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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Objektive
Keine Kamera ohne Objektiv! Daher werden auf diesen Seiten die wichtigsten Normal- und Wechselobjektive aus Jena und Görlitz vorgestellt. Außerdem sind einige zusätzliche Aufsätze zu finden, wie beispielsweise über das hochinteressante Gebiet der Retrofokus-Weitwinkelobjektive.
Grundstoff: Glas
Glauben Sie es oder nicht, aber aus diesem Material, wie Sie es unten sehen, sind unsere Objektive gebaut. So nämlich sieht optisches Glas im Rohzustand aus, wenn es aus der Glasfabrik kommt. Diese Blöcke mit den rauen Oberflächen kamen dabei heraus, wenn die bereits für brauchbar befundenen Glasbrocken einer Schmelze noch einmal in viereckigen Schamottformen bis zur Erweichung erhitzt wurden, um sie danach der sogenannten Feinkühlung zu unterziehen. Darunter versteht man eine über Wochen oder Monate hinweg andauernde Wärmezufuhr mit einer stetig bis auf Raumniveau sinkenden Temperatur, um das Glas auf diese Weise völlig frei von Verspannungen zu bekommen [Vgl. Brandt, Hans-Martin: Das Photo-Objektiv, Aufbau und Wirkungsweise der wichtigsten Markenobjektive der Weltproduktion, 1956, S. 2]. Später ließ sich durch genaues Steuern der Abkühlung eine Feinkorrektur der Brechzahlen umsetzen, die immer einheitlichere Eigenschaften der verschiedenen Schmelz-Chargen ermöglichten. Damit war nach Jahrhunderten des "Hexenzaubers" die Glasherstellung endlich im Hightech-Zeitalter angekommen.
1. Die Herstellung optischer Gläser bis in die 1950er und 60er Jahre
Doch der Reihe nach. Führt man sich vor Augen, woraus Glas gemacht wird, dann ist es für den Laien kaum begreiflich, daß aus diesen völlig undurchsichtigen Komponenten eine sprichwörtlich glasklare Masse werden kann. Chemisch gesehen ist Glas eine feste Verbindung aus Kieselsäure und Silikaten, die durch Zusammenschmelzen von Quarzsand, Soda und Kalk gewonnen wird. Das waren zumindest diejenigen Rohstoffe, aus denen die sogenannten alten Gläser hergestellt wurden. Zu den Materialien, aus denen die seit den 1880er Jahren entwickelten neuen optischen Gläser bestehen, gehören außerdem Borate, Phosphate, Bariumverbindungen, Bleiverbindungen und Fluorite, und sogar reine Metalle wie Natrium, Barium und Blei wurden nun eingesetzt. Einige Arten von Flintgäsern enthielten bis zu siebzig Prozent ihres Gewichts an Blei und waren dennoch vollkommen transparent.
Die große Kunst der Glasfabrikation beginnt an dem Punkt, wo diese Komponenten bei großer Hitze miteinander verschmolzen werden. Bis weit ins 19. Jahrhundert kamen hierfür Schmelztiegel (auch Schmelzhafen genannt) aus Ton zum Einsatz, später, wegen der immer größer werdenden Schmelztemperaturen zunehmend auch Aluminiumoxid (Korund). Stets mußte sichergestellt werden, daß nur äußerst wenig des Tiegelmateriales mit der Schmelze reagierte oder gar in ihr in Lösung ging. Ein seit der industriellen Zeit typischerweise anderthalb Meter hoher Keramiktiegel faßte etwa zwei Tonnen Glasschmelze. Nach dem Zusammenmischen der Komponenten wurde der Topf mit Leuchtgas kontinuierlich auf Temperaturen bis zu 1500 °C aufgeheizt. Dabei verflüssigten sich nicht nur die Bestandteile zu einer viskosen Masse, sondern sie reagierten auch miteinander, was zur Bildung von Gasen führte, die in der Schmelze nur langsam aufstiegen und oftmals als kleine Bläschen in der erstarrten Glasschmelze eingefroren blieben. Diese Blasenbildung konnte in einem gewissen Maße abgemildert, aber vor allem die Gleichmäßigkeit der Glasschmelze deutlich verbessert werden, indem die Masse durchgerührt wurde. Dieses Anfang des 19. Jahrhunderts eingeführte Verfahren zur Homogensiserung des Glases, das nach seinem Erfinder Pierre-Louis Guinand auch als guinandieren bezeichnet wurde, brachte der gesamten Optik einen ungeheuren qualitativen Fortschritt.
