Biometar

Die Biometare

Von der Suche nach dem ideal auskorrigierten Anastigmaten

Biometar Zeiss Jena

1. Zwischen Tessar und Biotar eine Lücke

Man könnte meinen, seit Anfang der 1930er Jahre wären alle Probleme im Objektivbau bereits zufrieden gelöst gewesen. Die Aufnahmetechnik und damit das Käuferverhalten hatten sich in wenigen Jahren drastisch geändert: Mittelformat- und Kleinbildkameras hatten nicht nur bei den Amateuren, sondern selbst bis in Gebiete der berufsmäßig betriebenen Photographie hinein die bisherigen Plattengeräte weitgehend verdrängt. Eine bislang nicht gekannte rasche Aufnahmefolge ein Verbindung mit kurzbrennweitigen und sehr lichtstarken Objektiven führte zu neuen Einsatzmöglichkeiten und zu einer neuen Bildsprache. Zugleich wurde aufgrund der notwendigen Nachvergrößerung der Negative nach einer besonders guten Korrektur der Abbildungsfehler verlangt. Das mit der Zeit gegangene Tessar mit Lichtstärken bis 1:2,8 sowie das neue Biotar mit Lichtstärken zwischen 1:2,0 und 1:1,4 schienen doch genau auf diese Anforderungen zugeschnitten zu sein.

Versuch 1941 Nr. 6 - Biotar

Dabei erlaubten die vom Doppelgauß abgeleiteten Biotare ja deshalb so große Öffnungsverhältnisse, weil sich bei ihnen die sphärischen Zonen in bisher nicht gekannter Weise zurückdrängen ließen. Willy Merté war es außerdem gelungen, für diesen Objektivtyp zugleich eine gute Verflachung der Bildschalen zu erreichen. Oben ist aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges eine späte Biotar-Schöpfung von ihm zu sehen, bei der kein hohes Öffnungsverhältnis im Vordergrund stand, sondern eine ganz erstaunlich weitgetriebene Bildfehlerkorrektur. Bei einer Lichtstärke von 1:2,8 wurden schlanke Bildfehlerkurven erreicht, wo der Tessartyp bereits die Grenze zur Überforderung überschritten hätte. Wie gleich noch anhand von Originalquellen gezeigt werden soll, war angesichts der stetig verbesserten Aufnahmematerialien der Tessartyp den immer weiter wachsenden Anforderungen schon in den späten 1930er Jahren nicht mehr in jeder Hinsicht gewachsen.

Versuch 1941 Nr.7 - Biometar

Der Biotartyp als die Spitzenkonstruktionen der damaligen Zeit vermochte zwar diese qualitativen Anforderungen zu erfüllen, doch sorgte er sowohl im Hinblick auf seine Berechnung als auch auf die Fertigung zweifellos für den größtmöglichen Aufwand in der damaligen Zeit. Wir müssen uns heute vor Augen führen, daß vor beinah einhundert Jahren der Einsatz zweier zusätzlicher Linsen sowie einer zusätzlichen Verkittung einen großen Mehraufwand und mithin eine bedeutende Verteuerung nach sich zog. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht unwesentlich, wenn gegenüber dem Tessartyp nur eine weitere Linse benötigt würde sowie keine zusätzliche Verkittung. Aus dieser Perspektive heraus müssen wir das oben gezeigte Datenblatt Nr. 1405 des "Zeiss Index of Photographic lenses" betrachten. Hierin ist mit dem Versuch V1941 Nr. 7 eine zweite Lösung für dieses Spezialobjektiv 2,8/35 cm gezeigt, bei dem das hintere Kittglied dies Biotars durch eine einzelne Zerstreuungslinse ersetzt ist. Der unmittelbare Vergleich beider Objektive zeigt, daß der fünflinsige Typ keine erkennbar schlechteren Werte für doe sphärische Korrektur, den Astigmatismus und die Verzeichnung zeigt. Wofür genau diese sehr langbrennweitigen Normalobjektive damals im Mai 1941 gerechnet wurden, das ist heute nicht mehr bekannt. Aber in der Rückschau erkennen wir hier schon den Startpunkt für eine zwischen dem Tessar und dem Biotar stehende Objektivbauform.

Harry Zöllner Zeiss Jena

Willy Merté selbst hat diese Entwicklung jedoch nicht mehr fortgeführt. Als führender Wissenschaftler des Zeisswerkes wurde er unmittelbar nach der Befreiung Jenas durch die US-Streitkräfte in die USA mitgenommen. Er verstarb bereits im Frühjahr 1948 noch bevor eines der gleich beschriebenen neuen Biometare auf dem Markt erschien. Auch Mertés Mitarbeiter Robert Tiedeken wurde im Herbst 1946 im Zuge der Demontage dem Zeisswerk entzogen. Daher oblag es nun dem gerade erst Anfang 30 jährigen neuen Leiter der Abteilung Photo des Zeisswerkes Harry Zöllner einerseits den bisher erreichten Stand zu rekapitulieren und andererseits die in fast zehn Jahren des Krieges und der Nachkriegszeit noch weiter gewachsenen Anforderungen durch neue, verbesserte Objektive zu befriedigen.

