Prakticar 4/300

Prakticar 4/300

Dieses Teleobjektiv gehört zu denjenigen Neuentwicklungen Zeiss Jenas für die Praktica-B-Reihe, die tatsächlich noch in eine Serienfertigung gelangten

Schließlich war es ja gerade die optische Anstalt in Jena, die über eine konkurrenzlos lange Tradition verfügte was den Bau ungewöhnlich langbrennweitiger und gleichzeitig lichtstarker Teleobjektive für die Kleinbildkamera anbetraf. Genauer gesagt: Die Zeiss Ikon AG. Denn das Sonnar 4/30 cm von 1938 bzw.1940 stammte aus dem Rechenbüro Ludwig Berteles in Dresden; auch wenn es anschließend in Jena gefertigt wurde. Jedenfalls war mit der Kombination ebendieser Brennweite und ebendieser Lichtstärke ein Markstein im Bereich langbrennweitiger Zusatzobjektive für das Format 24x36 mm gesetzt worden, der sich jahrzehntelang in den Angebotslisten verschiedener Hersteller finden ließ.

Zeiss Jena Prakticar 4/300mm

Allerdings handelte es sich bei diesem Sonnar 4/300 eben um einen typischen Vertreter des Sonnartyps. Das ist eine Objektivbauart, die sich zwar prinzipiell durch eine kürzere Schnittweite auszeichnete, als sie Triplets oder Achromate bieten konnten, die aber bei solch langen Brennweiten aufgrund der großen und dicken Linsen trotzdem recht klobig und vor allem schwer ausfallen mußte. Schon seit der Zwischenkriegszeit gab es daher eine ständige Konkurrenz zwischen diesen sehr hoch auskorrigierbaren Sonnartypen und den echten Teletypen, bei denen durch ein stark zerstreuend wirkendes Hinterglied eine beträchtliche Verkürzung der Schnittweite und damit ein kompakter Aufbau möglich wurde. Außerdem fielen diese Teletypen durch die dünneren Linsen deutlich leichter aus. Wenn da nur nicht die anhaltenden Schwierigkeiten gewesen wären, diese echten Teleobjektive gut auszukorrigieren.

VGergleich MC Sonnar und Prakticar 4/300

Dazu bedurfte es zunächst weiterer Fortschritte in der Berechnung solcher Teleobjektive sowie in der nötigen Glastechnologie. Zeiss Jena brauchte daher bis 1974, um das bisherige Sonnar 4/300 mm durch einen zwar gleichnamigen, aber durch seine Auslegung als echten Teletyp völlig anders konzipierten Nachfolger zu ersetzen. Dieses MC Sonnar 4/300 war brachte zwar kein Zugewinn in Hinblick auf die Bildleistung, aber durch die deutlich dünneren Linsen konnten die Masse dieses Objektivs um sage und schreibe ein halbes Kilogramm reduziert werden. Da aber auch dieses neue MC-Sonnar prinzipiell als Mittelformat-Objektiv ausgelegt war, konnte es gleichsam nicht wesentlich kompakter gebaut sein.

Prakticar 4/300 dritte Version

Die reine Auslegung eines solchen Teleobjektivs 4/300 allein für das Kleinbildformat 24x36 mm ermöglichte demgegenüber eine deutlich stärkere Verkürzung der bildseitigen Schnittweite. Da diese Möglichkeit auch konsequent verfolgt wurde, konnte das Prakticar 4/300 letztlich viel kompakter und auch noch einmal leichtgewichtiger ausgeführt werden, als alle seine Vorgänger. Statt 2100 Gramm des Zebra-Sonnars und 1600 Gramm für das MC-Sonnar brachte das neue Prakticar nur noch ein reichliches Kilogramm auf die Waage. Für den Anwender an der Kleinbildkamera ergab sich daraus ein wirklich greifbarer Vorteil – und zwar auch im wörtlichen Sinne. Schließlich war das neue Prakticar handlich genug, um sogar mit gutem Erfolg ohne Stativ verwendet werden zu können, wenn die Verschlußzeit nur kurz genug gewählt wurde.

