Prakticar 4/300

Prakticar 4/300

Dieses Teleobjektiv gehört zu denjenigen Neuentwicklungen Zeiss Jenas für die Praktica-B-Reihe, die tatsächlich noch in eine Serienfertigung gelangten

1. Ein Supertele in Kompaktbauweise

Schließlich war es ja gerade die optische Anstalt in Jena, die über eine konkurrenzlos lange Tradition verfügte was den Bau ungewöhnlich langbrennweitiger und gleichzeitig lichtstarker Teleobjektive für die Kleinbildkamera anbetraf. Genauer gesagt: Die Zeiss Ikon AG. Denn das Sonnar 4/30 cm von 1938 bzw.1940 stammte aus dem Rechenbüro Ludwig Berteles in Dresden; auch wenn es anschließend in Jena gefertigt wurde. Jedenfalls war mit der Kombination ebendieser Brennweite und ebendieser Lichtstärke ein Markstein im Bereich langbrennweitiger Zusatzobjektive für das Format 24x36 mm gesetzt worden, der sich jahrzehntelang in den Angebotslisten verschiedener Hersteller finden ließ.

Zeiss Jena Prakticar 4/300mm

Allerdings handelte es sich bei dem angesprochenen Sonnar 4/300 eben um einen typischen Vertreter des Sonnartyps. Das ist eine Objektivbauart, die sich zwar prinzipiell durch eine kürzere Schnittweite auszeichnete, als sie Triplets oder Achromate bieten konnten, die aber bei solch langen Brennweiten aufgrund der großen und dicken Linsen trotzdem recht klobig und vor allem schwer ausfiel. Schon seit der Zwischenkriegszeit gab es daher eine ständige Konkurrenz zwischen diesen sehr hoch auskorrigierbaren Sonnartypen und den echten Teletypen, bei denen durch ein stark zerstreuend wirkendes Hinterglied eine beträchtliche Verkürzung der Schnittweite und damit ein kompakter Aufbau möglich wurde. Außerdem fielen diese Teletypen durch die dünneren Linsen deutlich leichter aus. Zeiss Jena hatte zwar schon vor vielen Jahrzehnten solche echten Teleobjektive im Angebot, der ganz große Durchbruch war aber bislang vereitelt worden durch die erheblichen Schwierigkeiten, diese stark asymmetrische Objektivbauart ausreichend gut auszukorrigieren.

VGergleich MC Sonnar und Prakticar 4/300

Dazu bedurfte es vor allem an Fortschritten in der Berechnung solcher Teleobjektive, wie man heute im Rückblick feststellen kann. Das läßt sich gut an dem oben links abgebildeten MC-Sonnar 4/300 mm von 1974 ablesen, das Zeiss Jena geschaffen hatte, um das bisherige Sonnar 4/300 mm durch einen zwar gleichnamigen, aber durch seine Auslegung als echten Teletyp völlig anders konzipierten Nachfolger zu ersetzen. Dieses MC Sonnar 4/300 war brachte zwar keinen Zugewinn in Hinblick auf die Bildleistung, aber durch die deutlich dünneren Linsen konnte die Masse dieses Objektivs um sage und schreibe ein halbes Kilogramm reduziert werden. Dabei verblüfft an diesem MC-Sonnar, daß es mit sehr einfachen und billigen Gläsern auskam. Drei der fünf Linsen bestehen aus schlichtem Borosilikat-Prismenmaterial, das seit Jahrzehnten unverändert im Angebot der Jenaer Glasfabrik gewesen ist. Man erkennt daran, daß für den Bau von Teleobjektiven nicht unbedingt ein besonderer Materialeinsatz, sondern eine möglichst geschickte Konstruktionsarbeit ausschlaggebend war.