Biotar-Biometar Genese

Ob Zöllner dabei auf Entwicklungen seiner Vorgänger zurückgriff oder diese fünflinsige Gaußtypabwandlung mit seinen Kollegen eigenständig entwickelt hat, das ist im Nachhinein nicht mehr zu klären. Charakteristisch war Reduktion der bildseitigen Kittgruppe auf eine einzelne, sehr dünne und auffallend stark gekrümmte Zerstreuungslinse. Der neue Typ wurde in der Nomenklatur der Objektive Biotar, Biotessar und Biogon folgend als benannt. Und darauf, daß dieses neue Biometar einen gewissen fließenden Übergang zwischen der Zeit kurz vor und kurz nach dem Kriegsende bildete, ließe sich daraus schließen, daß der VEB Zeiss Jena in den 50er Jahren auch den Markennamen Biometar zu einem "Jena Bm" abkürzte, um gegenüber den Markenrechts-Auseinandersetzungen mit Zeiss Oberkochen auf Nummer sicher zu gehen. Bei reinen Nachkriegsschöpfungen wie dem zeitgenössischen Flektogon war diese Praxis der Namensverstümmelung ("Jena T", "Jena S", "Jena B" usw.) dagegen nicht notwendig.

2. Der historische Ursprung des Biometars

Die folgenden Ausführungen müssen eng mit denjenigen im Abschnitt 5 zur Geschichte des Tessares beschriebenen Vorgängen gesehen werden. Demnach wurde unmittelbar im Anschluß an das Ende der Werksdemontage im Photo-Rechenbüro mit der Konstruktionstätigkeit für verbesserte Normalobjektive begonnen. Über das gesamte Frühjahr und den Sommer 1947 hinweg wurde an einem neuen Tessar 2,8/5 cm mit deutlich verbesserter Abbildungsleistung gearbeitet, was Ende Oktober mit dem Versuchsobjektiv V18 zum Abschluß gebracht werden konnte.

Biometar November 1947

Eines der Schlüsseldokumente zur Entstehung dieses neuen Objektivtyps ist die oben gezeigte Niederschrift einer Besprechung vom 12. November 1947 [Sammlung Benedix, gekürzt]. Während für das in Punkt 4) erwähnte, bisherige Tessar 2,8/8 cm kein Bedarf zu bestehen schien, wird in Punkt 5) ein damals noch namenloser Fünflinser ins Spiel gebracht. In Punkt 7) wird ein Ersatz für das bisherige Biogon 2,8/3,5 cm angekündigt, "um die Anpassung an die Contax II und III, verkleinerte Ausführung Stuttgart, zu ermöglichen". Auch hier werden die Arbeiten auf einen Biometar-Typ hinauslaufen. Punkt 8) teilt uns mit, daß Zöllner für das neue Objektiv unbedingt einen neuen Namen einführen wollte.

Der Ursprung des späteren Biometar-Objektivs liegt in zwei Versuchsrechnungen V26 und V27 vom Jahresbeginn 1948. V27 vom 20. Februar 1948 bezieht sich dabei auf ein Objektiv 2,8/3,5 cm für das Bildformat 18 x 24 mm, dessen Konstruktionserfolg oben im Prüfbericht 2/48 vom 27. Juli 1948 ausgewertet wird [Sammlung Benedix]. Man erkennt gut, daß diese Neukonstruktion gegenüber dem Tessar 1:3,5 ein viel gleichmäßigeres Auflösungsvermögen zeigt, das bei Abblendung sogar über das gesamte Bildfeld hinweg konstant bleibt. In diesem Dokument schlägt Dr. Zöllner erstmals den neuen Namen "Biometar" vor.

Dokumar 2,8/35 mm

Dieses Objektiv nach Versuch V27 ging jedoch ab September 1950 nicht als Biometar, sondern letztlich als Dokumar 2,8/3,5 cm in Produktion. Es wurde ohne eine Irisblende als Projektionsobjektiv für Mikrofilme im Kontophot Tischlesegerät (späteres Zeiss-Dokumator-System) eingesetzt. Über 6300 Stück wurden bis 1963 gefertigt. Wie man am oben gezeigten Achsenschnittbild erkennen kann, zeigte dieses Objektiv zwar bereits den fünflinsigen Aufbau mit dem charakteristischen dünnen, zerstreuenden Meniskus im bildseitigen Objektivteil, doch als Besonderheit gab es hier einen Luftspalt zwischen den Flächen 4 und 5. Dieses V27 war also überhaupt nicht verkittet. Das war im Hinblick auf den vorgesehenen Verwendungszweck in der Projektion vorteilhaft, bei der ansonsten Verkittungsschäden infolge der starken Erwärmung der mit unterschiedlichen Ausdehnungskennziffern behafteten Glasarten zu befürchten sind.

Prübericht Biometar Januar 1949

Ein weiteres wichtiges Schlüsseldokument zu Entstehung des Biometars ist oben mit dem Prüfbericht Nr. 1/1949 Form wiedergegeben [Sammlung Benedix, gekürzt]. Es datiert auf den 25. Januar 1949 und ist entstanden nach den ersten erfolgreichen Musterprüfungen einer zweiten grundlegenden Versuchsrechnung für diesen neuen Objektivtyp. Diese hatte die Versuchsnummer V26 vom 26. Januar 1948 und sie war Teil der Bestrebungen, das bisherige Tessar 2,8/8 cm mit Rechnungsdatum vom Januar 1933 zu überwinden und damit die Bildleistung für ein lichtstarkes Mittelformat-Objektiv 6x6 cm endlich auf das notwendige Mindestmaß anzuheben. Es wurden hierzu drei Strategien verfolgt und uns interessiert an dieser Stelle nur die Strategie Nummer 2, die den Fünflinser betrifft. Parallel zum besagten Versuch V27 für das Objektiv 2,8/3,5 cm wurde über den Zwischenschritt eines Versuchsobjektivs V26 letztlich das Biometar 2,8/8 cm nach Versuch V50 gerechnet. Dieses wiederum war als V50C mit geringen Anpassungen gerade noch im Compur-Rapid der Baugröße 0 unterzubringen .