Bis vor etwa 100 Jahren dauerte der Schmelzvorgang etwa 18 Stunden, bis er abgeschlossen war. Von Zeit zu Zeit entnahm ein erfahrener Arbeiter mithilfe einer Eisenstange eine Probe aus der Schmelze. Sobald diese zufriedenstellende Eigenschaften hatte, wurde der Schmelztiegel mit seinem Inhalt von etwa zwei Tonnen glühender flüssiger Masse mittels großer Zangen, die auf Wagen bewegt wurden, aus dem Feuer gezogen. Der weißglühende Topf wurde in einen anderen Ofen überführt, wo man ihn innerhalb einer Woche langsam abkühlen ließ. In späterer Zeit (oben ein Bild aus den 1950er Jahren) wurde die Glasmasse aus den nunmehr verwendeten, extrem wertvollen Platintiegeln zum abkühlen in einen Trog gegossen. Während dieser Abkühlphase zog sich das Glas zusammen und zersprang dabei in unregelmäßige Stücke, die Eisblöcken ähneln. Anschließend wurden die Glasstücke sortiert und mit einem Handhammer entlang der Risse im Material weiter zerteilt. Die so herausgesuchten Rohlinge wurden dann in einem separaten Aufwärmofen in rechteckigen Formen aus Schamotte wieder so lange aufgeheizt, bis das Glas zähflüssig wurde und begann, die Form zu ausfüllen. Anschließend folgte die Feinkühlung, wie sie eingangs bereits beschrieben wurde. Bei großen Glasblöcken zog diese sich auch mal bis zu einem Vierteljahr hin. Doch dieses langsame Abkühlen ist bis heute unentbehrlich, um das Glas frei von inneren Spannungen zu halten. Denn jene würde im Prinzip genau so wie eine inhomogene Schmelze das Glas für optische Zwecke völlig unbrauchbar machen. Das genaue Untersuchen des Glases auf solche Spannungen, sowie auf Schlieren und Verunreinigungen, war ein essentieller Vorgang in der Glasfabrik.
Die Glasplatten hatten jedoch eine derart raue und unebene Oberfläche, daß diese Prüfungen erst vorgenommen werden konnten, nachdem zwei gegenüberliegende Seiten dieses Blocks plangeschliffen und anschließend poliert worden waren. Erfahrene Fachleute konnten nun beim Blick durch den Glasblock sofort diejenigen Teile des Glases erkennen, die sich von den angrenzenden Teilen durch unterschiedliche Lichtbrechungseigenschaften unterschieden. Platten mit derartigen Schlieren oder Trübungen, die meist aus feinen Rissen herrühren, die beim zweiten Aufschmelzen entstanden sind, konnten im Tageslicht oder im Schein einer Quecksilberdampflampe erkannt werden. Innere Spannungen jedoch, die zu Doppelbrechungen führen, wurden erst im polarisiertem Licht sichtbar. Dazu wurden die Platten durchleuchtet durch zwei als Polarisator und als Analysator eingesetzten sogenannten Nicol-Prismen, deren Schwingungsebene im rechten Winkel zueinander standen. Innere Spannungen im Glas wurden dann bunt gefärbte, unregelmäßige Flecken erkennbar. Nach Durchführen als dieser Prüfungen ergab sich, dass durchschnittlich etwa 80...85 Prozent der gesamten Glasmasse als unbrauchbar zu verwerfen sind. Das heißt, aus einem Zentner hergestellten Glases ergaben sich oft nur sieben bis acht Kilo, die für optische Zwecke verarbeitet werden konnten. Dabei war es ausgeschlossen, das Ausschußglas durch erneutes Einschmelzen doch noch zu verwerten, sondern es mußte als Abfallprodukt an andere Glashütten verkauft werden, in denen es noch für die Herstellung gewöhnlicher Glaswaren brauchbar war. Hatte der Glasblock jedoch die strengen Prüfungen erfolgreich bestanden, so wurde an einer seiner beiden polierten Flächen eine Seriennummer eingeritzt, wie dies oben zu sehen ist.
