Kurven weisen das Flektogon als sehr ausgewogene Konstruktion aus. Demgegenüber fällt bei beiden Objektiven der doch ziemlich drastische Rückgang der Bildleistung zu den Rändern des Negativs auf. Diese stark nach unten versetzten MTF-Kurven des Bildrandes sind freilich in großem Maße allein schon durch die natürliche Vignettierung begründet, die abbildende Systeme mit einem derart großen Bildwinkel zwangsläufig aufweisen. Im Grunde genommen handelt es sich schlichtweg um eine Grenze des hier angewandten Meßverfahrens. Übrigens zeigen selbst die MTF-Diagramme allerneuster Konstruktionen diesen typischen Randabfall, ohne daß die Weitwinkel wirklich dementsprechend schlecht wären. Ganz davon abgesehen, war es damals in der Praxis gar nicht notwendig, einem solchen Superweitwinkel ein extremes Auflösungsvermögen mitzugeben, weil die Bildeinzelheiten bei solchen Objektiven derart winzig wiedergegeben werden, daß sie schnell unterhalb des Auflösungsvermögens normaler Filmschichten gerieten. Dann zählt allerhöchstens noch die Kontrastleistung (= Wiedergabe grober Strukturen), und die ist bei beiden Objektiven über das Feld hinweg überraschend hoch. [aus: Fotomagazin 10/1969, S. 41.]
Mit Einführung der Praktica L Reihe ab Herbst 1969 stand den hochwertigen Zeissobjektiven endlich eine Kamera zur Seite, die sowohl in ihrer äußeren Erscheinung, als auch was ihren modernen konstruktiven Aufbau betraf, international konkurrenzfähig war. Sie trug das Gütezeichen Q daher wirklich nicht zu Unrecht. Daß der VEB Pentacon Dresden ab Mitte der 70er Jahre immer mehr seine Unfähigkeit offenbarte, mit den internationalen Trends zur elektronischen Steuerung der Kamerafunktionen mitzuhalten, das steht freilich auf einem anderen Blatt. Aber 1969 war diese neue Praktica-Generation die richtige Kamera zur richtigen Zeit. Eine Minolta SR-T, Pentax Spotmatic, Canon FT, Nikkormat, etc. konnten damals auch nicht viel mehr, als die Prakticas LTL oder LLC. Diese neuen Dresdner Spiegelreflexkameras konnten endlich eine Nachfrage nach den Objektiven aus Jena und Görlitz sichern, wie das Kamera-Experimente à la Pentina zurvor nicht vermocht hatten. Die L-Reihe gab 1969 dem DDR-Photogerätbau somit einen Startbonus für die kommenden 70er Jahre, von dem die bundesdeutsche Photoindustrie seinerzeit nur träumen konnte...
Oben sieht man den Aufbau des Flektogon 4/20 mm und darunter die wesentlichen Bildfehler [nach Dietzsch: Retrofokusobjektive, 2002, S. 115]. Es fällt der umfassende Einsatz von nach damaligen Begriffen äußerst hochbrechenden Gläsern auf, insbesondere des zugleich sehr niedrigdispergierenden Schwerstkrons SSK 10. Zu den stark im Negativen liegenden Kurven für den Astigmatismus merkt Dietzsch an, in Wirklichkeit weise das Objektiv eine sogenannte schiefe sphärische Aberration auf, sodaß unter der Berücksichtigung der Koma die meridionale und sagittale Bildfeldwölbung effektiv und praktisch verschwinde [Vgl. Ebenda, S. 116]. Der Aufbau insbesondere des vorderen Objektivteiles sei durch Überlegung und systematische Untersuchungen gefunden und auch bei späteren Retrofokusentwicklungen übernommen worden. Er habe sich zudem beim Einsatz automatischer Korrektionsprogramme, die im Laufe der 1960er Jahre für den "ZRA1" entwickelt und immer weiter verbessert worden waren, schließlich auch von selbst eingestellt. Wohlgemerkt im Nachhinein! Spitzen-Objektivkonstrukteure zeichnen sich offenbar durch eine besondere intuitive Begabung aus, die von einer Beherrschung der optischen Materie zeugt, welche weit über bloße Rechenkünste hinausgeht. Über den Pionier der Schaltkreisentwicklung Robert Widlar ist einmal gesagt worden, er sei eigentlich mehr ein Künstler gewesen, denn ein typischer Ingenieur. Ich glaube unter diesem Gesichtspunkt müssen auch die schöpferischen Grundsteinlegungen im Photoobjektivbau gesehen werden, die Männer wie Paul Rudolph, Ludwig Bertele oder eben auch Wolf Dannberg geleistet haben.
Oben sieht man die äußerst gedrungene Linsenanordnung des Flektogons 4/20 mm, die es erlaubte, die aufwendige Optik in einer für damalige Verhältnisse recht kompakten Fassung unterzubringen.
Der regelrechte "Weltklassestand", den der VEB Carl Zeiss JENA in den 1960er Jahren einnehmen konnte, fußte demnach auf dreierlei Grundlagen: Eine zunehmend auf Digitalrechnern gestützte Konstruktion der Objektive, neue Meß-, Kontroll- und Fertigungsmethoden innerhalb der Produktion sowie das zur Verfügungstellen von Glassorten mit bislang unvereinbaren Eigenschaften, die eine Realisierung solch extremer Weitwinkel überhaupt erst in den Bereich des Möglichen rückte.
Es ist gar nicht so leicht, ein Objektiv mit über 90 Grad Bildwinkel sinnreich einzusetzen und passende Motive dafür zu finden. Nur selten wird man Innenarchitektur zu photographieren haben. Und wenn man Gebäude von außen ablichtet, dann sollte man peinlichst darauf achten, die Kamera nicht zu verkippen, denn dann konvergieren die Linien sofort extrem, was nur manchmal gekonnt aussieht! Absolut falsch ist es, ein 20-mm-Objektiv einfach in die Landschaft zu halten, denn diese Versuche, "alles drauf zu bekommen", enttäuschen meist sehr. Den enormen Bildwinkel nutzt man am besten immer dann aus, wenn es wirklich extrem eng zugeht und/oder sehr weite Distanzen zugleich erkennbar wiedergegeben werden sollen, wie hier in dieser Stahlskulptur. Als grobe Faustregel gilt auch dann, möglichst zusätzlich den Bild-Vordergrund zu beleben, da diesem aufgrund der besonderen perspektivischen Wirkung von Superweitwinkelobjektiven die dominierende Rolle zukommt. Praktica DTL3, Tmax 100.
Oben: Blick gegen die Decke. Die Verzeichnung ("Distorsion") spielt beim Flektogon 4/20 mm in der Praxis keine Rolle. Es arbeitet orthoskopisch. Und das ist angesichts seiner mehr als sechs Jahrzehnte zurückliegenden Konstruktion außerordentlich bemerkenswert.
Marco Kröger
Letzte Änderung: 14. Mai 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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