V26 Biometar 2,8/8 cm

Das Achsenschnittbild des diesem Schritt vorausgegangenen Versuchsobjektivs V26 zeigt uns, daß man sich hier schon weitgehend an den Aufbau des späteren Biometar-Typs angenähert hatte mit der charakteristischen Kittfläche im zweiten Glied. Der wesentliche Unterschied zu den kommenden Serienausführungen bestand jedoch darin, daß hier diese Kittfläche Richtung Blende erhaben ausgelegt war, während sie in den nachfolgenden Entwicklungen entweder der Blende ihre Hohlseite zukehren oder aber plan ausgeführt werden sollte.

Vergleich Tessar - Biometar 2,8/8 cm

Diese Abänderung der Kittfläche machte offenbar den zentralen Schritt  zum perfektionierten Versuchsobjektiv V50 aus. Der dessen Prüfbericht beigefügte Vergleich zwischen dem alten Tessar 2,8/8 cm von 1933, einem neukonstruierten Tessar-Versuchsobjektiv V51 und dem besagten Biometar 2,8/8 cm nach Versuch V50 (Compur), zeigt uns oben bereits den Grundtenor auf, der den neuen Biometar-Typ kennzeichnen wird: Die Bildleistung liegt einfach auf einem viel höheren Niveau als es mit den bisherigen Mitteln möglich war. In der Bildmitte wird ein Auflösungsvermögen erreicht, das den Anforderungen an die besten Kleinbildobjektive gerecht wird. Und selbst bis in die äußersten Ecken des Mittelformates 6x6 cm bleibt dieses Auflösungsvermögen ungewöhnlich hoch.

Die folgenden Abschnitte befinden sich derzeit in Bearbeitung!

3. Die Ausführungsformen der Biometare

3.1

 betrachten.

Diese fünflinsige vereinfachte Abwandlung des Biotars geriet nun gleich zu einer der fortschrittlichsten Objektivkonstruktionen jener Zeit. Kontrastleistung und Auflösungsvermögen konnten einem bisher nicht gekannten Optimum angenähert werden. Harry Zöllner bewegte sich dabei auf einem Pfad, den Paul Rudolph bereits seit den späten 20er Jahren mit seinen Kleinbild- bzw. Makro-Plasmaten beschritten hatte: Es stand nicht mehr das Erzielen möglichst hoher Lichtstärken im Vordergrund, sondern bei guter Lichtstärke eine Optimierung auf möglichst geringe Restfehler.

Biometar 2,8/80 Rolleiflex

Dabei lag das Augenmerk darauf, ein lichtstarkes Objektiv mit einem Bildwinkel um die 60 Grad zu schaffen, das das Bildfeld bis in die äußersten Randbereiche mit einer gleichmäßig hohen Leistung auszuzeichnen vermochte. Dieses Ziel läßt sich an den ersten beiden Ausführungen ablesen, in denen das Biometar konzipiert wurde: Zunächst war dies das oben im Bild zu sehende Biometar 2,8/80 mm [Bild: Kurt Ingham], dessen Berechnung im September 1948 fertiggestellt worden war, und das Zeiss Jena exklusiv für den treuen Stammkunden Franke & Heidecke in Braunschweig geschaffen hatte, damit diese Firma endlich ihre Rolleiflex 2,8 verwirklichen konnte. Schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte es dahingehende Anstrengungen gegeben, doch das damalige Tessar 2,8/80 konnte qualitativ nicht befriedigen. Mit dem neuen Biometar 2,8/80 hatte Zeiss Jena nun ein Normalobjektiv für das 6x6-Format im Angebot, das international eine Spitzenleistung darstellte. Trotzdem wurden zwischen 1950 und 1952 nur 2000 Exemplare nach Braunschweig geliefert, um in die Rolleiflex eingebaut zu werden. Diese beiden Firmen trennten mittlerweile Währungs- und Staatsgrenzen sowie zwei politische Systeme, die sich täglich feindlicher gesinnt waren.

Biometar 2,8 scheme
Biometar 2,8/35 mm Contax IIa

Auch mit einer zweiten Ausführungsform des frühen Biometars sollte die erweiterte Bildwinkelleistung dieses Typs voll ausgenutzt werden. Für die bei Zeiss Ikon Stuttgart weiterentwickelte Meßsucherkamera Contax IIa war das bisherige Biogon 2,8/35 mm als lichtstarkes Weitwinkelobjektiv nicht mehr nutzbar. Deshalb wurde bei Zeiss Jena im November 1948 für diese Kamera ein Biometar 2,8/35 mm [Bild: Bengt Björkbom] gerechnet. Als jedoch dessen Serienfertigung im Januar 1950 anlief, hatte sich die deutsch-deutschen Realität bereits drastisch geändert. Aus dem zuvor schon schwierigen innerdeutschen Interzonenhandel zwischen dem alten Stammsitz der Zeiss-Stiftung in Jena und dem ehemaligen Contessa-Zweigwerk der Zeiss Ikon AG in Stuttgart war mittlerweile eine rivalisierende Konkurrenz geworden. Die Betriebsleitung in Jena wurde damals von der Partei stark angegriffen, weshalb sie noch immer mit den westdeutschen Firmen zu kooperieren versuche. Sie solle doch endlich Objektive für den volkseigenen Kamerabau entwickeln. Kaum auf der Frühjahrsmesse 1950 vorgestellt [Vgl. Die Fotografie, 4/1950, S. 89.], verschwand das Biometar 2,8/35 mm daher sogleich wieder aus dem Produktionsportfolio Zeiss Jenas. Bis August 1950 waren immerhin etwa 1500 Stück Biometare 2,8/35 mm entstanden.