2. Die zentralen Eigenschaften optischer Gläser
Auf dem ganz oben auf dieser Seite gezeigten Glasblock links steht nun beispielsweise mit grünem Fettstift "F8" aufgeschrieben. Diese Abkürzung sagt uns, daß es sich um Flintglas mit der Nummer 8 im Schott'schen Glaskatalog handelt. Wenn man dort nachschaut, dann bekommt man als wichtigste Eigenschaft eine Brechzahl von 1,5955 genannt. Dieser Zahlenwert heißt erst einmal nichts anderes, als daß das Licht, das bekanntlich in der Luft knapp 300.000 Kilometer in der Sekunde zurücklegt, in diesem Glase nur noch den 1,5955ten Teil dieser Geschwindigkeit hat; also etwa 188.000 km/s. Auf dieser nüchternen physikalischen Tatsache, daß das Licht in optisch dichten Medien derart extrem abgebremst wird, beruht, daß wir überhaupt mit Linsen unsere Umwelt abbilden können. Denn die abrupte Geschwindigkeitsänderung des Lichtes an den Grenzflächen beider Medien bewirkt, daß der Strahl von seiner geradlinigen Ausbreitung abgelenkt wird. Das nennen wir Brechung.
Grobe Kontrolle der Glasblöcke auf grundlegende Fehler und exaktes Prüfen der Eigenschaften in der Emil Busch AG in Rathenow in der Zeit um den Ersten Weltkrieg herum. [Bild: Franz Stoedtner, Deutsche Fotothek, Datensatz 87115855 und 87115854]
Der zweite wichtige Kennwert eines optischen Glases ist die nach Ernst Abbe benannte Abbesche Zahl v [sprich ny]. Sie gibt Auskunft über die mittlere Dispersion einer Glassorte. Bei Flintglas F8 hat sie zum Beispiel den Wert 39,2, was für eine relativ hohe Dispersion steht. Sogenannte Krongläser haben dagegen eine geringere Dispersion, was man an Abbeschen Zahlen größer als 50 erkennen kann. Hinter dieser zweiten Kategorie für die Einteilung der Gläser verbirgt sich der physikalische Hintergrund, daß die oben genannte Brechzahl streng genommen nur für eine einzige Lichtfarbe gilt. Das heißt, über das gesamte von uns Menschen wahrgenommene Lichtspektrum hinweg ist die Größe der Brechung nicht konstant. Der kurzwellige blaue Spektralbereich wird stärker gebrochen als das langwellige Rot. Diese Farbzerstreuung führt bei schlecht korrigierten Objektiven zu den unschönen bunten Säumen um das Motiv herum – die sogenannte chromatische Aberration. Aber auch andere Abbildungsfehler nehmen unterschiedliche Ausmaße an, wenn das Licht eine andere Farbe hat. Das macht es so unglaublich schwierig, gute Objektive zu berechnen, wenn sie gleichzeitig lichtstark sein sollen.
Dieses Problem wird nun noch zusätzlich dadurch weiter verkompliziert, daß ein Glas nicht nur über das Spektrum hinweg veränderliche Brechzahlen aufweist, sondern daß das Ausmaß jener Aufspaltung des Lichtes in seine Farben bei verschiedenen Glassorten stärker oder weniger stark ausgeprägt sein kann. Das führt zu einer schwer überschaubaren Vielzahl an Glastypen mit ganz unterschiedlichen Brechzahl- und Dispersions-Kombinationen. Auf der anderen Seite gibt genau dieser Umstand überhaupt einen Angriffspunkt dafür, daß die durch eine Linse hervorgehobenen Fehlererscheinungen mit entgegengesetzten Fehlern in der anderen Linse wieder kompensiert werden können. Der Optikkonstrukteur verlangt daher geradezu nach diesem Wust an unterschiedlichen Brechzahlen und Farbzerstreuungen. Ursprünglich gab es nur höher brechende Gläser, die aber auch stark dispergierten sowie gering dispergierende Gläser, die dann aber leider auch nur bescheidene Brechwirkung zeigten. Erstere nannte man Flint, letztere Crown. Die enormen Fortschritte, die in der photographischen Optik seit den 1890er Jahren erzielt werden konnten, beruhen nun im Wesentlichen darauf, daß Glassorten geschaffen worden waren, die trotz ihrer hohen Brechung nur niedrig dispergierten – die sogenannten Schwerkrongläser des Glaswerkes Otto Schott & Genossen in Jena. Aber auch der umgekehrte Fall – so widersinnig er auf den ersten Blick auch erscheinen mag – wurde verwirklicht, daß nämlich stark dispergierenden Gläsern gezielt ein nur sehr kleiner Brechungsindex gebeben wurde. Erst diese sogenannten Leichtflinte ebneten in Kombinantion mit den Schwerkronen den Weg in das Zeitalter der Hochleistungsobjektive.
