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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Der VEB Feinoptisches Werk Görlitz in den 1980er Jahren
Nichts wirklich Neues mehr gab es aus dem traditionsreichen Görlitzer Hause während der 1980er Jahre, außer daß sich der Name des Betriebes noch einmal änderte. Ab Januar 1985 lautete er in etwa folgendermaßen „Volkseigener Betrieb VEB Feinoptisches Werk Görlitz, Betrieb im Kombinat Carl Zeiss JENA“. Dahinter verbarg sich nichts anderes, als daß mit der Auflösung des Kombinates Pentacon Dresden und der Eingliederung der Einzelbetriebe in das Zeiss-Kombinat endlich auch der über Jahrzehnte hinweg als Konkurrent angesehene Görlitzer Objektivfabrikant von Zeiss quasi durch die Hintertür „feindlich übernommen“ worden war. Das hatte Zeiss nicht einmal während kapitalistischer Zeit geschafft – da war man über Ernemann und Goerz nicht hinaus gekommen. Welch Ironie der Geschichte, daß gerade die sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft der DDR jene marktwirtschaftlichen Tendenzen der Monopol- und Trustbildung nun in großer Konsequenz zuendeführte. Schon in Bezug auf Objektive der 1960er Jahre konnte gezeigt werden, mit welchen Mitteln Zeiss Jena seine Position als Marktführer gegenüber Görlitz durchsetzte. Während der traditionell im Mikroskopbau sehr leistungsfähige VEB Rathenower Optische Werke (vormals Emil Busch; Julius Laack, u.a.) schon zu jener Zeit im Zeiss-Kombinat integriert wurde, war dies in Bezug auf den VEB Feinoptisches Werk Görlitz damals unterblieben. Der Volkswirtschaftsrat hatte mit seiner "Verfügung über die Einsetzung des Carl Zeiss JENAals Leitbetrieb im Industriezweig Wissenschaftlicher Gerätebau/Optik" zwar im November 1964 die Vorrausetzungen für die Eingliederung Görlitz' getroffen, doch nach Zweifeln waren zum 1. Januar 1965 nur der VEB Rathenowwer Optische Werke, VEB Freiberger Präzisionsmechanik und der VEB Werkzeugmaschinen Mögelin Zeiss unterstellt worden [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss Jena 1945-1990, S. 191f.].
Zwei Jahrzehnte später wurde dies nun nachgeholt und auch der VEB Feinoptisches Werk Görlitz vom Zeiss Kombinat einverleibt. Man muß jedoch der Ehrlichkeit halber dazu sagen, daß dies ein Entschluß der Parteiführung der SED gewesen ist und bei Zeiss selbst auf wenig Begeisterung gestoßen sein wird. Bei dieser Entscheidung spielte auch eine Rolle, den Anteil der Konsumgüterfertigung an der Gesamtproduktion des riesigen Kombinates etwas aufzubessern. Damit war Zeiss Jena nun Monopolist innerhalb der optischen Industrie der DDR und die Entscheidungen über die Teilbetriebe wurden zentral in der Kombinatsleitung in Jena getroffen – und zwar letztlich in persona des Generaldirektors Wolfgang Biermann. Neben wirtschaftlichen Zwängen spielten nun auch immer mehr die Machtstrukturen innerhalb der SED eine Rolle für den Werdegang des Photogerätebaus. Von solch einer mächtigen Position jedenfalls hätten die Betriebsführer Rudolf Straubel bzw. August Kotthaus während der Zwischenkriegszeit allenfalls zu träumen gewagt.
