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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Die Biometare
Eine Objektivkonstruktion im Schatten deutsch-deutscher Rivalität
1. Planar und Biotar als Ausgangspunkt
In den etwa zehn Jahren bevor wir Deutschen den Zweiten Weltkrieg anzettelten war ein deutlicher Wandel der Aufnahmetechnik in Gang gekommen: Mittelformat und Kleinbild zogen nicht nur eine große Schar an Amateuren an, selbst Berufsphotographen wechselten in vielen Aufnahmegebieten zunehmend von den Großformaten hin zu den neuartigen kompakten Kameras, die eine bislang nicht gekannte rasche Aufnahmefolge ermöglichten. Die kleineren Bildformate arbeiteten zudem mit kurzbrennweitigen und sehr lichtstarken Objektiven, die aber aufgrund der hohen Nachvergrößerung der Negative aber gleichsam nach einer besonders guten Korrektur der Abbildungsfehler verlangten. Doch derart hohe Lichtstärken gepaart mit feinem Auflösungsvermögen stellten völlig neue Herausforderungen für den Objektivbau dar.
Paul Rudolph, Otto Schott und Ernst Abbe (v. l. n. r) in den 1890er Jahren. Diese drei Herren sind zweifellos als die Wegbereiter des modernen photographischen Hochleistungsobjektives ("Anastigmates") zu betrachten.
Und was dieses Marktsegment betraf, war die Firma Carl Zeiss Jena in der ersten Hälfte der 1920er Jahre in einen ernstzunehmenden wettbewerblichen Rückstand geraten. Nachdem 1905 erst Ernst Abbe und zweieinhalb Jahre darauf auch Siegfried Czapski verstorben waren, kam es unter der neuen Zeiss-Geschäftsführung des Trios Max Fischer, Rudolf Straubel und Walther Bauersfeld gegen Jahresende 1910 zum Bruch mit dem ersten Leiter der Photoabteilung und dem Erfinder der Tessare und Planare Dr. Paul Rudolph. Und so begabt und fleißig sein Nachfolger Ernst Wandersleb auch gewesen ist, er konnte die Genialität Rudolphs einfach nicht ersetzen. Um so unverständlicher ist es, daß die Geschäftsführer die unverhoffte Gelegenheit verstreichen ließen, erneut mit Paul Rudolph zusammenzuarbeiten, als dieser gegen Ende des Ersten Weltkrieges doch noch einmal zu Zeiss dienstverpflichtet worden war. Rudolph entwickelte hier damals den Typus seines späteren Plasmates. Da er aber seine Erfindung unter eigenem Namen patentiert hatte und dem Zeiss-Werk nun lediglich eine Lizenzfertigung anbot, waren die Zeiss-Geschäftsführer zu keiner weiteren Zusammenarbeit bereit.
Während sich Paul Rudolph daraufhin dem Zeiss-Konkurrenten Hugo Meyer in Görlitz zuwendete, verdiente man in Jena zunächst gutes Geld mit den Rudolph'schen Tessaren. Doch schon vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatten sich völlig neue Entwicklungspfade im Bereich der photographischen Objektive abzuzeichnen begonnen. Triebkraft dahinter war zunächst nicht die Photographie, sondern das Spezialgebiet der Kinematographie. Kleinstes Aufnahmeformat und das Verlangen nach höchsten Lichtstärken nahmen hier vorweg, was in den 30er Jahren dann auch die Stillbildphotographie beflügeln sollte. Ein im Jahre 1911 von dem Zeiss Mitarbeiter Moritz von Rohr aus dem Petzval-Typ abgeleitetes Biotar 1:1,8 war jedoch ebenso wenig erfolgreich, wie das als verkittetes Triplet aufgebaute Biotar III, mit dem Willy Merté im Jahre 1923 dem Rudolph'schen Kino-Plasmat etwas entgegensetzen wollte. Erst als sich Merté anschließend dem Rudolph'schen Planar-Typus zuwandte, konnte er mit dem als Doppel-Gauß ausgebildeten Biotar 1:1,4 im Jahre 1927 endlich ein konkurrenzfähiges Kinoaufnahmeobjektiv schaffen, dessen Grundaufbau bis heute angewandt wird.
2. Willy Merté als Urheber des Biometar-Typs?
Biotare nach dem oben beschriebenen Doppelgauß-Aufbau galten zwar aufgrund ihrer extrem zurückgedrängten sphärischen Zonen sowie der minimierten farbabhängigen Bildfehler als die Spitzenkonstruktionen der damaligen Zeit, doch stellten sie gleichsam sowohl im Hinblick auf ihre Berechnung, als auch auf ihre Fertigung zweifellos die aufwendigsten Objektive des Marktes dar. Man kann heute nur vermuten, daß bereits unter Willy Merté während des Krieges an einer Vereinfachung dieses Aufbaues gearbeitet wurde. Die Erkenntnis mag darin gelegen haben, daß für die chromatische und sphärochromatische Korrektur bei Typen mit geringeren Lichtstärken eine der beiden inneren Kittgruppen durch eine einzelne Zerstreuungslinse zu ersetzen wäre.