Die bedeutendste Verkomplizierung der gesamten optischen Materie rührt also daher, daß das Ausmaß der Brechung mit der Wellenlänge des Lichtes variiert. Ernst Abbe hatte zur Kennzeichnung der Eigenschaften des optischen Glases zunächst fünf auf Joseph von Fraunhofer zurückgehende, genau definierte spektrale "Ankerpunkte" festgelegt, nämlich die Linien A', C, D, F und G'. Mit dem Zeiss'schen Glaskatalog von 1923 wurden weitere Linien des Quecksilberspektrums hinzugefügt, die mit den Kleinbuchstaben e, g und h bezeichnet wurden sowie vor allem die gelbe Helium-Line d. An letzterer wurde in der Folgezeit die mittlere Brechung definiert sowie gleichzeitig die mittlere Farbzerstreuung, bei der sich aus den "Abständen" zur roten C- und zur blauen F-Linie ein Maß für die Farbzerstreuung ergab, das Abbe'sche Zahl genannt und mit dem griechischen Kleinbuchstaben ny bezeichnet wurde. Der für das Glas charakteristische Gang der Farbzerstreuung wurde wiederum anhand von Brechungsunterschieden zwischen den einzelnen Spektrallinien ermittelt. Für Betrachter, die aus technikgeschichlicher Sicht auf diese Materie schauen, sei hinzugefügt, daß der Bezugspunkt für die sogenannte Hauptbrechzahl von der ursprünglichen gelben d-Linie des Heliums irgendwann in den 1960er Jahren zur grünen e-Linie des Quecksilbers umgestellt worden war. Daraus ergeben sich minimale Abweichungen in den Werten der Hauptbrechzahl und der mittleren Dispersion, die manchmal beim Auffinden der beispielsweise in den Patenten angegebenen Glasarten in den Glaskatalogen Schwierigkeiten bereiten können. Nach: Jenaer Glaswerk, Glaskatalog 1923.
Auf dem Bild ganz oben sieht man unten rechts einen Glasblock mit der Aufschrift BK9. Dieses Bor-Kron 9 ist mit einer Brechzahl von 1,4939 geradezu ein Paradebeispiel für ein niedrig brechendes Kronglas das mit einem ny-Wert von 66,1 gleichzeitig besonders niedrig dispergiert. Ganz anders jedoch beim rechts oben zu sehenden Glasblock mit der Aufschrift BaF3. Hierbei handelt es sich nun um eines dieser an der Wende zum 20. Jahrundert neu geschaffenen Gläser, die sich nicht mehr so einfach in das gewohnte Schema von Flint und Kron einpassen ließen. Das Barit-Flint BaF3 weist eine für Flintgläser recht bescheidene Brechzahl von 1,5827 auf. Gleichzeitig liegt es mit einer Abbeschen Zahl von 46,5 recht nah am Grenzbereich wo auf dem "Glaskontinent" üblicherweise die Krongläser anfangen.
Doch erst mit Schaffung dieser neuen Sorten an optischen Gläsern gelang es, solch problematische Abbildungsfehler wie den Astigmatismus in den Griff zu bekommen. Dazu wurden nun gezielt niedrig brechende Flintgläser den Schwerkrongläsern gegenübergestellt. Die damit erreichbaren sogenannten Neuachromate waren eine wichtige Grundlage für völlig neuartige Objektivtypen wie das Tessar, die ein bislang nicht gekanntes Ausmaß an Bildfehlerbehebung erreichten. Dabei verrät der Stempelaufdruck auf der Rückseite der oben gezeigten Glasblöcke, daß diese drei Glassorten genügten, um aus ihnen Triplet-Objektive wie das Meritar 2,8/45 mm herzustellen, das in den 70er und 80er Jahren massenweise in den SL-Kameras des Certo-Kamerawerks Dresden verbaut wurde.