Biometar 35 mm, Topogon 25 mm

Neben dem Biometar 2,8/35 mm hatte Zeiss Jena mit dem Topogon 4/25 mm in den späten 40er Jahren noch ein weiteres Weitwinkelobjektiv entwickelt, das allein für die Contax-Meßsucherkamera geeignet war. Als diese Objektive 1950 herauskamen, war die Herstellung dieser Kamera in der Sowjetischen Besatzungszone freilich längst eingestellt und in die Ukraine verlagert worden. Eindeutig ist oben im Text des Prospektes daher von der Contax IIa die Rede, für die diese beiden Objektive gedacht seien. Eine Ausstattung der bundesrepublikanischen Kamera mit DDR-Objektiven war aber nach Gründung der beiden deutschen Staaten völlig illusorisch geworden und die alten Bande der Jenaer Werkleitung zum Unternehmen im klassenfeindlichen Ausland wurden von der SED endgültig unterbunden. Beide Hälften des Zeiss- und Zeiss-Ikon-Konglomerates waren nun zu erbitterten Konkurrenten geworden.

Schnittweiten Biometar 2,8/35 und Flektogon 2,8/35

Der Dresdner Kamerabau hatte unterdessen statt auf die Meßsucherkamera ganz und gar auf den Typus der Einäugigen Reflexkamera gesetzt. Das war im Hinblick auf die zukünftige Marktentwicklung zwar eine sehr weise Entscheidung, doch brachte diese Kamerabauform große Schwierigkeiten im Hinblick auf weitwinklige Objektive mit sich: Der Schwingspiegel verhinderte das Verkürzen der Brennweite unterhalb eines Mindestmaßes, da die gleichzeitige Reduktion der sogenannten Schnittweite seinen notwendigen Bewegungsablauf verunmöglichte. Basierend auf dem Biometar 2,8/35 mm wurde daher bei Zeiss Jena in den Jahren 1948/49 ein Flektogon 2,8/35 mm entwickelt, dem durch Vorsetzen eines zerstreuend wirkenden Mensikuses eine künstlich verlängerte Schnittweite gegeben werden konnte, ohne daß sich die Brennweite merklich verlängerte.

Das von Harry Zöllner und seinem Mitarbeiter Rudolf Solisch entwickelte Flektogon zählt zu den Pionieren einer Sondergruppe der photographischen Objektive, die nach einem französischen zeitgenössischen Erzeugnis allgemein als Retrofokus-Weitwinkel bezeichnet werden.

4. Schlüsselperson Solisch?

Obwohl er zweifellos zu den fortschrittlichsten Objektivkonstruktionen seiner Zeit zu zählen war, scheint die Weiterentwicklung und Anwendung des Biometartyps in der Folgezeit sichtlich zu stagnieren. Das lag natürlich einerseits daran, daß das Biometar als Fünflinser aufwendiger war als beispielsweise das vielinsige Tessar und daher in der Herstellung nie billig sein konnte. Dazu trug auch bei, daß beim Biometar die hintere Kittgruppe des Biotars durch eine sehr dünne meniskenförmige Zerstreuungslinse mit zwei ziemlich kleinen Krümmungshalbmessern ersetzt worden war. Solcherlei Linsenformen ließen sich nur unter Schwierigkeiten herstellen. Nicht nur, daß Schleif- und Poliervorgänge auf eine Einzelfertigung hinausliefen; auch die exakte Zentrierung solcher Menisken bereitete große Probleme. Darin ist auch der Grund zu sehen, weshalb viele konkurrierende Objektivbaufirmen damals meist nur Triplets und Tessare mit ihren einfachen Linsenformen in der Massenfertigung hatten. Ein System wie das Biometar mit der nötigen Präzision serienmäßig zu fertigen, das konnte nur ein Spitzenhersteller wie Zeiss Jena leisten. Darin liegt auch der Grund, weshalb das Biometar 2,8/80 mm sowie das Flektogon 2,8/35 mm in der frühen Nachkriegszeit zunächst nur in kleinen Auflagen produziert wurden.

Während das 35-mm-Biometar nach nur wenigen hundert Exemplaren wieder aus der Produktion genommen wurde, fand beim Biometar 2,8/80 mm nun aber sukzessive eine Serienfertigung statt. Vom Potential, das 6x6-Format auszuzeichnen, wurde allerdings kein Gebrauch mehr gemacht. Vielmehr wurde es zum Zusatzobjektiv für die Dresdner Kleinbild-Spiegelreflexkameras Praktica, Exakta und Praktina, wo es mit seiner gegenüber dem Normalobjektiv leicht verlängerten Brennweite und einer deswegen recht günstigen Bildperspektive gern von Kennern für Portraitzwecke und Sachaufnahmen verwendet wurde. Beim Amateur erlangte es aber wegen des hohen Preises von 248,- Mark und seiner geringen Telewirkung kaum Beachtung, weshalb die Stückzahlen in den einzelnen Produktionslosen moderat blieben. In geringen Mengen wurde das Biometar 2,8/80 auch als langbrennweitiges Objektiv für die Zeiss Ikon AK16 gefaßt.