Die Vermutung, daß dieser vereinfachte Aufbau noch auf das Rechenbüro Willy Mertés zurückgeführt werden kann, wird gestützt durch das Objektiv 1405 auf Blatt 1329 des "Zeiss Index of Photographic lenses". Hierbei handelt es sich um die letzte Ausgabe der bei Zeiss angelegten Datenblattsammlung zu allen seinerzeit bekannten Objektiven, die Merté noch persönlich für das damals neu geschaffene Air Documents Research Center der britischen und US-amerikanischen Streitkräfte zusammengestellt hatte. Hierin sind unter den Versuchen V1941 Nr. 6 und Nr. 7 zwei Objektive der Daten 2,8/35 cm [sic!] enthalten, bei dem das erste (Nr. 1404) den typischen Biotar-Aufbau zeigt und das zweite (Nr. 1405) den oben zu sehenden, bei dem das hintere Kittglied durch eine einzelne Zerstreuungslinse ersetzt ist. der unmittelbare Vergleich beider Objektive zeigt, daß der fünflinsige Typ nur geringfügig schlechtere sphärische Korrektur zeigt, die Werte für Astigmatismus und Verzeichnung jedoch sogar etwas günstiger ausfielen. Wofür genau diese sehr langbrennweitigen Normalobjektive damals im Mai 1941 gerechnet wurden, das ist heute nicht mehr bekannt.
Bedeutung erlangte das neue Objektiv allerdings erst nach dem Kriege, als unter dem neuen Leiter der Abteilung Photo des Zeisswerkes Harry Zöllner diese fünflinsige Gaußtypabwandlung wieder aufgegriffen wurde. Charakteristisch war Reduktion der bildseitigen Kittgruppe auf eine einzelne, sehr dünne und auffallend stark gekrümmte Zerstreuungslinse. Der neue Typ wurde in der Nomenklatur der Objektive Biotar, Biotessar und Biogon folgend als Biometar benannt. Und darauf, daß dieses neue Biometar einen gewissen fließenden Übergang zwischen der Zeit kurz vor und kurz nach dem Kriegsende bildete, ließe sich daraus schließen, daß der VEB Zeiss Jena in den 50er Jahren auch den Markennamen Biometar zu einem "Jena Bm" abkürzte, um gegenüber den Markenrechts-Auseinandersetzungen mit Zeiss Oberkochen auf Nummer sicher zu gehen. Bei reinen Nachkriegsschöpfungen wie dem zeitgenössischen Flektogon war diese Praxis der Namensverstümmelung ("Jena T", "Jena S", "Jena B" usw.) dagegen nicht notwendig.
3. Die Biometare der Besatzungszeit
3.1
Diese fünflinsige vereinfachte Abwandlung des Biotars geriet nun gleich zu einer der fortschrittlichsten Objektivkonstruktionen jener Zeit. Kontrastleistung und Auflösungsvermögen konnten einem bisher nicht gekannten Optimum angenähert werden. Harry Zöllner bewegte sich dabei auf einem Pfad, den Paul Rudolph bereits seit den späten 20er Jahren mit seinen Kleinbild- bzw. Makro-Plasmaten beschritten hatte: Es stand nicht mehr das Erzielen möglichst hoher Lichtstärken im Vordergrund, sondern bei guter Lichtstärke eine Optimierung auf möglichst geringe Restfehler.
Dabei lag das Augenmerk darauf, ein lichtstarkes Objektiv mit einem Bildwinkel um die 60 Grad zu schaffen, das das Bildfeld bis in die äußersten Randbereiche mit einer gleichmäßig hohen Leistung auszuzeichnen vermochte. Dieses Ziel läßt sich an den ersten beiden Ausführungen ablesen, in denen das Biometar konzipiert wurde: Zunächst war dies das oben im Bild zu sehende Biometar 2,8/80 mm [Bild: Kurt Ingham✝], dessen Berechnung im September 1948 fertiggestellt worden war, und das Zeiss Jena exklusiv für den treuen Stammkunden Franke & Heidecke in Braunschweig geschaffen hatte, damit diese Firma endlich ihre Rolleiflex 2,8 verwirklichen konnte. Schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte es dahingehende Anstrengungen gegeben, doch das damalige Tessar 2,8/80 konnte qualitativ nicht befriedigen. Mit dem neuen Biometar 2,8/80 hatte Zeiss Jena nun ein Normalobjektiv für das 6x6-Format im Angebot, das international eine Spitzenleistung darstellte. Trotzdem wurden zwischen 1950 und 1952 nur 2000 Exemplare nach Braunschweig geliefert, um in die Rolleiflex eingebaut zu werden. Diese beiden Firmen trennten mittlerweile Währungs- und Staatsgrenzen sowie zwei politische Systeme, die sich täglich feindlicher gesinnt waren.