3. Optisches Glas auf Basis der sog. "Seltenen Erden"
Nach der regelrechten Revolution im Bereich des optischen Glases in den 1880er Jahren, die von Jena ausging, gab es einen vergleichbaren revolutionären Umbruch etwa ein halbes Jahrhundert später, der dieser Materialbasis und damit der optischen Industrie noch einmal einen gewaltigen Schub verschaffte – wenn auch durch technische Herausforderungen erst ziemlich stark verzögert. Diesmal lag der Ausgangspunkt in den USA. Hier hatte der Chemiker George Morey für die Eastman Company ein "Verfahren zur Herstellung von optischen Gläsern hoher Brechzahlen und niedriger Streuung" entwickelt. In Deutschland war das im Reichspatent Nr. 691.356 vom 4. September 1936 geschützt worden. Morey hatte mehr als 50 Gewichtsprozent des Schmelzsatzes durch Oxyde der Gruppe III, IV und V des Periodensystems ersetzt – namentlich Tantal, Lanthan und Thorium – und dabei den Anteil der Kieselsäure stark reduziert oder gar fortgelassen. Auf diese Weise hatte er ungewöhnlich hochbrechende Krongläser erzielt. Wenige Wochen später wurde ein Zusatzpatent Nr. 722.329 nachgeschoben, an dem mit Lear Eberlin ein zweiter Wissenschaftler beteiligt war und das kieselsäurehaltige Schwerflintgläser beschreibt. Bei beiden Patenten, die in den englischen Versionen schlicht "Optical Glass" heißen, ist im Prinzip der deutsche Titel falsch, denn es handelte sich streng genommen "nur" um die Zusammensetzung derartiger Gläser, aber noch lange nicht um ein ausgereiftes Verfahren, wie diejenigen in größeren Mengen industriemäßig herstellbar wären. Dieser Prozeß sollte noch mehr als zehn Jahre in Anspruch nehmen. Solange während des Krieges derartige Gläser nur in Spezialobjektiven für die Rüstungsindustrie angewendet wurden, deren Fertigung nur in Kleinserien erfolgte, kam man mit kleinen Schmelzen im Labormaßstab aus. Und wenn hier die Eigenschaften von Schmelze zu Schmelze noch variierten, dann war es technisch händelbar, das jeweilige Objektiv durch leichte Veränderungen der optischen Parameter der Linsen an diese Werte anzupassen. Für eine Großserienfertigung von auf derartigen Glasarten basierenden Objektiven war dieses Vorgehen jedoch unbrauchbar. Der kontinuierliche Ausstoß derartiger Gläser konnte daher auch in den USA erst ab 1948 umgesetzt werden, und zwar von den Firmen Corning, Pittsburgh Plate Glass Co. und Bausch & Lomb [Vgl. Horne: Optical production technology, 1972, S. 89.].
Mit zwei Ausnahmen enthielten all diese neuen Schwerkron- und Schwerflintgläser auf Basis seltener Erden der Firma Kodak das radioaktive Thoriumdioxyd [Vgl. ebenda, S. 91.]. Vergleichbare Gläser wurden offenbar bereits während des Krieges auch in Deutschland erzeugt. Bald stellte sich jedoch heraus, daß die Forschung zur genauen Zusammensetzung solcher Gläser nur die eine Hälfte der Entwicklungsarbeit ausmachte. In der oben genannten Monographie wird ein Aufsatz von Carsten Eden aus dem Mainzer Glaslabor zitiert, der darlegt, wie schwierig seinerzeit die Entwicklung der dazu nötigen Schmelzmethoden gewesen ist. So machte es die Glaszusammensetzung und die hohen Schmelztemperaturen unmöglich, bei den bisher verwendeten Keramiktiegeln zu bleiben, da diese sich schlichtweg zersetzten. Deshalb mußten die Schmelzgefäße auf Platin-Basis umgestellt werden, was etliche neue Schwierigkeiten mit sich brachte. Auch konnte die bislang praktizierte Erhitzung mittels Gas keine Anwendung mehr finden, sondern es mußten elektrische Verfahren entwickelt werden. Es wurde mit Warmluft- und Induktionsheizung experimentiert, bis man das Verfahren der Elektrowärme (bzw. Stromwärme nach dem Joule-Lenz-Gesetz) als am besten geeignet erkannt hatte. Hierbei konnte mit Platinsonden die