Flektogon 4/50

Flektogon 4/50

Die neuartige Rechenanlage OPREMA kam auch der Objektiventwicklung im Mittelformat zugute. Mit ihrer Hilfe konnte ein mittleres Weitwinkel geschaffen werden, das sich über drei Jahrzehnte hinweg als echter Dauerbrenner erweisen sollte.

Zeiss Jena Flektogon 4/50 mm

Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist das Flektogon 4/50 als ein Vertreter der großen „Weitwinkelzeit“ bei Zeiss Jena um 1960 herum anzusehen, als man mithilfe der neuen Rechentechnik in kurzer Folge enorme technische Fortschritte erzielen konnte. Genau genommen handelt es sich um den Mittleren der "großen Drei". Begonnen hatte die Entwicklung im Jahre 1955 mit denjenigen Arbeiten, die zunächst direkt zum Flektogon 4/25 führten und letztlich im Flektogon 4/20 einen vorläufigen Abschluß fanden. Um den mit knapp über 60 Grad eher mäßigen Bildwinkel des in den späten 1940er Jahren entwickelten Flektogons 2,8/35 mm deutlich überschreiten zu können, mußte ein völlig anderes Konstruktionsprinzip beschritten werden. Vor derselben Aufgabe standen die Fachleute bei Zeiss Jena nun auch in Bezug auf das Mittelformat. Der Erfolg der 6x6-Spiegelreflexkamera Praktisix ließ ein Weitwinkelobjektiv wünschenswert erscheinen, das über den ziemlich bescheidenen Bildwinkel des bisherigen Flektogons 2,8/65 mm deutlich hinausginge. Dazu mußte nun auch für das Mittelformat eine gänzlich anders geartete Bauweise des Retrofokus-Weitwinkelobjektives in der Praxis verwirklicht werden.

Flektogon 4/50 scheme

Anders als beim für das Kleinbild vorgesehenen Flektogon 4/25 ging es in Bezug auf das Flektogon 4/50 nicht darum, den Bildwinkel auf über 80 Grad auszudehnen. Vielmehr blieb dieser mit etwa 75 Grad auf einen universellen mittleren Wert begrenzt. Immerhin mußte aber als Erschwernis ein ziemlich großflächiges Bildformat ausgezeichnet werden. Größere Linsendurchmesser und größere Glasmassen waren die Folge. Trotzdem geriet das fertige Objektiv mit 364,- Mark zwar nicht gerade billig, aber im Vergleich zu dem was (später) ähnliche Objektive anderer Hersteller gekostet haben, war es sogar für den Amateur bezahlbar. Wie das 25er Flektogon ist auch diese Konstruktion von Wolf Dannberg geschaffen worden in Zusammenarbeit mit Eberhard Dietzsch. Sie ist im DDR-Patent Nr. 23.869 vom 8. März 1960 geschützt. Eine in dieser Schutzschrift angegebene zweite Variation dieses Objektivs wurde nicht praktisch verwirklicht.

Flektogon 4/50mm

Ein neues Konstruktionsprinzip wird betreten

Dieses Flektogon 4/50 als einer der Pioniere unter den Retrofokus-Weitwinkeln stellt nun ein einigermaßen übersichtliches Beispiel dar, an dem sich aufzeigen läßt, wie ein solcher Objektivtyp überhaupt umsetzbar ist. Ich habe weiter oben bereits angedeutet, daß es grundsätzlich zwei verschiedene Lösungsansätze für den Aufbau eines Retrofokus gibt. Während die älteren Flektogone 35 und 65 mm dem ersten Typus angehören, so repräsentieren das 25er wie auch das 50er Flektogon einen zweiten, damals völlig neuartigen Typus. Das erfährt man leider nicht aus der erwähnten Patentschrift und auch die für den Amateur zur Verfügung stehende Fachliteratur geht selten ausführlicher auf die Konstruktionsprinzipien von Retrofokusweitwinkeln ein. Um so wertvoller ist in dieser Hinsicht der Aufsatz „Die Entwicklungsgeschichte der Retrofokusobjektive vom Typ Flektogon“ verfaßt vom Co-Konstrukteur des Flektogon 4/50 mm, Herrn Eberhard Dietzsch. Dieser Aufsatz liefert nämlich beredte Einblicke in die Lösungsoptionen, die den damals gänzliches Neuland betretenden Photooptikern offenlagen. Freilich sind diese Hintergründe allein von theoretischem Belang, aber ich gehe davon aus, daß Leser dieser Seiten ja genau an Derartigem Interessiert sind. Und damit wir uns nicht mißverstehen, möchte ich noch einmal ganz am Anfang beginnen:

Praktisix Flektogon 4/50

Alle Probleme bezüglich der für die Einäugige Spiegelreflexkamera geeigneten Weitwinkelobjektive drehen sich schließlich darum, daß bei diesem Kameratyp ein einziges Objektiv gleichermaßen für die Aufnahme wie für die Sucherbildbetrachtung dient. Diese Arbeitsweise stellt der namensgebende Klappspiegel sicher. Weitwinkelobjektive, die für diesen Kameratyp geeignet sein sollen, müssen daher nach der sogenannten Retrofokusbauweise konstruiert sein. Darunter versteht man Objektivtypen, bei denen durch besondere Maßnahmen trotz der kurzen Brennweite genügend Platz hinter der Rücklinse geschaffen wird, damit dieser Umlenkspiegel in der Kamera kurz vor der Aufnahme aus dem Strahlengang wegschwenken kann. Die dazu notwendige Verlängerung der sogenannten Schnittweite kann dabei prinzipiell auf zweierlei Arten geschehen:


Die eine Möglichkeit besteht darin, einem Grundobjektiv von gewünschter Brennweite eine Zerstreuungslinse mit dem notwendigen Durchmesser vorzusetzen. Normalerweise würde eine negative Brechkraft die Brennweite des Grundobjektivs nur sinnlos verlängern (Prinzip der Distarlinse). Wird die Zerstreuungslinse nun aber in der Nähe des vorderen Brennpunktes dieses Grundobjektives placiert, dann verlängert sich nur dessen Schnittweite, ohne daß die Größe der Brennweite angetastet wird. In der untenstehenden Skizze erkennt man die Wirkung der vorgesetzten Zerstreuungslinse daran, daß sich der hintere Hauptpunkt H', von dem ab die bildseitige Brennweite gemessen wird, längs der optischen Achse nach hinten verschiebt. Um genau diesen Betrag kann nun das gesamte Objektiv von der Bildebene weggerückt werden. Wie bereits angedeutet, wurde dieser Lösungsweg im VEB Carl Zeiss JENA nach einer Grundsatzentscheidung Harry Zöllners zuerst eingeschlagen und mit den Flektogonen 35 und 65 mm federführend durch Rudolf Solisch verwirklicht. [Vgl. Dietzsch, Eberhard: Die Entwicklungsgeschichte der Retrofokusobjektive vom Typ Flektogon; aus: Jenaer Jahrbuch zur Technik- und Industriegeschichte, Bd. 4, 2002, S. 111].

Retrofokus Typ 1

Der zweite Weg, die sich widerstrebenden Forderungen von Spiegelbewegung und kurzer Brennweite miteinander zu vereinbaren, besteht nun darin, einem Objektiv mit ausreichend langer Schnittweite einen afokalen Vorsatz mit verkleinernder Wirkung vorzusetzen. Ein solcher Vorsatz besteht aus einem umgekehrten Galilei‘schen Fernrohr, wie er bei einfacheren Kameras oftmals als sogenannter „Newton-Sucher“ Verwendung findet. Vor einigen Jahren wurden solche Weitwinkelvorsätze zudem gern bei Videokameras eingesetzt, um den Bildwinkel des fest eingebauten Objektivs zu vergrößern. Übrigens arbeiten auch Zoomobjektive nach diesem Verfahren, nur daß bei ihnen der afokale Vorsatz eine veränderliche Vergrößerung- bzw. Verkleinerung aufweist. Bei diesem Bauprinzip wird nun nicht die bildseitige Hauptebene (von der ab die Brennweite gemessen wird) nach hinten verlagert, sondern es wird ein Grundobjektiv mit ausreichend langer Brennweite und damit auch ausreichend langer Schnittweite verwendet, dessen sogenannte Äquivalentbrennweite (die für die Abbildungsgröße ausschlaggebend ist) durch den besagten afokalen Vorsatz künstlich verkürzt wird. Dadurch werden die Bildeinzelheiten kleiner abgebildet und der Bildwinkel wird größer, ohne daß das Objektiv näher an die Bildebene gerückt werden muß. Ich habe einmal versucht, die beschriebenen Zusammenhänge zeichnerisch vereinfacht darzustellen. Die Zahlenangaben sind nur beispielhaft gemeint.

