Das Prisma der Spiegelcontax

Die Zeiss Ikon AG in Dresden war eine Tochter des Zeisswerkes in Jena und vollkommen abhängig von dem Willen und den Richtungsentscheidungen der dortigen Konzernleitung - daran darf keinerlei Zweifel aufkommen. Zeiss Jena hat in den 1920er Jahren bestehende Photounternehmen feindlich übernommen und unter Nutzung zum Teil fragwürdiger Methoden dem eigenen Konzern unterstellt. Eine weltweit führende Konkurrenzfirma wie die Heinrich Ernemann AG hat man mit Hilfe von Insiderwissen der Deutschen Bank und Absprachen mit dem Mehrheitsbesitzer Krupp erst heimlich finanziell unterwandert und anschließend den Firmengründer und seinen Sohn dreist über den Tisch gezogen. Es ging darum, Konkurrenten im Objektivbau auszuschalten und gleichzeitig einen großen Teil der (Dresdner) Kamerahersteller dazu zu verpflichten, von nun an nur noch Objektive aus Jenaer Fertigung zu verbauen. Dieses Faktum ist in der Fachwelt viel zu wenig bekannt, obgleich bereits seit anderthalb Jahrzehnten eine einwandfrei gearbeitete Abhandlung zu dieser Thematik vorliegt (Beyermann, Andre: Der Aufbau der Zeiss Ikon AG; in: Technische Sammlungen der Stadt Dresden [Hrsg.]: Zeiss Ikon AG Dresden, Aspekte der Entwicklung des 1926 gegründeten Industrieunternehmens, Thesaurus 3, 2001, S. 9-18.)

Aber wieso erwähne ich das hier? Weil sich freilich Carl Zeiss Jena im Laufe der 1930er Jahre endgültig zum weltweit führenden Hersteller photographischer Objektive emporgeschwungen hatte – nicht zuletzt aufgrund der Übernahme des Ernemannwerks und dessen genialen Konstrukteurs Ludwig Bertele. Zum Bau optischer Präzisionserzeugnisse gehören im wesentlichen drei Bereiche: Die Konstruktion, die Produktion und die Materialbeschaffung. Carl Zeiss Jena hatte in allen drei Gesichtspunkten eine führende Stellung. Ich kann nicht direkt nachweisen, daß die Umkehrprismen für die Spiegelcontax von Zeiss Jena kamen, aber durch mehrere indirekte Verweise (u.a. in der o.a. Literaturquelle an anderem Ort) kann man durchaus darauf schließen. Auch die Tatsache, daß die frühen Aufsatzprismen für die Exakta und die Praktica einen Zeiss Jena Achromaten als Emblem auf der Frontseite trugen, läßt diese Vermutung plausibel erscheinen.

Die Entwicklung des Dachkantprismas der Syntax und später der Contax war nämlich kein Pappenstiel. So etwas muß sorgfältig berechnet und dann später auch mit der entsprechenden Präzision gefertigt werden. Für beides war Zeiss Jena prädestiniert. Aber noch wesentlicher erscheint mir der dritte Punkt zu sein: Ein solches Umkehrprisma kann man nicht aus Fensterglas herstellen. Es braucht einen Glaswerkstoff bestimmter Brechkraft, der nicht „von der Stange“ kommen kann. Ein solches Glas muß zudem mit einer vollkommenen Lauterkeit hergestellt werden, das heißt es muß eine homogene Brechkraft haben, es darf nicht stichig sein und es muß frei von jeglichen Einschlüssen wie Blasen oder Steinchen sein. In diesem Punkt sind die Anforderungen sogar höher, als bei optischem Glas das für Objektivlinsen verwendet wird. Hier werden Bläschen und Einschlüsse bis zu einem gewissen Maße geduldet, weil sie nicht zur Abbildung kommen. Bei einem Sucherprisma ist dies allerdings ausgeschlossen, weil jegliche Fremdkörper durchaus innerhalb des „Fokussierbereichs“ des Auges liegen und damit mehr oder weniger scharf wahrgenommen werden. Bedenkt man ferner, daß für ein solches Prisma ein ziemlich massiver Glaskörper benötigt wird, dann kann man nur erahnen, welche Schwierigkeiten es bereitet hat, solche Prismen serienmäßig herzustellen. Dafür waren die Kompetenzen eines führenden Glasfabrikanten unerläßlich – und wieder war es mit dem Jenaer Glaswerk Otto Schott & Genossen eine Tochterfirma des Zeisskonzerns, die als eine der wenigen weltweit diese Kompetenzen liefern konnte.