Gleichermaßen gehaßt und gefürchtet: Der Kombinatsdirektor Wolfgang Biermann. Arbeitswütig, Kontrollfanatiker, Autokrat. Man mag ihm zugute rechnen, daß er den VEB Carl Zeiss JENA während seiner Führung zu einem der wenigen DDR-Betriebe gemacht hat, die auch ohne Schönung schwarze Zahlen geschrieben haben. Aber zu welchem Preis? In Jena wurden Prestigeprojekte wie der Megabitspeicherchip U61000 durchgedrückt, damit Erich Honecker und Günter Mittag etwas hatten, mit dem sie sich brüsten konnten. Die exorbitanten Anstrengungen, die dafür nötig waren, wurden mit harter Hand und zum Teil persönlicher Diffamierung der untergeordeten Leitungsebene erzielt. Das Betriebsklima wird von Zeitzeugen als zerrüttet beschrieben. Und die ehedem stolzen Kamera- und Objektivbaufirmen in Dresden und Görlitz wurden nach 1985 zu bloßen Betriebsteilen und Befehlsempfängern der Jenaer Kombinatsleitung degradiert. Jegliche Eigeninitiative ermattete jetzt endgültig. Der Staat und seine Wirtschaft waren nun in einer vollständigen Erstarrung angelangt, an der letzten Endes beide zugrunde gehen sollten. Bild: Gerhard Kiesling, Deutsche Fotothek.
Das gesamte Kombinat umfaßte nun rund 53.000 Arbeitskräfte, davon 33.000 Beschäftigte im VEB Zeiss JENA selbst. Von den übrigen etwa 20.000 Angestellten und Arbeitern der Kombinatsbetriebe entfielen 1985 immerhin ca. 8750 auf den Sektor der Photogerätefertigung [Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel, Zeiss Jena 1945-1990, S. 300.]. Davon wiederum rund 6700 bei Pentacon, 1500 in Görlitz und 550 im VEB Kamerawerk Freital [Vgl. ebenda, S. 372.]. Es versteht sich angesichts dieser Zahlen beinah von selbst, daß dieser aufgeblähte Geschäftsbereich nach der Währungsunion vom Sommer 1990 nicht mehr gehalten werden konnte.
1. Görlitzer Objektive für das neue Praktica B-Bajonett
1.1 Prakticar 2,8/135
Aber zurück nach Görlitz. Die Objektivpalette dieses Herstellers war schon seit den 70er Jahren auf wenige Modelle eingedampft worden, die aber nun in um so größeren Stückzahlen ausgestoßen wurden. Der grundsätzliche Ansatz lag also darin, diese offensichtlich genau auf die Bedürfnisse des Photoamateurs zugeschnittenen Modelle auch auf den neuen Bajonettanschluß umzustellen. So zumindest geschah es mit dem sehr beliebten Pentacon 2,8/135 mm, das sich als Orestor 2,8/135 schon seit 1962 im Angebot befand und während der 70er Jahre erst auf automatische Druckblende und später auf Mehrschichtvergütung umgestellt worden war. Als "Prakticar 2,8/135" bekam es also lediglich eine neue Fassung für das B-Bajonett. Aus 236,- Mark für das Pentacon auto 2,8/135 wurden mit diesem Schritt 468,- Mark für das Prakticar.
Oben sieht man das Prakticar 2,8/135 in einer späten Version, bei der einige äußere Fassungsteile durch Plastik ersetzt wurden.
Unten: Trotzdem nebenher noch bis 1989 im Warenkatalog enthalten: Das Pentacon 2,8/135mm, das auf das Jahr 1962 zurückging, mit Vorwahlblende für nach wie vor 191,- Mark inkl. M42-Adapter. Einschichtig vergütet und der Aufschrift nach in der DDR gefertigt. Und zwar vollständig aus Metall und Glas.