Auch mit einer zweiten Ausführungsform des frühen Biometars sollte die erweiterte Bildwinkelleistung dieses Typs voll ausgenutzt werden. Für die bei Zeiss Ikon Stuttgart weiterentwickelte Meßsucherkamera Contax IIa war das bisherige Biogon 2,8/35 mm als lichtstarkes Weitwinkelobjektiv nicht mehr nutzbar. Deshalb wurde bei Zeiss Jena im November 1948 für diese Kamera ein Biometar 2,8/35 mm [Bild: Bengt Björkbom] gerechnet. Als jedoch dessen Serienfertigung im Januar 1950 anlief, hatte sich die deutsch-deutschen Realität bereits drastisch geändert. Aus dem zuvor schon schwierigen innerdeutschen Interzonenhandel zwischen dem alten Stammsitz der Zeiss-Stiftung in Jena und dem ehemaligen Contessa-Zweigwerk der Zeiss Ikon AG in Stuttgart war mittlerweile eine rivalisierende Konkurrenz geworden. Die Betriebsleitung in Jena wurde damals von der Partei stark angegriffen, weshalb sie noch immer mit den westdeutschen Firmen zu kooperieren versuche. Sie solle doch endlich Objektive für den volkseigenen Kamerabau entwickeln. Kaum auf der Frühjahrsmesse 1950 vorgestellt [Vgl. Die Fotografie, 4/1950, S. 89.], verschwand das Biometar 2,8/35 mm daher sogleich wieder aus dem Produktionsportfolio Zeiss Jenas. Bis August 1950 waren immerhin etwa 1500 Stück Biometare 2,8/35 mm entstanden.
Neben dem Biometar 2,8/35 mm hatte Zeiss Jena mit dem Topogon 4/25 mm in den späten 40er Jahren noch ein weiteres Weitwinkelobjektiv entwickelt, das allein für die Contax-Meßsucherkamera geeignet war. Als diese Objektive 1950 herauskamen, war die Herstellung dieser Kamera in der Sowjetischen Besatzungszone freilich längst eingestellt und in die Ukraine verlagert worden. Eindeutig ist oben im Text des Prospektes daher von der Contax IIa die Rede, für die diese beiden Objektive gedacht seien. Eine Ausstattung der bundesrepublikanischen Kamera mit DDR-Objektiven war aber nach Gründung der beiden deutschen Staaten völlig illusorisch geworden und die alten Bande der Jenaer Werkleitung zum Unternehmen im klassenfeindlichen Ausland wurden von der SED endgültig unterbunden. Beide Hälften des Zeiss- und Zeiss-Ikon-Konglomerates waren nun zu erbitterten Konkurrenten geworden.
Der Dresdner Kamerabau hatte unterdessen statt auf die Meßsucherkamera ganz und gar auf den Typus der Einäugigen Reflexkamera gesetzt. Das war im Hinblick auf die zukünftige Marktentwicklung zwar eine sehr weise Entscheidung, doch brachte diese Kamerabauform große Schwierigkeiten im Hinblick auf weitwinklige Objektive mit sich: Der Schwingspiegel verhinderte das Verkürzen der Brennweite unterhalb eines Mindestmaßes, da die gleichzeitige Reduktion der sogenannten Schnittweite seinen notwendigen Bewegungsablauf verunmöglichte. Basierend auf dem Biometar 2,8/35 mm wurde daher bei Zeiss Jena in den Jahren 1948/49 ein Flektogon 2,8/35 mm entwickelt, dem durch Vorsetzen eines zerstreuend wirkenden Mensikuses eine künstlich verlängerte Schnittweite gegeben werden konnte, ohne daß sich die Brennweite merklich verlängerte.
Das von Harry Zöllner und seinem Mitarbeiter Rudolf Solisch entwickelte Flektogon zählt zu den Pionieren einer Sondergruppe der photographischen Objektive, die nach einem französischen zeitgenössischen Erzeugnis allgemein als Retrofokus-Weitwinkel bezeichnet werden.