Wirrwarr der Versionen

Eine gewisse Rätselhaftigkeit hatte dieses Prakticar 4/300 aber bislang dadurch an sich, daß in verschiedensten Veröffentlichungen sich zum Teil völlig widersprechende Daten zu lesen waren. Bei dem Exemplar, das parallel zum Erscheinen der Praktica B-Serie auf der Frühjahrsmesse 1979 gezeigt wurde, kann es sich nur um einen Prototypen gehandelt haben, denn die erste in Serie produzierte Version des Prakticar 4/300 hat laut "Thiele" ein Rechnungsdatum vom 15. November 1979 – also mehr als ein halbes Jahr nach dieser Frühjahrsmesse. Wie wir heute wissen (siehe den Nachtrag unten), war dieses "Messe-Prakticar 4/300" aber nur die Zwischenstufe eines schon seit etwa zwei Jahren andauernden Entwicklungsprozesses für ein solches Teleobjektiv. Die Existens mehrerer Prototypen und Serienversionen des Prakticars 4/300 hat ganz offenbar auch die Werbeabteilung des VEB Carl Zeiss JENA durcheinander gebracht. Denn frühe Veröffentlichungen suggerierten, das Prakticar 4/300 mm sei ein Fünflinser. Zumindest gibt dies Wolfgang Mesow in seinem "Kleinen Buch zur Praktica" in den Auflagen 1 bis 4 so an.  Egon Brauer bildete in seinem Buch "Foto-Optik" den Schnitt durch das 4/300 allerdings mit sieben Linsen ab. Diese Zahl findet man freilich wiederum in keiner zeitgenössischen tabellarischen Zusammenstellung so bestätigt.


Die Verwirrung ist also bislang groß gewesen. Fest stand jedenfalls nur, daß nach der ersten wirklich in Serie gefertigten Version des Prakticars 4/300 mit Abschlußdatum November 1979 dieses Teleobjektiv zum 13. August 1981 neu berechnet worden ist und von nun an ein sechslinsiger Typ war. Das war deshalb mit Gewißheit zu sagen, weil diese letzte Rechnung am 1. Juni 1982 in der DDR unter der Nummer 206.240 zum Patent angemeldet wurde. Urheber waren Günther Benedix und Volker Tautz. Deshalb kann ich hier auch endlich einmal den korrekten Linsenschnitt angeben. Auch bei Mesow findet sich dann ab der 5. Auflage des oben erwähnten Heftchens die Angabe von sechs Linsen. Äußerlich ist diese letzte Version an einem von M77 auf M72 reduzierten Durchmesser des Filtergewindes erkennbar.

DD206240 Prakticar 4/300

Die Datenangaben aus dieser Patentschrift lassen erkennen, daß man ein hochwertiges Objektiv in kompakter Bauweise geschaffen hatte, das zwar auf niedrigdispergierenden Fluor-, Bor- und Schwer-Kronen fußte, aber ohne beispielsweise die extremen Lathan-Flintgläser oder sogar kristallinen Flußspat auskam, die andere Hersteller bei vergleichbaren Objektiven einsetzten. Bemerkenswert ist jedoch das für die Linse Nummer 5 verwendete Lanthan-Schwerkron LaSK 3, das erst wenige Wochen zuvor auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1981 vorgestellt worden war [Vgl. untenstehenden Auszug aus der Messe-Sonderbeilage 1981 der Jenaer Rundschau]. Nicht identifizieren lässt sich jedoch das Glas in Linse Nummer 6, bei dem es sich angesichts des außergewöhnlich hohen ny-Wertes um ein extrem niedrig brechendes Kronglas handeln müßte.

DD206240 Prakticar 4/300 Aberrationskurven

Diese obigen Kurven zeigen in:


  • Figur 2: die Queraberration Δy' in Abhängigkeit von der Apertur A bei drei verschiedenen Bildwinkeln δ
  • Figur 3: die sphärochromatische Längsaberration Δs' in Abhängigkeit von der Apertur A
  • Figur 4: die Längsaberration der sagittalen und meridionalen Bildschale in Abhängigkeit vom Bildwinkel δ
  • Figur 5: die Verzeichnung in Abhängigkeit vom Bildwinkel δ

Nachtrag vom März 2019

Mittlerweile hat sich Herr Günther Benedix bei uns gemeldet, der damals maßgeblich an der Entwicklung der zweiten Serienversion dieses Teleobjektives beteiligt war, und dadurch in dankenswerter Weise bislang bestehende Verwirrungen beseitigen konnte. Demnach lassen sich die Arbeiten an einem kompakten 300er Teleobjektiv für das Kleinbildformat bis auf das Jahr 1977 zurückverfolgen, als zum 14. Juli 1977 eine erste Rechnung eines "Sonnars 4/300" fertiggestellt wurde. Es folgte sodann ein weiterer Prototyp vom 30. Oktober 1978, der unter Umständen derjenige war, der auf der Frühjahrsmesse 1979 gezeigt wurde, als die erste Vorstellung des neuen Praktica-B-Systems stattfand.


Vom eigentlichen Prakticar 4/300 – also im Sinne eines speziell für die neue Praktica B-Serie zugeschnittenen Teleobjektives –  gab es aber auch noch einmal drei verschiedene Versionen: Die erste mit der Sachnummer 550531:001.25 stammt vom 21. August 1979, bei der sich allerdings keinerlei Serienfertigung nachweisen läßt. Anders als bei Mesow zu lesen, war sie siebenlinsig aufgebaut.