1.2 Prakticar 4/200 mm
Ähnlich wie das Zeiss Prakticar 2,4/28, so zielte auch das Jenaer Prakticar 2,8/200 eher auf den Profi ab. Allerdings wurde damals offenbar bereits nach kurzer Zeit klar, daß die Praktica Modelle B200 und B100 nicht unbedingt gerade diesen Käuferkreis ansprachen. Daher sollte auch an die Stelle des nicht serienmäßig produzierten Zeiss Prakticar 2,8/200 ein Görlitzer Prakticar 4/200 treten, das das vom Preis und auch vom Gewicht her eher auf den Amateur hin zugeschnitten war. Dieses 200er Prakticar hätte auf dem 1979 noch parallel zur B-Serie erschienenen M42-Objektiv Pentacon auto 4/200 basieren sollen, das oben bereits erwähnt wurde. Es handelte sich wiederum um eine deutlich aufgewertete Variante des bereits seit 1963 produzierten Orestegor 4/200, das durch Roswitha Kaiser im Jahre 1976 komplett überarbeitet worden war. Leider kam bei diesem sehr hochwertigen Teleobjektiv in der Bajonettvariante keine größere Serienfertigung zustande, sodaß für die Praktica B kein 200er erhältlich war. Das Prakticar 4/200 hätte aber 647,- Mark kosten sollen, so viel kann man aus zeitgenössischen Preislisten zumindest noch berichten. Zu teuer für ein Amateurobjektiv. Zwischen dem nach wie vor gefertigten Pentacon 4/200 mit Vorwahlblende für 220 Mark und dem Pentacon auto 4/200 mit Druckblende für 415,- Mark hatte es ja auch bereits eine beträchtliche Preissteigerung gegeben, die eine für das Photo-Hobby vorgesehene Sparbüchse kaum noch verkraftete.
2. Ratio statt Innovation – ohne Schwung in die Wende
Und sonst nichts? Nicht wirklich. "Im Osten nichts neues" – das könnte man für das Feinoptische Werk Görlitz in den 80er Jahren sagen. Und anders als uns manche Autoren glauben machen wollen, war diese Stagnation bereits vor der "feindlichen Übernahme" durch Zeiss Jena eingetreten. Man fragt sich schlichtweg, was die Görlitzer Entwicklungsabteilung in den 80er Jahren überhaupt gemacht hat. Zumindest ganz offensichtlich nicht Konsumgüterprodukte entwickelt. Außer Arbeiten an einem Standardzoom, die endlich fertiggestellt wurden, als just der VEB Pentacon Dresden den Bach hinunter ging, kam nichts über einen Prototypstatus hinaus. Zwar sind Entwicklungsarbeiten an einem Spiegelobjektiv nachweisbar, aber hier ging es nicht um eine Anwendung in der Photographie, sondern in Kopiergeräten nach dem Xerographie-Verfahren. Ein solcher Kopierer "SECOP" wurde in den 80er Jahren im VEB Secura-Werke Berlin hergestellt und kostete in etwa so viel wie ein Wartburg. Mit viel Aufwand mußte man in der DDR Geräte eben "neu erfinden", die anderswo auf der Welt längst schon kostengünstig von der Stange gefertigt wurden.
Solche aufwendigen "Nebenkriegsschauplätze" – und dazu wäre unbedingt auch noch die zunehmende Rüstungsproduktion in den Betrieben des VEB Pentacon zu zählen – erklären auch, weshalb man in Görlitz offenbar immer weniger Fertigungskapazitäten für den Photoobjektivbau zur Verfügung hatte. Soweit ich das zu diesem Zeitpunkt sagen kann, wurden die Görlitzer Normal- und auch einige Wechselobjektive in großen Stückzahlen auch bei Întreprinderea Optică Română (IOR) in Bukarest gefertigt, wo seit Ende der 60er Jahre sukzessive entsprechende Fertigungsmöglichkeiten geschaffen worden waren. Der Objektivbau war und ist nach wie vor ein ziemlich arbeitsintensives Metier mit einigem Montage- und Prüfaufwand und in Görlitz hatte man dafür offenbar immer weniger Personalkapazität zur Verfügung – trotz umfangreichen Einsatzes polnischer Vertragsarbeiter von der anderen Seite der Neiße.
Aber auch der Kostendruck schien sich im RGW langsam als Phänomen zu etablieren. Ab der zweiten Hälfte der 80er wurden bei Pentacon-Objektiven Materialeinsparungen durchgesetzt, die ihren Ausdruck in den sogenannten rationalisierten Fassungen („Ratio“) finden. Hier wurde das Metall der äußeren Fassungsteile und des Blendenrings durch Kunststoff ersetzt. Auch der sehr griffige und gestaltungsmäßig gefällige genoppte Gummi am Meterring wurde eingespart. Hier wurde nur noch ein Griffraster ins Plaste gepreßt. Wirklich schlechter wurden die Objektive dadurch nicht, aber für den aufmerksamen Beobachter büßten sie doch einiges an Exklusivität ein. Der Preis blieb aber ausdrücklich derselbe. „Ratio“ wurde für den DDR-Bürger also zu so etwas wie „Gebrauchswerterhöhung“, nur ohne Preisanstieg.