4. Schlüsselperson Solisch?
Obwohl er zweifellos zu den fortschrittlichsten Objektivkonstruktionen seiner Zeit zu zählen war, scheint die Weiterentwicklung und Anwendung des Biometartyps in der Folgezeit sichtlich zu stagnieren. Das lag natürlich einerseits daran, daß das Biometar als Fünflinser aufwendiger war als beispielsweise das vielinsige Tessar und daher in der Herstellung nie billig sein konnte. Dazu trug auch bei, daß beim Biometar die hintere Kittgruppe des Biotars durch eine sehr dünne meniskenförmige Zerstreuungslinse mit zwei ziemlich kleinen Krümmungshalbmessern ersetzt worden war. Solcherlei Linsenformen ließen sich nur unter Schwierigkeiten herstellen. Nicht nur, daß Schleif- und Poliervorgänge auf eine Einzelfertigung hinausliefen; auch die exakte Zentrierung solcher Menisken bereitete große Probleme. Darin ist auch der Grund zu sehen, weshalb viele konkurrierende Objektivbaufirmen damals meist nur Triplets und Tessare mit ihren einfachen Linsenformen in der Massenfertigung hatten. Ein System wie das Biometar mit der nötigen Präzision serienmäßig zu fertigen, das konnte nur ein Spitzenhersteller wie Zeiss Jena leisten. Darin liegt auch der Grund, weshalb das Biometar 2,8/80 mm sowie das Flektogon 2,8/35 mm in der frühen Nachkriegszeit zunächst nur in kleinen Auflagen produziert wurden.
Während das 35-mm-Biometar nach nur wenigen hundert Exemplaren wieder aus der Produktion genommen wurde, fand beim Biometar 2,8/80 mm nun aber sukzessive eine Serienfertigung statt. Vom Potential, das 6x6-Format auszuzeichnen, wurde allerdings kein Gebrauch mehr gemacht. Vielmehr wurde es zum Zusatzobjektiv für die Dresdner Kleinbild-Spiegelreflexkameras Praktica, Exakta und Praktina, wo es mit seiner gegenüber dem Normalobjektiv leicht verlängerten Brennweite und einer deswegen recht günstigen Bildperspektive gern von Kennern für Portraitzwecke und Sachaufnahmen verwendet wurde. Beim Amateur erlangte es aber wegen des hohen Preises von 248,- Mark und seiner geringen Telewirkung kaum Beachtung, weshalb die Stückzahlen in den einzelnen Produktionslosen moderat blieben. In geringen Mengen wurde das Biometar 2,8/80 auch als langbrennweitiges Objektiv für die Zeiss Ikon AK16 gefaßt.
In Bezug auf diese Stagnationsphase des neuartigen Biometars fallen zwei Besonderheiten auf: Einmal daß eine Patentierung durch Zeiss Jena unterblieb. Diese wurde erst 1956 nachgeholt, nachdem eine völlige Überarbeitung erfolgt war (siehe nächsten Abschnitt). Zweitens hatte die Braunschweiger Firma Franke & Heidecke seit Anfang der 50er Jahre eine Rolleiflex 2,8 im Angebot, die mit einem Schneider Xenotar 2,8/80 ausgestattet war, dessen Linsenschnitt auf eine Kopie des Zeiss Biometars schließen ließ. Was war da geschehen?
An diesem Punkt kommt wohl die Schlüsselperson Rudolf Solisch ins Spiel. Harry Zöllner war zwar Leiter der Abteilung Photo – die eigentlichen Rechenarbeiten wurden allerdings von seinem Mitarbeiter Solisch durchgeführt [Vgl. Dietzsch, Historie Flektogon, 2002, S. 4.]. So wie das Flektogon 2,8/35 mm als Spezialanwendung des Biometars durch Solisch gerechnet wurde, so ist davon auszugehen, daß dasselbe auch zuvor beim Biometar geschehen war. Nach allem was aus dem bislang vorliegenden Quellenmaterial geschlossen werden kann, scheint dieser Rudolf Solisch aber offenbar irgendwann in der ersten Hälfte der 50er Jahre in die Bundesrepublik geflüchtet zu sein. Die Unsicherheit diesbezüglich ergibt sich daraus, daß mit Datum 8. März 1953 noch die Patentierung des Flektogons unter seinem Namen für Zeiss Jena erfolgt. Bereits zum 20. März 1952 jedoch ist ein bundesrepublikanisches Patent angemeldet, mit dem sich die Firma Joseph Schneider den Aufbau des Biometars für sich sicherte [DE1.015.620].
Nun ist zwar ist Solisch in diesem Patent gar nicht als Erfinder benannt, nachdem er aber nachweislich zu Schneider bzw. ISCO gewechselt war, setzte er wie zuvor beim Flektogon auch bei seinem neuen Westrogon 4/24 mm das Biometar als Grundobjektiv eines Retrofokus ein. Damit bleibt der genaue Hintergrund zur Geschichte des Biometars zwar weiterhin schleierhaft, aber es scheint mehr als plausibel, daß dieses Objektiv als einer der vielen Wissenstransfers von der DDR in die Bundesrepublik einzuordnen ist, wie sie bis zum Mauerbau quasi zum Alltag gehörten. Mit Klaus Hintze und Walter Swarofsky lassen sich noch zwei weitere bedeutende Fälle benennen, die speziell den DDR-Photogerätebau betrafen.