In Bezug auf diese Stagnationsphase des neuartigen Biometars fallen zwei Besonderheiten auf: Einmal daß eine Patentierung durch Zeiss Jena unterblieb. Diese wurde erst 1956 nachgeholt, nachdem eine völlige Überarbeitung erfolgt war (siehe nächsten Abschnitt). Zweitens hatte die Braunschweiger Firma Franke & Heidecke seit Anfang der 50er Jahre eine Rolleiflex 2,8 im Angebot, die mit einem Schneider Xenotar 2,8/80 ausgestattet war, dessen Linsenschnitt auf eine Kopie des Zeiss Biometars schließen ließ. Was war da geschehen?

Biometar-Xenotar

An diesem Punkt kommt wohl die Schlüsselperson Rudolf Solisch ins Spiel. Harry Zöllner war zwar Leiter der Abteilung Photo die eigentlichen Rechenarbeiten wurden allerdings von seinem Mitarbeiter Solisch durchgeführt [Vgl. Dietzsch, Historie Flektogon, 2002, S. 4.]. So wie das Flektogon 2,8/35 mm als Spezialanwendung des Biometars durch Solisch gerechnet wurde, so ist davon auszugehen, daß dasselbe auch zuvor beim Biometar geschehen war. Nach allem was aus dem bislang vorliegenden Quellenmaterial geschlossen werden kann, scheint dieser Rudolf Solisch aber offenbar  irgendwann in der ersten Hälfte der 50er Jahre in die Bundesrepublik geflüchtet zu sein. Die Unsicherheit diesbezüglich ergibt sich daraus, daß mit Datum 8. März 1953 noch die Patentierung des Flektogons unter seinem Namen für Zeiss Jena erfolgt. Bereits zum 20. März 1952 jedoch ist ein bundesrepublikanisches Patent angemeldet, mit dem sich die Firma Joseph Schneider den Aufbau des Biometars für sich sicherte [DE1.015.620].

Schneider Xenotar 1952

Nun ist zwar ist Solisch in diesem Patent gar nicht als Erfinder benannt, nachdem er aber nachweislich zu Schneider bzw. ISCO gewechselt war, setzte er wie zuvor beim Flektogon auch bei seinem neuen Westrogon 4/24 mm das Biometar als Grundobjektiv eines Retrofokus ein. Damit bleibt der genaue Hintergrund zur Geschichte des Biometars zwar weiterhin schleierhaft, aber es scheint mehr als plausibel, daß dieses Objektiv als einer der vielen Wissenstransfers von der DDR in die Bundesrepublik einzuordnen ist, wie sie bis zum Mauerbau quasi zum Alltag gehörten. Mit Klaus Hintze und Walter Swarofsky lassen sich noch zwei weitere bedeutende Fälle benennen, die speziell den DDR-Photogerätebau betrafen.

5. Das Biometar von 1956/57

Biometar Praktisix

Es hat nun den Anschein, daß man in Jena einige Zeit brauchte, um wieder zu diesem patentrechtlich schwierigen, aber qualitativ vielversprechenden Biometar-Typus zurückzufinden. Zum Jahresende 1955 hatte man zunächst ein Biometar 2,8/40 mm fertiggestellt, das aber nur für eine spezielle Fernsehkamera gedacht war und zahlenmäßig keine Rolle spielt. Das eigentliche Schlüsseljahr ist dann aber das Darauffolgende. Zum 5. Juni 1956 wurde eine Rechnung abgeschlossen für ein völlig neues Biometar 2,8/80 mm als Normalobjektiv des Nennformates 6x6. Im Oktober 1956 stellte der VEB Kamerawerke Niedersedlitz auf der Photokina seine neue 6x6-Reflexkamera Praktisix vor. Für diese aus damaliger Sicht hochmoderne Kamera wurde ein hochwertiges Normalobjektiv benötigt. Zwar wurde die Praktisix zunächst mit dem Tessar 2,8/80 mm ausgeliefert, aber dieses vierlinsige Objektiv konnte trotz der Verwendung neuer Glasarten immer noch nicht voll befriedigen. Ab Frühjahr 1959 ersetze dann das neue Biometar 2,8/80 das Tessar 2,8/80, dessen Produktion bereits im Jahr zuvor eingestellt worden war.

DE1063825 Biometar

Als außergewöhnlich ist anzusehen, daß Prof. Zöllner, der wohl sehr um die Durchsetzung der Biometar-Konstruktion anstelle des Tessares 2,8/80 gekämpft hatte, in seinem Patent zum Biometar sogar einen direkten Vergleich zwischen beiden Objektiven zieht. Wortwörtlich steht dort:


"Außerdem sind die Abweichungen in der Meridionalkoma kleiner als bei dem in Abb. 2 zugrundeliegenden Objektiv von recht gutem Ruf, das bisher verwendet wurde."


Damit war das Tessar gemeint. Es wurde damals kolportiert, daß sich Zöllner regelrecht gegen die politischen Funktionäre seines Betriebes durchsetzen mußte, weil letztere unbedingt den Markennamen Tessar erhalten wollten. Nachdem was hier festgestellt werden konnte, lag aber das Problem wohl vielmehr in der patentrechtlichen Unsicherheit des Biometares.