Und tief in dieser "Innovationsdepression" wurde das traditionsreiche Görlitzer Werk von der Wende überrascht – denkbar schlechte Voraussetzungen für einen Neustart. Betriebe, die keine auch nur ansatzweise marktfähigen Produkte herstellten, hatten im Wendeprozeß kaum eine Chance zu überleben. Das läßt sich heute in der Rückschau so sagen sagen, da wir mehr als 30 Jahre später gut beurteilen können, welche Ostbetriebe und -produkte überhaupt übriggeblieben sind. Allein ein Betrieb voller gut ausgebildeter Facharbeiter genügte jedenfalls nicht; man mußte gleichzeitig auch ein konkurrenzfähiges Erzeugnis vorzuweisen haben (z.B. "Multicar"). Andererseits war auch ein innovatves Produkt allein noch kein Erfolgsgarant (vgl. Fall "FORON"). Insgesamt ist dieser Prozeß der Überführung der DDR-Industrie in die Marktwirtschaft ein hochkomplexes Feld, an dem sich noch Generationen an Wirtschaftshistorikern werden abarbeiten können.
Beim Durchsuchen von Unterlagen habe ich dieses Schreiben der gerade erst formierten "Feinoptisches Werk Görlitz GmbH" an die Firma Otto H. Kratzsch in Chemnitz wiedergefunden. Ich habe bei Kratzsch während meiner Studienzeit gearbeitet, bis das traditionsreiche "Drogengewölbe" nach genau 175 Jahren der Existenz – davon wiederum genau 140 Jahre im Besitz der Familie Kratzsch – im Jahre 2012 aufgelöst wurde. Das Anschreiben vom 3. August 1990, das noch auf altem Briefpapier gedruckt ist, vermittelt einen Eindruck darüber, wie der frisch in die Marktwirtschaft entlassene VEB um den Aufbau von Geschäftsbeziehungen mit dem Handel bemüht war. Dabei läßt uns die Preisliste unten noch einmal bewußt werden, mit wie wenigen und teils jahrzehntealten Produkten dieser Neustart begonnen werden mußte. Die ganze Absurdität der damaligen Lage kommt auch darin zum Ausdruck, daß der "Marketing-Ingenieur" Herr Beier im Prinzip bei Rainer Kratzsch anfragt, was der große Betrieb in Görlitz denn seiner Meinung nach in der nächsten Zeit am besten produzieren solle...
Obwohl es gerade einmal 30 Jahre her ist, konnten mir nicht einmal ehemalige Görlitzer Mitarbeiter genau sagen, was am Schluß im Feinoptischen Werk eigentlich überhaupt noch an Photoobjektiven hergestellt wurde. Zu ihrer Entlastung könnte man vorbringen, daß mit dem fortschreitenden Zerfall der DDR die Zeit recht schnelllebig wurde. In kurzer Folge wurden große Massen an Arbeitskräften entlassen und die inneren Strukturen der Betriebe, die zuvor zu großer Komplexität getrieben worden waren, brachen völlig zusammen. Man kann nachträglich davon halten was man will, aber es war damals mehrheitlich politisch so gewollt, daß zum 1. Juli 1990 eine Wirtschafts- und Währungsunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR umgesetzt werden sollte. Dazu wurde zum 1. März 1990 die berühmt berüchtigte Treuhandgesellschaft gegründet, deren Aufgabe es war, die DDR-Betriebe von der Plan- in die Marktwirtschaft überzuleiten. Damit einhergehend mußten die Volkseigenen Betriebe in privatwirtschaftliche umgewandelt werden. Um diesen Schritt vorzubereiten, wurde die Görlitzer Fertigungsstätte ab April 1990 umstrukturiert, aus dem Kombinat Carl Zeiss JENA herausgelöst und zum Stichtag 1. Juli 1990 in eine GmbH umgewandelt. Wie alle Betriebe auf DDR-Gebiet, so hatte auch die neue "Feinoptisches Werk Görlitz GmbH" nun eine D-Mark-Eröffnungsbilanz vorzulegen. Löhne mußten nun in "harter Mark" bezahlt werden, was sofort diese großen Entlassungswellen auslöste. Und da jetzt auch die Verkaufspreise der Ostprodukte in D-Mark ausgewiesen wurden, hatten die DDR-Bürger zum ersten Mal eine reelle Vergleichsmöglichkeit. Damit waren aber auch die Zeiten vorbei, wo eine Praktica hochsubventioniert für unter 300,- D-Mark bei "Photo-Quelle" verschleudert werden konnte. Produkte also, die eigentlich niemand mehr haben wollte, wurden nun zu allem Unglück auch noch stark verteuert.