Prakticar 4/300 Serienversionen

Diese Anforderungen an die Konstruktionsarbeit der Entwicklungsabteilung wuchs, als man bei Zeiss Jena Ende der 1970er Jahre daran ging, ein neues Teleobjektiv 4/300 mm zu entwickeln, das nicht mehr zweigleisig für Kleinbild und Mittelformat zugleich ausgelegt sein sollte, sondern ausschließlich für die Praktica. Diese Beschränkung auf das Kleinbildformat 24x36 mm brachte die Möglichkeit, ein deutlich kompakteres Teleobjektiv zu bauen, da für die Kleinbild-Reflexkameras die bildseitige Schnittweite viel kürzer sein und damit das gesamte Objektiv näher an das Kameragehäuse gerückt werden konnte. Das als Prakticar 4/300 herausgebrachte Ergebnis war daher nicht nur viel kürzer, sondern auch noch einmal spürbar leichtgewichtiger als alle seine Vorgänger. Statt 2100 Gramm des Zebra-Sonnars und 1600 Gramm für das MC-Sonnar brachte das neue Prakticar nur noch etwa ein Kilogramm auf die Waage. Für den Anwender an der Kleinbildkamera ergab sich daraus ein wirklich greifbarer Vorteil – und zwar auch im wörtlichen Sinne. Schließlich war das neue Prakticar handlich genug, um sogar mit gutem Erfolg ohne Stativ verwendet werden zu können, wenn die Verschlußzeit nur kurz genug gewählt wurde. Mit einem Verkaufspreis von 1380,- Mark war es aber auch das bis dahin teuerste Objektiv, das für die neue Praktica B200 herausgebracht wurde. Das war aber insofern unproblematisch, da in der DDR nur wenige in die Gefahr geraten sein dürften, ihr mühevoll Erspartes sinnlos an einem Exemplar dieses Teleobjektives zu verschleudern.

Vergleich Nikkor 4,5/300 Prakticar 4/300

Trotz der höheren Lichtstärke fällt das Prakticar 4/300 mm im direkten Vergleich mit dem Nikkor 4,5/300 mm etwas kompakter und auch etwa 60 Gramm leichter aus. Seine optische Konstruktion ist aber auch mehr als ein Jahrzehnt jünger. Beide haben eine Naheinstellgrenze von 4 Metern, doch das Prakticar läßt sich feinfühliger Fokussieren, als der deutlich steilere und deshalb etwas ruckeligere Schneckengang des Nikkors. Dafür fallen beim Nikkor die Kugelrastungen der Stativschelle alle 90 Grad positiv auf. Beide Objektive sind optisch tadellos. Während aber vom Prakticar nur etwa 7000 Stück gefertigt wurden (genau weiß man es nicht), waren es vom Nikkor mehr als 200,000!

2. Wirrwarr der Versionen

Eine gewisse Rätselhaftigkeit hatte dieses Prakticar 4/300 aber bislang dadurch an sich, daß in verschiedensten Veröffentlichungen sich zum Teil völlig widersprechende Daten zu lesen waren. Bei dem Exemplar, das parallel zum Erscheinen der Praktica B-Serie auf der Frühjahrsmesse 1979 gezeigt wurde, kann es sich nur um einen Prototypen gehandelt haben, denn die erste in Serie produzierte Version des Prakticar 4/300 hat laut "Thiele" ein Rechnungsdatum vom 15. November 1979 – also mehr als ein halbes Jahr nach dieser Frühjahrsmesse. Wie wir heute wissen (siehe die Ausführungen weiter unten), war dieses "Messe-Prakticar 4/300" aber nur die Zwischenstufe eines schon seit etwa zwei Jahren andauernden Entwicklungsprozesses für ein solches Teleobjektiv. Die Existenz mehrerer Prototypen und Serienversionen des Prakticars 4/300 hat ganz offenbar auch die Werbeabteilung des VEB Carl Zeiss JENA durcheinander gebracht. Denn frühe Veröffentlichungen suggerierten, das Prakticar 4/300 mm sei ein Fünflinser. Auch Wolfgang Mesow gab dies in seinem "Kleinen Buch zur Praktica" in den Auflagen 1 bis 4 so an. Egon Brauer bildete in seinem Buch "Foto-Optik" den Schnitt durch das 4/300 allerdings mit sieben Linsen ab. Diese Zahl findet man freilich wiederum in keiner zeitgenössischen tabellarischen Zusammenstellung so bestätigt. Für den aufmerksamen Betrachter war das also bereits damals mehr als verwirrend.