Wärme durch Stromfluß direkt im Glas erzeugt werden. Jetzt stellte sich aber als Problem heraus, wenn als Stromzufuhr die übliche Netzfrequenz von 50 Hertz genutzt wurde, daß dann Atome aus den Elektroden in die flüssige Glasschmelze abgegeben wurden und dieselbe damit kontaminierten. Das äußerte sich dann in einer Zerstreuung des Lichtes an diesen winzig kleinen Schwebeteilchen aus Platin in der Glasmenge, die das Glas unbrauchbar machten (Tyndall-Effekt). Durch Untersuchungen fand man jedoch heraus, daß selbst bei sehr hohen Stromdichten diese Verunreinigung der Glasschmelze durch die Elektroden gegen Null gebracht werden kann, wenn die Frequenz des Stromes auf bis zu 10 Kilohertz angehoben wird. Man kann sich nun ausmalen, wie aufwendig es in den 1940er und 50er Jahren gewesen ist, große Elektroenergiemengen mit einer derart hohen Frequenz zu erzeugen. Als günstiger Nebeneffekt ergab sich aber, daß bei diesen hohen Frequenzen endlich auch die Bildung von problematischen Gasblasen in der Schmelze unterdrückt werden konnte. In der Folge wurden dann sogar Verfahren entwickelt, die zu einem kontinuierlichen Glasfluß führten bei gleichzeitiger automatischer Homogenisierung des Glases und einer Herstellung von einheitlichen Glaspreßlingen am Ende des Prozesses. Damit brachte die Notwendigkeit zur Umstellung auf Platintiegel-Schmelzung auch einen großen Fortschritt bei der Rationalisierung der Glasfertigung mit sich. Dr. Eden schließt seinen Aufsatz mit der Bemerkung, daß die bisherige Aussage, Glasbläschen wären als Zeugnis für die Qualität eines Objektives anzusehen, durch die Umstellung auf Platintiegel überholt sei.
Das oben beschriebene "Verfahren zur tyndalleffekt-freien Herstellung optischen Glases" findet seinen Ausdruck im Bundespatent Nr. 1.019.804 vom 6. Juni 1952. Es war die Grundlage dafür, daß in der folgenden Zeit die industriemäßige Fabrikation der neuen Lanthan-Gläser anlaufen und als Konsumgüter gedachte Photoobjektive überhaupt großserienmäßig mit derartigen Glasarten auf den Markt gebracht werden konnten. Das erkennt man auch daran, daß neben Dr. Eden auch Dr. Geffcken als Erfinder benannt ist, unter dessen Leitung die meisten dieser Gläser in den 1950er Jahren geschaffen worden sind. Aus dem was bislang bekannt ist, muß übrigens geschlossen werden, daß damals die Entwicklungen in Jena und Mainz noch kooperativ erfolgt sind. Bis in das Jahr 1953 hinein sind Jenaer und Mainzer Entwicklungen noch zum gegenseitigen Vorteil gemeinsam genutzt worden. Erst danach ist eine tiefe Spaltung feststellbar, die größtenteils der damaligen politischen Entwicklungen geschuldet waren.
Ein Block Lanthanflint LaF2 plaziert in diesem damals gerade erst neu erschlossenen Gebiet auf dem "Glaskontinent", Heidersberger, Heinrich, Deutsche Fotothek, Datensatz 83004327, 1956.
Flektogon und Distagon – Dannberg und Glatzel
In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre setzte ein Wandel in den Ansprüchen qualitätsbewußter Amateure und Berufsphotographen ein: Nach 25 Jahren Kleinbildphotographie verlangten die Nutzer nun Kameras mit einer ebensolchen Flexibilität und Bequemlichkeit der Kleinbild-Apparate, aber einer gesteigerten Bildqualität. Die Kamerahersteller reagierten auf diese Wünsche, indem sie versuchten, das gut eingeführte Prinzip der Einäugigen Spiegelreflexkamera auch auf das Mittelformat auszudehnen. An Erfahrungen aus der Zwischenkriegszeit anknüpfend, wurde im VEB Kamera-Werke Dresden Niedersedlitz zwischen 1954 und 56 mit der Praktisix eine moderne Reflexkamera für das Format 6x6 entwickelt. Für die stand zwar von Anfang an mit dem Flektogon 2,8/65 mm ein Weitwinkelobjektiv zur Verfügung, aber damit konnte sich noch niemand zufrieden geben.