Retrofokus Typ 2

Der oben bereits erwähnte Aufsatz Eberhard Dietzschs gibt nun Auskunft darüber, daß das Jena Flektogon 4/50 mm nach genau dieser zweiten Lösungsmöglichkeit konstruiert wurde. Aus der Erkenntnis heraus, daß Tripletkonstruktionen als Grundobjektiv für derartige Systeme besser geeignet sind als Gaußtypvarianten, ist das Grundobjektiv des Flektogon 4/50 als ein solches Triplet aufgebaut, mit der Besonderheit, daß das Element hinter der Blende eine dreiteilige Kittgruppe darstellt, bei der (analog zu den Bertele'schen Sonnaren) ein ursprünglich vorhandener Luftzwischenraum mit einem niedrigbrechenden Kronglas ausgefüllt worden ist. [Vgl. ebenda S. 113.] Diese dreifache Kittgruppe spart Glas-Luft-Übergänge ein und trägt laut DDR-Patent Nr. 23.869 auch wesentlich zur günstigen Brechkraftverteilung im Flektogon 4/50 mm bei.

Der afokale Vorsatz jedoch, der nun das Gesamtsystem durch seine verkleinernde Wirkung erst zum Weitwinkel werden läßt, konnte bei diesem Flektogon, das ja "nur" 75 Grad Bildwinkel auszuzeichnen brauchte, aus einer Einzellinse bestehen, die aus einer großen Sammel- und Zerstreuungslinse zusammengesetzt ist. Durch eine sammelnd wirkende Kittfläche zwischen diesen beiden Linsen wird insbesondere eine gute Behebung der Verzeichnung erreicht, was bei Weitwinkelobjektiven – und zumal bei solch einer stark asymmetrischen Bauweise – ansonsten sehr erschwert ist. Auch diese Korrekturmaßnahme ist durch das Patent 23.869 ausdrücklich geschützt. Die Kombination aus Grundobjektiv und verkleinernd wirkendem Vorsatz ergibt ein Weitwinkelobjektiv, dessen wirksame Äquivalentbrennweite nun um mehr als 23 Prozent kürzer sein kann, als die notwendige Schnittweite. Aufgrund der starken Verkittung ergeben sich dabei lediglich acht Glas-Luft-Grenzflächen, wodurch des Flektogon 4/50 auch bei einschichtiger Vergütung wenig zum Überstrahlen neigt. Für das große Bildfeld des Mittelformates und für das Jahr 1960 war das eine ausgezeichnete Leistung!

DD23869 Flektogon 4/50

Das Flektogon wurde zwar schon im März 1958 gerechnet, kam aber erst zwei Jahre später auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1960 gemeinsam mit dem Flektogon 4/25 auf den Markt. Es wurde in der Anfangszeit in vergleichsweise geringen Stückzahlen gefertigt. Erst nachdem es im Mai 1966 neu gerechnet wurde, setzte die große Massenproduktion ein, die bis in den Sommer 1990 fortgesetzt worden ist. Insgesamt haben wir es mit dem Flektogon 4/50 wohl mit einem der erfolgreichsten Wechselobjektive für Mittelformatkameras überhaupt zu tun. Insgesamt wurden fast 80.000 Stück gefertigt – eine Anzahl, die man sonst nur im Massenmarkt des Kleinbildes findet.