Mittlerweile kann man mit Gewißheit sagen, daß die Ursache für dieses Durcheinander direkt in der Werbeabteilung des VEB Zeiss Jena zu suchen ist und zwar letztlich in der Person Helmut Dämmrichs. Ausgangspunkt war, daß dieser Mann für Messepräsentationen in den Jahren 1978 (oben) und 1979 (unten) Prospekte für Objektive erstellen mußte, die damals nur als Prototypen vorlagen. Beide Objektive unterscheiden sich äußerlich voneinander und obendrein auch deutlich von denjenigen Prakticaren 4/300, die dann tatsächlich in Serie gefertigt wurden.

Prakticar 4/300 Prospekt 1979

Wie aus der unten zu sehenden Zusammenstellung der auf echten Teletypen basierenden Sonnare bzw. Prakticare 4/300 mm ersichtlich ist, muß für das Prospekt von 1978 auf jeden Fall noch der Linsenschnitt des MC-Sonnars 4/300 als korrekt angesehen werden, denn die beiden Prototyp-Rechnungen von 1977 und 1978 basierten noch auf diesem Grundaufbau von 1974, der durch Abändern von Linsendurchmessern sowie Radien und Abständen lediglich für das Kleinbildformat optimiert wurde. Schon für Prospekte des Jahrgangs 1979 hat dies aber nicht mehr gestimmt, denn es wurde in der Rechenabteilung auf eine völlig neue Konstruktion gewechselt, auf die im Folgenden noch näher eingegangen werden soll.

Sonnar und Prakticar 4/300 Rechnungen

Daß für das spätere Prakticar 4/300 anfänglich tatsächlich vom Grundaufbau des bisherigen MC-Sonnars ausgegangen wurde, konnte uns auch Volker Tautz bestätigen, der seit 1. September 1978 in der Abteilung Photo des VEB Zeiss Jena beschäftigt war und für den dieses Objektiv unter der Anleitung seines Mentors Gerhard Risch das erste Projekt als Optikrechner gewesen ist. Die Optimierung erfolgte damals bereits weitgreifend rechnergestützt mit dem Programm AKOS (Automatische Korrektion Optischer Systeme). Bei der Erprobung des Funktionsmusters stellte sich dann aber leider heraus, daß beim Abblenden der Farbquerfehler unzulässig anwuchs und damit das Auflösungsvermögen beeinträchtigt wurde. Der vergleichsweise einfache Aufbau des MC-Sonnars war schlichtweg überreizt. Weil aber damals die Einführung des Praktica-B-Systems noch für 1979 eingeplant war, mußte nun schnellstens ein völlig anderer Aufbau gefunden werden, bei dem diese Probleme mit der chromatischen Aberration eliminiert werden konnten.

Prakticar 4/300 erstes Funktionsmuster

Volker Tautz vermutet, daß trotzdem auf der Messe 1979 die nicht produktionsfähigen Funktionsmuster gezeigt worden sind, um etwas vorzeigen zu können. Aus demselben Grund basierte wohl auch das erste Messe-Prospekt auf diesem technischen Stand. Die große Nachlässigkeit der Zeiss-Werbeabteilung lag darin, daß anschließend lange Zeit die Informationen nur schleppend oder überhaupt nicht mehr angepaßt worden sind. So war noch in den Prospekten zur Praktica B200 von 1980 das Prakticar 4/300 mit 1000 Gramm Gewicht und Filtergewinde M77 angegeben, erst mit der B100 wurde dies auf 900 Gramm und M72 angepasst. Nicht so jedoch die Angabe der Linsenzahl, die noch bis mindestens 1985 mit 5 in 3 Gruppen angegeben wurde. Das änderte sich offenbar erst, nachdem Herr Dämmrich im September 1984 an seinem 65. Geburtstag in den Ruhestand gegangen war und Nachfolger seine Arbeit übernahmen. Auch in dem oben bereits erwähnten, sehr erfolgreichen Büchlein von Wolfgang Mesow war nun ab der 5. Auflage die Zahl von 6 Linsen in 5 Gruppen zu lesen.