5. Das Biometar von 1956/57
Es hat nun den Anschein, daß man in Jena einige Zeit brauchte, um wieder zu diesem patentrechtlich schwierigen, aber qualitativ vielversprechenden Biometar-Typus zurückzufinden. Zum Jahresende 1955 hatte man zunächst ein Biometar 2,8/40 mm fertiggestellt, das aber nur für eine spezielle Fernsehkamera gedacht war und zahlenmäßig keine Rolle spielt. Das eigentliche Schlüsseljahr ist dann aber das Darauffolgende. Zum 5. Juni 1956 wurde eine Rechnung abgeschlossen für ein völlig neues Biometar 2,8/80 mm als Normalobjektiv des Nennformates 6x6. Im Oktober 1956 stellte der VEB Kamerawerke Niedersedlitz auf der Photokina seine neue 6x6-Reflexkamera Praktisix vor. Für diese aus damaliger Sicht hochmoderne Kamera wurde ein hochwertiges Normalobjektiv benötigt. Zwar wurde die Praktisix zunächst mit dem Tessar 2,8/80 mm ausgeliefert, aber dieses vierlinsige Objektiv konnte trotz der Verwendung neuer Glasarten immer noch nicht voll befriedigen. Ab Frühjahr 1959 ersetze dann das neue Biometar 2,8/80 das Tessar 2,8/80, dessen Produktion bereits im Jahr zuvor eingestellt worden war.
Als außergewöhnlich ist anzusehen, daß Prof. Zöllner, der wohl sehr um die Durchsetzung der Biometar-Konstruktion anstelle des Tessares 2,8/80 gekämpft hatte, in seinem Patent zum Biometar sogar einen direkten Vergleich zwischen beiden Objektiven zieht. Wortwörtlich steht dort:
"Außerdem sind die Abweichungen in der Meridionalkoma kleiner als bei dem in Abb. 2 zugrundeliegenden Objektiv von recht gutem Ruf, das bisher verwendet wurde."
Damit war das Tessar gemeint. Es wurde damals kolportiert, daß sich Zöllner regelrecht gegen die politischen Funktionäre seines Betriebes durchsetzen mußte, weil letztere unbedingt den Markennamen Tessar erhalten wollten. Nachdem was hier festgestellt werden konnte, lag aber das Problem wohl vielmehr in der patentrechtlichen Unsicherheit des Biometares.
Oben die Kurven der meridionalen Farbquerkoma aus dem Patent des Biometars, das Zöllner endlich am 15. Januar 1957 angemeldet hatte. Die Kurven a, b und c stehen für die Farben rot, gelb und blau. Die besagte Abbildung 2 zeigt das Tessar, Abbildung 3 das neue Biometar. Man muß kein Experte sein, um die deutlich besseren Korrekturmöglichkeiten des Biometar-Typs zu erkennen.
Und daß derartige Befürchtungen nicht unbegründet waren, verdeutlicht folgender Umstand: Das neue Biometar 1:2,8 wurde am 15. Januar 1957 sowohl in der DDR [Nr. DD17.933] als auch in der Bundesrepublik [Nr. DE1063825] zum Patent angemeldet. Während in der DDR die Erteilung des Patentes zum 3. Dezember 1959 erfolgte, zeigt das obige Dokument, daß in der Bundesrepublik lediglich eine auf den 20. August 1959 datierte Auslegeschrift erhalten ist. Eine Patentschrift läßt sich indes nicht auffinden. Daher ist davon auszugehen, daß der VEB Carl Zeiss JENA in der Bundesrepublik nie ein Patent für sein Biometar erreicht hat und man darf wohl davon ausgehen, daß diese Erteilung am Widerspruch der Firma Schneider Kreuznach gescheitert ist. Denn schaut man sich deren Patentschrift zum Biometar Typ an, dann sieht man, daß ihre Anmeldung bereits zum 18. März 1958 erteilt worden war. Das DDR-Patent und ein US-Patent [Nr. 2.968.221] gaben dem VEB Zeiss Jena aber offenbar dennoch genügend Rechtssicherheit, sodaß ab 1959 das Biometar 2,8/80 zum alleinigen Zeiss'schen Normalobjektiv für die Praktisix gemacht werden konnte.