Objektive aus der Wendezeit: Wir sehen ein Prakticar 1,8/50 in der sogenannten Ratio-Fassung, wie es in der zweiten Hälfte der 80er Jahre quasi zu jeder Praktica BC1, BCA, BCS usw. geliefert wurde, weil das Jenaer Prakticar 1,8/50 (also das Pancolar in B-Fassung) bereits 1981 aus der Produktion genommen worden war. Bei diesem Exemplar gibt es aber gleich zwei Besonderheiten: Einmal der M42-Gewindeanschluß und zweitens die Gravuren.
Nach Hinweisen rumänischer Photofreunde wurden diese Prakticare 1,8/50 vor und während der Wende in großen Stückzahlen in Bukarest gefertigt. Das würde auch erklären, weshalb noch neue (und eben sogar als "Meyer Optik, Made in Germany") gelabelte Objektive der bekannten Bauart in den Handel kamen, nachdem die Fertigungsstätten in Dresden und Görlitz eigentlich schon dichtgemacht worden waren. Ob es sich bei dem hier gezeigten 1,8/50 um ein gänzlich in Görlitz hergestelltes oder um ein in Görlitz lediglich auf M42-Anschluß modifiziertes IOR-Objektiv handelt, das konnte mir bislang noch niemand glaubhaft nachweisen. Ich möchte auch zu bedenken geben, daß das Label "Made in Germany" unter Umständen genau so viel Wahrheitsgehalt haben könnte, wie zuvor das Label "Made in German Democratic Republic" auf Objektiven, die offenbar trotzdem aus Bukarest stammten [Photos von Marc-Alexander Heckert].
Diese Namensvariationen betrafen neben dem Normalobjektiv 1,8/50 auch die beiden Wechselobjektive Prakticar 2,8/135 und Prakticar 2,8/28. Neben dem oben schon angesprochenen "Meyer-Optik" aus der Wendezeit wurden die Görlitzer bzw. Bukarester Objektive Mitte der 80er Jahre für bestimmte westeuropäische Märkte sogar kurzerhand unter dem Label "Carl Zeiss Jena" vertrieben. Bei letzteren wurde zudem "Prakticar" als "P" abgekürzt und damit die Verbindung nicht nur zu Görlitz sondern auch zu Dresden verschleiert [Bild: Reinhard Kuttner].
Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde vielen Betriebsleitungen klar, daß unter diesen Umständen keinerlei wirtschaftliche Produktion mehr möglich sein wird. Es ist bekannt, daß es gerade der ehemalige Stammbetrieb des Kombinates Pentacon in Dresden war, der als erster Großbetrieb der DDR liquidiert worden ist – verkündet am 2. Oktober 1990, dem letzten Tag der Existenz der DDR. Wer aber meint, dafür allein "die Treuhand" verantwortlich machen zu müssen, dem sei gesagt, daß Pentacon nicht erst seit Einführung der D-Mark unrentabel wirtschaftete. Seit Jahren bereits kostete die Herstellung jeder Praktica Geld, anstatt welches einzubringen. Da jedoch Mitte der 80er Jahre dreiviertel der Kameraproduktion ins NSW exportiert wurde und auf diese Weise dringend benötigte Devisen einbrachte, wurde auf Gedeih und Verderb an dieser Praxis festgehalten [Vgl. dazu Jehmlich, Pentacon, 2009, S. 206 sowie Fußnote 6 auf Seite 210]. Das war übrigens in der DDR mitnichten ein Einzelfall. In jedes Moped, das in Suhl produziert wurde, hat die DDR-Volkswirtschaft Geld reingesteckt – in diesem Fall um die politisch-ideologisch gewollten niedrigen Inlands-Verkaufspreise einhalten zu können. Und Motorräder aus Zschopau ("MZ") wurden mit Hilfe staatlicher Subvention zu absoluten Dumping-Preisen auf den internationalen Markt geworfen, um mit den veralteten Maschinen trotzdem noch Devisen einnehmen zu können. Diese Praxis, daß auf so manchen DDR-Betrieb über Jahrzehnte hinweg wie aus heiterem Himmel Geld herabregnete, hatte sich zu einer Selbstverständlicheit herausgebildet, die selbst von den Betriebsdirektoren bald nicht mehr hinterfragt wurde. Um so mehr stehen einem heute die Haare zu Berge, wenn dieselben Leute den abrupten Niedergang ihrer Betriebe nach dem Juli 1990 allein auf eine Treuhandgesellschaft zu schieben versuchen.
Heute im Herbst 2019, dreißig Jahre nach dem Mauerfall, scheinen die Erinnerungen an die Spätphase der DDR bei Vielen langsam zu verblassen. Fragwürdige Bewegungen, die eine "Wende 2.0" fordern, scheinen die Verantwortung für den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Ostens in der Nachwendezeit allein "dem Westen" anlasten zu wollen. Die Rolle der SED und ihrer vergreisten Führungsfiguren wird dabei weitgehend ausgeblendet. An den durch diese Personen verantworteten strukturellen Fehlentwicklungen laboriert der Osten aber noch heute.
Von daher hielt ich es für passend, hier ein Interview einzufügen, die die von mir sehr geschätzte Sabine Adler, langjährige Osteuropakorrespondentin des Deutschlandfunk, mit dem Ex-Treuhand-Direktor Detlef Scheunert im Oktober 2019 geführt hat. Passend ist es schon deshalb, weil Scheunert dazumal für den Bereich Optik-Feinmechanik zuständig gewesen ist und den VEB Pentacon Dresden (natürlich nicht Radeberg) auch ausdrücklich als Paradigma anspricht. Daß über die Fakten, die hier Scheunert unverblümt auf den Tisch knallt, manche Ältere sagen werden: "wissen wir doch alles", werden Nachgeborene wie ich stets in Kauf nehmen müssen. Dieselben aber gänzlich unter den Tisch fallen zu lassen; das wäre angesichts fortschreitender Mythenbildung jedoch allzu fatal!
Für den Überrest des Görlitzer Feinoptischen Werkes ging es offiziell noch ein Jahr weiter, nämlich bis Ende Juni 1991. Wie mir versichert wurde, war bis zu diesem Punkt eigentlich die meiste Belegschaft entlassen, sodaß unklar ist, was und durch wen überhaupt zuletzt noch gefertigt worden ist. Ob es sich bei dem weiter oben abgebildeten "Meyer Optik" 1,8/50 mm Normalobjektiv wirklich um ein vollständig in Görlitz hergestelltes Produkt handelt, oder ob frische Lieferungen bzw. Lagerbestände von IOR Bukarest lediglich in Görlitz mit einem neuen Rückteil mit M42-Anschluß versehen wurden, läßt sich unter Umständen nie mehr richtig klären. Durch das Label "Made in Germany" kann man einzig mit Gewißheit sagen, daß diese geheimisvollen Objektive zwischen dem 3. Oktober 1990 und dem 30. Juni 1991 entstanden sein müssen. Auf einer Seite, mit der ich zum Zwecke des Vergleichs einmal die damalige Konkurrenzsituation auf dem internationalen Markt gegenüberstelle, ist eine Objektivaufschlüsselung aus dem letzten Praktica-Katalog von 2001 wiedergegeben, die aufzeigt, daß die Prakticare 2,4/50 und 2,8/28 bis zum Schluß lieferbar blieben.