Prakticar 4/300 Brauer

In diesem ganzen Durcheinander besser informiert war übrigens der Fachschriftsteller Egon Brauer, dem es für sein Buch "Foto-Optik, eine Warenkunde für den Fachverkäufer und den Fotoamateur" irgendwie gelungen war, an das tatsächliche Achsenschnittbild zu gelangen, wo es in der 8. Auflage von 1987 zu finden war (siehe Abbildung oben). Wie gleich gezeigt werden soll, war diese Insiderinformation zu diesem Zeitpunkt freilich auch schon wieder überholt.

2.1 Die Vorserienversion vom August 1979

Daß an dieser Stelle nach mehr als vier Jahrzehnten endlich Klarheit geschaffen werden kann, ist Herrn Günther Benedix zu verdanken, der nicht nur an der Entwicklung der zweiten Serienversion dieses Teleobjektives beteiligt war, sondern durch seine Sammlung an originalen Fertigungsunterlagen ein exaktes Nachvollziehen der Entwicklungsgeschichte dieser Objektivreihe möglich macht. Wie weiter oben in der Tabelle schon aufgezeigt wurde, lassen sich die Arbeiten an einem kompakten 300er Teleobjektiv für das Kleinbildformat bis auf das Jahr 1977 zurückverfolgen, als zum 14. Juli 1977 eine erste Rechnung eines "Sonnars 4/300" fertiggestellt wurde. Es folgte sodann ein weiterer Prototyp vom 30. Oktober 1978, der unter Umständen derjenige war, der auf der Frühjahrsmesse 1979 gezeigt wurde, als die erste Vorstellung des neuen Praktica-B-Systems stattfand und der auch für die ersten Prospektabbildungen verwendet wurde.

Prakticar 4/300 erste Version

Vom eigentlichen Prakticar 4/300 – also im Sinne eines speziell für die neue Praktica B-Serie zugeschnittenen Teleobjektives – gab es dann wiederum drei verschiedene Versionen, die jeweils auf völlig eigenständigen Grundlagen basierten: Oben ist das Linsenschnittbild für die erste Version mit der Sachnummer 550531:001.25 gezeigt, deren Rechnungsabschluß auf den 21. August 1979 datiert ist. Allerdings läßt sich im Anschluß keinerlei Serienfertigung nachweisen. Wenn man auf der Seite zum Prakticar 2,8/200 mm schaut, dann ist dort mit dem Abschlußdatum 27. August 1979 ein vom Aufbau her fast identisches Objektiv Nr. 550530:001.25 zu sehen, das ebenfalls nicht in Serie ging. Diese Parallelität jener beiden Prakticare 2,8/200 und 4/300 mm ist ein Charakteristikum, das im Folgenden immer wieder feststellbar sein wird!

2.2 Die erste Serienversion vom November 1979

Denn wie beim Prakticar 2,8/200 war es erst die wenige Wochen später folgende Konstruktion, die tatsächlich für das Praktica B-System in die Serienfertigung gelangte. Diese zweite Rechnung des Prakticar 4/300 stammt vom 15. November 1979 (Sachnummer 550531:002.25). Von ihr wurden lt. Thiele zwischen Januar 1980 und Oktober 1983 1100 Stück gebaut. Man muß also von ihr de facto als erster Serienversion sprechen. Sie war ebenso siebenlinsig aufgebaut. Wenn man sich unten den schematischen Aufbau dieser ersten Serienversion des Prakticars 4/300 anschaut, dann erkennt man sehr gut dessen enge Verwandtschaft mit dem Prakticar 2,8/200.

Prakticar 4/300 zweite Version

Daß hier wiederum Prakticar 2,8/200 und Prakticar 4/300 eine gemeinsame Grundlage hatten, wird aus dem Patent DD149.427 vom 3. März 1980 deutlich –  allerdings nur aus der sogenannten Auslegeschrift! Aus einem heute nicht mehr nachvollziehbaren Grund ist noch vor Erteilung des Patentes dasjenige Patentbeispiel, das sich eigentlich auf das Prakticar 4/300 mm bezieht, aus der Schutzschrift herausgenommen worden, sodaß sich das erteilte Patent letztlich nur noch auf das Prakticar 2,8/200 mm bezieht.