Interessant ist die Formgebung des Umkehrprismas für die Spiegelcontax. Obwohl diese Kamera gegenüber dem Syntax-Projekt völlig neu konstruiert wurde, hat man den Umstand beibehalten, daß die Mattfläche des Prisma nicht parallel zur optischen Achse des Objektives steht. Bei der Contax wird das dadurch erreicht, daß die dem Okular zugewandte Fläche nicht im rechten Winkel zur Mattfläche steht. Bei späteren Kameras mit Umkehrprisma sind diese Flächen zumeist rechtwinklig zueinander und die Bildfeldlinse liegt fast genau senkrecht in der Kamera, wodurch der Öffnungswinkel des Reflexspiegels ziemlich genau bei 45 Grad liegt. Bei der Spiegelcontax muß dieser Winkel offenbar größer sein, sonst wäre ja im scharfgestellten Zustand keine gleichmäßig verteilte Schärfe im Sucherbild möglich. Durch die schräge Lage der Mattfläche wandert übrigens beim Scharfstellen der Schärfepunkt senkrecht über das Sucherbild. Falls Ihnen diese Kuriosität der Spiegelcontax bislang noch gar nicht aufgefallen ist, dann probieren Sie es doch am besten selbst einmal aus!

 

Zeiss Prisma

Interessant und ungewöhnlich ist auch, daß die Spiegelcontax ursprünglich keine Bildfeldlinse hatte. Vielmehr war die untere Fläche des Prismas mattiert worden. Damit fehlte natürlich jede Kollektivwirkung einer Bildfeldlinse, die das diffus abgestrahlte Licht der Mattscheibe bündelt, in die Augenpupille lenkt und damit das Sucherbild wesentlich aufhellt. Vor allem in den Randbereichen des Contax Suchers ist es deshalb so düster, daß man meist gar nichts erkennt. Um sich wenigstens zu orientieren, wo das Aufnahmefeld endet, hat man die Randflächen der mattierten Prismenfläche mit einer Facette versehen, die ähnlich eines Leuchtrahmensuchers eine helle Begrenzung des Sucherrandes erzeugt.

 

Um 1956 herum (genau haben wir das noch nicht klären können) setzt in der Dresdner Kameraindustrie eine große Veränderungsbewegung ein. Aufgrund der verschlafenen Weiterentwicklungstätigkeit wird dem VEB Zeiss Ikon Dresden quasi die Konstruktionsabteilung entrissen und den wesentlich erfolgreicher agierenden Kamerawerken Niedersedlitz unterstellt (aber nicht wie bei gewissen Autoren zu lesen, daß die Contax nun in Niedersedlitz produziert worden wäre; so ein Unsinn!). Ich kann nur vermuten, daß die Kamerawerke unter Siegfried Böhm sogleich einige Änderungen und Weiterentwicklungen an der Contax durchgesetzt haben, um die Kamera wenigstens einigermaßen konkurrenzfähig zu halten. Dazu gehörten der Einbau einer Springblendenmechanik nach der Art und Weise, wie sie in der Praktica FX2 bereits realisiert worden war. Zweitens wurde der Sucher umgebaut. Das Prisma wurde wesentlich kürzer und in einem Messingrahmen wurde eine Bildfeldlinse eingekittet. Diese war zwar dünn und hatte nur mäßige Kollektivwirkung – aber immerhin! Damit war es nun auch erstmals möglich die Zeiss Meßkeile in die nun separate Bildfeldlinse zu integrieren; die Contax FM entstand.

Die optisch wirksame Fläche des Sucherbildes beträgt übrigens bei der Contax F genau 21x30mm - also nur ein Bruchteil des realen Negativformates von 24x36mm. Das war ein weiteres Zeichen dafür, daß die Konstruktion der Spiegelcontax in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre langsam überholt war.

 

 

 

Marco Kröger