Mit Anlaufen der großen Serienproduktion des Praktisix-Biometares ab März 1959 gab es nun bei Zeiss Jena das Biometar 2,8/80 mm in zwei völlig verschiedenen optischen Konfigurationen. Für das Kleinbild wurde weiterhin die Rechnung vom September 1948 benutzt, die eigentlich einmal für die Rolleiflex geschaffen worden war (plus sporadisch eine zweite Rechnung vom 9. Oktober 1950, die aber zahlenmäßig kaum eine Rolle spielt). Noch verwirrender wurde es, als zur selben Zeit für die Praktina IIA Objektive mit der neuartigen Vollautomatischen Springblende herausgebracht wurden. Jetzt existierten auf einmal ZWEI Biometare 2,8/80 ASB, die aber wiederum optisch unterschiedlich aufgebaut waren. Oben links ist das bekannte Mittelformatobjektiv abgebildet, das in leicht veränderten Fassungsvarianten bis in die Wendezeit für die Pentacon Six angeboten werden wird. Rechts sieht man das auf der Frühjahrsmesse 1959 für die Praktina IIA vorgestellte Biometar 2,8/80 ASB, in dem weiterhin die Konstruktion von 1948 steckte.
Die Grundverschiedenheit der beiden Biometare 2,8/80 mm wird oben deutlich beim direkten Vergleich beider Frontlinsen, die bei der Version von 1956 nun deutlich größer im Durchmesser ist, um den großen Bildkreis des 6x6-Formates noch günstiger auszuleuchten. Aus dem Patent zu diesem neuen Biometar vom Januar 1957 geht übrigens hervor, daß es auf optischen Gläsern fußte, die für damalige Verhältnisse ausgesprochen hohe Brechzahlen aufzuweisen hatten. So wurde beispielsweise für die zweite Linse das neue Schwerstkron SSK 10 (n = 1,6934; v = 53,5) und für die hinterste Linse das besonders niedrigdispergierende Schwerkron SK 16 (n = 1,6204; v = 60,3) verwendet. Der erwähnte dünne, stark durchbogene Meniskus im hinteren Systemteil bestand demgegenüber aus noch stärker brechendem Schwerflint SF 10 mit einer auf die gelbe Heliumlinie d bezogenen Hauptbrechzahl von 1,7283 bei einer relativen Farbzerstreuung von 28,3. Mit diesen Glassorten war das Biometar 2,8/80 mm als Normalobjektiv für die Praktisix ziemlich aufwendig und kostenintensiv konstruiert worden. Auf diese Weise konnte es über 30 Jahre unverändert gebaut werden, ohne daß der VEB Zeiss JENA dabei vollkommen den Anschluß verloren hätte.
Zwischen diesen beiden Biometaren 2,8/80 mm für die Praktisix (oben) bzw. Pentacon Six TL (unten) liegen beinah 30 Jahre. Mit Ausnahme der Mehrfachvergütung hatte sich in optischer Hinsicht nichts verändert und auch bei den recht vielfältig anmutenden Fassungen beziehen sich die Änderungen nur auf kosmetische Aspekte, die mechanische Konstruktion blieb unverändert.
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Harry Zöllner mit seinem Patent von 1957 eigentlich im Sinne hatte, nicht nur das Mittelformat-Tessar, sondern auch das Tessar 2,8/50 mm für das Kleinbild abzulösen. Eine derartige Variante ist im Patent als zweite Ausführungsform mit einem Bildwinkel von 46 Grad enthalten. Es wurden am 15. Oktober 1956 auch zwei Exemplare eines derartigen Biometares 2,8/50 mm als Versuch V224 gefertigt (Rechnung vom 2. Juli 1956). Obwohl dieses "Kleinbild-Biometar" nach Zöllners eigenem Bekunden dem Tessar deutlich überlegen gewesen sei [Vgl. dazu Zöllner, Harry: 70 Jahre Tessar; in: Fotografie 2/1972, S. 32/33.] verschwand es aber rasch in der Schublade. Die bessere Bildqualität war mit den damaligen Filmmaterialien in der Praxis kaum auszunutzen. Dem hätten aber deutlich erhöhte Fertigungskosten und damit auch Verkaufspreise gegenübergestanden, die sich kaum mit der Rolle des Massenobjektivs hätten vereinbaren können. Für Anwender mit höheren Ansprüchen war ja schließlich gerade erst das Flexon 2/50 geschaffen worden.
Für die Exakta und mit M42-Gewinde wurde das Biometar 2,8/80 noch bis Mitte der 1960er Jahre gefertigt - zum Schluß sogar noch in kurz Zebra-Fassung (Fachwort: "Flachnutenrändel"). Leider war es nicht sehr gefragt, weil die Amateure lieber "ein richtig langes Tele" haben wollten und daher beispielsweise das ASB-Sonnar 3,5/135 vorzogen, das mit 229,- Mark sogar noch etwas billiger zu haben war. Schade drum, denn bei diesem Biometar handelt es sich um ein richtig hochwertiges Zusatzobjektiv auf das man sich immer verlassen kann und das sich sehr universell einsetzen läßt. So eignet es sich beispielsweise auch sehr gut für Nahaufnahmen, weil die gute Korrektur der Biometare auch bei größeren Abbildungsmaßstäben erhalten bleibt. Und wer sich einmal auf die mittellange Portraitbrennweite "eingeschossen" hat, der wird das Normalobjektiv zukünftig zuhause lassen.