DD149427 Prakticar 4/300 mm

Nach Auskunft von Günther Benedix ist der genaue Grund dafür, weshalb das veröffentlichte Patent am Ende nur noch den Aufbau des Prakticars 2,8/200 mm schützt und die oben gezeigte Variante für das Prakticar 4/300 mit dem Kittglied in der vorderen Linsengruppe entfallen ist, heute nicht mehr nachvollziehbar. Man kann nur spekulieren, ob der Einsatz des thoriumhaltigen Schwerstkronglases SSK11 in der hintersten Linse des 300er Prakticars einen Ausschlag für diese Entscheidung gegeben hat. Paradoxerweise habe dieses Entfernen der 300er-Version aus dem Patent kurz vor seiner Erteilung aber dazu geführt, daß noch heute Volker Tautz als Erfinder im Patent DD149.427 genannt ist, obwohl an der Entwicklung verbliebenen Prakticars 2,8/200 gar nicht beteiligt gewesen ist.

Prakticar 4/300 Version 1 Bildfehler

Oben sind die in der Auslegeschrift des Patentes 149.427 enthaltenen Bildfehlerkurven für das Prakticar 4/300 wiedergegeben. Während die in Figur 4  dargestellten Kurven für die Queraberrationen für der Laien nur schwer zu interpretierenden sind, ist die in Figur 5 zu sehende Abweichung der sphärischen Aberration über das Lichtspektrum hinweg schon deutlich aufschlußreicher. Die Kurven für blaues (g), grünes (e) und rotes Licht (C') verlaufen nicht nur eng beieinander, sondern auch noch weitgehend parallel. Die sphärochromatische Längsabweichung, die für ein solch langbrennweitiges Objektiv besonders kritisch ist, wurde also sehr gut behoben. Auch Astigmatismus (Figur 6) und Verzeichnung (Figur 7) sind gering.

Prakticar 4/300 2. Version

Trotz dieser hervorragenden Korrekturerfolge, die dieses Patent 149.427 angesichts des moderaten Glaseinsatzes zum Ergebnis hatte, wurden die beiden darauf basierenden Prakticare 2,8/200 und 4/300 jedoch anschließend nur für kurze Zeit und in enttäuschend kleinen Stückzahlen gefertigt. Nur etwa 1100 Stück dürften es den Jenaer Fertigungsunterlagen zufolge gewesen sein.

2.3 Die zweite Serienversion vom August 1981

Denn schon im Sommer 1981 wurde für beide Teleobjektive eine völlige Neukonstruktion zum Abschluß gebracht. Doch nur diejenige für das Prakticar 4/300 mm ging anschließend tatsächlich in die Fertigung, während das Prakticar 2,8/200 mm trotz der Neurechnung ersatzlos eingestellt wurde. Diese zweite Serienversion des Prakticars 4/300 mit Abschlußdatum vom 13. August 1981 war von nun an ein sechslinsiger Teletyp. Auch dieser Aufbau wurde zum 1. Juni 1982 in der DDR unter der Nummer 206.240 zum Patent angemeldet. Urheber waren Günther Benedix und Volker Tautz.

DD206240 Prakticar 4/300

Die Datenangaben aus dieser Patentschrift lassen erkennen, daß man ein hochwertiges Objektiv in kompakter Bauweise geschaffen hatte, das zwar auf niedrigdispergierenden Fluor-, Bor- und Schwer-Kronen fußte, aber ohne beispielsweise die extremen Lathan-Flintgläser oder sogar kristallinen Flußspat auskam, die andere Hersteller bei vergleichbaren Objektiven einsetzten. Bemerkenswert ist jedoch das für die Linse Nummer 5 verwendete Lanthan-Schwerkron LaSK 3, das erst wenige Wochen zuvor auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1981 vorgestellt worden war [Vgl. untenstehenden Auszug aus der Messe-Sonderbeilage 1981 der Jenaer Rundschau]. Mit diesem hochtransparenten Lanthan-Schwerkron in der bildseitigen Zerstreuungslinse konnte auch das problematische, zur Vergilbung neigende SSK11 des Vorgängertyps ersetzt werden.