Oben die Kurven der meridionalen Farbquerkoma aus dem Patent des Biometars, das Zöllner endlich am 15. Januar 1957 angemeldet hatte. Die Kurven a, b und c stehen für die Farben rot, gelb und blau. Die besagte Abbildung 2 zeigt das Tessar, Abbildung 3 das neue Biometar. Man muß kein Experte sein, um die deutlich besseren Korrekturmöglichkeiten des Biometar-Typs zu erkennen.

Und daß derartige Befürchtungen nicht unbegründet waren, verdeutlicht folgender Umstand: Das neue Biometar 1:2,8 wurde am 15. Januar 1957 sowohl in der DDR [Nr. DD17.933] als auch in der Bundesrepublik [Nr. DE1063825] zum Patent angemeldet. Während in der DDR die Erteilung des Patentes zum 3. Dezember 1959 erfolgte, zeigt das obige Dokument, daß in der Bundesrepublik lediglich eine auf den 20. August 1959 datierte Auslegeschrift erhalten ist. Eine Patentschrift läßt sich indes nicht auffinden. Daher ist davon auszugehen, daß der VEB Carl Zeiss JENA in der Bundesrepublik nie ein Patent für sein Biometar erreicht hat und man darf wohl davon ausgehen, daß diese Erteilung am Widerspruch der Firma Schneider Kreuznach gescheitert ist. Denn schaut man sich deren Patentschrift zum Biometar Typ an, dann sieht man, daß ihre Anmeldung bereits zum 18. März 1958 erteilt worden war. Das DDR-Patent und ein US-Patent [Nr. 2.968.221] gaben dem VEB Zeiss Jena aber offenbar dennoch genügend Rechtssicherheit, sodaß ab 1959 das Biometar 2,8/80 zum alleinigen Zeiss'schen Normalobjektiv für die Praktisix gemacht werden konnte.

Biometare 2,8/80mm

Mit Anlaufen der großen Serienproduktion des Praktisix-Biometares ab März 1959 gab es nun bei Zeiss Jena das Biometar 2,8/80 mm in zwei völlig verschiedenen optischen Konfigurationen. Für das Kleinbild wurde weiterhin die Rechnung vom September 1948 benutzt, die eigentlich einmal für die Rolleiflex geschaffen worden war (plus sporadisch eine zweite Rechnung vom 9. Oktober 1950, die aber zahlenmäßig kaum eine Rolle spielt). Noch verwirrender wurde es, als zur selben Zeit für die Praktina IIA Objektive mit der neuartigen Vollautomatischen Springblende herausgebracht wurden. Jetzt existierten auf einmal ZWEI Biometare 2,8/80 ASB, die aber wiederum optisch unterschiedlich aufgebaut waren. Oben links ist das bekannte Mittelformatobjektiv abgebildet, das in leicht veränderten Fassungsvarianten bis in die Wendezeit für die Pentacon Six angeboten werden wird. Rechts sieht man das auf der Frühjahrsmesse 1959 für die Praktina IIA vorgestellte Biometar 2,8/80 ASB, in dem weiterhin die Konstruktion von 1948 steckte.

Die Grundverschiedenheit der beiden Biometare 2,8/80 mm wird oben deutlich beim direkten Vergleich beider Frontlinsen, die bei der Version von 1956 nun deutlich größer im Durchmesser ist, um den großen Bildkreis des 6x6-Formates noch günstiger auszuleuchten. Aus dem Patent zu diesem neuen Biometar vom Januar 1957 geht übrigens hervor, daß es auf optischen Gläsern fußte, die für damalige Verhältnisse ausgesprochen hohe Brechzahlen aufzuweisen hatten. So wurde beispielsweise für die zweite Linse das neue Schwerstkron SSK 10 (n = 1,6934; v = 53,5) und für die hinterste Linse das besonders niedrigdispergierende Schwerkron SK 16 (n = 1,6204; v = 60,3) verwendet. Der erwähnte dünne, stark durchbogene Meniskus im hinteren Systemteil bestand demgegenüber aus noch stärker brechendem Schwerflint SF 10 mit einer auf die gelbe Heliumlinie d bezogenen Hauptbrechzahl von 1,7283 bei einer relativen Farbzerstreuung von 28,3. Mit diesen Glassorten war das Biometar 2,8/80 mm als Normalobjektiv für die Praktisix ziemlich aufwendig und kostenintensiv konstruiert worden. Auf diese Weise konnte es über 30 Jahre unverändert gebaut werden, ohne daß der VEB Zeiss JENA dabei vollkommen den Anschluß verloren hätte.

Biometar 2,8/80 Praktisix

Zwischen diesen beiden Biometaren 2,8/80 mm für die Praktisix (oben) bzw. Pentacon Six TL (unten) liegen beinah 30 Jahre. Mit Ausnahme der Mehrfachvergütung hatte sich in optischer Hinsicht nichts verändert und auch bei den recht vielfältig anmutenden Fassungen beziehen sich die Änderungen nur auf kosmetische Aspekte, die mechanische Konstruktion blieb unverändert.