Prakticar 4/300 erste Version

Die zweite Rechnung zum Prakticar 4/300 stammt vom 15. November 1979 (Sachnummer 550531:002.25). Von ihr wurden lt. Thiele zwischen Januar 1980 und Oktober 1983 1100 Stück gebaut. Man muß also von ihr defacto als erste Serienversion sprechen. Sie war ebenso siebenlinsig aufgebaut. Aufgrund der besagten Mitteilung durch Herrn Benedix kann man nun einen sehr interessanten Rückschluß ziehen. Wenn man sich unten den schematischen Aufbau dieser ersten Serienversion des Prakticars 4/300 anschaut, dann erkennt man sehr gut dessen enge Verwandschaft mit dem Prakticar 2,8/200. Dieses Teleobjektiv wurde noch sporadischer gefertigt als dieses erste 300er Prakticar.

Prakticar 4/300 zweite Version

Und weil vom Prakticar 4/300 eben noch eine zweite Serienversion existiert, von der das besagte DDR-Patent Nummer 206.240 erhalten ist, kann man auch nachvollziehen, wieso die vorige Version sowie das Prakticar 2,8/200 nur in solch geringen Stückzahlen gefertigt wurden. Aus diesem Patent kann man nämlich herauslesen, daß sich aufgrund der Brechkraftverteilung eine große Zentrierempfindlichkeit für die ersten beiden Linsen dieser Konstruktion ergeben hatten und die Überwindung dieser fertigungstechnischen Schwierigkeiten wird explizit als erfinderischer Fortschritt der Neukonstruktion angegeben.

Prakticar 4/300 dritte Version

Allerdings wurden schlußendlich von dieser zweiten Serienversion des Prakticar 4/300 mit Rechnungsdatum 13. August 1981 zwischen August 1985 und Oktober 1990 auch nur 4000 Stück gefertigt. (Bei weiteren im "Thiele" genannten 1800 Exemplaren mit Seriennummern zwischen 5506 und 7305 muß es sich um einen Übertragungsfehler handeln, denn die Fertigung einer solch hohen Zahl nach Oktober 1990 ist auszuschließen. Auch ordnet Thiele die beiden Produktionslose von 1985 und 1986, von denen es heißt "Beleg fehlt", noch der Rechnung von 1979 zu. Diese Objektive sind aber nachweislich bereits nach der Rechnung von 1981 gefertigt.)

Prakticar 4/300 spät

In der Edition der Fertigungsunterlagen von Zeiss Jena, die Herr Thiele herausgegeben hat, ist für das Prakticar 4/300 ein Auslaufen der Produktion mit einer Stückzahl von 400 im Seriennummernbereich 5106 und 5505 zum 11. Oktober 1990 angegeben. Das ist der letzte Wert, der sozusagen als gesichert angesehen werden kann. In der Zeile darunter sind aber weitere 1800 Stück angegeben, die den Seriennummernbereich 5506 bis 7305 überdecken und für die kein Datum angegeben ist. In der Spalte für die Anmerkungen steht zu diesem Fertigungslos dann "Beleg fehlt".


Bei allem Respekt, die dieses Zeiss-Fertigungsbuch verdient, so muß man Herrn Thiele dafür kritisieren, daß er nicht die Standards eingehalten hat, die bei derartigen Quelleneditionen obligatorisch sind. So hat er offenbar eigene Forschungen oder gar nur Mutmaßungen sowie Schlußfolgerungen aus Sammlerinformationen in die Originalquellen eingearbeitet und pauschal mit der Formulierung "Beleg fehlt" gekennzeichnet. Das macht es unmöglich, im Nachhinein festzustellen, ob wirklich nur eine Lücke in der archivalischen Überlieferung vorliegt, oder ob es sich um die Interpolationen des Herrn Thiele handelt. Das schmälert die ansonsten sehr wertvolle Fleißarbeit ein wenig.


Die Diskrepanz beim Beispiel des Prakticar 4/300 liegt nun darin, daß die Zeiss-Karteikarten mit der Seriennummer 5505 eine letzte Objektivfertigung ("LOF") ausweisen, es aber durchaus Prakticare mit Seriennummern über 7000 gibt, wie das hier gezeigte Exemplar unseres Lesers Georg Müller beweist. Der Hintergrund zu diesen mutmaßlich 1800 Stück und wann diese gefertigt worden sind, bleibt also unklar. Eine Montage von so großen Stückzahlen durch Docter-Optics weit nach der Wende ist aber weiterhin zwiefelhaft, zumal die Objektive deutlich mit "Made in German Democratic Republic" graviert sind.