Beim Studium der oben gezeigten Patentschrift ist mir aber bei der Linse Nummer 6 ein Glas aufgefallen, für das bei einer Brechzahl von 1,66885 eine Abbe'sche Zahl von 72,33 angegeben ist. Diese Glasart müßte also bei einem recht beachtlichen Brechungsindex gleichzeitig extrem niedrig dispergierend sein. Da konnte etwas nicht stimmen; solche Gläser, die diese beiden Eigenschaften in sich vereinen würden, die gibt es bis heute nicht. Eine Nachfrage beim Co-Konstrukteur des zweiten Prakticar 4/300, Herrn Günther Benedix, ergab, daß es sich tatsächlich um einen Fehler in der Patentschrift handelt. Wie unten aus dem originalen Fertigungs-Datenblatt des VEB Carl Zeiss JENA zum Prakticar 4/300 ersichtlich ist, wurde die wirkliche ny-Zahl des Barit-Schwerflints BaSF2 von 35,62 mit dem Wert der Brennweite dieser Linse von 72,33 mm vertauscht. Da hat sich das das "Büro für Schutzrechte" des VEB Carl Zeiss einen Lapsus geleistet, der es letzten Endes bis in die Patenterteilung geschafft hat. Schön, daß auch diese Ungereimtheit hier mehr als vier Jahrzehnte später richtiggestellt werden kann.

Prakticar 4/300

In diesem Datenblatt, das ja alle Angaben enthält, um dieses Objektiv durch eine qualifizierte Firma herstellen zu lassen, stecken natürlich noch viel mehr aufschlußreiche Informationen als allein die verwendeten Glasarten. Interessant für mich ist zum Beispiel, daß die Dicke einer Linse durchaus um einen Zehntelmillimeter abweichen darf, während für die Toleranz der Luftabstände zwischen den Linsen nur zwischen 30 und 50 Mikrometer erlaubt ist. Weiterhin ist ersichtlich, daß nur die Flächen 1; 2; 3; 5; 6 und 7 mit einem T3-Belag versehen also mehrschichtvergütet sind, während die Flächen 8 bis 11 (und vermutlich auch 4) nur mit dem herkömlichen einschichtigen Transparenzbelag versehen wurden. Das hatte technische Hintergründe und alle Hersteller verfuhren so. Nur die Firma Leitz war damals ehrlich genug, in ihren Druckschriften immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Mehrschichtvergütung nur auf dafür geeigneten Flächen aufgetragen werde.

DD206240 Prakticar 4/300 Aberrationskurven

Oben die Bildfehler-Kurven für die zweite Serienversion des Prakticar 4/300. Sie zeigen wieder in:


  • Figur 2: die Queraberration Δy' in Abhängigkeit von der Apertur A bei drei verschiedenen Bildwinkeln δ
  • Figur 3: die sphärochromatische Längsaberration Δs' in Abhängigkeit von der Apertur A
  • Figur 4: die Längsaberration der sagittalen und meridionalen Bildschale in Abhängigkeit vom Bildwinkel δ
  • Figur 5: die Verzeichnung in Abhängigkeit vom Bildwinkel δ
Prakticar 4/300 dritte Version

Schlußendlich wurden von dieser zweiten Serienversion des Prakticar 4/300 nach Sachnummer 550531:003.25 zwischen August 1985 und Oktober 1990 allerdings auch nur etwa 4500 Stück gefertigt. (Bei weiteren im "Thiele" genannten 1800 Exemplaren mit Seriennummern zwischen 5506 und 7305 muß es sich um einen Übertragungsfehler handeln, denn die Fertigung einer solch hohen Zahl nach Oktober 1990 ist auszuschließen. Auch ordnet Thiele in älteren Ausgaben seines Fabrikationsbuches die beiden Produktionslose von 1985 und 1986, von denen es heißt "Beleg fehlt", noch der Rechnung von 1979 zu. Diese Objektive sind aber nachweislich bereits nach der Rechnung von 1981 gefertigt. In neueren Ausgaben wurde dies korrigiert.)