3. Neue Seriennummern am Ende des VEB
Nach diesem Exkurs in die Nachwendezeit möchte ich noch einmal auf den Görlitzer Hersteller vor dem Umbruch zurückkommen. Es bleibt nämlich noch eine Entdeckung nachzutragen: Es scheint so, als sei das Nummerierungssystem der Pentacon-Objektive in der zweiten Jahreshälfte 1989 umgestellt worden; und zwar auf jenes Prinzip, das bei Carl Zeiss Jena seit Anfang der 80er Jahre verwendet wurde. Nicht mehr alle Objektivtypen wurden fortlaufend in einem gemeinsamen Nummernsystem untergebracht, sondern jeder Typ einzeln für sich gezählt.
Oben ist ein spätes Pentacon 2,8/29 mm in seiner geringfügig geänderten Fassung (rechts) einem Exemplar mit der üblichen Kreuzrändelfassung (links) gegenübergestellt. Bei dem Vergleich zweier Exemplare dieser späten Version unten erkennt man auch den veränderten Schieber zum Abstellen der Druckblendenautomatik.
Anders als bei Zeiss Jena hat man aber nicht mit der Nummer 1000 begonnen, wofür das oben links gezeigte Pentacon 2,8/29 mm mit der Seriennummer 302 spricht. Für das rechts gezeigte Exemplar mit der Nummer 1101 hat sich eine Garantieurkunde erhalten, aus der hervorgeht, daß es am 29. Dezember 1989 verkauft wurde. Diese Umstellung des Seriennumernsystems muß also vorgenommen worden sein, als es mit der DDR gerade zuendeging. Daher ist auch plausibel, weshalb von diesen Objektiven mit den neuen Seriennummern vergleichsweise wenig existieren.
Wurde der zugehörige Garantieschein ab Werk falsch ausgefüllt? Müßte nicht bei "Objektiv" 2,8/29 SD stehen und bei "Nummer" die 1101? Auf dem Kassenzettel steht jedenfalls # 1101.
Rätselhaft bleibt auch, inwiefern die neuartige Nummerierung in geordneter bzw. konsequenter Art und Weise angewendet worden ist, wie diese doppelte Vergabe der "Startnummer" 1001 nahelegt (Bild von Rakata Wibowo, Bandung, Indonesien). Man könnte gar den Eindruck gewinnen, 1101 und 1001 stellten überhaupt keine Objektivnummern im eigentlichen Sinne dar, sondern eher Typnummern.
Das Bild oben beweist übrigens, daß diese Veränderung des Fassungsdesigns mit dem etwas anders gefrästen Griffrändel am Meterring bereits vor der Umstellung des Seriennummernsystems stattgefunden hat. Beides muß jedoch recht spät erfolgt sein. Es fällt nämlich auf, daß diese umgestalteten Objektive quasi nur in Verbindung mit sehr späten Prakticas MTL5b und MTL50 zu finden sind. Und trotz glaubwürdiger Hinweise, daß die Fertigung dieser M42-Objektive in Rumänien erfolgte, ist auf den Fassungen "German Democratic Republic" eingraviert. Was diese Frage betrifft, herrscht bislang also alles andere als Klarheit.
4. Letzte Neuentwicklungen in der DDR-Zeit
Zum Abschluß kann ich doch noch zwei klitzekleine Neuentwicklungen vermelden: Die erstere wurde sogar noch kurz vor dem Ende der DDR verwirklicht. Rolf Jurenz war bei Pentacon der Fachmann für die Suchersysteme und deren Verknüpfung mit der Belichtungsmessung. Als Pentacon Ende der 80er Jahre eine neue Generation einfacher Kompaktkameras herausbringen wollte, sollte dazu ein Fixfokusobjektiv mit Hinterblende entwickelt werden. Jurenz legte bei seiner Erfindung [Nr. DD245.275 vom 30. Dezember 1985] einen technischen Zusammenhang zugrunde, der mir bislang auch nicht bewußt war und der ein verblüffendes Resultat zeigt: Allgemein bekannt dürfte sein, daß die Lichtstärke eines Objektives durch dessen Eintrittspupille bestimmt wird. Die Eintrittspupille ist das, was man sieht, wenn man aus einem gewissen Abstand von vorn in das Objektiv hineinschaut. Schaut man hingegen von der Rückseite, dann sieht man die Austrittspupille.