Biometar MC 2,8/80

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Harry Zöllner mit seinem Patent von 1957 eigentlich im Sinne hatte, nicht nur das Mittelformat-Tessar, sondern auch das Tessar 2,8/50 mm für das Kleinbild abzulösen. Eine derartige Variante ist im Patent als zweite Ausführungsform mit einem Bildwinkel von 46 Grad enthalten. Es wurden am 15. Oktober 1956 auch zwei Exemplare eines derartigen Biometares 2,8/50 mm als Versuch V224 gefertigt (Rechnung vom 2. Juli 1956). Obwohl dieses "Kleinbild-Biometar" nach Zöllners eigenem Bekunden dem Tessar deutlich überlegen gewesen sei [Vgl. dazu Zöllner, Harry: 70 Jahre Tessar; in: Fotografie 2/1972, S. 32/33.] verschwand es aber rasch in der Schublade. Die bessere Bildqualität war mit den damaligen Filmmaterialien in der Praxis kaum auszunutzen. Dem hätten aber deutlich erhöhte Fertigungskosten und damit auch Verkaufspreise gegenübergestanden, die sich kaum mit der Rolle des Massenobjektivs hätten vereinbaren können. Für Anwender mit höheren Ansprüchen war ja schließlich gerade erst das Flexon 2/50 geschaffen worden.

Für die Exakta und mit M42-Gewinde wurde das Biometar 2,8/80 noch bis Mitte der 1960er Jahre gefertigt - zum Schluß sogar noch in kurz Zebra-Fassung (Fachwort: "Flachnutenrändel"). Leider war es nicht sehr gefragt, weil die Amateure lieber "ein richtig langes Tele" haben wollten und daher beispielsweise das ASB-Sonnar 3,5/135 vorzogen, das mit 229,- Mark sogar noch etwas billiger zu haben war. Schade drum, denn bei diesem Biometar handelt es sich um ein richtig hochwertiges Zusatzobjektiv auf das man sich immer verlassen kann und das sich sehr universell einsetzen läßt. So eignet es sich beispielsweise auch sehr gut für Nahaufnahmen, weil die gute Korrektur der Biometare auch bei größeren Abbildungsmaßstäben erhalten bleibt. Und wer sich einmal auf die mittellange Portraitbrennweite "eingeschossen" hat, der wird das Normalobjektiv zukünftig zuhause lassen. 

Oben in einer Überblendung der direkte Vergleich zwischen der metallisch blanken und der schwarzlackierten Fassung eines Biometars 2,8/80 für die Praktisix. Die Umstellung zwischen beiden Versionen läßt sich speziell bei diesem Objektiv auf den Jahresverlauf 1964 verorten, da beide Objektive aus aufeinanderfolgenden Fertigungslosen stammen.


Als ab dem Frühjahr 1959 mit einem großen Fertigungslos von gleich 7000 Stück das bisherige Tessar 2,8/80 abgelöst wurde, stand als dritte Alternative noch das Görlitzer Primotar 3,5/80 zur Verfügung. Damals erlebten die Produktionsziffern der Praktisix 1959/60 übrigens einen absoluten Tiefpunkt, was der Neukonsolidierung der gesamten Dresdner Kameraindustrie im Zuge der Gründung des VEB Kamera- und Kinowerke geschuldet war. Immerhin fiel die Schwesterkamera der Praktisix, die Praktina IIA, dieser Umgestaltung sogar ganz und gar zum Opfer. Erst ab Januar 1964 folgte daher das nächste Produktionslos des Biometars 2,8/80, als sich die Weiterproduktion der Praktisix stabilisiert hatte. Nachdem ab 1966 der Nachfolger Pentacon Six eingeführt worden war, stiegen die Produktionsziffern dieser Kamera und ihres mittlerweile einzigen Normalobjektives in beeindruckender Weise an. Von Harry Zöllners glücklicher Schöpfung des Jahres 1956 sollten bis zum Ende der DDR nach meiner Zählung nicht weniger als 208.800 Stück gefertigt werden!

Biometar 80 mm

Das Biometar 2,8/80 mm bei mittlerer Abblendung an einer Mamiya 645 1000s. Kodak Portra 400. Aufnahme: Nikolaus Burgard

6. Das Biometar 2,8/120 mm

Noch ein weiteres Biometar wurde auf der Frühjahrsmesse 1959 als Neuheit vorgestellt, das mit einer 50 Prozent längeren Brennweite aufwartete. Auch dieses Objektiv wurde von Prof. Zöllner im Sommer 1956 abgeschlossen. Aber erst  nachdem die Praktisix auf den Markt kam, wurde es ab 1958 serienmäßig gefertigt, sodaß es zum Zeitpunkt seiner Messevorstellung sogar schon lieferbar gewesen sein müßte. Neu war eine Variante desselben Objektives für die Praktina IIA, das wegen des identischen Blendenmechanismus dieser beiden Kameras quasi nur nach hinten "verlängert" werden mußte, um das geringere Auflagemaß der Praktina auszugleichen. An der Gegenüberstellung der beiden Versionen wird auch klar, daß es sich beim Biometar 120mm nicht um ein Teleobjektiv handelt, sondern um ein "normal gebautes" Objektiv mit ziemlich langer Schnittweite, was zumindest am Kleinbild zu einer etwas ausladenden Bauart führt.

Biometare 120mm ASB

Dieser Umstand ist aber verschmerzlich angesichts der Tatsache, daß sich die Biometare als vereinfachte Abkömmlinge des Biotar-Doppelgaußtyps sehr hoch auskorrigieren ließen. Als Resultat hat man ein Universalobjektiv, dessen Bildleistung sich weitgehend unabhängig von der eingestellten Blendenöffnung und vom Abbildungsmaßstab zeigt. Das sieht man auch daran, daß diese Biometare noch 60 Jahre nach ihrer Errechnung geschätzte Mittelformatobjektive sind. Modernere Normalobjektive anderer Hersteller mit ihren sechs, sieben oder gar acht Linsen mögen in MTF-Diagrammen einen satten Vorsprung aufzubieten haben – in der photographischen Praxis relativieren sich diese Unterschiede aber zumeist, zumal der Preis letzterer um ein mehrfaches höher lag. Das Biometar 2,8/80 für die Praktisix kostete nach 1960 245,- Mark, das 120er 365,- Mark.