Prakticar 4/300 2. Version
Prakticar 4/300 spät

In der Edition der Fertigungsunterlagen von Zeiss Jena, die Herr Thiele herausgegeben hat, ist für das Prakticar 4/300 ein Auslaufen der Produktion mit einer Stückzahl von 400 im Seriennummernbereich 5106 und 5505 zum 11. Oktober 1990 angegeben. Das ist der letzte Wert, der sozusagen als gesichert angesehen werden kann. In der Zeile darunter sind aber weitere 1800 Stück angegeben, die den Seriennummernbereich 5506 bis 7305 überdecken und für die kein Datum angegeben ist. In der Spalte für die Anmerkungen steht zu diesem Fertigungslos dann "Beleg fehlt".


Bei allem Respekt, die dieses Zeiss-Fertigungsbuch verdient, so muß man Herrn Thiele dafür kritisieren, daß er nicht die Standards eingehalten hat, die bei derartigen Quelleneditionen obligatorisch sind. So hat er offenbar eigene Forschungen oder gar nur Mutmaßungen sowie Schlußfolgerungen aus Sammlerinformationen in die Originalquellen eingearbeitet und pauschal mit der Formulierung "Beleg fehlt" gekennzeichnet. Das macht es unmöglich, im Nachhinein festzustellen, ob wirklich nur eine Lücke in der archivalischen Überlieferung vorliegt, oder ob es sich um die Interpolationen des Herrn Thiele handelt. Das schmälert die ansonsten sehr wertvolle Fleißarbeit ein wenig.


Die Diskrepanz beim Beispiel des Prakticar 4/300 liegt nun darin, daß die Zeiss-Karteikarten mit der Seriennummer 5505 eine letzte Objektivfertigung ("LOF") ausweisen, es aber durchaus Prakticare mit Seriennummern über 7000 gibt, wie das hier gezeigte Exemplar unseres Lesers Georg Müller beweist. Der Hintergrund zu diesen mutmaßlich 1800 Stück und wann diese gefertigt worden sind, bleibt also unklar. Eine Montage von so großen Stückzahlen durch Docter-Optics weit nach der Wende ist aber weiterhin zwiefelhaft, zumal die Objektive deutlich mit "Made in German Democratic Republic" graviert sind.

Prakticar 4/300 spät

Paul Hofseth aus Oslo hat sogar ein Prakticar 4/300 mit der Seriennummer 7811, das damit mehr als 500 Stück über der höchsten Nummer in Thieles Liste liegt. Trotzdem ist es mit "Made in German Democratic Republic" gekennzeichnet. Hier stimmt also etwas vorn und hinten nicht.

Das oben genannte DDR-Patent Nummer 206.240 für die zweite Serienversion des Prakticars 4/300 mm hat für uns aber heute noch einen zweiten wichtigen Wert. Denn es liefert uns eine Erklärung dafür, weshalb die erste Serienversion des Prakticars 4/300 mm sowie das Prakticar 2,8/200 mm nur in solch geringen Stückzahlen gefertigt bzw. nach so kurzer Fertigungszeit wieder aus dem Programm genommen wurden. Aus diesem Patent kann man nämlich herauslesen, daß sich aufgrund der starken Strahlenablenkung an den ersten beiden Linsen dieser Konstruktion eine große Zentrierempfindlichkeit für diese beiden Linsen ergeben habe und die Überwindung dieser fertigungstechnischen Schwierigkeiten wird explizit als erfinderischer Fortschritt der Neukonstruktion angegeben.