Prakticar 4/300 spät

Aus den Daten, die mir Herr Benedix zur Verfügung gestellt hat, läßt sich ablesen, wie mithilfe dieser fünf Versionen sukzessive ein immer kompakteres Objektiv geschaffen werden konnte. Betrug die Gesamtlänge der Optik beim allerersten Prototyp von 1977 noch über 174 mm, so konnte diese bis 1981 auf unter 133 mm gesenkt werden. Das sagt einiges über die Bestrebungen der Konstrukteure aus, ein möglichst kompaktes Objektiv zu schaffen. 


Durch diese nicht nur sehr verkürzte sondern zugleich aus sehr verschlankte Bauform ist das Prakticar 4/300 auch mit einem herkömmlichen Schneckengang – also ohne eine mechanisch sehr aufwendige  Innenfokussierung – gut handhabbar. Der Ehrlichkeit halber muß man aber auch dazu sagen, daß ab dem zweiten Prototyp von 1978 die tatsächliche Brennweite auf 288mm reduziert wurde. Solcherlei Abweichungen von der tatsächlichen Brennweite vom Nennwert sind aber zulässig, solange sie kleiner als 6% bleiben. [Vgl. Merté, Willy: Das photographische Objektiv seit dem Jahre 1929; in: Michel, Kurt (Hrsg.): Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Ergänzungswerk, Band I, Wien, 1943, S. 15f.]

Jena Prakticar 4/300mm

Das Prakticar 4/300mm aus der Hand bei voller Öffnung an einem düsteren Januartag. Praktica BX20, 1/500 sec., Portra 400.

Mit einem Endverbraucherpreis von 1380,- Mark war das Prakticar 4/300 übrigens ein ziemlich teurer Spaß. Das war aber insofern unproblematisch, da nur etwa 5000 Erdenbürger in die Gefahr gerieten, ihr mühevoll Erspartes sinnlos an einem Exemplar dieses Teleobjektives zu verschleudern.

Nachtrag vom Februar 2024

Weiter oben ist das Patent zur zweiten Serienversion des Prakticar 4/300 wiedergegeben, die 1981 die in der Herstellung problematische erste Version ersetzt hatte. In dieser Patentschrift konnte das Glas in Linse Nummer 5 als das gerade erst herausgekommene Lanthan-Schwerkron LaSK 3 identifiziert werden. Seltsam waren jedoch weiterhin die Werte für die hinterste Linse Nummer 6, bei der ein Glas angegeben wurde, das bei einer beachtlichen Brechzahl von 1,66885 eine Abbe'sche Zahl von 72,33 habe, also gleichzeitig extrem niedrig dispergierend sein solle. Da konnte etwas nicht stimmen. Solch eine Glasart, die diese beiden Eigenschaften mit sich vereint, gibt es bis heute nicht. Eine Nachfrage beim Co-Konstrukteur des zweiten Prakticar 4/300, Herrn Günther Benedix, ergab, daß es sich tatsächlich um einen Fehler in der Patentschrift handelt. Wie unten aus dem originalen Fertigungs-Datenblatt des VEB Carl Zeiss JENA zum Prakticar 4/300 ersichtlich ist, wurde die wirkliche ny-Zahl des Barit-Schwerflints BaSF2 von 35,62 mit dem Wert der Brennweite dieser Linse von 72,33 mm vertauscht. Da hat sich das das "Büro für Schutzrechte" des VEB Carl Zeiss einen Lapsus geleistet, der es letzten Endes bis in die Patenterteilung geschafft hat. Schön, daß dies hier mehr als vier Jahrzehnte später richtiggestellt werden kann.

Prakticar 4/300

In diesem Datenblatt, das ja alle Angaben enthält, um dieses Objektiv durch eine qualifizierte Firma herstellen zu lassen, stecken natürlich noch viel mehr aufschlußreiche Informationen als allein die verwendeten Glasarten. Interessant für mich ist zum Beispiel, daß die Dicke einer Linse durchaus um einen Zehntelmillimeter abweichen darf, während für die Toleranz der Luftabstände zwischen den Linsen nur zwischen 30 und 50 Mikrometer erlaubt ist. Weiterhin ist ersichtlich, daß nur die Flächen 1; 2; 3; 5; 6 und 7 mit einem T3-Belag versehen also mehrschichtvergütet sind, während die Flächen 8 bis 11 (und vermutlich auch 4) nur mit dem herkömlichen einschichtigen Transparenzbelag versehen wurden. Das hat technische Hintergründe und alle Hersteller verfuhren so. Nur die Firma Leitz war damals ehrlich genug, in ihren Druckschriften immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Mehrschichtvergütung nur auf dafür geeigneten Flächen aufgetragen werde.

Marco Kröger


Letzte Änderung: 20. Februar 2024