Diese neuen Biometare 80 und 120 mm aus dem Jahre 1956 können dabei wohl als typische Oprema-Objektive bezeichnet werden, weil davon auszugehen ist, daß bei ihnen die Korrektionsmöglichkeiten, die ihnen grundsätzlich innelagen, zum ersten Male vollkommen ausgeschöpft werden konnten. Dazu bedurfte es eines schnellen, automatisch arbeitenden Binärrechners anstelle der Hand- bzw. Kopfarbeit an einer elektrisch angetriebenen, mechanischen Rechenmaschine. Robert Tiedeken gibt an, daß mit der alten Methode für eine einzige Durchrechnung des vierlinsigen Tessars 36 Stunden für eine Farbe – also mehr als hundert Stunden für das gesamte Spektrum – anzusetzen gewesen waren [Vgl. Tiedeken, Robert: Einiges aus der Arbeit des Optik Konstrukteurs, Bild und Ton Heft  7/1957, S.  176...179.]. Dieser unglaubliche Arbeitsaufwand läßt erahnen, wie sehr man sich bei der Optimierung eines Systemes beschränken mußte. Die Digitalrechner "OPREMA" und später der ZRA1 führten solche komplexen Rechenoperationen binnen Millisekunden durch. Es kam nur auf die entsprechende Programmierung an. Nun war es möglich, auch die sogenannten windschiefen Strahlen durchzurechnen, die das optische System durchtreten, ohne ein einziges mal die Achse zu schneiden. Diese Strahlen müssen aber untersucht werden, um vor allem die problematische Sagittal-Koma in den Griff zu bekommen. Der VEB Carl Zeiss Jena startete mit diesen verbesserten Forschungsmethoden in ein neues Zeitalter. Die Früchte dieser Grundlagenarbeit konnten allerdings erst nach 1960 in vollem Umfang geerntet werden. Mehr zu diesem Thema also im folgenden Zeitabschnitt.

Ganz weit vorn im internationalen Reigen der Objektivhersteller war der VEB Carl Zeiss JENA, als  er ab 1959/60 eine komplette Objektivserie mit vollautomatischer Springblende anzubieten hatte. Darunter auch dieses Biometar 2,8/120 mm ASB für die Exakta Varex, die Praktina IIA und die Praktisix. Über die optischen Qualitäten dieser Objektive ist hier schon viel  gesagt worden. Nicht zu vernachlässigen sind aber auch die enormen Fortschritte im Bau von Objektivfassungen, die für diese ASB-Objektive notwendig waren. Speziell in Bezug auf die Praktina und die Praktisix mußte das Objektiv mit einer Schnittstelle versehen werden, die direkt an die eine Hälfte der Blendenmechanik kuppelte, die innerhalb des Kameragehäuses untergebracht war. Die von hier kommenden Steuerbewegungen mußten so reibungs- und trägheitsfrei wie möglich an den Blendenmechanismus des Objektives weitergegeben werden. Der Schließring der Blendenlamellen (im Bild unten links) war zu diesem Zweck in Kugeln gelagert. Deutlich weniger anspruchsvoll im Hinblick auf die Kupplung mit der Kamera mußten demgegenüber  die Springblendenobjektive der Exakta ausgelegt werden, weil hier die gesamte Springmechanik im Objektiv untergebracht wurde und das abgeblendete Objektiv nun lediglich noch die Kamera auslöste. International durchgesetzt hat sich aber die Springblendenfunktion nach dem Beispiel der Praktina/Praktisix.


Erwähnt werden sollte auch noch die spezielle Sichelform der Blendensektoren und die zugehörige Steuerkurve, die in Kombination miteinander die Blendenverstellung linearisierten, d. h. die Abstände zwischen den einzelnen Blendenwerten auf dem Blendenring waren bei diesen Springblendenobjektiven nun erstmals konstant. Das war neben dem vollautomatischen Schließen der Blende ein zweiter wichtiger Fortschritt, der die Bedienung der Spiegelreflexkamera in bislang nicht gekannter Weise vereinfachte. Auch dieses Merkmal der linearisierten Blende wurde anschließend von vielen Herstellern übernommen.

Jena Biometar 120mm Einzelteile
Jena Biometar 2,8/120mm

Der sinnvollste Einsatzzweck des Jenaer Biometars 2,8/120 mm liegt natürlich im Mittelformat 6x6 cm, für das es hauptsächlich geschaffen wurde. Hier beträgt die auf das Kleinbild umgerechnete Brennweite knapp 70 mm. Damit ist es das kompakte Portraiobjektiv für die Praktisix (viel kleiner und leichter als das begehrte Olympiasonnar!). Wem Normalobjektive zu langweilig sind, der sollte mit dem Gedanken spielen, sich dieses 120er Biometar zuzulegen. Es rafft den Raum schon ein wenig, blendet Nebensächliches aus und ermöglicht, weit geöffnet eingesetzt, das gezielte Setzen von Punktschärfe (bei Portraits zum Beispiel). So verwundert es nicht, daß von den zwischen Februar 1958 und April 1990 hergestellten ca. 48.500 Biometaren 2,8/120 mm die meisten (über 90%) für die Praktisix/Pentacon Six gebaut wurden.

Marco Kröger 2016


letzte Änderung: 6. Februar 2025