Teleobjektive 4/300 mm Zeiss Jena

Aus den Daten, die mir Herr Benedix zur Verfügung gestellt hat, läßt sich ablesen, wie mithilfe dieser fünf Versionen sukzessive ein immer kompakteres Objektiv geschaffen werden konnte. Betrug die Gesamtlänge der Optik beim allerersten Prototyp von 1977, der ja noch vom MC-Sonnar für das Mittelformat abgeleitet war, noch über 174 mm, so konnte diese bis 1981 auf unter 133 mm gesenkt werden. Das sagt einiges über die Bestrebungen der Konstrukteure aus, ein möglichst kompaktes Objektiv zu schaffen. 


Durch diese nicht nur sehr verkürzte sondern zugleich aus sehr verschlankte Bauform ist das Prakticar 4/300 auch mit einem herkömmlichen Schneckengang – also ohne eine mechanisch sehr aufwendige  Innenfokussierung – gut handhabbar. Der Ehrlichkeit halber muß man aber auch dazu sagen, daß ab dem zweiten Prototyp von 1978 die tatsächliche Brennweite auf 288 mm reduziert war. Solcherlei Abweichungen von der tatsächlichen Brennweite vom Nennwert sind aber zulässig, solange sie kleiner als 6% bleiben. [Vgl. Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 15f.]

Prakticar 2,8/200 und 4/300

Oben ist noch einmal die Entwicklungsgeschichte der beiden Prakticare 2,8/200 und 4/300 aufgezeigt. Eine erste Version wurde unter Umständen auf der Messe gezeigt, ging aber nie in Fertigung. Die anschließend tatsächlich produzierte erste Serienversion verursachte Fertigungsschwierigkeiten und wurde daher nur kurze Zeit nach dieser Konfiguration gebaut. Für beide Objektive wurde deswegen eine zweite Serienversion geschaffen, von der aber nur die Variante für das Prakticar 4/300 in die Serienfertigung gelangte, während das Prakticar 2,8/200 ersatzlos wegfiel.

Jena Prakticar 4/300mm

Das Prakticar 4/300mm aus der Hand bei voller Öffnung an einem düsteren Januartag. Praktica BX20, 1/500 sec., Portra 400.

Zeiss Jena Prakticar 4/300 mm

Oben: Bei voller Öffnung der Blende sind in den äußersten Bildecken minimale Abschattungen sichtbar. Die geringe Schärfentiefe gibt die Gewähr, daß auch auf große Distanzen noch eine schärfemäßige Trennung von Vorder- und Hintergrund übrig bleibt, woraus sich trotz der extrem raumraffenden Wirkung solcher Teleobjektive eine gewisse Bildplastik ergibt.


Unten: Vier Meter Naheinstellgrenze klingen zunächst bescheiden, doch angesichts der langen Brennweite wird das Motiv dennoch in einem großen Maßstab abgebildet. Beide Aufnahmen: Praktica B100, Tmax 100 entwickelt 20 Minuten lang in Calbe R09 bei einer Verdünnung von 1:100.

Zeiss Jena Prakticar 4/300 mm
Zeiss Prakticar 4/300
Prakticar 4/300 Marco Kröger

Das Prakticar 4/300 (hier: zweite Serienversion) ist selbst mehr als 40 Jahre nach seiner Konstruktion als echtes Hochleistungsobjektiv zu werten. Nicht nur die Qualität der Optik, sondern auch die hochwertige Metallfassung liegen weit vor dem, was man von durchschnittlichen 300-mm-Zoomobjektiven gewohnt ist. Dabei ist das Objektiv gerade noch leicht und kompakt genug, daß man es den ganzen Tag mit sich herumtragen kann. Man sollte sich nicht scheuen, die Blende weit zu öffnen, um zu kurzen Verschlußzeiten zu gelangen und damit ein Stativ entbehrlich zu machen. Nur sorgfältig scharfstellen muß man dann. Bei schnellen Szenen ist man gegenüber modernen Nachfolgern mit Ultraschall-Autofokus hoffnungslos im Hintertreffen. Genau darin liegt also der Fortschritt der letzten Jahrzehnte...

Vielen Dank für die Materialien, die Günther Benedix, Michael Dümmel, Reinhard Kuttner, Felix Heil und Volker Tautz zur Verfügung gestellt haben.







Marco Kröger


Letzte Änderung: 7. August 2024