Oben in einer Überblendung der direkte Vergleich zwischen der metallisch blanken und der schwarzlackierten Fassung eines Biometars 2,8/80 für die Praktisix. Die Umstellung zwischen beiden Versionen läßt sich speziell bei diesem Objektiv auf den Jahresverlauf 1964 verorten, da beide Objektive aus aufeinanderfolgenden Fertigungslosen stammen.
Als ab dem Frühjahr 1959 mit einem großen Fertigungslos von gleich 7000 Stück das bisherige Tessar 2,8/80 abgelöst wurde, stand als dritte Alternative noch das Görlitzer Primotar 3,5/80 zur Verfügung. Damals erlebten die Produktionsziffern der Praktisix 1959/60 übrigens einen absoluten Tiefpunkt, was der Neukonsolidierung der gesamten Dresdner Kameraindustrie im Zuge der Gründung des VEB Kamera- und Kinowerke geschuldet war. Immerhin fiel die Schwesterkamera der Praktisix, die Praktina IIA, dieser Umgestaltung sogar ganz und gar zum Opfer. Erst ab Januar 1964 folgte daher das nächste Produktionslos des Biometars 2,8/80, als sich die Weiterproduktion der Praktisix stabilisiert hatte. Nachdem ab 1966 der Nachfolger Pentacon Six eingeführt worden war, stiegen die Produktionsziffern dieser Kamera und ihres mittlerweile einzigen Normalobjektives in beeindruckender Weise an. Von Harry Zöllners glücklicher Schöpfung des Jahres 1956 sollten bis zum Ende der DDR nach meiner Zählung nicht weniger als 208.800 Stück gefertigt werden!
Das Biometar 2,8/80 mm bei mittlerer Abblendung an einer Mamiya 645 1000s. Kodak Portra 400. Aufnahme: Nikolaus Burgard
6. Das Biometar 2,8/120 mm
Noch ein weiteres Biometar wurde auf der Frühjahrsmesse 1959 als Neuheit vorgestellt, das mit einer 50 Prozent längeren Brennweite aufwartete. Auch dieses Objektiv wurde von Prof. Zöllner im Sommer 1956 abgeschlossen. Aber erst nachdem die Praktisix auf den Markt kam, wurde es ab 1958 serienmäßig gefertigt, sodaß es zum Zeitpunkt seiner Messevorstellung sogar schon lieferbar gewesen sein müßte. Neu war eine Variante desselben Objektives für die Praktina IIA, das wegen des identischen Blendenmechanismus dieser beiden Kameras quasi nur nach hinten "verlängert" werden mußte, um das geringere Auflagemaß der Praktina auszugleichen. An der Gegenüberstellung der beiden Versionen wird auch klar, daß es sich beim Biometar 120mm nicht um ein Teleobjektiv handelt, sondern um ein "normal gebautes" Objektiv mit ziemlich langer Schnittweite, was zumindest am Kleinbild zu einer etwas ausladenden Bauart führt.
Dieser Umstand ist aber verschmerzlich angesichts der Tatsache, daß sich die Biometare als vereinfachte Abkömmlinge des Biotar-Doppelgaußtyps sehr hoch auskorrigieren ließen. Als Resultat hat man ein Universalobjektiv, dessen Bildleistung sich weitgehend unabhängig von der eingestellten Blendenöffnung und vom Abbildungsmaßstab zeigt. Das sieht man auch daran, daß diese Biometare noch 60 Jahre nach ihrer Errechnung geschätzte Mittelformatobjektive sind. Modernere Normalobjektive anderer Hersteller mit ihren sechs, sieben oder gar acht Linsen mögen in MTF-Diagrammen einen satten Vorsprung aufzubieten haben – in der photographischen Praxis relativieren sich diese Unterschiede aber zumeist, zumal der Preis letzterer um ein mehrfaches höher lag. Das Biometar 2,8/80 für die Praktisix kostete nach 1960 245,- Mark, das 120er 365,- Mark.