DD 23.869

Möglicherweise enthält die erste Variante des Flektogons 4/50 von 1958 thoriumhaltige Glassorten, die bei Dunkellagerung die bekannte Neigung zur Vergilbung aufweisen. (Diese Erscheinung kann allerdings auch von Glassorten herrühren, die deshalb eine starke Blaudämpfung aufweisen, weil während des Schmelzprozesses Titandioxid-Bestandteile mit unvermeidlichen Eisenspuren reagieren [sog. Ilmenit-Gelbfärbung]). Ob nun thoriumhaltiges Glas oder nicht, jedenfalls ist die neugerechnete Version nach 1966 (Seriennummer größer 7.281.500) frei von dieser Erscheinung. Während der 1960er Jahre hatten Wolfgang Heindorf und Werner Vogel vom Jenaer Glaswerk intensiv daran gearbeitet, Gläser mit hoher Brechzahl bei niedriger Dispersion zu schaffen, die auf das problematische, weil radioaktive Thorium verzichteten (vor allem mit dem DDR-Patent Nr. 44.022 vom 15. Juni 1964). Diese neuartigen Gläser zeichneten sich zudem durch eine große chemische Resistenz aus und wiesen nun auch im kurzwelligen Spektralbereich eine hohe Lichtdurchlässigkeit auf.

Flektogon 4/50 cut drawing

Ferner deutet das Patent des Flektogon 4/50 darauf hin, daß zumindest bei der ersten Version die Frontlinse aus dem damals brandaktuellen Schwerstkron SSK 10 bestand, das erstmals eine hohe Brechzahl von beinah 1,7 mit einer ziemlich geringen Farbzerstreuung verbinden konnte. Solche Gläser waren aber nur unter großen Schwierigkeiten zu erschmelzen. Und da die Frontlinse einen ausgesprochen großen Durchmesser aufweisen mußte, war unter Umständen genau dies der Flaschenhals, der dafür sorgte, daß die erste Version dieses Objektives nur in geringen Stückzahlen gebaut werden konnte.

Flektogon 4/50 Pentacon Six

Das Flektogon 4/50 mm blieb über drei Jahrzehnte hinweg DAS Weitwinkelobjektiv für die Praktisix und Pentacon Six. In der zweiten Hälfte dieser langen Produktionszeit wurde eine dreischichtige Mehrfachvergütung auf die Glasoberflächen aufgebracht ("MC").

Und noch eine Sache, die oft gefragt wird: Bei vielen Flektogonen 4/50 sieht man weiße Pünktchen, wenn man von vorn ins Objektiv schaut. Es sei versichert, daß es sich hierbei um keinen Verkittungsschaden handelt. Es hat sich lediglich der schwarze Lack gelöst, der auf die mattierte Schrägfläche der Kittgruppe aufgebracht ist. Eine Beeinträchtigung der Abbilddungsleistung ist dadurch nicht zu befürchten – es handelt sich allenfalls um einen Schönheitsfehler. Wer es sich zutraut, kann ihn übrigens  dadurch beseitigen, daß er die Frontgruppe ausbaut, den alten Lack entfernt (meist reicht schon ein Kratzen mit dem Fingernagel) und die betreffenden Stellen neu lackiert. Aber noch einmal: Technisch notwendig ist das nicht.

Oben die Bögen der Göltzschtalbrücke mit dem 50er Flektogon der ersten Version an der Praktisix. Unten ein Bildbeispiel auf Farbfilm. Für Farbaufnahmen sollte man versuchen, ein Exemplar mit der Rechnung vom 27. Mai 1966 zu bekommen, weil deren Gläser grundsätzlich frei von Gelbstichen sind. Die Version vom 25. März 1958 scheint mir selbst wenn nicht unbedingt Thorium-Gläser verwendet wurden ein notorischer Warmzeichner zu sein, was aber quasi nur bei Aufnahmen auf Farbumkehrfilm stört. Die spätere Version zu bekommen, sollte aber kaum ein Problem darstellen, denn vom ersten Typ existieren nicht einmal 4000 Stück, während die überarbeitete Version bis zum Sommer 1990 über 75.000 mal gebaut wurde.

Flektogon 4/50mm Praktisix
Flektogon 4/50

Künstlerportait. Bild von Falko Weidner, Pentacon Six TL, Ilford Delta 100, Rodinal 1+50.

Ich möchte abschließend Herrn Detlev Vreisleben dafür danken, daß er mir den oben genannten Aufsatz zur Entwicklung der Retrofokusobjektive bei Carl Zeiss Jena von Eberhard Dietzsch zur Verfügung gestellt hat.

Marco Kröger


Letzte Änderung: 25. Dezember 2023