Bei Carl Zeiss Jena arbeitete Wolf Dannberg seit 1955 an Retrofokus-Weitwinkelobjektiven für Kleinbildkameras, die deutlich über das einfache Grundprinzip der bisherigen Flektogone hinausgingen und mit stärker streuenden Linsen in der Frontgruppe eine erhebliche Aufweitung des Bildwinkels und Verlängerung der Schnittweite erlaubten. In Zusammenarbeit mit Eberhard Dietzsch errechnete er dann im März 1958 einen solchen Typ für die neue Mittelformatspiegelreflexkamera, der am 8. März 1960 in der DDR zum Patent angemeldet wurde (Nr. DD23.869). Bei einer Nennbrennweite von 50 mm wurde ein Bildwinkel von 75 Grad erreicht – ein guter Wert für ein universelles Weitwinkelobjektiv. Dieses Flektogon 4/50 mm wurde zwar im Mai 1966 neu gerechnet, der optische Grundaufbau blieb aber derselbe. Es wurde in sehr hohen Stückzahlen ziemlich genau 30 Jahre lang gefertigt.
In der Bundesrepublik hinkte man, was diese Entwicklungen betraf, ein wenig hinterher. Für die noch auf den Schlitzverschluß basierenden Hasselblad-Modelle hatte man ein in etwa mit dem Flektogon 2,8/65mm vergleichbares Distagon 5,6/60mm herausgebracht. Um größere Bildwinkel zu erreichen, mußten auch in Oberkochen neue Wege gegangen werden. Hier war es Erhard Glatzel, der mit zwei Patenten vom 25. November 1959 (DBP Nr. 1.187.393) und vom 15. Februar 1962 (DBP Nr. 1.250.153) neue Entwicklungspfade für des Hightech-Segment der Retrofokus-Weitwinkelobjektive aufgezeigt hatte. Die Linsenlage Nr. 4 des letzteren Patentes entspricht in etwa dem Distagon 4/50 von Zeiss Oberkochen, das ab etwa 1964 für die Hasselblad und später auch für die Rolleiflex SL66 geliefert wurde.
Schaut man sich die Schnittzeichnungen an – die direkt aus den jeweiligen Patenten entnommen sind und daher nicht ganz den später ausgeführten Objektiven entsprechen – dann wird man das Distagon mit seinen sieben einzelnstehenden Linsen vielleicht als die modernere Konstruktion bezeichnen. Auch kommt das Distagon mit geringeren Durchmessern im vorderen Systemteil aus. Andererseits ist das Flektogon durch seine starke Verkittung nur durch acht Glas-Luft-Grenzflächen belastet, das Distagon freilich mit ganzen vierzehn an der Zahl. Im Zeitalter der einschichtigen Vergütungen spielte das durchaus eine Rolle. In beiden Patentschriften fallen übrigens die mit Zahlenwerten bis zu 1,755 auch nach heutigen Verhältnissen noch ausgesprochen hochbrechenden Gläser auf, die hier offensichtlich eingesetzt wurden. Beide Objektive genießen ja auch eine dementsprechende Reputation – zumal Photographen ohnehin wenig an Unterschieden interessiert sind, die allein in MTF-Kurven zum Ausdruck kommen. Man muß allerdings dazu sagen, daß das Jenaer Flektogon mit 364,- DDR Mark rein betragsmäßig nur etwa 1/10* des westdeutschen Pendants gekostet hat und zudem wohl eines der meistgebauten Wechselobjektive für das Mittelformat darstellt.
*Der Einführungspreis des Distagons lag 1966 bei 1075,- DM und war drei Jahre später bereits auf 1166,- DM angestiegen. Selbst wenn man (unzulässigerweise) die Westmark mit der DDR-Mark betragsmäßig gleichsetzt, war das Distangon also damals schon dreimal so teurer. 1990 war der Preis des Distagons auf über 4000 Mark angewachsen; aber das Flektogon war (aufgrund der Mehrschichtvergütung) nur um zwölf Mark teurer geworden. Hier kann sich nun jeder selbst sein Urteil über die DDR-Doktrin der stabilen Preise bilden, die langfristig notwendige Preissteigerungen nur dann zuließ, wenn neue oder in ihrem Gebrauchswert erhöhte Produkte herausgebracht wurden.
Marco Kröger
letzte Änderung: 8. Mai 2024
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