Interessanterweise bestimmt diese Austrittspupille nun die Schärfentiefe eines Objektives. Jurenz' Idee lag daher darin, ein Objektiv zu konstruieren, bei dem der sogenannte Pupillenmaßstab Werte um 1:√2 erreichte, also die Eintrittspupille etwa um einen Blendenwert größer war als die Austrittspupille. Das hatte zur Folge, daß das kleine Weitwinkelobjektiv zwar eine Lichtstärke von 1:5,6 bieten konnte, die Abbildung aber eine Schärfentiefe aufzuweisen hatte, die derjenigen bei Blende 8 gleichkam. Eine solche Eigenschaft ist bei Fixfokuskameras, bei denen das Objektiv ja auf eine bestimmte Entfernung fest eingestellt wird und man auf eine große Schärfentiefe angewiesen ist, sehr förderlich. Jurenz hatte zwei Ausführungen seiner Erfindung entwickelt; eine mit einer asphärischen Frontlinse aus Plast mit den Daten 5,6/38mm und eine Ausführung ganz aus Glas mit den Daten 5,6/35mm. Möglicherweise kam eine der beiden Konstruktionen in der neuen Kleinbild-Sucherkamera Praktica 35M zum Einsatz, die offenbar im Jahr der Wende in Freital noch (kurzzeitig) in Produktion war. Sie kostete laut Warenkatalog 1989/90 120,- DDR-Mark – viel Geld für eine ansonsten erschütternd spartanisch ausgestattete Plaste-Kamera.
Nachtrag: Mittlerweile kann ich mit Gewißheit sagen, daß die Praktica 35M mit einem dreilinsigen Objektiv versehen wurde, wobei zwei der drei Linsen aus Plastwerkstoff bestanden.
In dieser Praktica 35 M wurde zwar letztlich ein dreilinsiges Objektiv eingesetzt, doch das oben besprochene Verhältnis von Eintritts- zur Austrittspupille scheint trotzdem angewandt worden zu sein. Das ist deshalb ziemlich wahrscheinlich, weil im Inneren der Kamera deutlich die charakteristische Hinterblende erkennbar ist. Bei dieser Plastikknippse dürfte es sich wohl um die letzte Neuerscheinung der DDR-Photoindustrie handeln. Sie kam in die Geschäfte, als sich das Land gerade auflöste und fand daher nur wenig Beachtung. Bild: Gerhard Belitz.
Aus dem unten gezeigten Bericht Michael Fügners in der Jenaer Rundschau 2/1989 wird ersichtlich, daß mit der Praktica 35 MF auch ein Modell mit eingebautem Elektronenblitz geplant war. Zu einer Markteinführung kam es aber nicht mehr.
Auf einem ganz anderen technischen Niveau lag dagegen ein Kompaktobjektiv, das Hubert Ulbrich und Wolfgang Gröger am 18. Juni 1984 zum Patent angemeldet hatten [Nr. DD224.413]. Der Patentüberlieferung nach zu urteilen, arbeitete der VEB Pentacon Dresden seit den späten 1970er Jahren an einer Sucherkamera mit Autofokus. Bekanntlich ist daraus kein fertiges Produkt geworden. Möglicherweise war dieses aufwendige Objektiv 2,8/34 mm für eine derartige Kameraentwicklung vorgesehen. Drei der fünf Linsen bestanden aus einem extrem hochbrechenden Kronglas mit der Brechzahl n = 1,7564 und der Abbeschen Zahl v = 52,9. Es handelt sich dabei um das lanthan- und thorium-haltige Schwerstkron SSK11, das ansonsten nur in wenigen und besonders anspruchsvollen Photoobjektiven wie dem Prakticar 1,4/50 mm eingesetzt wurde.
Marco Kröger
letzte Änderung 9. Mai 2024
Yves Strobelt, Zwickau
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