Diese neuen Biometare 80 und 120 mm aus dem Jahre 1956 können dabei wohl als typische Oprema-Objektive bezeichnet werden, weil davon auszugehen ist, daß bei ihnen die Korrektionsmöglichkeiten, die ihnen grundsätzlich innelagen, zum ersten Male vollkommen ausgeschöpft werden konnten. Dazu bedurfte es eines schnellen, automatisch arbeitenden Binärrechners anstelle der Hand- bzw. Kopfarbeit an einer elektrisch angetriebenen, mechanischen Rechenmaschine. Robert Tiedeken gibt an, daß mit der alten Methode für eine einzige Durchrechnung des vierlinsigen Tessars 36 Stunden für eine Farbe – also mehr als hundert Stunden für das gesamte Spektrum – anzusetzen gewesen waren [Vgl. Tiedeken, Robert: Einiges aus der Arbeit des Optik Konstrukteurs, Bild und Ton Heft 7/1957, S. 176...179.]. Dieser unglaubliche Arbeitsaufwand läßt erahnen, wie sehr man sich bei der Optimierung eines Systemes beschränken mußte. Die Digitalrechner "OPREMA" und später der ZRA1 führten solche komplexen Rechenoperationen binnen Millisekunden durch. Es kam nur auf die entsprechende Programmierung an. Nun war es möglich, auch die sogenannten windschiefen Strahlen durchzurechnen, die das optische System durchtreten, ohne ein einziges mal die Achse zu schneiden. Diese Strahlen müssen aber untersucht werden, um vor allem die problematische Sagittal-Koma in den Griff zu bekommen. Der VEB Carl Zeiss Jena startete mit diesen verbesserten Forschungsmethoden in ein neues Zeitalter. Die Früchte dieser Grundlagenarbeit konnten allerdings erst nach 1960 in vollem Umfang geerntet werden. Mehr zu diesem Thema also im folgenden Zeitabschnitt.
Ganz weit vorn im internationalen Reigen der Objektivhersteller war der VEB Carl Zeiss JENA, als er ab 1959/60 eine komplette Objektivserie mit vollautomatischer Springblende anzubieten hatte. Darunter auch dieses Biometar 2,8/120 mm ASB für die Exakta Varex, die Praktina IIA und die Praktisix. Über die optischen Qualitäten dieser Objektive ist hier schon viel gesagt worden. Nicht zu vernachlässigen sind aber auch die enormen Fortschritte im Bau von Objektivfassungen, die für diese ASB-Objektive notwendig waren. Speziell in Bezug auf die Praktina und die Praktisix mußte das Objektiv mit einer Schnittstelle versehen werden, die direkt an die eine Hälfte der Blendenmechanik kuppelte, die innerhalb des Kameragehäuses untergebracht war. Die von hier kommenden Steuerbewegungen mußten so reibungs- und trägheitsfrei wie möglich an den Blendenmechanismus des Objektives weitergegeben werden. Der Schließring der Blendenlamellen (im Bild unten links) war zu diesem Zweck in Kugeln gelagert. Deutlich weniger anspruchsvoll im Hinblick auf die Kupplung mit der Kamera mußten demgegenüber die Springblendenobjektive der Exakta ausgelegt werden, weil hier die gesamte Springmechanik im Objektiv untergebracht wurde und das abgeblendete Objektiv nun lediglich noch die Kamera auslöste. International durchgesetzt hat sich aber die Springblendenfunktion nach dem Beispiel der Praktina/Praktisix.
Erwähnt werden sollte auch noch die spezielle Sichelform der Blendensektoren und die zugehörige Steuerkurve, die in Kombination miteinander die Blendenverstellung linearisierten, d. h. die Abstände zwischen den einzelnen Blendenwerten auf dem Blendenring waren bei diesen Springblendenobjektiven nun erstmals konstant. Das war neben dem vollautomatischen Schließen der Blende ein zweiter wichtiger Fortschritt, der die Bedienung der Spiegelreflexkamera in bislang nicht gekannter Weise vereinfachte. Auch dieses Merkmal der linearisierten Blende wurde anschließend von vielen Herstellern übernommen.
Der sinnvollste Einsatzzweck des Jenaer Biometars 2,8/120 mm liegt natürlich im Mittelformat 6x6 cm, für das es hauptsächlich geschaffen wurde. Hier beträgt die auf das Kleinbild umgerechnete Brennweite knapp 70 mm. Damit ist es das kompakte Portraiobjektiv für die Praktisix (viel kleiner und leichter als das begehrte Olympiasonnar!). Wem Normalobjektive zu langweilig sind, der sollte mit dem Gedanken spielen, sich dieses 120er Biometar zuzulegen. Es rafft den Raum schon ein wenig, blendet Nebensächliches aus und ermöglicht, weit geöffnet eingesetzt, das gezielte Setzen von Punktschärfe (bei Portraits zum Beispiel). So verwundert es nicht, daß von den zwischen Februar 1958 und April 1990 hergestellten ca. 48.500 Biometaren 2,8/120 mm die meisten (über 90%) für die Praktisix/Pentacon Six gebaut wurden.
Marco Kröger 2016
letzte Änderung: 14. Juni 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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